Verlorener Raum Nordschleswig - Kultur.uni-hamburg.de
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Nina<br />
Jebsen<br />
<strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
– die Be<strong>de</strong>utung volkskundlichen<br />
Wissens im <strong>de</strong>utsch-dänischen<br />
Grenzraum 1920–1940 1<br />
Dieser Aufsatz beruht auf <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s Projektverbun<strong>de</strong>s »Volkskundliches Wissen<br />
und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im<br />
20. Jahrhun<strong>de</strong>rt« und <strong>de</strong>m Kieler Teilprojekt »Volkskun<strong>de</strong> als ›Heimatwissenschaft‹:<br />
Region und Ethnos. Das Beispiel Schleswig-Holstein 1920–1940«. 2<br />
Der Projektverbund<br />
In <strong>de</strong>r zweijährigen Pilotphase war das Ziel <strong>de</strong>s Forschungsverbun<strong>de</strong>s, zunächst mit<br />
einem wissensanthropologischen Blick Prozesse <strong>de</strong>r Konstruktion von Wissen und<br />
Erkenntnis in <strong>de</strong>r sich etablieren<strong>de</strong>n Volkskun<strong>de</strong> zu beschreiben. Dabei sollten neue<br />
Einsichten in die Konstruktion von Wissenskulturen erbracht wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m konkrete<br />
Praxen <strong>de</strong>r Wissensproduktion, -distribution und -rezeption im Rahmen einer<br />
historisch vertiefen<strong>de</strong>n Forschung untersucht und dabei neue Zusammenhänge<br />
zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten <strong>de</strong>s Wissenstransfers<br />
sichtbar gemacht wur<strong>de</strong>n. Dies geschah am Beispiel <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>, weil sie wie<br />
kaum eine an<strong>de</strong>re geisteswissenschaftliche Disziplin von einem Spannungsfeld von<br />
populärer (öffentlicher) und aka<strong>de</strong>mischer Wissensproduktion geprägt ist. 3<br />
Das Kieler Teilprojekt<br />
Das Kieler Teilprojekt »Volkskun<strong>de</strong> als ›Heimatwissenschaft‹: Region und Ethnos.<br />
Das Beispiel Schleswig-Holstein 1920–1940« hat durch die Arbeit in <strong>de</strong>n ersten zwei<br />
Jahren von 2006 bis 2008 zweierlei dargelegt. Einmal wie in Schleswig-Holstein – mit<br />
seiner durch die Abstimmung im <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzraum erschütterten I<strong>de</strong>ntität<br />
– die Volkskun<strong>de</strong> als Teil einer wissenschaftlichen Heimatkun<strong>de</strong> mit ihren regionalen<br />
Bezügen, ihrer Nähe zum Menschen und ihrem Anspruch, Orientierungswissen<br />
zu liefern, an Be<strong>de</strong>utung gewann. Und das an<strong>de</strong>re Mal wie mit volkskundlichem<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Bei diesem Beitrag han<strong>de</strong>lt es sich um eine umgearbeitete Fassung eines Vortrages, <strong>de</strong>r im<br />
Wintersemester 2009/2010 im Rahmen <strong>de</strong>s Institutskolloquiums <strong>de</strong>s Hamburger Instituts für Volkskun<strong>de</strong>/<br />
<strong>Kultur</strong>anthropologie gehalten wur<strong>de</strong>. Das Projekt unter <strong>de</strong>r Leitung von Prof. Dr. Silke Göttsch<br />
ist seit Oktober 2010 been<strong>de</strong>t.<br />
Vgl. Jenni Boie/u. a.: Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion<br />
kultureller Wissensformate im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt. In: Michael Simon/Thomas Hengartner/<br />
Timo Heimerdinger/Anne-Christin Lux (Hg.): Bil<strong>de</strong>r. Bücher. Bytes. Zur Medialität <strong>de</strong>s Alltags.<br />
36. Kongress <strong>de</strong>r Deutschen Gesellschaft für Volkskun<strong>de</strong> in Mainz vom 23. bis 26. September 2007<br />
(= Mainzer Beiträge zur <strong>Kultur</strong>anthropologie/Volkskun<strong>de</strong>, 3). Münster/u. a. 2009, S. 183–199.<br />
Zu <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r einzelnen Teilprojekte vgl. Volkskundliches Wissen. Akteure und Praktiken.<br />
(= Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge 50 (2009)). Münster/u. a. 2009.<br />
vokus 21. 2011, heft 1/2
20 vokus<br />
Wissen eine die ethnische Homogenität behaupten<strong>de</strong> I<strong>de</strong>ntitätspolitik zugunsten einer<br />
nordschleswigschen Zugehörigkeit zu Deutschland bzw. Schleswig-Holstein<br />
betrieben wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Während dieser Pilotphase gab es zwei wissenschaftliche Mitarbeiter, die mit<br />
unterschiedlichen Schwerpunkten zum Projekttitel arbeiteten: Zum einen ging es<br />
darum, anhand <strong>de</strong>s Schleswig-Holsteinischen Wörterbuches und einer akteurszentrierten<br />
Perspektive zu untersuchen, welchen Stellenwert volkskundliches Wissen im<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Erarbeitung <strong>de</strong>s Wörterbuches hatte. Denn das Wörterbuch<br />
ist nicht nur ein Nachschlagewerk für die platt<strong>de</strong>utsche Sprache, son<strong>de</strong>rn kann als<br />
»Enzyklopädie nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utscher Volkskultur« verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. 4 Zum an<strong>de</strong>ren<br />
konzentrierte sich das Projekt in <strong>de</strong>r zweijährigen Pilotphase auf <strong>de</strong>n Schleswig-<br />
Holsteiner-Bund (SHB) und die von ihm betriebene <strong>Kultur</strong>politik für<br />
Schleswig-Holstein und <strong>Nordschleswig</strong>. Dabei ging es darum zu zeigen, wie <strong>de</strong>r SHB<br />
versuchte, mit Hilfe vor allem <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen, eine spezifisch schleswig-holsteinische<br />
I<strong>de</strong>ntität in Abgrenzung zu Dänemark zu konstruieren, um auf kulturellgeistiger<br />
Grundlage das politische Ziel einer Grenzrevision durchzusetzen. 5<br />
Terminologie <strong>de</strong>s Projektverbun<strong>de</strong>s<br />
Der Projektverbund hat für seine gemeinsame Arbeit eine spezifische Terminologie<br />
entwickelt, auf <strong>de</strong>r die Arbeit aller Teilprojekte beruht.<br />
Volkskundliches Wissen<br />
Volkskundliche Wissensproduktion fand im 19. und beginnen<strong>de</strong>n 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
zumeist in nicht-aka<strong>de</strong>mischen Bereichen statt. 6 Dieses Wissen war auf <strong>de</strong>n<br />
engen Austausch mit <strong>de</strong>n Untersuchungssubjekten orientiert und auf <strong>de</strong>ren<br />
Kooperationsbereitschaft angewiesen. Aufgrund dieser Austauschbeziehungen<br />
blieb das volkskundliche Wissen durch seine beson<strong>de</strong>re Nähe zur Alltagserfahrung,<br />
-sprache und -komm<strong>uni</strong>kation gekennzeichnet.<br />
Volkskundliches Wissen war stets lokal eingebun<strong>de</strong>n und hatte vielfach eine<br />
regionale Perspektive. Es besaß in aller Regel spezifische regionale Wissensanteile und<br />
landschaftliche Bezüge, die nicht beliebig generalisierbar waren und sind. 7<br />
Zum volkskundlichen Wissen zählen nach diesem Verständnis auch all die<br />
Handlungen wie Bräuche, Sprache, Wohnformen etc., die Volkskundler o<strong>de</strong>r ›Laien‹<br />
wie Pfarrer und Lehrer in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r 1920er und 1930er Jahre in Schleswig-Holstein<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Vgl. Carsten Drieschner: Der »platt<strong>de</strong>utsche Professor« o<strong>de</strong>r: Was ist ein Experte? Das Beispiel Otto Mensing<br />
und das »Schleswig-Holsteinische Wörterbuch«. In: Volkskundliches Wissen, wie Anm. 3, S. 68–86.<br />
Vgl. Jenni Boie: Volkstumsarbeit und Grenzregion. Volkskundliches Wissen als Ressource regionaler<br />
I<strong>de</strong>ntitätspolitik um 1920. In: Kieler Blätter zur Volkskun<strong>de</strong> 40 (2008), S. 93–117.<br />
Initiiert durch zahlreiche Vereins- und Zeitschriftengründungen etablierte sich die Volkskun<strong>de</strong><br />
als Disziplin ab <strong>de</strong>n 1880er Jahren allmählich auch institutionell. Vgl. Bernd Jürgen Warneken:<br />
Die Ethnographie popularer <strong>Kultur</strong>en. Eine Einführung. Wien/u. a. 2006, S. 13.<br />
Vgl. Antrag zur Finanzierung einer DFG-Forschergruppe (November 2007), S. 5 (mscr.).
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
21<br />
sammeln und bewahren wollten, weil sie fürchteten, dass diese durch technische<br />
Neuerungen und gesellschaftliche Verän<strong>de</strong>rungen verloren gehen könnten. Ihrer<br />
Meinung nach sollten sie konserviert wer<strong>de</strong>n, da allein dieses Wissen ›ursprüngliche‹<br />
und ›reine‹ Entäußerungen <strong>de</strong>r Menschen bewahren wür<strong>de</strong>.<br />
Wissensformat<br />
Volkskundliches Wissen und <strong>de</strong>ssen gesellschaftliche Be<strong>de</strong>utung sollen mit <strong>de</strong>m Begriff<br />
<strong>de</strong>s Wissensformates gefasst wer<strong>de</strong>n. Insbeson<strong>de</strong>re mediale Manifestationen von<br />
Wissen wer<strong>de</strong>n hier als Wissensformate verstan<strong>de</strong>n. In ihnen wer<strong>de</strong>n Wissensinhalte<br />
auf je spezifische Weise transportiert und komm<strong>uni</strong>ziert. Sie positionieren Wissen<br />
in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit und reflektieren öffentliche Diskussionsprozesse. Unter<br />
diesen Wissensformaten sind nicht nur explizite Speichermedien o<strong>de</strong>r wissenschaftliche<br />
Medien zu verstehen, son<strong>de</strong>rn auch jene Formen von Repräsentation, die<br />
beson<strong>de</strong>rs stark in die Öffentlichkeit hinein wirken, wie es beispielsweise Museen tun.<br />
Bei <strong>de</strong>r Untersuchung von Wissensformaten wird davon ausgegangen, dass sie Ergebnis<br />
eines Formatierungsprozesses sind, sie sind somit »sowohl strukturierte als auch Wissen<br />
strukturieren<strong>de</strong> Instanz.« 8 Zu<strong>de</strong>m gewährleistet das jeweilige Format die Gültigkeit<br />
<strong>de</strong>s in ihm festgeschriebenen Wissens und positioniert es damit in einem Spektrum<br />
zwischen aka<strong>de</strong>mischer Wissenschaft und breiter Öffentlichkeit. 9<br />
Wissensmilieu<br />
Im Sinne <strong>de</strong>s Forschungsverbun<strong>de</strong>s ist <strong>de</strong>r Begriff Milieu bzw. Wissensmilieu eine<br />
Analysekategorie, die als heuristisches Konzept genutzt wird, um die Perspektive<br />
auf volkskundliches Wissen in <strong>de</strong>n Mittelpunkt zu stellen. Ein Milieu ist dabei eine<br />
relativ homogene Gruppe, die sich durch ein implizites Milieuwissen um<br />
gemeinsame Praxisformen auszeichnet. 10 Durch das Milieukonzept sollen die<br />
komplexen Wechselbeziehungen und Wirkungsverhältnisse von Wissen, Region und<br />
sozialen Akteuren geklärt wer<strong>de</strong>n. Ein vom Wissen ausgehen<strong>de</strong>s Milieukonzept<br />
birgt dabei das Potential, neben <strong>de</strong>n volkskundlich arbeiten<strong>de</strong>n ›Kerninstitutionen‹<br />
(z. B. Volkskun<strong>de</strong>vereine, Museen, Universitätsinstitute) auch jene Akteure gleichgewichtig<br />
zu betrachten, die für die Erhebung, Aneignung und Verbreitung volkskundlichen<br />
Wissens von enormer Be<strong>de</strong>utung waren (Gewährsleute, Autoren, Verlage etc.). 11<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Ina Dietzsch/u. a.: Horizonte ethnografischen Wissens. Einleitung. In: Dies./u. a. (Hg.): Horizonte ethnografischen<br />
Wissens. Eine Bestandsaufnahme (= alltag & kultur, 12). Köln/u. a. 2009, S. 7–15, hier S. 14.<br />
Vgl. Boie/u. a., wie Anm. 2, S. 189 ff.<br />
Vgl. Ulf Matthiesen/Hans Joachim Bürkner: Wissensmilieus – zur sozialen Konstruktion und analytischen<br />
Rekonstruktion eines neuen Sozialraum-Typus. In: Ulf Matthiesen (Hg.): Stadtregion und Wissen.<br />
Analysen und Plädoyers für eine wissensbasierte Stadtpolitik. Wiesba<strong>de</strong>n 2004, S. 65–89.<br />
Vgl. Boie/u. a., wie Anm. 2, S. 185 ff.
22 vokus<br />
Wissensraum<br />
Der Wissensraum ist ein Geltungsraum, <strong>de</strong>r über die Reichweite einzelner<br />
Wissenselemente Aufschluss gibt. Damit sind diejenigen Verbreitungsräume<br />
gemeint, in <strong>de</strong>nen solche Elemente verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Dagegen zeichnet sich das<br />
Wissensmilieu dadurch aus, dass oft nur bestimmte Elemente o<strong>de</strong>r lediglich Fragmente<br />
solchen Wissens aufgenommen und aktiv verdichtet wer<strong>de</strong>n. Da die <strong>de</strong>utsche<br />
Volkskun<strong>de</strong> im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt lange Zeit vor allem eine nationale, d. h. eine auf <strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>utschen Sprachraum und weniger europäisch ausgerichtete Wissenschaft war, sollen<br />
durch diese Perspektive die damit verbun<strong>de</strong>nen regionalen Eigenlogiken volkskundlicher<br />
Wissensproduktion untersucht wer<strong>de</strong>n. Darauf aufbauend soll danach gefragt<br />
wer<strong>de</strong>n, inwiefern dieses regionale Wissen konstitutiv für volkskundliches Wissen und<br />
die Wissenschaft selbst ist. 12<br />
Wissenstransfer<br />
Wissenstransfer ist eine Basisoperation aller Wissenschaften. Durch ihn sollen Vorgänge<br />
beschrieben wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen Wissen Ort und Zustand wechselt. Die Interaktion<br />
zwischen Wissenschaft und Gesellschaft soll dabei in <strong>de</strong>n Blick genommen wer<strong>de</strong>n. Es<br />
wird hier davon ausgegangen, dass sowohl Wissenschaftler als auch Nicht-Wissenschaftler,<br />
Experten und Laien an Prozessen <strong>de</strong>r Wissensproduktion, Wissensaushandlung und<br />
Wissensvermittlung beteiligt sind. Durch die genauere Betrachtung <strong>de</strong>r Konstruktionsund<br />
Distributionsprozesse volkskundlichen Wissens sollen die komplexen Beziehungen<br />
von Experten- und Laienwissen, das Zusammenspiel kultureller Repräsentationen sowie<br />
die Koproduktion von Wissensformen genauer erfasst wer<strong>de</strong>n. 13<br />
Das Kieler Teilprojekt »<strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong> – die Be<strong>de</strong>utung volkskundlichen<br />
Wissens im <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzraum 1920–1940«<br />
Nach<strong>de</strong>m die Pilotphase 2008 abgeschlossen war, wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>n Vorarbeiten zur<br />
Nutzung volkskundlichen Wissens durch politische Akteure für das Ziel einer<br />
Grenzrevision 14 und <strong>de</strong>r inneren Beschaffenheit <strong>de</strong>s Wissensmilieus um das Schleswig-<br />
Holsteinische Wörterbuch 15 eine Projektperspektive gewählt, die bei<strong>de</strong> Aspekte<br />
miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>t. Dabei ging es darum nachzuweisen, wie vor allem Sprache<br />
– und beson<strong>de</strong>rs die nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsche Sprache – dazu genutzt wur<strong>de</strong>, einen ethnisch<br />
geschlossenen <strong>Raum</strong> Schleswig-Holstein und <strong>Nordschleswig</strong> zu konstruieren.<br />
Es sollte also <strong>de</strong>r Frage nachgegangen wer<strong>de</strong>n, wie <strong>de</strong>r <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong> durch<br />
volkskundliches Wissen nach <strong>de</strong>r Abtretung an Dänemark wie<strong>de</strong>r, vor allem kulturell,<br />
in Besitz genommen wer<strong>de</strong>n sollte.<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
Vgl. Antrag zur Finanzierung einer DFG-Forschergruppe, wie Anm. 7, hier S. 13.<br />
Vgl. Boie/ u. a., wie Anm. 2, S. 192 ff.<br />
Vgl. Boie, wie Anm. 5.<br />
Vgl. Drieschner, wie Anm. 4.
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
23<br />
Die <strong>de</strong>utsch-dänische Geschichte 16<br />
Bevor inhaltlich konkreter auf die Ausrichtung <strong>de</strong>s Kieler Projektes eingegangen<br />
wer<strong>de</strong>n kann, muss zunächst kurz die vielschichtige <strong>de</strong>utsch-dänische Geschichte<br />
skizziert wer<strong>de</strong>n.<br />
Die im Versailler Vertrag 1919 vereinbarten Gebietsabtretungen für das damalige<br />
Deutsche Reich betrafen unter an<strong>de</strong>rem auch jene seit 1864 zu Deutschland<br />
gehören<strong>de</strong>n Gebiete an seiner Nordgrenze. Vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r gewachsenen<br />
Be<strong>de</strong>utung und Betonung <strong>de</strong>s Selbstbestimmungsrechtes <strong>de</strong>r Völker wur<strong>de</strong>n auch in <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzregion Abstimmungen darüber durchgeführt, wer sich in<br />
welchem Teil <strong>de</strong>r Region zu Dänemark bzw. zu Deutschland bekannte. Die damals wie<br />
heute umstrittenen Regularien dieser Abstimmungen 17 führten zu einer Grenzlinie,<br />
die bis heute gültig ist. Mit dieser Grenzziehung wur<strong>de</strong>n viele Deutsche in <strong>de</strong>m<br />
abgetretenen Gebiet <strong>de</strong>r ersten Zone zu dänischen Staatsbürgern, obwohl es in<br />
vielen Gemein<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsche Mehrheiten gab, darunter in <strong>de</strong>n vier Städten Ton<strong>de</strong>rn,<br />
Hoyer, Son<strong>de</strong>rburg und Apenra<strong>de</strong>. Die <strong>de</strong>utsche Min<strong>de</strong>rheit in Dänemark hatte ihre<br />
Entsprechung in einer dänischen Min<strong>de</strong>rheit auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Seite.<br />
Der Versailler Vertrag, verbun<strong>de</strong>n mit immensen Reparationsfor<strong>de</strong>rungen und<br />
Gebietsabtretungen an nahezu allen <strong>de</strong>utschen Grenzen, wur<strong>de</strong> im größten Teil <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Bevölkerung als Schmach und als ungerecht empfun<strong>de</strong>n, so auch in Schleswig-<br />
Holstein. Und auch hier folgte, um es mit <strong>de</strong>m Historiker Gerhard Wei<strong>de</strong>nfeller zu<br />
sagen, <strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>s Staatsgebietes die Besinnung auf das einen<strong>de</strong> Volk. 18 Das heißt,<br />
für die dänische Seite war <strong>de</strong>r hinzugekommene <strong>Raum</strong> nationalstaatlich <strong>de</strong>finiert,<br />
für die <strong>de</strong>utsche Seite wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gleiche <strong>Raum</strong> als Siedlungsgebiet gesehen, <strong>de</strong>ssen<br />
<strong>de</strong>utsche Bewohner in ihrer kulturellen I<strong>de</strong>ntität, in ihrer kulturellen Zugehörigkeit<br />
zu Deutschland bedroht waren.<br />
In <strong>de</strong>n 1920er Jahren wur<strong>de</strong>n durch diese Gebietsabtretungen erstmals Vorstellungen<br />
von Min<strong>de</strong>rheiten in Deutschland bzw. Schleswig-Holstein etabliert. Zwischen<br />
Deutschland und Dänemark wur<strong>de</strong>n die jeweiligen Min<strong>de</strong>rheiten als ein nationales<br />
Phänomen wahrgenommen und auch in <strong>de</strong>r Folgezeit immer weiter dazu ausgebaut,<br />
d. h. hier fand mit Beginn <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheitenkonstitution eine verstärkte Ethnisierung über<br />
(nationale) Zuschreibungen statt. Dazu gehörte in erster Linie ganz klar die För<strong>de</strong>rung<br />
von regionalen Eigenarten. Und darunter fiel, im Falle <strong>de</strong>s hier vorzustellen<strong>de</strong>n Projektes,<br />
für Schleswig-Holstein im Beson<strong>de</strong>ren die ›eigene‹ Sprache, das Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsche.<br />
16<br />
17<br />
18<br />
Sehr viel <strong>de</strong>taillierter nachzulesen bei Ulrich Lange (Hg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. Von <strong>de</strong>n Anfängen<br />
bis zur Gegenwart. 2. Aufl., Neumünster 2003, <strong>de</strong>m diese Darstellung folgt.<br />
Abstimmungsgebiet in zwei Zonen mit unterschiedlichen Wahlmodi zu Gunsten <strong>de</strong>r Dänen:<br />
am 10.02.1920 in <strong>de</strong>r 1. Zone zwischen Königsau und Clausenlinie: en bloc, und am 14.03.1920 in <strong>de</strong>r<br />
2. Zone (Flensburg und Mittelschleswig): gemein<strong>de</strong>weise. Zu <strong>de</strong>n Regularien <strong>de</strong>r Abstimmung und <strong>de</strong>n<br />
damit verbun<strong>de</strong>nen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen vgl. u. a. Inge Adriansen/Immo Doege: Deutsch o<strong>de</strong>r Dänisch?<br />
Bil<strong>de</strong>r zum nationalen Selbstverständnis aus <strong>de</strong>m Jahre 1920. Flensburg 1992, S. 5–10.<br />
Vgl. Gerhard Wei<strong>de</strong>nfeller: »Volkstumsarbeit« in <strong>de</strong>r Weimarer Republik. Zur Struktur und I<strong>de</strong>ologie<br />
einer Bewegung. In: Essener Unikate 6-7 (1995), S. 142–149.
24 vokus<br />
Konkrete Anwendung <strong>de</strong>r Projektterminologie Wissensformate<br />
Wissensformate sind hier im Wesentlichen die Zeitschriften Der Schleswig-Holsteiner,<br />
herausgegeben vom Schleswig-Holsteiner Bund, und die Zeitschrift Die Heimat,<br />
die seit 1891 vom Verein zur Pflege <strong>de</strong>r Natur- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> in Schleswig-Holstein<br />
und Hamburg herausgegeben wur<strong>de</strong>. 19<br />
Bei<strong>de</strong> Zeitschriften sind über <strong>de</strong>n gesamten Untersuchungszeitraum, d. h. in <strong>de</strong>n<br />
Jahren von 1920 bis 1940, erschienen. Sie bieten dadurch eine sehr gute Möglichkeit,<br />
Aushandlungsstrategien von Grenzraumi<strong>de</strong>ntität mit Hilfe volkskundlichen Wissens<br />
zu ergrün<strong>de</strong>n. Dies auch gera<strong>de</strong> weil bei<strong>de</strong> Zeitschriften jeweils einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
noch zu beschreiben<strong>de</strong>n Milieus zugeschrieben wer<strong>de</strong>n können und dadurch eine<br />
gewisse Wissensformatierung im Sinne <strong>de</strong>s jeweiligen Milieus vorausgesetzt wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
Wissensmilieus/Akteure<br />
Durch die Sichtung dieser bei<strong>de</strong>n Hauptquellen, hat sich gezeigt, dass bei<strong>de</strong> Zeitschriften<br />
zusätzlich zu personalen Einzelakteuren als non-personale Akteure zweier unterschiedlicher<br />
Wissensmilieus gesehen wer<strong>de</strong>n können. Diese bei<strong>de</strong>n Wissensmilieus wer<strong>de</strong>n<br />
als politisches Milieu und als volkskundlich-heimatkundliches Milieu bezeichnet.<br />
Das politische o<strong>de</strong>r politisch motivierte Milieu kann dadurch beschrieben wer<strong>de</strong>n, dass<br />
dort insbeson<strong>de</strong>re auf politischer Ebene versucht wur<strong>de</strong>, die Debatte um <strong>de</strong>n Grenzraum<br />
zu führen und sich für die Min<strong>de</strong>rheitenrechte, vor allem im Zusammenhang mit<br />
kultureller Autonomie und Bildungs- und Schulfragen, einzusetzen.<br />
Das volkskundlich-heimatkundliche Milieu beschäftigte sich zuvor<strong>de</strong>rst damit,<br />
wie <strong>de</strong>r Grenzraum, also das verlorene Gebiet <strong>Nordschleswig</strong>, durch sogenannte<br />
Heimatpflege wie<strong>de</strong>r in Besitz genommen wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Wissensraum bzw. <strong>Raum</strong>konzept<br />
Entschei<strong>de</strong>nd sind die bei<strong>de</strong>n vorangegangenen Begriffe Wissensmilieu und<br />
Wissensformat für das Projekt allerdings erst im Zusammenspiel mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s<br />
Wissensraums bzw. im größeren Rahmen von <strong>Raum</strong>theorie.<br />
Zwar ist <strong>de</strong>r Untersuchungsgegenstand in einer geographischen Region zu verorten,<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzregion. Der <strong>Raum</strong> jedoch, um <strong>de</strong>ssen Aushandlung<br />
es hier geht, in <strong>de</strong>m volkskundliches Wissen erhoben und wirksam wer<strong>de</strong>n sollte,<br />
ist nicht mit diesem geographischen Ort gleichzusetzen. Es geht hier um einen<br />
kulturellen <strong>Raum</strong>, <strong>de</strong>r prozesshaft durch auf vielfältige Weise miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>ne<br />
Akteure geschaffen wur<strong>de</strong> bzw. geschaffen wer<strong>de</strong>n sollte.<br />
19<br />
Die Zeitschrift Die Heimat, zunächst als Monatsschrift regelmäßig, außer in <strong>de</strong>n Jahren 1943–<br />
1947, erscheinend, wur<strong>de</strong> bis 2002 herausgegeben. Seit 2003 wird die Zeitschrift unter <strong>de</strong>m Titel<br />
Natur- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>: Zeitschrift für Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg verlegt.
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
25<br />
<strong>Raum</strong>konzept 20<br />
Unter grundlegen<strong>de</strong>m Bezug auf einen relationalen <strong>Raum</strong>begriff sind solche<br />
Aushandlungsprozesse, wie die bei<strong>de</strong>n hier benannten, sogenannten Spacing-<br />
Prozesse. 21 <strong>Raum</strong> konstituiert sich nach Löw durch zwei – allerdings nur analytisch zu<br />
trennen<strong>de</strong> – Prozesse: Syntheseleistungen und Spacing-Prozesse. In <strong>de</strong>r Syntheseleistung<br />
wer<strong>de</strong>n über »Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse […]<br />
soziale Güter und Lebewesen zu Räumen zusammengefasst«. 22 Diese Syntheseleistung<br />
geschieht immer in Abhängigkeit ihres gesellschaftlichen Kontextes, wodurch sie<br />
Räume zugleich konstruiert und reproduziert. In <strong>de</strong>r praktischen Handlungsumsetzung<br />
erfolgt diese Syntheseleistung durch Spacing-Prozesse. In diesem Spacing – also in <strong>de</strong>n<br />
raumschaffen<strong>de</strong>n Prozessen – wer<strong>de</strong>n soziale Güter und Lebewesen im <strong>Raum</strong> platziert<br />
o<strong>de</strong>r platzieren sich selbst. Ihre Positionen wer<strong>de</strong>n durch symbolische Markierungen<br />
gekennzeichnet, wodurch auch <strong>de</strong>r <strong>Raum</strong> bestimmt wird. Spacing-Prozesse sind also<br />
Platzierungsprozesse. Auch das »Platzieren von Informationen«, also von Wissen,<br />
ist nach Löw ein solcher Aushandlungs- und Spacing-Prozess. 23 Damit kann auch<br />
die Aushandlung einer <strong>de</strong>utschen Grenzraumi<strong>de</strong>ntität in Schleswig-Holstein und<br />
<strong>Nordschleswig</strong> als Spacing-Prozess betrachtet wer<strong>de</strong>n. Denn nichts an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>utet<br />
das Platzieren von Wissen und Informationen, um im Kontext <strong>de</strong>s Grenzraumes<br />
bestimmte i<strong>de</strong>ntitätsstiften<strong>de</strong> Vorstellungs- und Wahrnehmungsprozesse zu initiieren<br />
und auf diese Weise Menschen und soziale Güter zu verknüpfen und <strong>Raum</strong> in Besitz<br />
zu nehmen. Untersucht wird somit die Rolle <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong> in diesen Platzierungsund<br />
Syntheseprozessen für die Jahre zwischen <strong>de</strong>m Versailler Vertrag und <strong>de</strong>m Beginn<br />
<strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Nationalsozialismus.<br />
Wie bereits erwähnt, gab es in <strong>de</strong>n 1920er Jahren die For<strong>de</strong>rungen nach<br />
einer Revision <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenze in Schleswig-Holstein, die nahezu alle<br />
öffentlichen Diskurse bestimmten. Sie sind Ausdruck <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Strategien,<br />
wie die Betroffenen auf die verän<strong>de</strong>rten Strukturen <strong>de</strong>s Grenzraumes reagierten. Dabei<br />
wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>utscher Seite aus die formale strukturelle Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Grenzlinie als<br />
eine Bedrohung <strong>de</strong>s eigenen kulturellen <strong>Raum</strong>es angesehen. Diesseits und jenseits <strong>de</strong>r<br />
neuen Grenzlinie agierte eine Fülle von Akteuren, um <strong>de</strong>r eben erwähnten Bedrohung<br />
entgegenzuwirken. Sie trafen in ihrem Han<strong>de</strong>ln auf bestimmte Strukturen und<br />
versuchten selbst durch ihr Han<strong>de</strong>ln eigene Strukturen zu schaffen.<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Den theoretischen Bezugsrahmen zu diesem Ansatz bietet u. a. die <strong>Raum</strong>theorie <strong>de</strong>r Soziologin<br />
Martina Löw. Vgl. Martina Löw: <strong>Raum</strong>soziologie. Frankfurt am Main 2001, sowie Martina Löw/u. a.: Einführung<br />
in die Stadt- und <strong>Raum</strong>soziologie. 2. akt. Aufl., Opla<strong>de</strong>n 2008. Weitere Bezüge ergeben sich zu Arbeiten<br />
wie Ingrid Baumgärtner/Paul Gerhard Klumbies/Franziska Sick: <strong>Raum</strong>konzepte. Disziplinäre Zugänge.<br />
Göttingen 2009, o<strong>de</strong>r Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf <strong>de</strong>m Weg zu einer Soziologie <strong>de</strong>s <strong>Raum</strong>s.<br />
Frankfurt am Main 2006.<br />
Vgl. Löw, wie Anm. 20, S. 224 f.<br />
Ebd., S. 225.<br />
Vgl. ebd.
26 vokus<br />
Die Zeitschrift Die Heimat und die Heimatpflege<br />
Wichtige Akteure im Aushan<strong>de</strong>ln einer Grenzraumi<strong>de</strong>ntität in <strong>de</strong>r nordschleswigschen<br />
Region entstammten jenem Milieu, das sich damit beschäftigte, wie <strong>de</strong>r Grenzraum<br />
durch sogenannte Heimatpflege, die die kulturelle I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r Menschen in <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Min<strong>de</strong>rheit bewahren und stärken sollte, wie<strong>de</strong>r in Besitz genommen<br />
wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Volks- o<strong>de</strong>r Heimatkun<strong>de</strong> waren seit Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts Teil einer<br />
populären <strong>Kultur</strong>bewegung, in <strong>de</strong>r ›Laien‹, wie Lehrer und Pfarrer, volkskundliches<br />
Material sammelten und präsentierten, Vereine und Museen grün<strong>de</strong>ten.<br />
Dabei war all diesen Bestrebungen gemein, dass das Bestehen<strong>de</strong> als bedroht wahrzunehmen<br />
und dieses <strong>de</strong>shalb zu bewahren und zu stärken sei. Hierbei trafen die<br />
zeitgenössischen Platzierungen im rückwärtsgewandten Aushandlungsprozess um die<br />
kulturelle I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Grenzraumes auf vorhan<strong>de</strong>ne Strukturen, die sie nun aufnehmen<br />
und verstärken konnten. So beklagte Otto Mensing (1868-1939) 24 im Jahr<br />
1924 <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>s von ihm sogenannten »Volkslebens«, wenn er davon sprach,<br />
dass »heimische Sitte bei Volks-und Familienfesten, die Bauart <strong>de</strong>s ländlichen Hauses,<br />
die Beschaffenheit <strong>de</strong>r bäuerlichen Geräte, unsere Volkstrachten, die Spiele unserer<br />
Kin<strong>de</strong>r, unser Volksgesang« 25 bedroht seien.<br />
In diesem Kontext war die Zeitschrift Die Heimat ein wesentlicher Akteur. Dort<br />
wur<strong>de</strong>n als Hauptaufgaben ganz <strong>de</strong>utlich die »För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sforschung«, 26<br />
die »Natur<strong>de</strong>nkmalpflege« 27 und die »Volkstumspflege und Unterstützung aller auf<br />
Heimatschutz gerichtete Bestrebungen« 28 genannt. Diese Zeitschrift war ein wichtiger<br />
Knotenpunkt im Netzwerk eines <strong>Raum</strong>konzeptes, das die Region zuvor<strong>de</strong>rst als<br />
Reliktgebiet verstand, 29 als ein <strong>Raum</strong>, in <strong>de</strong>m Althergebrachtes und Überliefertes durch<br />
einen fortwähren<strong>de</strong>n Spacing-Prozess, in welchem Informationen und Wissen eine<br />
wesentliche Rolle spielen, bewahrt und geschützt wer<strong>de</strong>n musste. Der Volkskun<strong>de</strong> wird<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
Otto Mensing war Lehrer, habilitierter Philologe, dann 1921 außeror<strong>de</strong>ntlicher Professor für Germanistik<br />
an <strong>de</strong>r Christian-Albrechts-Universität Kiel und Herausgeber <strong>de</strong>s Schleswig-Holsteinischen Wörterbuches.<br />
Vgl. Harm-Peer Zimmermann: Vom Schlafe <strong>de</strong>r Vernunft. Deutsche Volkskun<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Kieler Universität<br />
1933 bis 1945. In: Hans-Werner Prahl (Hg.): Uni-Formierung <strong>de</strong>s Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus,<br />
Bd. 1 (= Veröffentlichung <strong>de</strong>s Beirats für Geschichte <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung und Demokratie<br />
in Schleswig-Holstein, 16). Kiel 1995, S. 171–274.<br />
Otto Mensing: Das schleswig-holsteinische Wörterbuch. In: Die Heimat. Monatsschrift <strong>de</strong>s Vereins zur Pflege<br />
<strong>de</strong>r Natur- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> in Schleswig-Holstein, Hamburg, Lübeck und <strong>de</strong>m Fürstentum Lübeck 1924,<br />
S. 285–287, hier S. 286.<br />
Vgl. Die Heimat 1895, S. II.<br />
Vgl. Die Heimat 1910, S. 273.<br />
Vgl. Die Heimat 1947, S. 3.<br />
Ein Reliktgebiet, das sich aus Schleswig-Holstein und <strong>Nordschleswig</strong> zusammensetzte. Dabei wur<strong>de</strong><br />
Reliktgebiet hier als Gebiet vermeintlich urtümlichen Volkslebens verstan<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m <strong>Kultur</strong> in einem<br />
älteren Stadium erhalten sei. Zu diesen <strong>Kultur</strong>elementen, die in alter Form erhalten waren,<br />
zählte hier ganz beson<strong>de</strong>rs die sogenannte Volkssprache. Vgl. Ernst M. Wallner: Über die volkskundlichen<br />
Rückzugsgebiete in Europa. In: Studium generale. Zeitschrift für interdisziplinäre Studien 3 (1950),<br />
S. 246–254, sowie Konrad Köstlin: Relikte: Die Gleichzeitigkeit <strong>de</strong>s Ungleichzeitigen. In:<br />
Kieler Blätter zur Volkskun<strong>de</strong> 5 (1973), S. 135–157.
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
27<br />
hier ihre zentrale Aufgabe zugeschrieben. So sah <strong>de</strong>r Germanist Friedrich Kauffmann<br />
(1863-1941) 30 bereits 1903 in seinem Artikel »Die Hauptprobleme <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>«<br />
in <strong>de</strong>r Zeitschrift Die Heimat ein Problem in <strong>de</strong>r Namensgebung <strong>de</strong>s die Zeitschrift<br />
herausgeben<strong>de</strong>n Vereins zur Pflege <strong>de</strong>r Natur- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>, weil sich eben<br />
diese volkskundliche Ausrichtung <strong>de</strong>s Vereins und damit auch <strong>de</strong>r Zeitschrift nicht<br />
im Titel nie<strong>de</strong>rschlug. Er fragte, »weshalb neben <strong>de</strong>r Natur- und <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong><br />
nicht auch die Volkskun<strong>de</strong> als selbstständiges Arbeitsgebiet im Titel unseres Vereins<br />
hervorgehoben wor<strong>de</strong>n ist.« Denn das Programm <strong>de</strong>s Vereins von 1891 sehe vor, dass im<br />
Verein auch die Volkskun<strong>de</strong> gepflegt wer<strong>de</strong>n solle. Es sollten »unseres Volkes Sitten und<br />
Gebräuche, Sagen und Märchen, Lie<strong>de</strong>r und Spiele gesammelt und belehren<strong>de</strong> Aufsätze<br />
darüber in <strong>de</strong>r ›Heimat‹ veröffentlich wer<strong>de</strong>n.« 31 Kauffmann sah die Volkskun<strong>de</strong> innerhalb<br />
<strong>de</strong>s Vereines nicht genügend gewürdigt und for<strong>de</strong>rte, dieses Arbeitsfeld solle einen<br />
breiteren <strong>Raum</strong> einnehmen, weil »gera<strong>de</strong> die Volkskun<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n Vaterlandsfreund« 32<br />
Aufgaben und Probleme stelle, die bewältigt wer<strong>de</strong>n müssten. Volkskun<strong>de</strong> erforsche das<br />
»Geistesleben <strong>de</strong>s Volkes«, d. h. »die Volksseele«, das »geistige Kapital eines Volks und<br />
erstreckt sich auf Volksweisheit, Volksglauben, Volkssitte, Volksbrauch, Volkspoesie,<br />
Volkskunst.« 33 Außer<strong>de</strong>m habe die Volkskun<strong>de</strong> ihr Ziel gerichtet »auf all das, was<br />
trotz <strong>de</strong>r durch Bildung und Aufklärung, Technik und Wissenschaft herbeigeführten<br />
Fortschritte rückständig geblieben, was aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Ahnen und Urahnen im<br />
hellen Licht einer kulturstolzen Gegenwart erhalten ist.« 34 Damit folgte Kauffmann<br />
<strong>de</strong>n allgemein anerkannten Fach<strong>de</strong>finitionen seiner Zeit. Hier wird ganz <strong>de</strong>utlich ein<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch konstruiert zwischen <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne auf <strong>de</strong>r einen Seite und <strong>de</strong>m, was<br />
durch einen ausgeprägten Kontinuitätswillen aus Zeiten <strong>de</strong>r »Ahnen und Urahnen«<br />
überliefert und gewachsen sei.<br />
Das Konservieren ist das zentrale Charakteristikum dieses Verständnisses<br />
von Volkskun<strong>de</strong>, womit auch die Funktion im Platzierungsprozess dieses von <strong>de</strong>r<br />
Volkskun<strong>de</strong> zur Verfügung gestellten Wissens <strong>de</strong>utlich wird. Dies wird auch sichtbar<br />
im Kontext <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r Germanist Kaufmann <strong>de</strong>r Sprache zumaß. Auch<br />
Sprache, hier die nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsche, sei bedroht. Und wenn eine Sprache verschwin<strong>de</strong>,<br />
dann setzte Kauffmann das mit <strong>de</strong>m Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r »Poesie <strong>de</strong>s Volks« 35 gleich.<br />
Die Volkskun<strong>de</strong> müsse genau dort, wo Sprache bedroht sei, sehr aktiv sein und mit allen<br />
Kräften sammeln und arbeiten. Kauffmann koppelte Sprache an Volkskun<strong>de</strong> bzw.<br />
Volkskun<strong>de</strong> an Sprache, er sagte, »um unser schleswig-holsteinisches Volksleben zu veranschaulichen«,<br />
36 gebe es die dringen<strong>de</strong> Aufgabe, »<strong>de</strong>n volkstümlichen Wortschatz zu<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
Zur Person Friedrich Kauffmanns vgl. Hubertus Menke: Carl Friedrich Kauffmann. In: Christoph<br />
König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 2. Berlin/New York 2003, S. 902–904.<br />
Friedrich Kauffmann: Die Hauptprobleme <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>. In: Die Heimat 1903, S. 193-197, hier S. 193.<br />
Ebd.<br />
Ebd., S. 194.<br />
Ebd.<br />
Ebd.<br />
Ebd., S. 197.
28 vokus<br />
bearbeiten.« 37 Deswegen regte er die Arbeit zum Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch<br />
an und bezeichnete es dann als »ein Repertorium schleswig-holsteinischer Volkskun<strong>de</strong>«. 38<br />
Einer <strong>de</strong>r am häufigsten vertretenen Autoren in <strong>de</strong>r Zeitschrift Die Heimat war<br />
innerhalb <strong>de</strong>s Untersuchungszeitraumes Gustav Friedrich Meyer (1878–1945). 39 Meyer<br />
stand bereits früh in Kontakt mit Otto Mensing, durch <strong>de</strong>n er Anteil an <strong>de</strong>r Arbeit am<br />
Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch nahm und in die volkskundliche Sammelarbeit<br />
eingeführt wur<strong>de</strong>.<br />
Als Schriftleiter Der Heimat von 1920 bis 1943 war Meyer <strong>de</strong>r bestimmen<strong>de</strong><br />
Akteur für die inhaltlichen Zielsetzungen nicht nur dieser Zeitschrift, son<strong>de</strong>rn auch<br />
für die in ihr vertretene Disziplin <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>. Meyer war es auch, <strong>de</strong>r gezielt neue<br />
Zuträger und Sammler ansprach und motivierte, etwa Paul Selk (1903–1996) 40 und<br />
Bruno Ketelsen (1903–1945), 41 <strong>de</strong>nen sich als Lehrer dadurch soziale Aufstiegschancen<br />
anboten. Meyer wie<strong>de</strong>rum sorgte durch sie seinerseits dafür, dass das implizite<br />
Milieuwissen, welches er vertrat, nicht kritisch in Frage gestellt wur<strong>de</strong>.<br />
Eine wissenschaftliche Volkskun<strong>de</strong> war in <strong>de</strong>n 1920er Jahren in Schleswig-<br />
Holstein noch kein <strong>uni</strong>versitäres Fach, son<strong>de</strong>rn sie bestand innerhalb <strong>de</strong>r<br />
<strong>uni</strong>versitären Germanistik als ein Bereich, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sprachwissenschaft zugeordnet war.<br />
Der Begriff ›Volkskun<strong>de</strong>‹ fin<strong>de</strong>t sich zum Beispiel in <strong>de</strong>r Zeitschrift Die Heimat neben<br />
<strong>de</strong>r Heimatforschung, <strong>de</strong>r Natur- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> sowie <strong>de</strong>r Sprachforschung;<br />
bei letzterer ging es insbeson<strong>de</strong>re um das Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsche, als <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r<br />
schleswig-holsteinischen Region.<br />
Den Großteil <strong>de</strong>r Veröffentlichungen in Der Heimat nehmen solche Texte ein,<br />
die sich <strong>de</strong>r Geschichte, <strong>de</strong>r <strong>Kultur</strong> und vor allem auch <strong>de</strong>r platt<strong>de</strong>utschen Sprache<br />
widmen. Darunter fin<strong>de</strong>n sich sowohl platt<strong>de</strong>utsche Liedtexte als auch Gedichte sowie<br />
Aufsätze, die <strong>de</strong>n Ursprung und die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Sprache für die<br />
Region Schleswig-Holstein und <strong>Nordschleswig</strong> hervorheben. 42 Unter <strong>de</strong>n Kategorien<br />
›<strong>Kultur</strong>geschichte‹ und ›Volkskun<strong>de</strong>‹ wird eine Vielzahl von kulturellen Entäußerungen<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
Ebd.<br />
Ebd.<br />
Gustav Friedrich Meyer war Mittelschullehrer und von 1936 bis 1945 beauftragter Dozent für Volkskun<strong>de</strong><br />
an <strong>de</strong>r Universität Kiel. Vgl. Silke Göttsch: Gustav Friedrich Meyer. In: Enzyklopädie <strong>de</strong>s Märchens, Bd. 9.<br />
Berlin/u. a. 1999, Sp. 617–619; Harm-Peer Zimmermann: Das Fach Volkskun<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r CAU im Zeichen<br />
<strong>de</strong>s Nationalsozialismus. Das Beispiel G. F. Meyer. In: TOP. Berichte <strong>de</strong>r Gesellschaft für Volkskun<strong>de</strong> in<br />
Schleswig-Holstein 5 (1995), S. 6–28.<br />
Zur Person Paul Selk vgl. Dieter Lohmeier: Vorwort. In: Dieter Lohmeier (Hg.): Paul Selk: Gesammelte<br />
Aufsätze zur Volkskun<strong>de</strong>. Hei<strong>de</strong> 1993, S. 9–14; Ulrich Wilkens: Paul Selk zum Ge<strong>de</strong>nken! In:<br />
Heimatverein <strong>de</strong>r Landschaft Angeln e.V. (Hg.): Paul Selk zu Ehren. Husum 2007, S. 8–10.<br />
Ketelsen, in Ton<strong>de</strong>rn geboren, arbeitete später als Lehrer in <strong>Nordschleswig</strong>, auf Alsen und in Mittelschleswig.<br />
Für Meyer war Ketelsen von großer Be<strong>de</strong>utung, weil er die platt<strong>de</strong>utschen, plattdänischen<br />
und auch die nordfriesischen Dialekte <strong>de</strong>r Grenzgebiete gut beherrschte.<br />
Z. B. Gustav Friedrich Meyer: Platt<strong>de</strong>utsch im Kampf um die Nordmark. In: Der Schleswig-Holsteiner<br />
5 (1924), S. 1–2; vgl. auch <strong>de</strong>rs.: Das Platt<strong>de</strong>utsche im schleswigschen Grenzkampf. In: Karl C. von Lösch<br />
(Hg.): Volk unter Völkern (= Bücher <strong>de</strong>s Deutschtums, 1). Breslau 1925, S. 103–107.
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
29<br />
dargestellt, gesammelt und in ihren historischen Kontexten gewürdigt. Dabei<br />
zeigen die Beiträge unter <strong>de</strong>r Rubrik ›Volkskun<strong>de</strong>‹ das ›traditionelle‹ (Selbst-)Bild<br />
dieser Disziplin, es geht hier fast durchgängig um die Darstellung von tradierten Sitten,<br />
Bräuchen, Sagen, Lie<strong>de</strong>rn und Sprichwörtern, Wohn- und Siedlungsformen. Bei <strong>de</strong>r<br />
Betrachtung <strong>de</strong>r inhaltlichen Schwerpunkte <strong>de</strong>r Zeitschrift bis zur Einglie<strong>de</strong>rung in<br />
das kulturelle Gleichschaltungssystem <strong>de</strong>r Nationalsozialisten wird <strong>de</strong>utlich, worin<br />
die Zeitschrift sich und damit ihre Leser beheimatet: Es ist die geographische Region<br />
Schleswig-Holstein, so wie sie vor <strong>de</strong>m Versailler Vertrag bestan<strong>de</strong>n hatte; es ist inhaltlich<br />
die ländlich-bäuerliche Landschaft, es ist die Sprache <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen, es<br />
sind die überlieferten und althergebrachten kulturellen Platzierungen <strong>de</strong>r Menschen<br />
in dieser Region.<br />
Die Zeitschrift Die Heimat war somit ein zentraler Akteur im Netzwerk jener<br />
Kräfte, die auf verschie<strong>de</strong>nen Ebenen versuchten, mit ihren Platzierungsbeiträgen<br />
zur Selbstvergewisserung und Bewahrung von heimatlicher I<strong>de</strong>ntität beizutragen. Sie<br />
bil<strong>de</strong>te einen weiteren wesentlichen Knotenpunkt im Spacing-Netzwerk, in<strong>de</strong>m<br />
sie in all ihren Beiträgen und Veröffentlichungen hierfür kulturelles und volkskundliches<br />
Wissen sammelte, es zur Verfügung stellte und <strong>de</strong>n Wissensaustausch<br />
organisierte. Damit war sie im Spacing-Prozess, im Aushan<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Grenzraumi<strong>de</strong>ntität,<br />
von zentraler Be<strong>de</strong>utung. Die Analyse dieser Zeitschrift zeigt, dass hier <strong>de</strong>m Grenzraum<br />
<strong>de</strong>r Charakter eines Reliktgebietes zugeschrieben wird. Dem drohen<strong>de</strong>n Verlust dieses<br />
<strong>Raum</strong>es wur<strong>de</strong> mit einem Konzept <strong>de</strong>r Besinnung auf überlieferte, gewachsene<br />
Zugehörigkeit zum schleswig-holsteinischen <strong>Kultur</strong>gebiet entgegen gearbeitet.<br />
Der Schleswig-Holsteiner im Spacing-Prozess<br />
An<strong>de</strong>re wichtige Akteure lassen sich in jenem Milieu fin<strong>de</strong>n, das vor allem auf politischer<br />
Ebene versucht, die Debatte um <strong>de</strong>n Grenzraum zu führen und sich für die<br />
Min<strong>de</strong>rheitenrechte, beson<strong>de</strong>rs im Zusammenhang mit kultureller Autonomie und<br />
Bildungs- und Schulfragen, einzusetzen.<br />
Im Sinne eines Spacing-Prozesses wur<strong>de</strong> hier versucht, durch <strong>de</strong>n Kampf für<br />
<strong>de</strong>utsche Institutionen wie Schulen, Kin<strong>de</strong>rgärten und Bibliotheken, in <strong>de</strong>r Region<br />
<strong>Nordschleswig</strong> jene Platzierungen zu schaffen, die für die Wahrnehmung dieses <strong>Raum</strong>es<br />
als <strong>de</strong>utscher <strong>Kultur</strong>raum wichtig waren.<br />
Es entstan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Grenzregion eine Vielzahl von Vereinen und Zeitschriften,<br />
die agitatorisch eine Grenzrevision verfolgten, Strategien entwickelten, um die<br />
Rechte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Min<strong>de</strong>rheiten in Dänemark auszuweiten, auch um<br />
<strong>de</strong>n Grenzkonflikt in größeren Kontexten, wie zum Beispiel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e eines<br />
Nordstaates, zu lösen. In diesem Platzierungsprozess ist als zentraler Akteur vor allem<br />
die Zeitschrift Der Schleswig-Holsteiner zu nennen, die sich zuvor<strong>de</strong>rst als politischer<br />
Akteur verstand. Im Schleswig-Holsteiner schrieben vermehrt solche Akteure, die<br />
im ›Grenzkampf‹ aktiv waren. Hier ist beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Pastor und nordschleswigsche<br />
Abgeordnete im dänischen Parlament (Folketing) Johannes Schmidt-Wod<strong>de</strong>r
30 vokus<br />
(1869–1959) 43 zu nennen. Schmidt-Wod<strong>de</strong>r war <strong>de</strong>r zentrale Akteur <strong>de</strong>s politischen<br />
Milieus und durch seine Aktivitäten in fast je<strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Min<strong>de</strong>rheit<br />
vertreten, seine Kontakte zu an<strong>de</strong>ren europäischen Min<strong>de</strong>rheitenorganisationen<br />
machten aus ihm eine Schlüsselfigur dieses Milieus.<br />
Der Schleswig-Holsteiner war zunächst ein Knotenpunkt im Netzwerk <strong>de</strong>r<br />
Diskussionen um <strong>Nordschleswig</strong>. Dabei war die Zeitschrift das Forum für die<br />
Diskussion <strong>de</strong>r Strategien <strong>de</strong>s politischen Kampfes, <strong>de</strong>r Strategien zur Festigung <strong>de</strong>s<br />
Deutschen in <strong>Nordschleswig</strong>, vor allem aber auch ein Ort, an <strong>de</strong>m die Begründungen<br />
für die Zugehörigkeit <strong>Nordschleswig</strong>s publiziert wur<strong>de</strong>n. Hier wur<strong>de</strong> somit eine<br />
regionale schleswig-holsteinische bzw. <strong>de</strong>utsche Heimati<strong>de</strong>ntität konstruiert; die<br />
Zeitschrift war Platzierungs- und Syntheseinstrument in <strong>de</strong>r Aushandlung <strong>de</strong>utscher<br />
Grenzraumi<strong>de</strong>ntität.<br />
Die Zeitschrift Der Schleswig-Holsteiner war das Publikationsmedium <strong>de</strong>s<br />
Schleswig-Holsteiner-Bun<strong>de</strong>s (SHB) 44 , <strong>de</strong>r die Schwerpunkte seiner Arbeit auf eine<br />
»aufbauen<strong>de</strong> <strong>Kultur</strong>arbeit«, <strong>de</strong>n Erhalt »schleswig-holsteinischer Eigenart« und »die<br />
Befreiung <strong>de</strong>r durch Unrecht und Gewalt an Dänemark genommenen Lan<strong>de</strong>sund<br />
Volksteile […] durch Hinarbeit auf eine Revision <strong>de</strong>r Artikel 109 bis 114 <strong>de</strong>s<br />
Versailler Vertrages im Sinne <strong>de</strong>s wahren Selbstbestimmungsrechts <strong>de</strong>r Völker« 45 legte.<br />
Die zentrale politische Aufgabe <strong>de</strong>s SHB war die »Erhaltung <strong>de</strong>s bo<strong>de</strong>nständigen<br />
Deutschtums« in <strong>Nordschleswig</strong>. Es gab innerhalb <strong>de</strong>s SHB einen Kreis, <strong>de</strong>r ein<br />
»<strong>Kultur</strong>-Programm für Schleswig-Holstein« (31.03.1920) entwarf. Der »Neubelebung<br />
schleswig-holsteinischen Stammestums« sollte eine »Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>de</strong>utschen<br />
Volkstums« 46 folgen.<br />
Schon durch das Vokabular wird <strong>de</strong>utlich, dass die Aneignung <strong>de</strong>s verlorenen<br />
<strong>Raum</strong>es unter einem rückwärts gewandten Blick geschehen sollte. Deutsches Volks- und<br />
Stammestum waren Ausdruck jener Syntheseleistung, jener Vorstellungsprozesse, unter<br />
<strong>de</strong>nen <strong>Raum</strong>vorstellungen für diese Region zusammengefasst wur<strong>de</strong>n. Die <strong>Kultur</strong>arbeit<br />
wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb so stark betont, weil Teile <strong>de</strong>s SHB <strong>de</strong>n neuen Grenzverlauf nach 1920<br />
ganz klar als selbstverschul<strong>de</strong>t ansahen, da die <strong>de</strong>utsche Seite, im Gegensatz zur dänischen,<br />
viele Jahre die <strong>de</strong>utsche <strong>Kultur</strong>arbeit vernachlässigt hätte. Das Ziel <strong>de</strong>r schleswig-holsteinischen<br />
<strong>Kultur</strong>politik sollte es sein, <strong>Nordschleswig</strong> wie<strong>de</strong>rzugewinnen.<br />
Wichtige Mittel dabei waren die Volkshochschulen als Institutionen sowie inhaltlich<br />
<strong>de</strong>r Auf- und Ausbau <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sgeschichte und <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen<br />
in Verbindung mit Volkskun<strong>de</strong>. Hier lagen somit die mit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Milieu fast<br />
i<strong>de</strong>ntischen inhaltlichen Schwerpunkte <strong>de</strong>s Spacing-Prozesses, <strong>de</strong>r einen <strong>Raum</strong><br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
Zur Person Johannes Schmidt-Wod<strong>de</strong>rs vgl. u.a. Hans Beyer: Die Rolle Schmidt-Wod<strong>de</strong>rs im<br />
Europäischen Nationalitätenkongreß. In: Heimatkundliche Arbeitsgemeinschaft für <strong>Nordschleswig</strong> 9<br />
(1964), S. 67–98; Peter Hopp: Pastor Johannes Schmidt-Wod<strong>de</strong>r (1869–1959). Ein Forschungsbericht.<br />
In: Grenzfrie<strong>de</strong>nshefte 1 (1975), S. 25–35.<br />
Der SHB wur<strong>de</strong> am 04.08.1919 in Schleswig gegrün<strong>de</strong>t.<br />
Satzung <strong>de</strong>s Schleswig Holsteiner Bun<strong>de</strong>s vom 04.08.1919 im Stadtarchiv Flensburg XIII Gr 330.<br />
Lan<strong>de</strong>sarchiv Schleswig-Holstein (LAS) Abt. 301 Nr. 1219.
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
31<br />
konstituieren sollte, in <strong>de</strong>m die großen Narrationen von Volkstum und Stammestum<br />
I<strong>de</strong>ntität schaffen und bewahren sollten.<br />
Den agieren<strong>de</strong>n Akteuren aus bei<strong>de</strong>n Milieus ging es darum, <strong>de</strong>utsches Volkstum<br />
zu schützen und zu bewahren. Dies zeigt sich zum Beispiel im Selbstverständnis<br />
und <strong>de</strong>n Zielsetzungen Der Heimat: Die Bewahrung <strong>de</strong>s Volkstums, also <strong>de</strong>s<br />
Überlieferten, <strong>de</strong>s ›Uralten‹ und ›Echten‹, geschah zum Zwecke <strong>de</strong>r Selbstvergewisserung<br />
in Bo<strong>de</strong>nständigkeit und <strong>de</strong>r Liebe zur Heimat. Auch und gera<strong>de</strong> in<br />
<strong>de</strong>r Sprache, <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Sprache, zeige sich die ›Stammesart‹, <strong>de</strong>r schleswigholsteinische<br />
›Volkscharakter‹, <strong>de</strong>n es zu bewahren, zu schützen gelte, nicht nur vor <strong>de</strong>r<br />
Mo<strong>de</strong>rne, die per se das ländliche Leben bedrohe, son<strong>de</strong>rn auch gegenüber <strong>de</strong>m<br />
dänischen Einfluss.<br />
Gera<strong>de</strong> im Aspekt <strong>de</strong>r Sprache, <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen, zeigt sich ein <strong>Raum</strong>konzept,<br />
das zu jener Zeit die »volkskundliche Germanistik« aus <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Sprache<br />
und regionalen Sitten und Gebräuchen konstruierte. Damit versuchte sie im Grenzraum<br />
und darüber hinaus eine schleswig-holsteinische I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsches Volkstum<br />
zu platzieren, die vom »Dänentum im Nor<strong>de</strong>n erschüttert« 47 wer<strong>de</strong>.<br />
So veröffentlichte Paul Selk seine Sprachuntersuchungen zum Rückgang<br />
<strong>de</strong>s Dänischen im <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzland zugunsten <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen<br />
nicht nur als Monographie 48 , son<strong>de</strong>rn bereits Jahre vorher immer wie<strong>de</strong>r in<br />
verschie<strong>de</strong>nen Zeitschriften. 49 Gera<strong>de</strong> in verschie<strong>de</strong>nen Periodika Schleswig-Holsteins<br />
wur<strong>de</strong>n Selks Sprachuntersuchungen vorgestellt und positiv besprochen. 50 Dass<br />
Selk hier Argumente für <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>s Dänischen hervorhob und sogar mit<br />
graphischen Darstellungen ver<strong>de</strong>utlichte, ist gera<strong>de</strong> im Bezug auf Sprache<br />
für Nationalisierungsstrategien in <strong>de</strong>n 1920er und 1930er Jahren keine<br />
neue Erscheinung. Bereits im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n Diskurse<br />
über nationale Zugehörigkeit und die Konstruktion einer homogenen<br />
sprachlichen Gemeinschaft über Argumente von Sprache geführt. Speziell im<strong>de</strong>utschdänischen<br />
Grenzland mit seiner wechselvollen Geschichte von territorialer Zugehörigkeit<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
Zur Bedrohung <strong>de</strong>s »<strong>de</strong>utschen Volkstums« durch das Dänentum im Nor<strong>de</strong>n vgl. Otto Mensing:<br />
Das Platt<strong>de</strong>utsche in Schleswig. In: Nor<strong>de</strong>lbingen. Beiträge zur Heimatforschung in Schleswig-Holstein,<br />
Hamburg und Lübeck. Hei<strong>de</strong> 1938, S. 15–23, hier S. 22 f.; <strong>de</strong>rs.: Vorwort. In: Karl Müllenhoff<br />
(Hg.): Sagen, Märchen und Lie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg.<br />
Neue Ausgabe besorgt durch Otto Mensing. Schleswig 1921, S. V–VI, hier S. VI.<br />
Vgl. Paul Selk: Die sprachlichen Verhältnisse im <strong>de</strong>utsch-dänischen Sprachgebiet südlich <strong>de</strong>r Grenze.<br />
Eine statistisch-geographische Untersuchung. Text- und Kartenband (= Beiträge zur Heimatforschung, 3).<br />
Flensburg 1937, sowie <strong>de</strong>r Ergänzungsband (= Beiträge zur Heimatforschung, 4). Flensburg 1940.<br />
Vgl. Paul Selk: Über die sprachlichen Verhältnisse im Kirchspiel Me<strong>de</strong>lby. In: Schleswig-Holsteinische<br />
Schulzeitung 81 (1933), S. 61–65; <strong>de</strong>rs.: Der Landlehrer als Sammler mündlicher Volksüberlieferungen.<br />
In: Die Volksschule 30 (1934–35), S. 664–671.<br />
So u. a. in Jahrgängen Der Heimat, vgl. Ludwig Andresen: Rezension zum Sprachwan<strong>de</strong>l in Mittelschleswig.<br />
In: Die Heimat 1938, S. 90–93.
32 vokus<br />
wur<strong>de</strong>n Sprachuntersuchungen bereits 1857 51 als Argument für eine ein<strong>de</strong>utige<br />
nationale Zugehörigkeit durchgeführt. 52<br />
Heimatforscher und wissenschaftliche Volkskun<strong>de</strong> leisteten also einen wichtigen<br />
Beitrag dazu, dass <strong>de</strong>utsches ›Volkstum‹ in seinen Merkmalen aus Sprache, Sitten<br />
und Gebräuchen beschrieben wer<strong>de</strong>n konnte. Die rückwärtsgewandte Beschreibung,<br />
die immer historisch-kontinuitiv orientiert war, betonte die Gemeinschaft, sprach von<br />
Sippe, Stamm und Art, wobei es irrationale, mythische Kräfte sind, die diese Gemeinschaft<br />
zusammenhalten. Für die damals angestrebte Inbesitznahme <strong>de</strong>s Grenzraumes war<br />
dies natürlich von großer Be<strong>de</strong>utung, zielte es doch auf zwei Richtungen: Zum einen<br />
gehörte die <strong>de</strong>utsche Min<strong>de</strong>rheit, <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Sichtweisen nach, zum<br />
<strong>de</strong>utschen Volk und es musste dafür gesorgt wer<strong>de</strong>n, dass – wenn schon die Grenze<br />
nicht sofort revidiert wer<strong>de</strong>n konnte – sichergestellt wur<strong>de</strong>, dass die kulturelle I<strong>de</strong>ntität<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Min<strong>de</strong>rheit geschützt, <strong>de</strong>utsches Volkstum bewahrt und gestärkt wer<strong>de</strong>.<br />
Zum an<strong>de</strong>ren grenzte diese Selbstvergewisserung die I<strong>de</strong>ntitätskonstruktion auch nach<br />
außen ab. In<strong>de</strong>m sie Gemeinschaft und Volk als wesentliches Merkmal betonte, wen<strong>de</strong>te<br />
sie sich gegen die Mo<strong>de</strong>rne, gegen <strong>de</strong>ren Betonung <strong>de</strong>s Individuums, was in <strong>de</strong>r politischen<br />
Diskussion mit Dänemark und <strong>de</strong>r dänischen Gesellschaft gleichgesetzt wur<strong>de</strong>. 53<br />
In <strong>de</strong>r Aushandlung einer Grenzraumi<strong>de</strong>ntität in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzregion<br />
fin<strong>de</strong>n wir ein historisches Beispiel für die zielgerichtete Praktizierung eines Spacing-<br />
Prozesses. Sein Ziel war die kulturelle Landnahme 54 eines im <strong>de</strong>utschen Erleben bedrohten<br />
<strong>Raum</strong>es. Diese Region erschien dabei als Reliktgebiet, zugehörig zu gewachsenem<br />
<strong>de</strong>utschen Volkstum. Die Konstituierung einer Grenzraumi<strong>de</strong>ntität, die<br />
inhaltlich die Zugehörigkeit zu <strong>de</strong>utschem Volkstum propagierte und nichts an<strong>de</strong>res<br />
be<strong>de</strong>utete als ein allgemeines <strong>Raum</strong>konzept <strong>de</strong>r kulturellen Landnahme, verläuft<br />
nachvollziehbar über die von Löw benannten zwei Prozesse <strong>de</strong>r Konstruktion und<br />
Rekonstruktion von Wahrnehmung und Erinnerung sowie durch die Spacing-Prozesse<br />
<strong>de</strong>s Aushan<strong>de</strong>lns von I<strong>de</strong>ntität. 55 Mythische Erweiterungen bis hin zum Aufgehen <strong>de</strong>r<br />
nationalen Differenzen in einem letztlich germanischen Nordstaat bil<strong>de</strong>ten eine weitere<br />
51<br />
52<br />
53<br />
54<br />
55<br />
C. F. Allen: Det danske Sprogs Historie i Hertugdømmet Slesvig eller Søn<strong>de</strong>rjylland, Bd. 1. København 1957;<br />
<strong>de</strong>rs.: Det danske Sprogs Historie i Hertugdømmet Slesvig eller Søn<strong>de</strong>rjylland, Bd. 2. København 1958.<br />
Vgl. Andrea Teebken: Räumliche und mentale Grenzziehung im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Der Sprachenkampf im<br />
Herzogtum Schleswig. In: Martin Rheinheimer (Hg.): Grenzen in <strong>de</strong>r Geschichte Schleswig-Holsteins und<br />
Dänemarks (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, 42). Neumünster 2006,<br />
S. 353-366.<br />
Dänemark betonte in <strong>de</strong>r politischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ganz beson<strong>de</strong>rs das Völkerrecht, also das Selbstbestimmungsrecht<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Völker und <strong>de</strong>s einzelnen Menschen. Es betonte die individuellen Freiheiten<br />
<strong>de</strong>s Menschen und stand so im Gegensatz zum Gedanken <strong>de</strong>s Volkstums, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Volksgemeinschaft.<br />
Vgl. Johannes Schmidt-Wod<strong>de</strong>r: Das <strong>de</strong>utsch-dänische Verhältnis im Grenzgebiet und im allgemeinen, in kultureller<br />
und wirtschaftlicher Hinsicht. In: Der Schleswig-Holsteiner. Halbmonatsschrift <strong>de</strong>s Schleswig-Holsteiner-Bun<strong>de</strong>s<br />
9 (1928), S. 729-731, sowie <strong>de</strong>rs.: Das schleswigsche Min<strong>de</strong>rheitenproblem. In: Hans Martin<br />
Johannsen (Hg.) Grenzland Schleswig. Aufsätze zur Deutsch-Dänischen Frage. Crimmitschau 1926, S. 64-77.<br />
Der Begriff kulturelle Landnahme wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Autorin geschaffen, um auf <strong>de</strong>n Versuch <strong>de</strong>r Vereinnahmung<br />
dänischen Gebietes (<strong>Nordschleswig</strong>) durch <strong>de</strong>utsche <strong>Kultur</strong>elemente wie Sprache hinzuweisen.<br />
Vgl. Löw, wie Anm. 20, S. 224–231.
Nina Jebsen: <strong>Verlorener</strong> <strong>Raum</strong> <strong>Nordschleswig</strong><br />
33<br />
Variante <strong>de</strong>s <strong>Raum</strong>konzeptes für die Region, wobei spätestens in diesen Konstruktionen<br />
die eigentliche Grenzlinie gar nicht mehr im Vor<strong>de</strong>rgrund stand.<br />
Im Aushandlungsprozess <strong>de</strong>s Spacing lieferten politische und volkskundliche Akteure<br />
wesentliche Platzierungsbeiträge, volkskundliches Wissen positionierte Merkmale<br />
<strong>de</strong>utschen ›Volkslebens‹. Die Volkskun<strong>de</strong> nahm das Bedrohungsszenario auf, perpetuierte<br />
es und leitete daraus ihre rückwärtsgewandten Aufgaben <strong>de</strong>s Bewahrens und<br />
Pflegens <strong>de</strong>utschen Volkstums ab. Sie versuchte so, einen wesentlichen Beitrag dazu zu<br />
leisten, dass die Bewohner <strong>de</strong>r nunmehr eigentlich dänischen Region <strong>Nordschleswig</strong><br />
sich als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Volksgemeinschaft zugehörig wahrnehmen sollten und konnten.<br />
Volkskun<strong>de</strong> und volkskundliches Wissen waren somit ganz wesentlich beteiligt am<br />
Aushandlungsprozess einer Grenzraumi<strong>de</strong>ntität im <strong>de</strong>utsch-dänischen Grenzgebiet.<br />
Die Konstituierung von <strong>Raum</strong> unter <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>r analytischen Konzeption<br />
von Löw zu untersuchen, hat sich insofern als äußerst fruchtbar erwiesen, als dass sich<br />
durch diese Herangehensweise nicht nur Platzierungsprozesse mit ihren jeweiligen<br />
<strong>Raum</strong>konzepten i<strong>de</strong>ntifizieren ließen, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> durch die Verknüpfung dieser<br />
Platzierungsprozesse mit vorgegebenen <strong>Raum</strong>konstruktionen und <strong>de</strong>r Syntheseleistung<br />
in <strong>de</strong>r Konstruktion von Vorstellungs- und Wahrnehmungsprozessen die Komplexität<br />
einer solchen Aushandlung von I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n konnte.<br />
Nina Jebsen M.A.<br />
c/o Institut for Grænseregionsforskning<br />
Syddansk Universitet<br />
Alsion 2<br />
DK – 6400 Søn<strong>de</strong>rborg<br />
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