KreisLauf-Magazin Ausgabe November 2013
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<strong>KreisLauf</strong> <strong>Magazin</strong><br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
grau und trist kommt er oft daher, der<br />
Monat <strong>November</strong>. Die Farbenpracht der<br />
Natur nimmt ab, Bäume und Sträucher<br />
zeigen sich kahl, Nässe und Kälte nehmen<br />
uns fest in den Griff. Das wirkt alles<br />
so unendlich traurig, gleichzeitig aber<br />
vertraut. Denn wir wissen, dass sich<br />
Kälte und Wärme, Nässe und Sonnenstrahlen,<br />
Tristheit und Buntheit, aber<br />
auch Trauer und Freude stetig abwechseln.<br />
Das eine folgt also immer wieder<br />
notgedrungen auf das andere. Das ist<br />
sicher, darauf können wir uns verlassen.<br />
Wie alles zusammengehört<br />
Es gehört also alles zusammen und<br />
ist so als ein ganzheitliches System zu<br />
verstehen, in dem Prozesse ineinander<br />
übergehen. „Auf Regen folgt Sonnenschein“<br />
haben wir in der Schule gelernt<br />
- eine Lebensweisheit, die in uns in<br />
dunklen Lebenssituationen eben nicht<br />
verzweifeln ließ, sondern uns Zuversicht<br />
gab, so dass wir uns hoffnungsvoll den<br />
vor uns liegenden Aufgaben stellen<br />
konnten - und das mit Erfolg, wie wir<br />
alle aus vielen Erfahrungen wissen. Aus<br />
eigener Kraft haben wir den Weg aus<br />
tiefster Verzweiflung gefunden, da wir<br />
eben nicht den „Kopf in den Sand“ gesteckt<br />
haben. Freilich waren diese Erfahrungen<br />
auch leidvoll. Und das nicht nur<br />
für die Betroffenen selbst, sondern auch<br />
für die Menschen in unserem unmittelbaren<br />
Umfeld: Freunde, Eltern, Lehrer,<br />
Erzieher litten oftmals genauso mit und<br />
boten, wo sie konnten, freilich auch<br />
konkrete Unterstützung an. Diese „Leidsolidarität“<br />
beziehungsweise dieses<br />
Mitgefühl spendete uns Trauernden und<br />
Leidenden zusätzliche Kraft, damit wir<br />
den Schmerz überwinden konnten.<br />
Welche Medizin hilft gegen Trauer?<br />
Unsere Medizin, so hilf- und segensreich<br />
sie auch ist, versucht seit Jahren<br />
alle Trauer-, Leid- und Schmerzzustände<br />
diagnostisch zu erfassen und sie als<br />
Krankheitsbilder zu beschreiben. Kein<br />
Wunder also, dass in den letzten zehn<br />
Jahren diese „seelischen Erkrankungen“<br />
in Deutschland um über 50 Prozent<br />
gestiegen sind. Der häufigste Grund<br />
für eine vorzeitige Berentung ist mittlerweile<br />
das Diagnosefeld „seelische<br />
Erkrankung“.<br />
Das Geschäft mit dem Leid<br />
Haben wir es also über die Jahre verlernt,<br />
uns selbst zu heilen beziehungsweise<br />
unsere Selbstheilungskräfte zu<br />
aktivieren? Machen es uns die Mediziner<br />
zu einfach, statt dass wir selbst darüber<br />
nachdenken, wie wir aus eigener<br />
Kraft eine seelische Krise überwinden<br />
können?<br />
Vergessen werden darf bei dieser<br />
Diskussion auch nicht, dass die Verschreibung<br />
von Pillen und Tabletten bei<br />
seelischen Erkrankungen ein Milliardengeschäft<br />
ist, von dem nicht nur die Pharmaindustrie,<br />
sondern auch viele Mediziner<br />
profitieren.<br />
Und die<br />
Medikamentenausgabe<br />
s t e i g e r t<br />
man weiter<br />
dadurch, dass die Medizin noch weitere<br />
Krankheiten „erfindet“ und sich selbst<br />
dabei als einzig möglichen Heiler genau<br />
dieser selbst definierten Krankheiten ins<br />
Spiel bringt.<br />
„Die Zeit heilt alle Wunden“<br />
Nun stellen Sie sich, liebe Leserinnen<br />
und Leser, vor, dass auch Trauer von der<br />
Medizin als Krankheit („major depression“)<br />
beschrieben wird. Wenn beispielsweise<br />
ein Mensch nach dem Verlust<br />
seines geliebten Partners länger als 2<br />
Wochen trauert, dann gilt er demnach<br />
aus medizinischer Sicht als „krank“.<br />
Geht‘s noch? Es ist doch eher ein ganz<br />
normaler und damit auch gesunder<br />
Vorgang, dass der Trauerschmerz erst<br />
langsam abnimmt und die Trauer eben<br />
ihre Zeit braucht. Auf dem Dorf trugen<br />
die Trauernden ein Jahr lang schwarze<br />
Kleider, um damit auf ihre Trauer öffentlich<br />
aufmerksam zu machen- auch mit<br />
dem Effekt, dass ihnen dadurch besondere<br />
Hilfe und Unterstützung der Dorfbevölkerung<br />
zuteil wurde, sei es durch<br />
ein liebevolles Gespräch, durch eine<br />
gemeinsame Erinnerung an den Verstorbenen,<br />
durch das gemeinsame Gebet<br />
oder eben durch ganz konkrete Helferdienste.<br />
Heute nun soll dieser Prozess<br />
künstlich verkürzt und mit Medikamenten<br />
behandelt werden. Dabei läuft man<br />
Gefahr, dass die Trauer nie ein Ende finden<br />
wird, denn solange dieses schmerzvolle<br />
Gefühl nur durch die Tablettenwirkung<br />
zurückgedrängt wird, kann gar<br />
keine Seelenheilung stattfinden. Trauer<br />
versteht die moderne Medizin leider nur<br />
als ein chemisches Ungleichgewicht in<br />
unserem Hirn. Und dieses soll nun mit<br />
Medikamenten behandelt werden. Vielleicht<br />
ist das bei Versuchen mit Ratten<br />
und Mäusen erfolgreich - aber bei uns<br />
Menschen?<br />
Kultur der Trauerbewältigung<br />
Im <strong>November</strong> besuchen wir auf den<br />
Friedhöfen auch die Gräber unserer Verstorbenen<br />
- auch dieses Ritual ist eine<br />
besondere Kultur der gemeinsamen<br />
Trauerbewältigung. Hier gedenken wir<br />
eben nicht nur den Verstorbenen, sondern<br />
auch den Trauernden, und versichern<br />
ihnen unsere Solidarität, unser<br />
Mitgefühl und unsere Hilfe. Auch wir<br />
werden eines Tages zu den Trauernden<br />
gehören - und dürfen uns dann dieser<br />
jahrhundertealten Trauersolidarität gewiss<br />
sein. So brauchen wir denn auch<br />
keine teueren Pillen und Tabletten, um<br />
mit unseren Verlustschmerzen zurecht<br />
zukommen.<br />
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Michael Thiem<br />
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