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Moje Weer # 35<br />
Das Magazin aus Gröpelingen<br />
T h e m a : B I L D U N G * H e r b s t 2 0 1 0 * K u l t u r V o r O r t e . V.<br />
Zeichnung: Inna Komova
Donnerstag, 14.50 h, Atelierhaus Roter Hahn Gröpelingen:<br />
Die Entdeckung der Welt
4 5<br />
Inhalt<br />
Editorial<br />
Bildung in Gröpelingen<br />
Kinder sind nicht „unsere“ Zukunft: Sie haben eine Gegenwart<br />
und das Recht auf angemessene Chancen<br />
6<br />
Palast der <strong>Vor</strong>stadt – Jugendkunst aus Gröpelingen<br />
16<br />
Westfuß trifft linke Hand – Bildungslandschaft Gröpelingen<br />
32<br />
8<br />
Feuerspuren 2010 – Das internationale Erzählfestival<br />
28<br />
Migranten im Bildungsnetzwerk – Interview mit Yusuf Ekiz<br />
36<br />
Warum ein Heft zum Thema Bildung in Gröpelingen?<br />
Haben wir nicht weitaus wichtigere Probleme wie beispielsweise<br />
die hohe Erwerbslosigkeit, mangelhafte Integration,<br />
Armut im Stadtteil?<br />
Für die Bundesbildungsministerin Annette Schavan scheint<br />
die Antwort einfach: Bildung sei der Schlüssel „für<br />
individuelle Lebenschancen und für soziale und kulturelle<br />
Teilhabe“.<br />
Wenn es so einfach wäre. Aber leider geht es nicht immer<br />
um die individuelle Anstrengung, um individuelle Fähigkeiten<br />
und Potentiale – dann wären wir in Gröpelingen gut<br />
bestellt.<br />
Vielmehr geht es um den Zusammenhang von sozialer<br />
Spaltung der Stadt, der rasanten sozialen Entmischung in<br />
den Bremer Quartieren und den Bildungschancen im<br />
Stadtteil.<br />
Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen in Stadtteilen<br />
wie Gröpelingen stehen oft scheinbar unüberwindliche<br />
strukturelle Hürden einem gelingenden Bildungsleben<br />
entgegen.<br />
Mit dieser Moje Weer wollen wir die Diskussion um Bildung<br />
im Quartier anregen. Wir stellen verschiedene Projekte vor,<br />
mit denen Kinder, aber auch Erwachsene besser ihr Können,<br />
Ihre Kompetenzen, ihre Geschichte in den Stadtteil ein -<br />
bringen können. Und wir diskutieren neuere Ansätze, die<br />
unter dem Stichwort „Bildungslandschaft“ diskutiert<br />
werden.<br />
Impressum<br />
Moje Weer. Das Magazin aus Gröpelingen. Nr. 35, Herbst 2010<br />
Heimat – Erinnerung muss neu gedacht werden<br />
Gesamtschule West – Die Asbest-Katastrophe vor 20 Jahren<br />
Außerdem: Interview mit Christiane Gartner | <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> Seite 12 +++ Gespräch mit <strong>Ort</strong>samtsleiter Peter Mester Seite 11<br />
+++ Gespräch mit Andreas Gebauer | Stadtbibliothek West Seite 26<br />
Herausgegeben von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V.<br />
Liegnitzstraße 63, 28237 Bremen, www.kultur-vor-ort.com<br />
kulturvorort@torhaus-nord.de, www.torhaus-nord.de<br />
Redaktion dieser Ausgabe: Claudia Ruthard, Lutz Liffers,<br />
Eike Hemmer (ViSdP)<br />
Layout: Tatjana Blaar Grafik-Design, www.blaar.de
6 7<br />
Über den eigenen Schatten springen<br />
<strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. startete Jugendkunstprojekt „Palast der <strong>Vor</strong>stadt“<br />
Was hat Gröpelingen mit Platons Höhle zu tun? Die rund 40<br />
jungen Künstler, die am Jugendkunstprojekt „Palast der<br />
<strong>Vor</strong>stadt“ in den Ateliers von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> arbeiteten,<br />
haben auf diese Frage eine Menge Antworten gefunden. Im<br />
über 2000 Jahre alten Höhlengleichnis von Platon geht es<br />
unter anderem um die Frage nach Schein und Wirklichkeit,<br />
sowie im wahrsten Sinne des Wortes um den Sprung über<br />
den eigenen Schatten. Dass diese Themen besonders für<br />
Jugendliche aus einem in hohem Maße von Arbeitslosigkeit<br />
betroffenen Stadtteil wie Gröpelingen von großer Aktualität<br />
sind, beweist die Vielzahl von Ideen, die in den künstlerischen<br />
Arbeiten wiederzufinden waren.<br />
In Kooperation mit der Gesamtschule West und der<br />
Johann-Heinrich-Pestalozzi-Schule arbeiteten die bildenden<br />
Künstler Anja Fußbach und Frank Bertoldi, die Schauspielerin<br />
und Regisseurin Lou Simard und die Grafikerin Katja<br />
Philipsenburg zusammen mit den Schülerinnen und<br />
Schülern neun Wochen lang an der Errichtung des „Palastes<br />
der <strong>Vor</strong>stadt“. Vom 9. bis 12. Juni war dieser mitten in<br />
Schwachhausen am Anti-Kolonialdenkmal Der Elefant<br />
aufgebaut. Dort konnten sich die <strong>Vor</strong>stadt und die Innenstadt,<br />
Gröpelingen und Schwachhausen und somit<br />
Menschen aus zwei unterschiedlichen Lebenswelten<br />
be gegnen. „Es geht uns bei dem Projekt um die Überwindung<br />
von räumlichen, aber auch gedanklichen Grenzen“, so<br />
Christiane Gartner von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong>. „Die künstlerische<br />
Arbeit ist dabei die Grundlage eines Dialogs zwischen<br />
Menschen unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten.“<br />
Die Jugendlichen aus Gröpelingen stellten ihre Lebenswelt<br />
auf ganz verschiedenen Wegen dar. So nahm sich die<br />
Gruppe um Anja Fußbach und Frank Bertoldi riesige Kisten<br />
aus Holz zum Ausgangspunkt, um ihre eigene Sicht der<br />
Dinge zu zeigen: KopfKisten nannten sie die Objekte. Auf<br />
und in den Kisten entstanden Ober- und Unterwelten,<br />
Traum- und Wirklichkeitsszenarien. Mit ihren Arbeiten<br />
stellten die Jugendlichen auch die Frage nach Machtverhältnissen<br />
und den Möglichkeiten, die Welt mitzugestalten.<br />
Angelehnt an das Höhlengleichnis, arbeiteten die Schülerinnen<br />
und Schüler mit Licht und Schatten, mit Sound, Düften<br />
und einem riesigen Fundus an Materialien. Anja Fußbach<br />
war hoch zufrieden mit ihrem Team: „Die verschiedenen<br />
Arbeiten stecken voller Kreativität, Witz und Tiefsinn. Es<br />
wird unglaublich viel zu entdecken geben.“<br />
Die Gruppe von Lou Simard hatte sich zu einer vollkommen<br />
anderen Herangehensweise an das Thema entschlossen.<br />
Sie konzentrierte sich auf die Arbeit mit dem eigenen<br />
Körper und entwickelt eine Performance, die Elemente aus<br />
Theater, Tanz und Musik miteinander verbindet. „Die<br />
Schülerinnen arbeiten mit den Mitteln der Assoziation und<br />
Improvisation zu Themen wie <strong>Vor</strong>urteil und Täuschung“,<br />
erklärte Lou Simard. „Kleine Alltagserlebnisse werden dabei<br />
zu einer neuen Geschichte verwoben.“<br />
Katja Philipsenburg hatte eine weitere Gruppe von Schüle -<br />
rinnen und Schülern um sich versammelt, deren hauptsächliche<br />
Arbeit bereits im <strong>Vor</strong>feld der Präsentation stattfand.<br />
Mit Elementen der Streetart und des Guerilla-Marketings<br />
entwickelten die Jugendlichen ein Werbekonzept, das<br />
möglichst viele Gäste in den Palast der <strong>Vor</strong>stadt locken<br />
sollte. Darüber hinaus kümmerte sich die Gruppe um die<br />
projekteigene Homepage.<br />
Die Einzigartigkeit dieses Jugendkunstprojekts wurde dem<br />
Projektteam auch vom Bundesministerium für Arbeit und<br />
Soziales bestätigt. Der „Palast der <strong>Vor</strong>stadt“ wurde als<br />
eines von 40 Projekten unter 842 Einsendungen ausgewählt<br />
und wurde im Rahmen des Europäischen Jahres 2010<br />
zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung<br />
gefördert. Weitere Förderer waren der Senator für <strong>Kultur</strong><br />
und der Beirat Schwachhausen.<br />
„Mit neuem Mut“, so lautet das Motto des Europäischen<br />
Jahres. Und mit viel Mut wurde auch der Palast der <strong>Vor</strong>stadt<br />
gestaltet, so dass am Ende Grenzen überwunden und<br />
Brücken geschlagen werden konnten.<br />
Über 400 Schülerinnen und Schüler besuchten die Ausstellung,<br />
mehr als 200 Gäste kamen an den Nachmittagen zu<br />
Führungen und zu den Begleitveranstaltungen.<br />
Kommentare und Eindrücke finden sich auf der Website:<br />
www.palast-der-vorstadt.de
8 9<br />
Feuerspuren 2010<br />
Das Internationale Erzählfestival FEUERSPUREN ist ein kollektives<br />
Bildungsprojekt für den Stadtteil<br />
„Ich heiße Tayfun, ich wohne in der Gröpelinger Heerstraße<br />
und unser Nachbar ist total dick. / Ich heiße Aleyna, ich<br />
wohne in der Kalischer Straße und unsere Nachbarin hat ein<br />
kleines Baby und das hat eine eigene Playstation. /<br />
Ich heiße Patrick, ich wohne in der Dirschauer Straße und<br />
manchmal wünsche ich mir, wir hätten keine Nachbarn.“<br />
So beginnt eine chorische Erzählung über Nachbarn, die<br />
Schülerinnen und Schüler einer 4. Klasse für das Erzählfestival<br />
FEUERSPUREN 09 erarbeitet hatten. Die Veranstalter,<br />
<strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> und Bürgerhaus Oslebshausen, gingen<br />
mit dem nur scheinbar harmlosen Motto des letzten<br />
Festivals einen mutigen Weg: „Nachbarn“ entpuppte sich<br />
als Thema mit Brisanz.<br />
Im Bremer Stadtteil Gröpelingen leben 35.000 Menschen.<br />
Hier leben die Einwanderer, deren Väter und Großväter man<br />
einst als Hilfsarbeiter nach Deutschland holte und die der<br />
Strukturwandel „überflüssig“ gemacht hat. Jeder zweite<br />
junge Mensch unter 18 Jahren lebt von Sozialhilfe, skandalös<br />
viele Migrantenkinder beenden ihre Bildungskarriere als<br />
„Förderschüler“ oder ohne Abschluss. Aufstiegsorientierte<br />
Eltern verlassen den Stadtteil. In diesem Klima sozialer<br />
Entmischung und erodierender Zivilgesellschaft stehen<br />
Nachbarschaften unter großem Druck. <strong>Vor</strong> diesem Hintergrund<br />
ist ein wichtiges Ziel der Arbeit von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong>,<br />
Mut zu machen, soziale Grenzen zu durchbrechen und den<br />
Stadtteil als einen besonders interessanten und lebenswerten<br />
Teil Bremens zu zeigen.<br />
Ein Fest der Sprachen<br />
Das internationale Erzählfestival FEUERSPUREN spielt dabei<br />
eine besondere Rolle. FEUERSPUREN findet im Herbst<br />
jeden Jahres auf der zentralen Verkehrsachse des Stadtteils<br />
statt. In den Ladenlokalen des Einzelhandels, im Waschsalon,<br />
der Moschee, dem türkischen Friseur, der Bibliothek,<br />
dem Eine-Welt-Laden, dem letzten Bauernhof und vielen<br />
weiteren <strong>Ort</strong>en erwarten im genau getakteten Rhythmus<br />
GeschichtenerzählerInnen ihre Gäste: Erzählt werden<br />
traditionelle und moderne Geschichten, fast alle in mehre -<br />
ren Sprachen.<br />
FEUERSPUREN dokumentiert damit nicht nur die sprachliche<br />
Vielfalt im Einwandererquartier, sondern zollt den Sprachen<br />
der Bewohner auch den nötigen Respekt, der Grundlage des<br />
Zusammenlebens sein muss. Die meisten ErzählerInnen<br />
stammen aus dem Stadtteil und werden vorab in verschiedenen<br />
Workshop und Kursen geschult, um ihre Geschichte<br />
zu entwickeln und professionell präsentieren zu können.<br />
Ca. 110 Akteure beteiligten sich 2009 und erzählten an 15<br />
<strong>Ort</strong>en, während draußen auf der Straße Feuershows,<br />
Walking Acts und Stehgreiferzähler unter großen Regenschirmen<br />
das Publikum unterhielten. Für die meisten<br />
ErzählerInnen ist der Auftritt der Höhepunkt einer langen<br />
persönlichen Auseinandersetzung, bei der es meist um den ><br />
Feuerspuren 2010: RETTUNG<br />
„Jeder möchte gerettet werden“ schreibt Hans-Magnus<br />
Enzens berger im Roman Untergang der Titanik, „... aber<br />
ist das nicht zu viel verlangt von einer guten Idee?“<br />
Rettung ist Sehnsucht und Programm. Rettung kommt<br />
auf leisen Sohlen oder mit Pauken und Trompeten. Mal ist<br />
es ein Engel, mal ein Feuerwehrmann, mal ein Held, mal<br />
eine Geste, die den Geretteten zurück in die Welt bringt.<br />
Oft bleibt die Rettung aus – aber das muss nicht immer<br />
ins Unglück führen, denn mancher will sich gar nicht retten<br />
lassen und manche Rettung führt in die Katastrophe.<br />
Mitunter muss man sich auch selbst am Schopf aus dem<br />
Sumpf ziehen oder man wird ohne es zu wollen selbst<br />
zum Retter.<br />
RETTUNG ist ein Fall für GeschichtenerzählerInnen, denn<br />
im Drama der Rettung finden wir die Lebensgeschichten<br />
eines ganz normalen Alltags eines ganz normalen Stadtteils<br />
im Westen Bremens.<br />
Das internationale Erzählfestival FEUERSPUREN 2010 erzählt<br />
von RETTUNG am 6. und 7. November in Gröpelingen!<br />
Mit Workshops und Erzählkursen laden wir Sie ein,<br />
mit Ihrer Geschichte von Rettung zu den Feuerspuren 2010<br />
beizutragen.<br />
Infos: www.kultur-vor-ort.com
10 11<br />
Zusammenhang eigener biographischer Erfahrungen und<br />
dem konkreten Alltag im Stadtteil geht. Viele der ErzählerInnen<br />
sind Migranten, die es oft zum ersten mal wagen,<br />
sich öffentlich zu zeigen und dann auch noch ihre eigene<br />
Sprache zum Klingen zu bringen.<br />
Gewicht erhält das Festival durch seine öffentliche Präsenz<br />
in der Stadt. Mit einer aufwändigen professionellen<br />
Öffentlichkeitskampagne – bei der mit Unterstützung der<br />
Wirtschaftsförderung Bremen sogar die Citylights in der<br />
ganzen Stadt geschaltet werden – wird die Stadt in<br />
überraschender Weise auf den ansonsten stigmatisierten<br />
Stadtteil aufmerksam.<br />
8000 Menschen strömten 2009 zu den FEUERSPUREN nach<br />
Gröpelingen, darunter viele, die erstmals in dieses Quartier<br />
kamen. Das in einer Auflage von 20.000 Exemplaren<br />
erscheinende Programmheft ist dabei mehr als nur ein<br />
Kompass durch das umfangreiche Programm: Die von der<br />
Agentur Gruppe für Gestaltung gemeinsam mit dem<br />
Veranstalter jedes Jahr neu entwickelte Fotostrecke ist ein<br />
eindrucksvoll sensibles Portrait dieses widersprüchlichen<br />
Stadtteils, das die herbe Wirklichkeit nicht versteckt, aber<br />
auch nicht stigmatisierende Stereotypen von „Armutsquartieren“<br />
bedient. So werden die FEUERSPUREN zu einer<br />
Herausforderung, sich auf eine ungewöhnliche Begegnung<br />
mit dem Stadtteil einzulassen und den sozialen Reichtum<br />
des verarmten Quartiers zu entdecken.<br />
Besonderen Wert legt <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. auf die Einbeziehung<br />
von Kindern und Jugendlichen und bietet deshalb den<br />
Schulen und KTHs im <strong>Vor</strong>feld Theater- und Kunstworkshops<br />
an. Herausragend im letzten Jahr waren die Ergebnisse der<br />
Arbeit von Kindern von 5 bis 8 Jahren, die mit Objekten und<br />
Cut Outs den Straßenraum der FEUERSPUREN poetisch<br />
kommentierten. Angeleitet wurden die Workshops von<br />
Studierenden der Fachhochschule Ottersberg, die auf<br />
hohem künstlerischem Niveau mit den Kindern agierten.<br />
Die künstlerische Qualität aller Projekte rund um die<br />
FEUERSPUREN gehört zum Erfolgsgeheimnis des Festivals.<br />
Dies wurde im letzten Jahr besonders deutlich bei einer<br />
Performance einer vierten Klasse, für die <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> die<br />
freie Regisseurin Katrin Brettschneider gewann. Die Kinder<br />
trugen verschiedene Geschichten aus der Nachbarschaft<br />
zusammen und hatten neben vielen schönen Erlebnissen<br />
auch zahlreiche groteske und haarsträubende Erfahrungen<br />
zu berichten. Brettschneider verdichtete gemeinsam mit<br />
den Kindern die Geschichten zu einem stark rhythmisierten<br />
chorischen Sprechstück, das mehr als jede großangelegte<br />
Kinderstudie vom Alltag der Kinder in diesem Stadtteil<br />
erzählt.<br />
Unwissend <br />
Wieso rennt er jetzt wieder davon? Ihm muss doch klar sein, dass ihn<br />
mittlerweile die ganze Straße kennt. Mit seinen roten Lackschuhen und<br />
dem wasserstoffblonden Haar ist er immer auffällig, fast so sehr wie das<br />
Bordell gegenüber, aus dem er wie jeden Tag versucht unbemerkt zu verschwinden.<br />
Wir sehen ihn!<br />
Genau wie sie. Jeder in der Straße weiß, dass sie morgens nur zum Gemüsehändler<br />
geht um Ferhat zu sehen und nicht, weil sie die Tomaten so<br />
toll findet, die er ihr mal empfohlen hat. Die mag sie eigentlich gar nicht.<br />
Die verschenkt sie nämlich immer an die Bäckerin ein Haus neben uns.<br />
Und mit jedem Kunden, der bei ihr das beliebte Fladenbrot kauft, zerreißt<br />
sich unsere kleine Bäckersfrau das Maul, über das andere junge<br />
Mädchen, das jeden Morgen um sieben Uhr an der Haltestelle steht und<br />
hofft, von Felix aus der grünen WG angesprochen zu werden.<br />
Noch nie hat er sie beachtet, logisch, denn er steht auf Natascha, die<br />
Tochter des Tätowierers von nebenan. Doch Natascha ist heimlich mit<br />
Ferhat zusammen, was jeder weiß, bis auf ihren Vater.<br />
Und wenn ich dann abends im Bett liege und den vertrauten Streit des,<br />
wohl bald geschiedenen Ehepaares von nebenan höre, aus dem Fenster<br />
blicke und sehe, wie die Leuchtreklame des <strong>Ort</strong>hopäden angeht. Dann<br />
achte ich meistens auf das Licht und stelle mir immer dieselbe Frage:<br />
Was weiß diese Straße bloß alles über mich?<br />
Zoe, 16 Jahre, schrieb diesen Text während eines Slam-Workshops von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> mit<br />
Xochíl Schütz.<br />
Die Schule ging den künstlerisch und thematisch mutigen<br />
Weg mit, und die Kinder konnten eine überaus eindrucksvolle<br />
Arbeit präsentieren: In der überfüllten Bibliothek<br />
hätte man eine Nadel fallen hören können, so aufmerksam<br />
war das Publikum, als die Kinder von den Nachbarschaften<br />
in „28237 Gröpelingen“ erzählten.<br />
So wie auf dieser Bühne werden auf allen Bühnen der<br />
FEUERSPUREN die Bewohner des Stadtteils als authentische<br />
Erzähler ihrer eigenen Geschichte respektiert. Diese<br />
Auseinandersetzung mit der herben gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit ist riskant, aber sie führt in die Freiheit.<br />
Lutz Liffers<br />
FEUERSPUREN. Das internationale Erzählfestival.<br />
Veranstalter: <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. und Bürgerhaus Oslebshausen<br />
Gefördert mit Mitteln des europäischen Sozialfonds EFRE und<br />
lokalen Sponsoren.<br />
Künstlerische Leitung: Julia Klein, Lutz Liffers, Christiane Gartner<br />
„Wir brauchen Konstanz“<br />
<strong>Ort</strong>samtsleiter Peter Mester über Bildungsexzellenz in Gröpelingen<br />
In der Bremer Bildungslandschaft ist vieles in Bewegung übrigen zu Unrecht, denn dort ist unter schwierigen<br />
gekommen, für Gröpelingen ist ein Quartiersbildungszentrum<br />
angedacht. Wie müsste ein solches QBZ für Gröpe- geleistet worden.<br />
Rahmenbedingungen gute, bundesweit anerkannte Arbeit<br />
lingen aussehen? Was muss es leisten?<br />
Das neue Beirätegesetz stärkt die Stellung der Beiräte.<br />
Zuerst einmal muss ein QBZ – wie immer es schlussendlich Wie könnte der Beirat Gröpelingen dies für eine bessere<br />
aussehen mag – eine verlässliche Konstanz haben. Bremens Bildungsstruktur im Westen nutzen?<br />
Bildungspolitik war lange genug von kurzlebigen Modellen Diese Frage spricht das Verhältnis zwischen Fachverwaltung<br />
und <strong>Ort</strong>spolitik an. Ein spannungsreiches Handlungs-<br />
geprägt, die den wechselnden politischen Kräfteverhältnissen<br />
entsprungen waren und nie die Chance hatten, feld, geprägt von berufsständischen Eitelkeiten auf der<br />
dauerhafte Wirkung zu erzielen.<br />
einen und politischen Minderwertigkeitsgefühlen auf der<br />
Mein zweiter Wunsch wäre es, mehrere Standorte für QBCs anderen Seite. Selten genug agieren die Beteiligten dabei<br />
zu haben – wir brauchen kurze Wege und niedrigschwellige auf Augenhöhe – zum Beiratsalltag hat es bisher häufig<br />
Angebote. Und drittens wäre es gut, eine möglichst große gehört, nicht angemessen eingebunden zu sein, geschweige<br />
Bandbreite an Dienstleistungen anzubieten: Über Schulaufgabenhilfe,<br />
Beratungs- und Betreuungsangebote bis hin Zum konkreten Thema „Bildungslandschaft“ erlebe ich<br />
denn, dass man Einfluss auf Entscheidungen gehabt hätte.<br />
zu einer kinderärztlichen Mitwirkung sollte alles dabei sein, allerdings, dass das Bildungsressort bemüht ist, die <strong>Ort</strong>swas<br />
zur Begleitung eines SchülerInnen-Lebens gehört. Im politik „mitzunehmen“, die Planungs- und Entscheidungsprozesse<br />
möglichst transparent zu gestalten und sich für<br />
übrigen muss man das Rad nicht völlig neu erfinden –<br />
wir haben ein bewährtes Netz von Gemeinwesenträgern, Beratung und Begleitung durch den Beirat ungewohnt weit<br />
die sich auf diesem Aufgabenfeld einbringen können. zu öffnen. Das ist eine neue Qualität und entspricht dem<br />
Stadtteile wie Gröpelingen brauchen exzellente Schulen Willen des Gesetzgebers, der das Fachwissen der Verwaltung<br />
angereichert wissen möchte um die Kenntnisse<br />
mit hoher Ausstrahlungskraft, um eine weitere soziale<br />
Entmischung des Stadtteils zu verhindern. Wie sähe eine dessen, was vor <strong>Ort</strong> gedacht und gefühlt wird. Erfahrungsgemäß<br />
wird der Beirat eng am Ball bleiben müssen, um<br />
„Exzellenzinitiative“ für Gröpelingen aus?<br />
Dazu gehört zuerst einmal ein starkes, unverwechselbares diese neue Position zu behaupten.<br />
Schulprofil. Das kann im musischen Bereich verankert sein, Was ich bedaure, ist die Tatsache, dass wir unter dem Dach<br />
gern aber auch im naturwissenschaftlichen Zweig. Da es des <strong>Ort</strong>samtes kein gemeinsames Handeln der Beiräte<br />
im letztgenannten Bereich die größte Nachfrage auf dem Findorff, Walle und Gröpelingen zugunsten eines in sich<br />
Arbeitsmarkt gibt, liegt es eigentlich nahe, in diese<br />
stimmigen Bildungskonzeptes für den gesamten Bremer<br />
Richtung zu gehen. Im übrigen gehört auch ein optisch Westen organisieren können. Die Unterschiedlichkeiten der<br />
ansprechendes Schulgebäude dazu – es muss insgesamt Interessen der Stadtteile erweisen sich dabei leider als<br />
Spass machen, im eigenen Stadtteil zur Schule zu gehen. unüberwindbar. <<br />
Nur – ein neuer Farbanstrich oder bauliche Korrekturen<br />
allein reichen nicht aus, um Gröpelinger Schulen „exzellent“<br />
werden zu lassen. Die entscheidende Basis dafür muss über<br />
die Inhalte definiert werden. Und es muss für den Standort<br />
„Pestalozzi“ ein neuer Name her – das ist zwar für alle<br />
Traditionsbewussten, vor allem für SchülerInnen vergangener<br />
Jahrzehnte, schmerzhaft und nur schwer nachvollziehbar.<br />
Fakt ist aber, dass dieser Name „verbrannt „ ist – im
13<br />
Vernetzen, unterstützen und<br />
Orakel befragen<br />
Christiane Gartner, Geschäftsführerin von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> im Interwiew<br />
Eins der erfolgreichen Projekte, die <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> in<br />
Bremen-Gröpelingen durchgeführt hat, hieß „Pink House“.<br />
Ein aufblasbarer begehbarer Tempel in schreiendem Pink<br />
bot über mehrere Wochen Lesungen, Theater, Essen und ein<br />
Orakel. Im <strong>Vor</strong>feld wurden im Stadtteil Fragen gesammelt,<br />
die man diesem Orakel stellen wollte. Das reichte von<br />
„Wann wird Werder wieder Meister?“ bis zu „Wer soll das<br />
alles bezahlen?“<br />
Christiane Gartner, Geschäftsführerin von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong>,<br />
meint dazu, dass doch eigentlich jede Stadt ein Orakel<br />
braucht, denn wem soll man denn sonst seine Fragen<br />
stellen? Die Antwort auf die Frage, wie man gute soziokulturelle<br />
Projekte im Stadtteil macht, könnte also heißen,<br />
dass man zuerst auf die Fragen hören muss.<br />
Wie ist <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> entstanden und was war euer Ziel?<br />
Der Verein wurde 1997 gegründet, hatte allerdings als<br />
<strong>Vor</strong>läufer einen <strong>Kultur</strong>laden, also eine klassische soziokulturelle<br />
Einrichtung hier im Stadtteil. Die Gründungsmitglieder<br />
von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> waren hier im Stadtteil politisch aktiv,<br />
beispielsweise bei der Schließung der Bremer Großwerft<br />
AG Weser. Wir wollten den Niedergang des Stadtteils<br />
verhindern und uns so aufstellen, dass wir im Rahmen der<br />
Stadtsanierung eine professionelle künstlerische und<br />
kulturelle Bildung kombiniert mit einem modernen Stadt -<br />
teilmarketing hier im Stadtteil verankern.<br />
Das heißt, ihr habt gleich mit zielgruppenspezifischen<br />
Angeboten angefangen.<br />
Nein. Wir haben nie Frauencafés oder Arbeitslosentreffs<br />
gemacht. Wir kommen einfach aus einer anderen Zeit.<br />
Friedensbewegung, Multi-Kulti und so weiter – das waren<br />
alles Konzepte, von denen bis Anfang der 90er Jahr viele Impulse<br />
ausgingen, aber wir brauchten neue Konzepte für die<br />
kulturelle Arbeit in den Quartieren. Und ein wichtiger<br />
Aspekt unserer Gründung war, dass dieser Stadtteil saniert<br />
werden sollte, darin lag eine große Chance. Wir haben ge-<br />
sagt, Sanierung geht nicht ohne <strong>Kultur</strong>, denn <strong>Kultur</strong><br />
bedeutet Zugang zu Menschen finden, Beteiligungsstrukturen<br />
aufbauen und eine Belebung des Quartiers ent wickeln.<br />
Und auch zu fragen, warum erreicht man ein Publikum<br />
nicht mehr – das waren damals unsere Grund gedanken.<br />
Ihr seid ja sehr erfolgreich mit eurer Arbeit und räumt<br />
einen Preis nach dem anderen ab. Gerade wurde bekannt<br />
gegeben, dass euer Projekt „Palast der <strong>Vor</strong>stadt“ den<br />
Zuschlag für die Förderung durch das Bundesministerium<br />
für Arbeit und Soziales im Rahmen des „Europäischen<br />
Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ erhalten<br />
hat mit einer Fördersumme von 40.000 Euro. Dabei seid<br />
ihr eine recht kleine Institution.<br />
Ja, aber hinter dem Kollegium steht ein sehr, sehr aktiver<br />
Verein. Wir haben 45 Mitglieder, aber darunter sind – neben<br />
aktiven Einzelpersönlichkeiten – viele Institutionen, wie die<br />
Stadtbibliothek Bremen, die Volkshochschule, die Schulen,<br />
die Elternvereine und die großen Veranstaltungszentren, so<br />
dass wir hier auch eine strukturelle Vereinigung geschafft<br />
haben, um gemeinsam diese konzeptionellen Entwicklungen<br />
zu machen.<br />
Das heißt, ihr macht zeitgemäße soziokulturelle Arbeit.<br />
(Lacht.) Wenn man das so nennen will, ja. Wir haben den<br />
Stadtteil begriffen als etwas, das wir an verschiedenen<br />
Standorten beleben. Wir sind nicht festgelegt auf ein Haus.<br />
Dass wir unterdessen Häuser mit bespielen und die auch<br />
inhaltlich entwickelt haben, ist ein zweiter Schritt gewesen,<br />
das war gar nicht das Ansinnen des Vereins. Der Verein hat<br />
gesagt, wir wollen im öffentlichen Raum Themen besetzen,<br />
die uns wichtig sind. Also, Identität im Quartier, Zugänge zu<br />
Bildung und <strong>Kultur</strong>, gerade für Kinder und Jugendliche,<br />
Belebung des Stadtteils sowie Möglichkeiten für Begegnung<br />
und Beteiligung herstellen, beispielsweise durch<br />
große Veranstaltungen. Ein Projekt ist das internationale<br />
Erzählfestival „Feuerspuren“, bei dem Sprachenvielfalt eine<br />
große Rolle spielt. Da sitzen sowohl in der Moschee wie in<br />
der Fahrschule oder dem Waschsalon Menschen unterschiedlichster<br />
Herkunft, die in verschiedenen Sprachen ><br />
Links: Kinder aus dem Atelierhaus Roter Hahn von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong><br />
besuchen die Kammerphilharmonie Bremen.
14 15<br />
Geschichten erzählen. Das ist natürlich ein anderes Konzept,<br />
als wenn ich ein Haus bespiele, wo ich möchte, dass sich<br />
Immer und überall Stolz<br />
bei Kindern und Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass<br />
ihr Lebensraum ein wichtiger Faktor ist. Der Stadtteil bildet<br />
Sozioökonomische Eckdaten Gröpelingen<br />
möglichst viele Menschen darin wiederfinden. Das ist bei<br />
uns nebensächlich geworden. Bei uns ist der Stadtteil das<br />
Thema und die Plattform, auf der sich alles entwickelt.<br />
Was hat sich am meisten verändert an eurer Arbeit in den<br />
letzten zehn Jahren?<br />
Wir haben am Anfang eine Arbeit aufgebaut, die sich nach<br />
außen und nach innen richtet, denn neben unserer<br />
kulturellen Arbeit ist das zweite Standbein das Stadtmarketing.<br />
In dem Programm haben wir auch ein touristisches<br />
Angebot. Da gab es damals einen Aufschrei in Bremen,<br />
denn ein Stadtteil mit solchen Sozialdaten, wie wir das hier<br />
haben, braucht ja kein touristisches Programm, das braucht<br />
doch nur die Innenstadt. Dass wir das gemacht haben, hat<br />
aber für Bewegung und Aufmerksamkeit gesorgt. Wir<br />
machen Stadtrundgänge, bei denen es immer um die<br />
Vergangenheit und die Zukunft geht. Ein weiterer Schwerpunkt<br />
war, eine Plattform zu schaffen, die qualitatives<br />
Ehrenamt möglich macht, und dazu kommen die großen<br />
Feste, die den Netzwerken und Akteuren im Quartier<br />
Gelegenheit geben, sich darzustellen. Nachdem wir diese<br />
Infrastruktur, quasi einen Jahresreigen, aufgebaut hatten,<br />
ergab sich in einem weiteren Schritt, dass wir das erste<br />
Haus übernommen haben. Das nutzen wir als organisatori-<br />
Stolz wegen des letzten Klaus<br />
Stolz wegen deiner Familie und den Freunden,<br />
die es endlich geschafft haben das Opfer von nebenan zu verprügeln<br />
Stolz wegen deinen Waffen, dem Schlagring und der Pistole<br />
Stolz wegen deinem Land das alles richtig macht im Gegensatz zu hier<br />
Stolz wegen deiner Sprache, wegen deiner Stärke, wegen deines<br />
Aussehens<br />
Stolz wegen deines reichen Vaters, den du jedoch nie kennen lerntest<br />
Stolz, Stolz, Stolz immer und überall woher nimmst du ihn,<br />
du hast doch eigentlich gar nichts.<br />
Janna, 16 Jahre, schrieb diesen Text während eines Slam-Workshops von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong><br />
mit Xochíl Schütz.<br />
hat es dadurch geschafft, das erste Kinder- und Jugendatelier<br />
hier aufzubauen. Heute arbeiten im Atelier fast 100<br />
Kinder und Jugendliche in der Woche.<br />
Wenn man sich eure Arbeit anschaut, sieht man, dass ihr<br />
ein klares Profil habt und eine definierte Aufgabenstellung.<br />
Was lässt sich daraus ableiten? Was kann/soll Soziokultur<br />
heute tun, um mehr Menschen anzusprechen?<br />
mit. Das heißt zwar nicht, dass sich aus all den Kindern, die<br />
hier jetzt in den Ateliers arbeiten, Menschen entwickeln,<br />
die später eine künstlerische Laufbahn einschlagen oder ein<br />
immerwährendes Interesse an <strong>Kultur</strong> behalten, aber sie<br />
lernen Entscheidungen zu treffen. Und sie erleben einen<br />
anderen Lernzusammenhang, eine andere Selbstwahrnehmung<br />
oder auch Selbstreflexion und kommen dadurch<br />
in Kontakt mit sich. Das ist die Strategie, die wir hier mit der<br />
Kinder- und Jugendarbeit verfolgen. Bei den Jugendlichen<br />
ist es dann eher die Frage nach Empowerment: Welche<br />
Chancen habe ich überhaupt außerhalb meiner schulischen<br />
Laufbahn, die ja oft schon sehr beschränkt ist? Wo kann ich<br />
mich weiterentwickeln? Und diese Kinder arbeiten viel an<br />
sich, wenn sie in die Ateliers kommen. Sie haben die<br />
Möglichkeit sich auszudrücken, das allein ist eine ganz<br />
wichtige Arbeit. Wir haben in den ersten Ateliers die Kinder<br />
gefragt: „Was macht ihr denn hier?“ Und da gab es eine<br />
sehr kluge Antwort und die hieß: „Wenn ich wüsste, was<br />
ich hier mache, würde ich es ja sagen, dann bräuchte ich es<br />
nicht mehr zu machen.“<br />
Das Interview führte GUDRUN GOLDMANN.<br />
Das Interview ist erstmals erschienen in der Zeitschrift soziokultur 1/2010,<br />
S. 38. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.<br />
Gröpelingen wird wesenlich durch Ausländer (23,5% – Bremen<br />
Stadt 13,2%) bzw. Menschen mit Migrationshintergrund<br />
(mehr als 40%) geprägt. Die Einbürgerungsrate liegt deutlich<br />
niedriger als im städtischen Durchschnitt (17,3%).<br />
Mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 27,1% (Bremen Stadt<br />
13,4 %) ist der Stadtteil überdurchschnittlich von negativen<br />
Effekten des Strukturwandels betroffen.<br />
Mit einem Aging-Index von 60 bis 70 (Verhältnis von Einwohnern<br />
über 65 Jahren zu 100 Einwohnern unter 18 Jahren)<br />
ist Gröpelingen ein besonders junger Stadtteil (Bremen<br />
Stadt 102,7).<br />
Gröpelingen hat den höchsten Anteil von FörderschülerInnen.<br />
Schon 2008 lebte ein Drittel junger Menschen in ALG-II-<br />
Bedarfsgemeinschaften. Heute betrifft das bereits die Hälfte<br />
der unter 18-Jährigen.<br />
sche Einheit, aber dort hatten wir zum ersten Mal auch<br />
Früh genug anfangen, das scheint mir die einzige Antwort<br />
einen eigenen Saal, für den dann eine Programmatik<br />
zu sein. Es gibt eine Studie aus den Niederlanden, die<br />
entwickelt wurde. Dort wurden Jazzkonzerte organisiert<br />
besagt, dass wenn Kinder nicht im frühen Alter Zugang zu<br />
oder Filmvorführungen, also Sachen, die es hier sonst nicht<br />
künstlerischen Produktionen haben, dann gelingt es sehr<br />
gab. Und 2006 kam das Atelierhaus Roter Hahn dazu, und<br />
selten, dies nach der Pubertät noch aufzunehmen. Das<br />
damit haben wir erstmal eine künstlerische Infrastruktur<br />
heißt, wenn wir das wirklich in die Breite tragen wollen,<br />
angesiedelt.<br />
dann kann man nicht früh genug anfangen. Und für<br />
Du sprichst von qualitativem Ehrenamt, kannst du ein<br />
Beispiel dafür nennen?<br />
Im Zuge der Gründung des Atelierhauses hat sich im Verein<br />
eine Gruppe von Ehrenamtlichen zusammengefunden, die<br />
dort ein Kinder- und Jugendatelier aufgebaut haben. Wir<br />
konnten da schon sehen, dass die Problematik des Quartiers<br />
mit der Sanierung nicht abgeschlossen sein wird, und<br />
haben die soziale Ausgrenzung und die Problematik der<br />
immer größer werdenden Armutsgebiete stärker in unseren<br />
Fokus genommen. Wir schneiden jetzt viele der Arbeitsbereiche<br />
auf Kinder und Jugendliche zu und bauen das auch<br />
noch weiter aus. Dieser Bereich wurde bei uns von den<br />
Ehrenamtlichen entwickelt, denn dafür bekommen wir<br />
kaum öffentliche Gelder. Diese Gruppe hat dann außerdem<br />
Quartiere, die extrem von Armut betroffen sind, ist es noch<br />
mal wichtiger, dass die vorhandenen kulturellen Einrichtungen<br />
eine sozialräumliche Orientierung entwickeln dahingehend,<br />
dass sie sich im Kontext entwickeln. Warum soll<br />
eine Bücherei nur Bücher ausleihen? Das reicht doch nicht<br />
mehr aus, die müssen extrem offen sein für Schulen,<br />
Kindergärten oder gemeinsame <strong>Kultur</strong>projekte. Warum<br />
sollte <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> nur Grundlagen der Malerei vermitteln,<br />
wenn wir doch sehen, dass die Kinder kaum noch erreichbar<br />
sind und die Probleme in KiTas und Schulen immer größer<br />
werden. Da kann <strong>Kultur</strong> eine Funktion haben.<br />
Ist Soziokultur nur in kleineren Einheiten erfolgreich, wenn<br />
sie sich beispielsweise ganz klar auf einen Stadtteil<br />
bezieht?<br />
die Kampagne „Talente brauchen Förderer“ aufgebaut und<br />
Ist Gröpelingen mit 35.000 Einwohnern aus 150 Nationen<br />
klein? Es gibt bundesdeutsche Kleinstädte, die in dieser<br />
Größenordnung eine ganz andere künstlerische und<br />
kulturelle Infrastruktur vorhalten. Aber Angebote, die es<br />
direkt vor <strong>Ort</strong> gibt, sind ganz wesentlich. Wir haben gerade
17<br />
West-Fuß trifft linke Hand<br />
Schule und Stadtteil sollten miteinander tanzen lernen.<br />
Dabei muss man sich auch mal auf die Füße treten.<br />
Wenn Kinder aus Europa gemeinsam mit Kindern des<br />
namibischen Volkes Haikom einen Tanz lernen, muss der<br />
Tanzlehrer aufpassen: Für europäische Kinder ist die<br />
Anweisung „linker Fuß vor“ ganz eindeutig. Links und rechts<br />
sind für Europäer subjektive Kategorien unabhängig vom<br />
räumlichen Kontext. Für die Haikom in Namibia ist das<br />
anders: Sie orientieren sich immer an den Himmelsrichtungen.<br />
So gibt es einen Ost-Fuß und eine West-Hand –<br />
welche Hand und welcher Fuß dies gerade ist, hängt davon<br />
ab, wie man gerade steht.<br />
Vielleicht müssen wir uns den Aufbau von Kooperationen<br />
zwischen Ganztagsschulen und Akteuren im Stadtteil<br />
ähnlich vorstellen wie die oben beschriebene Tanzstunde.<br />
Die Orientierung der beteiligten Partner ist mitunter sehr<br />
unterschiedlich und wenn der eine „links herum“ sagt,<br />
versteht der andere vielleicht „West-Hand“ und schon tritt<br />
man sich auf die Füße.<br />
Die Schule ist dabei eher der „europäische“ Tanzpartner: Sie<br />
agiert meist nach einem klar festgelegten inneren System.<br />
Vom Hausmeister bis zur Schulaufsicht ist diese Binnenorientierung<br />
so selbstverständlich, dass jenseits dieser Welt<br />
keine weitere zu existieren scheint. Schule ist ein komplexes<br />
und funktionstüchtiges System, durch klare Hierarchien<br />
und hohe Stabilität geprägt – aber dieses System ist auf<br />
den Stadtraum bezogen kontextlos. Was außerhalb des<br />
Schulgeländes passiert, ist nur dann von Bedeutung, wenn<br />
es das Binnensystem stört.<br />
Andere Akteure im Stadtteil, das gilt im besonderen Maße<br />
für <strong>Kultur</strong>einrichtungen, Jugendkunstschulen, <strong>Kultur</strong>zentren<br />
oder freie Künstlern, sind dagegen stark kontextorientiert.<br />
Sie müssen als freie Träger beständig auf Veränderungen<br />
reagieren, sich in Beziehung zu anderen<br />
Einrichtungen setzen, sich flexibel anpassen und gleichzeitig<br />
Profil und Qualität entwickeln. <strong>Kultur</strong>einrichtungen und<br />
freie Träger sind geborene Networker, sonst büßen sie ihre<br />
Innovationsfähigkeit ein.<br />
Zwischen diesen beiden Polen kann man sich die Spannbreite<br />
der Akteure eines Stadtteils vorstellen. Jugendämter,<br />
Familienhilfe, Sozialverwaltung sind ähnlich wie die Schulen<br />
vertikal aus der Verwaltung heraus strukturiert. Mächtige<br />
Säulen, aber oft ohne ausreichende Querverbindungen.<br />
Migrantenvereine, Moscheen, Sportvereine sind dagegen<br />
stark auf den Sozialraum bezogen und verstehen sich meist<br />
als Stadtteilinitiative.<br />
Diese asymmetrischen Strukturen werfen erhebliche Probleme<br />
auf, wenn vor <strong>Ort</strong> kooperative Strukturen aufgebaut<br />
werden sollen. Und es gibt zahlreiche Ansätze, dies zu<br />
verändern: Integrierte Landesprogramme, wie WiN und<br />
Soziale Stadt, aber auch die neuen Ansätze für Quartiersbildungszentren<br />
oder das geplante Stadtteilbildungszentrum<br />
für Gröpelingen sind wichtige Strategien des<br />
Senats, mehr ressortübergreifende und stadtteilbezogene<br />
Arbeit zu ermöglichen.<br />
Was kann die <strong>Kultur</strong> leisten?<br />
In Gröpelingen baut <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. seit mehr als 10<br />
Jahren an der Schnittstelle von Bildung, Stadtentwicklung,<br />
Kunst und <strong>Kultur</strong> als freier Träger intensive Kooperationsstrukturen<br />
im Stadtteil auf.<br />
Seit einigen Jahren steht das Thema „Bildung“ im Fokus der<br />
Arbeit, weil wir darin eine zentrale Perspektive für eine gute<br />
Zukunft des Quartiers sehen. Deshalb geht es uns auch nicht<br />
um einige gelungene Leuchtturmprojekte (auch wenn die<br />
notwendig sind, s.u.), sondern um eine integrierte Struktur<br />
im Stadtteil, in der nachhaltig die Zusammenarbeit unterschiedlicher<br />
Institutionen anders und besser funktioniert.<br />
Bis heute sind mehr als nur Ansätze für eine verbindliche,<br />
aber nicht formale Struktur entstanden, die eine Art Rückrat<br />
der lokalen Zivilgesellschaft geworden ist. Beteiligt an<br />
diesem Netzwerk sind nicht nur die Schulen und KiTas<br />
im Stadtteil, sondern viele weitere wichtige Akteure: Die<br />
Bremer Volkshochschule West, die Stadtbibliothek West, das<br />
Bürgerhaus Oslebshausen, das Stadtteilmarketing mit dem<br />
lokalen Einzelhandel, die WiN-Managerin, Sport vereine,<br />
Moscheen, Kirchengemeinden, Migrantenorganisationen<br />
und einige weitere Institutionen und Persönlich keiten.<br />
Mittelfristiges Ziel ist es, weg von ausschließlich bilateralen<br />
Kooperationen, z.B. zwischen Schule und einem <strong>Kultur</strong>träger,<br />
hin zu einer integrierten Struktur zu kommen, bei<br />
der die kulturelle Bildung und das Lernen im Lebenslauf ihre<br />
Verantwortung für Bildungslandschaften übernehmen<br />
kann. >
18 19<br />
Es geht um eine Art community building, den Aufbau also nicht (nur) die der Schule, sondern die der gesamten<br />
zeitgemäßer zivilgesellschaftlicher Strukturen, in denen Lebenswelt von jungen und erwachsenen Menschen – und<br />
Schulen und ganz allgemein Bildung eine zentrale Rolle das setzt entscheidende Koordinaten für die Kooperationen<br />
spielen kann und sollte.<br />
vor <strong>Ort</strong>.<br />
Wie lassen sich solche Kooperationsstrukturen aufbauen? Aus dem Fokus Stadtteil entstehen gemeinsame Horizonte<br />
Welche <strong>Kultur</strong> der Kooperation ist dafür notwendig? Im für die Zusammenarbeit: Wie ist die Geschichte und<br />
Folgenden soll versucht werden, anhand von 5 Stichworten Gegenwart des Stadtteils? In welchen sozialen, kulturellen,<br />
die Überlegungen zu zeigen, die maßgeblich für unsere räumlichen Verhältnissen leben die SchülerInnen und deren<br />
Arbeit im Bereich der kulturellen Bildung sind.<br />
Eltern? Welche Konflikte bestimmen die Lebenswelt der<br />
Bewohner? Wie kann die Zukunft des Stadtteils aussehen?<br />
1. Fokus Stadtteil<br />
Was kann jede Institution dafür tun?<br />
Die Kooperationsstrukturen in Gröpelingen haben einen Hintergrund ist die Erfahrung aller Einrichtungen vor <strong>Ort</strong>,<br />
gemeinsamen Fokus: den Stadtteil. Unsere Perspektive ist aufgrund der schwierigen sozialen Lage im Stadtteil vor<br />
a_b_c_gröpelingen: Eine Lokale Bildungslandschaft<br />
Bremer Volkshochschule West, Stadtbibliothek West, Bürgerhaus Konzepte von Lernen im Lebenslauf müssen an die Bedürfnisse und<br />
Oslebshausen und <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> arbeiten an Konzepten, wie sie Gegebenheiten vor <strong>Ort</strong> angepasst werden, damit Weiterbildung<br />
ihre Kompetenzen in eine lokale Bildungslandschaft einbringen kein Luxusgut für Bessergestellte bleibt. Die Bremer Volkshochschule<br />
West und die Stadtbibliothek West gehen deshalb seit ge-<br />
können.<br />
Schon vor zwei Jahren waren mit Quartiersakademie und der raumer Zeit neue Wege und orientieren ihre Einrichtungen konsequent<br />
sozialräumlich aus.<br />
Tagung „<strong>Kultur</strong> macht Bildung“ alle lokalen Einrichtungen eingeladen,<br />
mit zu diskutieren und mit zu arbeiten. Seitdem haben sich die 6. In der kulturellen und interkulturellen Bildung ist schon lange<br />
Kontakte zu Schulen und KiTas, zum WiN-Management und vielen bekannt, welche neuen Wege zur Bildung sich über diese Methoden<br />
ergeben. Eine Enquette-Kommission der Bundesregierung hat<br />
anderen Institutionen intensiviert und die Idee einer lokalen Bildungslandschaft<br />
nimmt Gestalt an.<br />
kürzlich wieder einmal gefordert, kulturelle Bildung systematisch<br />
in Bildungsstrukturen zu verankern. Davon ist Gröpelingen noch<br />
Was macht eine solche lokale Bildungslandschaft aus?<br />
weit entfernt. Mit dem Kinder- und Jugendatelier im Roten Hahn<br />
1. Zunächst wird unter Bildung nicht nur formales Lernen, sondern und den offenen Angeboten im Stadtteil hat <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> die<br />
auch kulturelles und informelles Lernen verstanden. Deshalb arbeiten<br />
in solchen Bildungslandschaft Schulen, KiTas, <strong>Kultur</strong>träger, schaffen. Einzelne Module konnten erarbeitet werden – es fehlt an<br />
Grundlagen für eine verlässliche Struktur für kulturelle Bildung ge-<br />
Weiterbildungsträger, soziale Träger und Initiativen der Gesundheit,<br />
lokale NGOs, Migrantenverbände, Stadtplanung, <strong>Ort</strong>samt, Curricula zu konzipieren. Auch werden dringend Mittel benötigt,<br />
Ressourcen, diese systematisch zu erweitern, zu evaluieren und<br />
Beirat, Marketing etc. zusammen, weil sie alle gemeinsam verantwortlich<br />
für die Bildungssituation im Stadtteil sind.<br />
und belastungsfähige Teams aufzubauen.<br />
um hochqualifizierte und erfahrene MitarbeiterInnen zu binden<br />
2. Die lokalen Akteure tauschen sich intensiv mit der Verwaltung 7. Wie die kulturelle Bildung müsste für Gröpelingen eine zeitgemäße<br />
interkulturelle Bildung eine zentrale Rolle spielen: Es sind ja<br />
aus, da nur im Wechselspiel zwischen Landesregierung und lokalen<br />
Akteuren ernsthafte Veränderungen entwickelt werden können. vornehmlich die muslimischen Einwanderer und deren Kinder und<br />
3. Die lokalen Akteure entwickeln ein gemeinsames Leitbild: Welche Enkelkinder, die im aktuellen Bildungssystem sprichwörtlich unter -<br />
Rolle soll Bildung im Stadtteil spielen? Welche spezifischen Probleme<br />
gibt es und welche spezifischen Antworten geben wir? Wo VHS initiierte Sprachcafé sind wichtige Meilensteine auf dem Weg<br />
gehen. Die Integrationskurse der VHS oder das von <strong>Ort</strong>samt und<br />
wollen wir in fünf oder zehn Jahren sein?<br />
in eine interkulturell qualifizierte Bildungslandschaft.<br />
4. Die Übergänge zwischen einzelnen Bildungsphasen müssen 8. Schließlich geht es auch um eine fortwährende Qualifizierung<br />
überdacht, verbessert werden. Wie gelangen Kinder gut von der der Akteure im Stadtteil. Ob LehrerInnen, ErzieherInnen, KünstlerInnen<br />
– sie alle bringen fachliche Qualifikationen mit, aber die spe-<br />
KiTa in die Grundschule und von dort in eine weiterführende Schule?<br />
Wie gelingen Übergänge in berufliche Bildung und in die Hochschule?<br />
Wie können Eltern besser eingebunden werden?<br />
bildung kaum berührt. Gröpelingen braucht Plattformen, auf<br />
zifischen Probleme dieses Stadtteils werden in der normalen Aus-<br />
denen Erfahrungen ausgetauscht und fachlich begleitet ausgewertet<br />
werden und notwendige strukturelle Konsequenzen gezogen<br />
5. Erwachsenenbildung, Weiterbildung, Life Long Learning sind für<br />
das Bildungsbürgertum längst etablierte Lebenskonzepte. Für die<br />
und umgesetzt werden können.<br />
meisten Menschen in Gröpelingen sind das böhmische Dörfer.<br />
ähnlichen Problemen zu stehen. Ob im Kinderkunstatelier,<br />
in der Bibliothek, der Grundschule, im Sportverein oder der<br />
Volkshochschule – überall werden wir mit schwierigen<br />
Integrationsprozessen, Armut, bei Kindern manchmal auch<br />
mit emotionaler und sozialer Verwahrlosung konfrontiert,<br />
mit überforderten Eltern und überforderten Nachbarschaften,<br />
mit Gewalterfahrung und Perspektivlosigkeit.<br />
Der Stadtteil ist dabei nicht eine zufällige Kulisse, sondern<br />
der sozialräumliche Kontext, in dem die individuellen<br />
Konfliktlagen heranwachsen. In den deutschen Großstädten<br />
wird seit einiger Zeit die zunehmende soziale Desintegration<br />
unter dem Stichwort „soziale Spaltung der Stadt“<br />
diskutiert. Es geht nicht mehr nur um individuelle Situationen,<br />
sondern um eine stadträumlich bedingte und verstärkte<br />
Benachteiligung von Bewohnern bestimmter Stadtteile.<br />
Übrigens in beide Richtungen: Während in großstädtischen<br />
Armutsquartieren vor allem Jugendliche in besonderem<br />
Maße von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind,<br />
erleben SchülerInnen privilegierter Stadt teile nur noch<br />
relativ homogene soziale Welten und haben es vor dem<br />
Hintergrund dieses Diversivitätsdefizits schwerer, bestimmte<br />
soziale Kompetenzen auszubilden.<br />
Fokus Stadtteil bedeutet für die meisten Einrichtungen ein<br />
radikales Umdenken: In Gröpelingen haben Stadtbibliothek<br />
und Volkshochschule mit einer systematischen sozialräumlichen<br />
Ausrichtung ihrer Zweigstellen begon nen und<br />
Stichwort: Sechsjährige Grundschule<br />
Mit dem Bremer Schulkonsens vom Sommer 2009 wurde auch die<br />
Grundschulzeit verbindlich auf vier Jahre festgeschrieben. Bisher gab es<br />
in Bremen einige sechsjährige Grundschulen wie beispielsweise die<br />
Schule an der Fischerhuderstraße. Da aber allen Eltern gleichzeitig ermöglicht<br />
wurde, nach dem vierten Schuljahr eine weiterführende Schule<br />
anzuwählen, kam es mit dem 5. Schuljahr zu einer verheerenden sozialen<br />
Auslese. Diejenigen Eltern, die das komplizierte Bremer Schulsystem<br />
verstanden hatten und in der Lage waren, ihre Kinder intensiv zu fördern,<br />
wählten eine weiterführende Schule an. Zurück blieben die Kinder,<br />
deren Eltern mit der Entscheidung überfordert waren oder die eine Überforderung<br />
ihrer Kinder in der weiterführenden Schule befürchteten. So<br />
wurden die sechsjährigen Grundschulen zu Restschulen, die vor allem<br />
von Kindern aus problematischen sozialen Strukturen oder von Kindern<br />
mit Migrationshintergrund besucht wurden. Die Schulabgänger erreichten<br />
zu fast 100% nur einen Hauptschulabschluss.<br />
Doch der Misserfolg dieses Schultyps hängt einzig und allein mit der<br />
Wahlmöglichkeit ab dem 4. Schuljahr zusammen. Bildungsforscher sind<br />
sich einig, dass die soziale Auslese des deutschen Schulsystems vor allem<br />
mit der viel zu frühen Aufteilung der Kinder in verschiedene Schulformen<br />
zu tun habe. Bildungsforscher empfehlen deshalb eine möglichst<br />
lange gemeinsame Schulzeit für alle Kinder, mindestens sechs Jahre,<br />
besser noch neun Jahre.<br />
damit für diese traditionell zentralistisch organisierten<br />
Einrichtungen Neuland betreten. Die beiden Einrichtungen<br />
haben sich mit <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. und dem Bürgerhaus<br />
Oslebshausen zusammengetan, um gemeinsam Ziele und<br />
Programme abzustimmen und weiter zu entwickeln, und<br />
sie organisieren gemeinsam Workshops, Tagungen und <strong>Vor</strong>tragsreihen<br />
für alle Institutionen und Einrichtungen im<br />
Stadtteil. Es geht also um die Überwindung eines Institutionsegoismus<br />
zugunsten integrierter Arbeits- und Handlungsansätze.<br />
2. Schule im Stadtteil<br />
Für die Schulen ist es schwer, sich dem Stadtteil zu öffnen,<br />
weil ihre Binnenstruktur autark ist und machtvolle vertikale<br />
Strukturen zur Schulaufsicht, bzw. zu den Bildungsministerien<br />
bestehen. Schulen „denken“ systemisch vertikal und<br />
haben oft zu wenig Ressourcen, horizontal vor <strong>Ort</strong> zu<br />
agieren. Meist liegt es am Engagement einzelner Lehrerinnen<br />
oder Lehrer, die in unbezahlten Überstunden an<br />
Stadtteilkonferenzen teilnehmen oder sich in Workshops<br />
oder Fachgesprächen mit Akteuren aus <strong>Kultur</strong>, Sport oder<br />
lokaler Ökonomie zusammen setzen und dabei das<br />
Schulgelände auch verlassen.<br />
Der Aufbau einer kooperativen Bildungslandschaft bedeutet<br />
anzuerkennen, dass der gesamte Stadtteil, die gesamte<br />
Stadt eine Bildungslandschaft für junge Leute ist: Das<br />
Kunstatelier in der alten Feuerwache, die Galerie in der<br />
Seitenstraße, der informelle Treff im Grünstreifen, die Teestube<br />
in der Moschee, die großen Sportanlagen am<br />
Stadtrand, das Shopping-Center, das zeitgenössische<br />
Off-Theater in der alten Industriebrache, der Altentreff in<br />
der Gemeinde und so weiter. Für die Schule bedeutet eine<br />
solche Sichtweise auch einen Gewinn an Lernorten<br />
außerhalb der Schule.<br />
Wenn es um den Aufbau kooperativer Bildungsstrukturen<br />
im Stadtteil geht, treffen die unterschiedlichsten Akteure<br />
aufeinander: Stabile, mächtige Strukturen auf flexible und<br />
weniger mächtige, formale auf informelle, professionelle<br />
auf semiprofessionelle u.s.w. Eine solche Zusammenarbeit<br />
hat deshalb ihre Risiken: Im Kinokassenschlager „Findet<br />
Nemo“ treten drei Haie auf, die sich unter dem Motto<br />
„Fische sind Freunde, kein Futter“ geschworen haben,<br />
Vegetarier zu werden. Und tatsächlich, durch den Perspektivwechsel<br />
auf die sie umgebende Fischwelt werden die<br />
drei Haie zu kollegialen Partnern im Fischuniversum.<br />
Auch in der Zusammenarbeit zwischen Schulen und<br />
anderen Akteuren müssen institutionell starke Partner der<br />
Verlockung widerstehen, den anderen einfach zu schlucken<br />
und ins eigene System einzuverleiben. >
20 21<br />
Stichwort: Oberschule<br />
Mit der Verabschiedung des neuen Schulgesetzes durch<br />
die Bremer Bürgerschaft im Sommer 2009 wurde der<br />
Weg zu einer grundlegenden Reform des Bremer Schulwesens<br />
frei gemacht. Das Besondere an diesem Schulgesetz:<br />
Es wurde mit den Stimmen der oppositionellen CDU<br />
beschlossen und ist deshalb ein schulpolitischer Kompromiss,<br />
der über einen Zeitraum von mindestens 10 Jahren<br />
Stabilität in die Schulstruktur des Bundeslandes bringen<br />
soll.<br />
Künftig wird es in Bremen nur noch zwei weiterführende<br />
Schultypen geben: Das Gymnasium (mit Abitur nach 12<br />
Jahren) und die Oberschule (mit der Möglichkeit des Abiturs<br />
nach 13 bzw. ebenfalls 12 Jahren). Zusätzlich sollen<br />
vermehrt Förderschüler („Sonderschüler“) in Regelschulen<br />
„beschult“ werden.<br />
3. Institutionelle und informelle Bildung zusammen denken<br />
Dazu ist vor allem ein neuer Blick auf das notwendig, was<br />
wir Bildung nennen. Die institutionelle Bildung hat in<br />
Deutschland traditionell immer noch ungemein größeres<br />
Gewicht als die informelle oder non-formale Bildung. Das<br />
ist auch kein Wunder angesichts der strukturell desaströsen<br />
Lage der kulturellen Bildung in Deutschland. Die Enquete-<br />
Kommission „<strong>Kultur</strong> in Deutschland“ kommt zu dem<br />
bestürzenden Befund, dass zwar die Instrumente der kulturellen<br />
Bildung erprobt, bewährt, innovativ und wirksam,<br />
aber „von Ausnahmen abgesehen“ nicht im Alltag der<br />
Schulen angekommen seien.<br />
Wir haben deshalb gemeinsam mit den Schulen in Gröpelingen<br />
zunächst in Pilotprojekten erprobt, wie die Strukturen<br />
der Zusammenarbeit aussehen können. Heute ist es für uns,<br />
für KiTas und die Stadtteilschulen selbstverständlich, dass<br />
die Kinder und Jugendlichen während der Unterrichtszeit<br />
in Projekten außerhalb der Schule unter der Obhut von<br />
4. Gemeinsame Handlungsfelder definieren<br />
Um zu dauerhaften und verlässlichen Kooperationen in<br />
Bildungslandschaften zu kommen, müssen die wichtigen<br />
strukturellen Themen der Entwicklung einer solchen<br />
Bildungslandschaft gemeinsam bearbeitet werden.<br />
In unserer Arbeit haben sich drei Handlungsfelder herauskristallisiert,<br />
die für alle Partner gleichermaßen wichtig sind<br />
und deshalb auch auf dauerhaftes Interesse stoßen:<br />
– Übergänge: In den Übergängen des Bildungssystems wirkt<br />
die soziale Entmischung der Schülerschaft am stärksten. Da<br />
kann man ganz überraschende Wege gehen, um Übergänge<br />
besser zu gestalten. In Gröpelingen beispielsweise experimentiert<br />
<strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> mit einem Pilotprojekt im Rahmen<br />
des Programms „Soziale Stadt“, um den Übergang von KiTa<br />
zur Grundschule zu verbessern: Kinder und Eltern mit<br />
Migrationshintergrund arbeiten in einem Kunstprojekt in<br />
den letzten 6 Monaten der KiTa-Phase und den ersten sechs<br />
Monaten der Schulphase und thematisieren Schulerfahrungen<br />
und Bildungsutopien.<br />
Kunst macht stark!<br />
Seit 2006 unterhält <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> im Atelierhaus Roter Hahn in Gröpelingen<br />
ein Kinder- und Jugendatelier, in dem jungen Menschen die Möglichkeiten<br />
geboten wird, ihre gestalterischen, kreativen und musischen<br />
Fähigkeiten zu entwickeln und frei gewählte Themen auf unterschiedliche<br />
Art und Weise, mit unterschiedlichen Mitteln und Materialien umzusetzen.<br />
Unterstützt werden sie dabei von professionellen KünstlerInnen<br />
und KunsttherapeutInnen. Diese Arbeit bietet einen wunderbaren Raum,<br />
wo mit viel Kreativität und Fantasie den jungen Menschen persönliche<br />
Entwicklungspotentiale aufgezeigt sowie Stärken und Selbstbewusstsein<br />
unterstützt werden. Fast 80 Kinder sind jede Woche im Kunstatelier<br />
mit großer Begeisterung am Werkeln. Es gibt regelmäßige Termine, wie<br />
z.B. das Buchstabenlabor in Kooperation mit der <strong>Kultur</strong>werkstatt Westend,<br />
die philosophische Kunstwerkstatt und das offene Kinderatelier,<br />
– Verzahnung: Wenn man sich einen Über -<br />
blick über vorhandene Angebote gemacht<br />
hat, wird schnell offenkundig, dass es<br />
Doppelstrukturen gibt, konzeptionelle<br />
Sackgassen, unterschiedliche Qualitäten und<br />
ein Nebeneinander unterschiedlicher An -<br />
sätze. Hier gilt es, Programme besser abzustimmen,<br />
Profile zu stärken und gemeinsam<br />
neue programmatische und konzeptionelle<br />
Wege zu gehen.<br />
– Qualität: Neben der fachlichen Qualitätsentwicklung<br />
in den einzelnen Einrichtungen<br />
wird eine auf den Stadtteil bezogenen<br />
überinstitutionelle Qualifizierung der<br />
Akteure benötigt.<br />
5. Qualifizieren<br />
Die fachliche Qualifikation in den einzelnen<br />
Einrichtungen gehört zum selbstverständlichen<br />
Handwerkszeug moderner Institutionen.<br />
Für den Aufbau kooperativer Strukturen<br />
auf Stadtteilebene ist aber auch eine<br />
institutionsübergreifende stadtteilorientierte<br />
Qualifizierung notwendig. Dazu gehört<br />
einerseits das Kennenlernen der einzelnen<br />
Einrichtungen, ihrer Philosophien, ihrer<br />
Strukturen und MitarbeiterInnen. Andererseits<br />
geht es aber auch um die Diskussion<br />
der Themen und Konflikte, die spezifisch für<br />
den Stadtteil sind und alle Akteure im<br />
Stadtteil gleichermaßen beschäftigen<br />
(sollten). Das sind ungelöste Fragen der<br />
Integration ebenso wie Fragen der Stadtteilentwicklung,<br />
der Ökologie und der Nachhaltigkeit<br />
im Stadtteil, Armut und Desintegration<br />
– aber auch politisch brisante<br />
Themen wie Neonazismus oder Rassismus.<br />
Bildungsoffensive Elbinsel<br />
Wie Hamburg Bildungslandschaften entwickelt<br />
Auf der Veddel und in Wilhelmsburg – Hamburgs Elbinseln mit Hafen- und<br />
Industriearealen, Wohngebieten, Verkehrsstraßen, Brachflächen und<br />
naturnahen Freiräumen, aber auch mit einem engen Nebeneinander der<br />
Milieus und <strong>Kultur</strong>en – zeigen sich wie in einem Brennglas die Herausforderungen<br />
der Metropolen von heute. Eine der Herausforderungen ist es,<br />
zukunftsorientierte Bildungschancen für alle hier lebenden Menschen zu<br />
schaffen.<br />
Alle Talente in Hamburg-Wilhelmsburg und auf der Veddel optimal fördern<br />
– das ist das Ziel der Bildungsoffensive Elbinseln.<br />
In enger Kooperation mit den über 100 Bildungs- und Beratungseinrichtungen,<br />
den zuständigen Fachbehörden und dem Bezirk Hamburg-Mitte<br />
soll auf den Elbinseln Veddel und Wilhelmsburg eine Lernlandschaft mit<br />
systematisch vernetzten Angeboten für alle Bewohnerinnen und Bewohner<br />
„von 0 bis 100“ geschaffen werden. Die Internationale Bauausstellung<br />
IBA Hamburg verbindet Bildungs- und Stadtentwicklungsplanung miteinander<br />
und ist deshalb Katalysator für das ambitionierte Stadt-Projekt.<br />
Die Bildungsoffensive Elbinseln verfolgt ehrgeizige Ziele: Der Bildungserfolg<br />
der Kinder auf den Elbinseln soll nicht länger von der sozialen Herkunft<br />
der Eltern abhängen. Die Stadtteile sollen lebenswerter werden,<br />
um sie als Wohnort für alle Familien attraktiver zu machen.<br />
Ausgehend von einer Einschätzung der vielfältigen Potenziale aller Bewohner<br />
konzentriert sich die Bildungsoffen sive auf fünf Themen für eine<br />
bessere Bildung: Sprachen, höhere und mehr Abschlüsse, Anschlüsse,<br />
Lebenslanges Lernen und <strong>Kultur</strong>elle Bildung.<br />
In den Teil-Regionen Reiherstieg, Veddel und Kirchdorf sind modellhaft<br />
zukunftsweisende Ideen und Pläne entwickelt worden, um Bildungsangebote<br />
rasch und spürbar zu verbessern (Sprach- und Bewegungszentrum,<br />
Tor-zur-Welt-Bildungszentrum, Medienzentrum und einige mehr). Die<br />
Teil-Regionen haben sich unterschiedliche inhaltliche Profile gegeben, die<br />
nun zu konkreten Projektvorhaben und <strong>Ort</strong>en werden, um die Einrichtungen<br />
Schritt für Schritt zu vernetzen und sie inhaltlich stärker aufeinander<br />
abzustimmen.<br />
Info: www.iba-hamburg.de<br />
schulfremden Fachleuten arbeiten. Die Projekte in unseren<br />
aber auch kleine und große Projekte, die in einer Ausstellung präsentiert<br />
Und schließlich gehören auf die Agenda<br />
Kunstateliers sind dabei dem Unterricht gleich gestellt und<br />
werden.<br />
solcher Quartiersfortbildungen übergreifen-<br />
werden von Schulleitung und den LehrerInnen als inte graler<br />
Bestandteil des pädagogischen Gesamtkonzeptes<br />
der Schule gesehen.<br />
Dazu ist allerdings Verlässlichkeit und Qualität auf Seiten<br />
des freien Trägers <strong>Vor</strong>aussetzung. Wir arbeiten beispielsweise<br />
grundsätzlich nur mit ausgebildeten KunstpädagogInnen<br />
und KunstherapeutInnen und mit freien Künstlern<br />
zusammen, die über eine anerkannte künstlerische<br />
Erfahrung und Praxis verfügen.<br />
Leider wird diese engagierte Arbeit nur wenig aus öffentlichen Töpfen<br />
finanziert und ist auf Ihre Unterstützung angewiesen.<br />
Mit Ihrem Beitrag fördern Sie nicht ein einzelnes Kind, sondern tragen<br />
dazu bei, dass diese künstlerische Produktionsstätte für Kinder und Jugendliche<br />
weiterhin einen Platz bietet, wo mit Freude und Neugierde<br />
experimentiert und geforscht werden kann!<br />
Werden Sie selbst KinderKunstPate oder verschenken Sie eine Patenschaft!<br />
Ab 5 Euro im Monat ist der Betrag steuerlich absetzbar.<br />
de fachspezifische Themen wie Übergangsmanagement,<br />
Elternbildung und nicht<br />
zuletzt der Aufbau von Kooperationsstrukturen<br />
als ständiges Thema der<br />
fachlichen Weiterentwicklung.<br />
Lutz Liffers<br />
Informationen zu <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. auf<br />
www.kultur-vor-ort.com<br />
Mehr Infos bei <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong>, Liegnitzstr. 63, 28237 Bremen, Tel: 61 97 727,<br />
info@kultur-vor-ort.com, Konto 108 79 56, Sparkasse Bremen,BLZ 290 501 01
23<br />
Berge versetzen<br />
Junge Kunst aus Gröpelingen in der <strong>Kultur</strong>kirche<br />
Ein Berg<br />
Aufgetürmt vor dem Betrachter: Ein Berg mit Objekten.<br />
Das Material: Schrott, Pappe, Draht, Abfall, Sperrmüll.<br />
Die Themen: Das pralle Leben zwischen Ärger mit Nach barshund<br />
und Klimawandel, zwischen Armut und Überflussgesellschaft,<br />
zwischen Superheldenphantasien und dem<br />
Alltag in der <strong>Vor</strong>stadt.<br />
Die Künstler: Kinder und Jugendliche aus Gröpelingen.<br />
Über einen Zeitraum von 10 Monaten arbeiteten über 100<br />
Kinder und Jugendliche gemeinsam mit einem Team<br />
von BildhauerInnen, KonzeptkünstlerInnen und bildenden<br />
KünstlerInnen an einem großen gemeinsamen Objekt: dem<br />
versetzbaren BERG.<br />
Die Idee zum zentralen Motiv des Projektes „Berge<br />
versetzen“ stammt von Jugendlichen selbst, die oft genug<br />
erfahren, wie wenig man ihnen zutraut und wie wenig<br />
Raum sie in dieser Gesellschaft haben. Und die oft genug<br />
erleben, dass sie als Jugendliche aus Gröpelingen immer<br />
wieder mit <strong>Vor</strong>urteilen zu kämpfen haben. Mit diesem<br />
Objekt zeigen sie ihre Vitalität, ihre gestalterischen Fähig -<br />
keiten, ihre Nachdenklichkeit, ihren Witz.<br />
Die Produktionsphase<br />
Die Objekte auf dem Berg entstanden von Januar bis<br />
September 2009. Das Projekt umfasste sowohl offene,<br />
niedrigschwellige Angebote als auch konzentrierte, kurze<br />
Workshops, Ferienakademien und vertiefende mehrmonatige<br />
Kurse, die auch der Talentförderung dienten.<br />
In den offenen Angeboten am Bibliotheksplatz Lindenhofquartier,<br />
Schulhof Fischerhuderstraße, Rostocker Straße<br />
und Marienwerderstraße kamen viele Kinder zum erstenmal<br />
mit freier künstlerischer Arbeit in Kontakt. Hier ging es<br />
um basale Fähigkeiten wie Farbmischung/Farbgestaltung,<br />
Entwurfsarbeit, Umgang mit Materialien und Arbeit mit<br />
einfachen Werkzeugen.<br />
In der Philosophischen Kunstwerkstatt und dem Kurs KLEKS<br />
konnte dagegen schon auf erlernte Techniken zurückgegriffen<br />
werden. Den Kindern fiel es nicht schwer, sich dem<br />
Thema zu nähern, eigene Ideen zu entwickeln und diese in<br />
angebotene Technik umzusetzen.<br />
In den mehrmonatigen Kursen und intensiven Workshops<br />
mit SchülerInnen der Gesamtschule West und der J.-H.-<br />
Pestalozzi-Schule arbeiteten die Jugendlichen sehr komplex<br />
an großen Skulpturen – eine ambitionierte Aufgabe, bei der<br />
künstlerische Weitsichtigkeit, technisches Geschick und<br />
Ausdauer gefragt sind.<br />
Das Einzelne und das Ganze<br />
Mit unterschiedlichen thematischen Blickwinkeln und<br />
verschiedenen künstlerischen Verfahren trugen mehr als<br />
100 Gröpelinger zwischen 6 und 16 Jahren ihre Sicht der<br />
Dinge zum Berg bei: Der Berg macht sichtbar, was junge<br />
Leute in Gröpelingen bewegt, welche Themen ihnen<br />
wichtig sind.<br />
Während die Kinder oft Familie und Freundschaften<br />
thematisieren und ihre Sehnsüchte und Phantasien in<br />
Farben und Formen schwelgen lassen, zeigen sich die<br />
Jugendlichen als politisch wache und kritische Zeitgenossen:<br />
Klima wandel, Gefährdung des Tropenwaldes, Finanzkrise,<br />
Tierquälerei – mit beißender Kritik und Ironie kommentieren<br />
die jungen Leute das Erbe, das wir Erwachsenen mit<br />
einem geschundenen Planeten der kommenden Generation<br />
hinterlassen.<br />
Zunächst entstanden so eine große Anzahl individueller<br />
Objekte mit persönlichen Statements und ästhetischen<br />
Positionen. Gemeinsam mit einigen Jugendlichen aus der<br />
Talentförderung schuf Anja Fußbach daraus eine kollektive<br />
Skulptur, den BERG, in dem die Einzelobjekte in Beziehung<br />
zueinander stehen. Auf dem Berg entstehen spannungsvolle<br />
Sichtachsen, Objekte stehen in widersprüchlichen<br />
Kontexten oder kommentieren sich gegenseitig, Motive<br />
werden verstärkt oder ironische Subtexte durch die<br />
Anordnung der Objekte formuliert.<br />
So ist der BERG mehr als die Summe seiner Einzelteile,<br />
sondern Ausdruck einer kollektiven Auseinandersetzung<br />
mit gesellschaftlicher Wirklichkeit und kritische Position<br />
junger Leute aus der <strong>Vor</strong>stadt.<br />
Lutz Liffers<br />
Ein Projekt von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V.<br />
Projektleitung: Christiane Gartner, Anja Fußbach, Lutz Liffers
24 25<br />
Beste Ganztagsschule 2009<br />
Schule Auf den Heuen wurde in Berlin ausgezeichnet<br />
„Beste Ganztagsgrundschule 2009“ – dies in der Presse zu<br />
lesen und eine sehr wertschätzende Preisverleihung in Berlin<br />
erleben zu dürfen, ist durchaus ein Höhepunkt für Menschen,<br />
die eine Schule neu gestalten und zum Wohle der Kinder<br />
weiter entwickeln. Im März 2009 beteiligte sich die Ganztagsgrundschule<br />
Auf den Heuen an dem bundesweiten<br />
Wettbewerb „Zeigt her eure Schule“, ausgeschrieben von der<br />
Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die die Entwicklung<br />
der Ganztagsschule maßgeblich vorantreibt. Eigentlich sah<br />
man in der Teilnahme am Wettbewerb schlicht und einfach<br />
einen Anlass, die Entwicklung der Schule innerhalb der<br />
vergangenen 4 Jahre Revue passieren zu lassen und Dokumente<br />
zusammenzutragen, die vorhanden, aber nicht<br />
sorgfältig sortiert waren! Denn dazu war in der turbulenten<br />
Zeit des Neubeginns der Schule kaum Zeit geblieben. In der<br />
Tat, die Einführung der Ganztagsschule bedeutete einerseits<br />
eine Weiterentwicklung des bereits Begonnenen, der Ver-<br />
änderung von Unterrichts- und Umgangsformen, andererseits<br />
aber durch die Kooperation mit der Hans-Wendt-<br />
Stiftung bedeutete sie auch etwas ganz Neues zu schaffen:<br />
Schule und Kinder- und Jugendhilfe so eng zu verzahnen,<br />
dass in multiprofessio nellen Teams über Unterricht, Zieldefinitionen,<br />
Hilfen für Kinder u.v.m. gemeinsam beraten wird.<br />
Jeder Erwachsene, ob ErzieherIn, LehrerIn, SozialpädagogIn<br />
kennt die Kinder seiner Lerngruppen bestens und ist für sie<br />
verantwortlich. Die Kinder erleben aber nicht nur Verantwortung,<br />
die die Erwachsenen tragen, sie selber lernen, verantwortlich<br />
zu sein. In ihren jahrgangsgemischten Lerngruppen<br />
gestalten sie ihr eigenes Lernen genauso wie sie vorbildhaft<br />
Die Schule hat knapp 150 SchülerInnen und arbeitet in 6 jahrgangsgemischten<br />
Lerngruppen. Durchschnittlich sind 21 Kinder in<br />
einer Lerngruppe. Das Personal besteht aus 22 MitarbeiterInnen.<br />
Kontaktdaten:<br />
Ganztagsgrundschule Auf den Heuen, An der Fuchtelkuhle 15,<br />
28239 Bremen, Telefon 0421 361 9275, 010@bildung.bremen.de<br />
Lehrer für andere sind. Das Motto: „Alle für einander, alle<br />
miteinander in selbstständigem Tun“ wird auch in der<br />
Raumstruktur sichtbar. Durch die Bundesmittel, die für einen<br />
Umbau des über 50 Jahre alten Schulgebäudes zur Verfügung<br />
standen, konnte das pädagogische Konzept auch im<br />
Raum umgesetzt werden: Jeweils 3 Klassenräume sind durch<br />
große Glasflächen zu einem Gesamtraum miteinander<br />
verbunden. Große Öffnungen vom mittleren Raum zum<br />
ehemaligen Flur lassen alles miteinander zu einem gesamten<br />
Lebensraum werden, in dem sich die Kinder und<br />
Erwachsenen zweier Lerngruppen bewegen, arbeiten, sich<br />
anstrengen, über ihre persönlichen Ziele beraten, soziales<br />
Miteinander trainieren und ausruhen können.<br />
In der Laudatio wurden besonders die Transparenz der<br />
Räume, die zu einem transparenten Miteinander führen, und<br />
die enge Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams<br />
gewürdigt. Mit der Elternsprecherin, einem Schüler und zwei<br />
Schülerinnen durften die Schulleiterin, die Kon rek torin und<br />
die Fachberaterin der Hans-Wendt-Stiftung an der Preisverleihung,<br />
die Luise Köhler, Gattin des ehemaligen Bundespräsidenten,<br />
vornahm, teilnehmen: Das erfolgreiche Ende<br />
des Anfangs einer Ganztagsschule!<br />
Noch nie war Ihr Gold so wertvoll wie heute<br />
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26 27<br />
Reise nach Thibobelik<br />
Wie die Stadtbibliothek West Bildungslandschaften baut –<br />
Gespräch mit dem Leiter Andreas Gebauer<br />
Herr Gebauer, die Stadtbibliothek West hat vor geraumer<br />
Zeit einen Preis für ihre Stadtteilorientierung bekommen.<br />
Ist es nicht eigentlich selbstverständlich, dass sich eine<br />
Stadtteilbibliothek auf den Stadtteil bezieht?<br />
Generell ist das natürlich so. Der Stadtbibliothek West<br />
kommt aber durch das Gebäude, welches explizit als<br />
Bibliotheksbau geplant und errichtet wurde, eine besondere<br />
Rolle zu. Der Grad der Ausrichtung an die Erfordernisse des<br />
Stadtteils variiert durchaus zwischen den einzelnen<br />
Stadtteilbibliotheken, die teils in Schulen oder Einkaufszentren<br />
untergebracht sind.<br />
Was unterscheidet Ihre sozialräumlich orientierte<br />
Bibliothek vom herkömmlichen Typ der Filiale?<br />
Unsere Aufgabe geht über das klassische Angebot an<br />
aktuellen Medien und Informationen hinaus.<br />
Wir investieren einen hohen Anteil der Mitarbeiterstunden<br />
in den Aufbau und die Pflege von Kontakten im Stadtteil.<br />
Das sind sowohl die verschiedene Einrichtungen und<br />
Arbeitsgruppen als auch die Schulen und KiTas.<br />
Für uns spielt der Begriff der „Sozialen Bibliotheksarbeit“,<br />
der aus den 70er Jahren stammt, eine Rolle, d.h. wir richten<br />
uns stark an der Klientel aus dem unmittelbaren Wohnumfeld<br />
aus. Das beginnt mit einer niedrigen Theke im Eingangsbereich,<br />
die dem Kunden keine Barriere signalisieren<br />
und damit die Hemmschwelle zur Benutzung der Bibliothek<br />
heruntersetzen soll. Die Medienbestände sind entsprechend<br />
angelegt, wir haben ca. 7500 Medieneinheiten DVDs,<br />
CDs und Hörbücher für Kinder und Erwachsene. Im<br />
Sachbuchbereich bedienen wir die aktuellen Themen und<br />
legen großen Wert auf optisch ansprechende Medien und<br />
Aktualität. Der Standort und die damit einhergehenden<br />
Anforderungen hat diese Ausrichtung sehr schnell erforderlich<br />
gemacht. Dafür haben wir auch 2004 den bundesweit<br />
ausgeschriebene Sonderpreis der VGH-Stiftung für<br />
stadtteiloriente Arbeit verliehen bekommen.<br />
Links: Anlässlich des Projektes „Berge versetzen“<br />
präsentierten Kinder und Jugendliche ihre Objekte in<br />
einer Zwischenausstellung im Lichthaus.<br />
Sie haben systematisch den Kontakt zu den KiTas und<br />
Schulen aufgebaut. Wie sieht die Zusammenarbeit heute<br />
aus?<br />
Die Zusammenarbeit mit den KiTas und Schulen spiegelt<br />
sich in 270 Besuchen dieser Gruppen wieder. Es ist uns über<br />
die letzten 10 Jahre gelungen, dass die Klassen einen regelmäßigen<br />
Rhythmus von 4 Wochen zwischen den Besuchen<br />
entwickelt haben. Dadurch nehmen die Kinder Bibliothek<br />
als etwas Positives und Selbstverständliches wahr. Einige<br />
Kinder erkennen erst nach ein bis zwei Jahren, welchen Sinn<br />
so eine Bibliothek für sie persönlich haben kann. Die<br />
Tatsache, dass wir ein Buch kaufen und dieses von 80 bis<br />
100 Kindern gelesen werden kann, finden die meisten<br />
Kinder sehr verblüffend und praktisch. Dann gehen sie auch<br />
sorgsamer mit den Medien um. Ferner baut die Zusammenarbeit<br />
auf ein gestuftes System auf, das auch den Klassen,<br />
die nicht so regelmäßig kommen, einen Anreiz bietet,<br />
uns zumindest jährlich zu besuchen. Es beginnt mit dem<br />
„Lesestart“, geht dann über die „Märchenrallye“ bis zur<br />
„Reise nach Thibobelik“. Für jede Klassenstufe gibt es<br />
abgestimmte Module. Unser Ziel ist es, dass die Kinder auch<br />
nachmittags gerne in ihrer Freizeit zu uns kommen und<br />
die Angebote nutzen, welche neben den Medien auch<br />
Spiel- und Freizeitmöglichkeiten, die in Kooperation mit<br />
dem Gesundheitstreffpunkt oder <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> angeboten<br />
werden, oder Internet- und Spiele-PCs beinhalten.<br />
Sie planen in nächster Zeit sogar in die Schulen zu gehen<br />
– was konkret wollen Sie den Schulen anbieten?<br />
Wir können uns vorstellen, fertige Module zum Thema<br />
Leseförderung, Erleichterung der Übergänge KiTa-Schule,<br />
„Kinder entdecken die Welt der Schrift und Zeichen“ oder<br />
Präsentationen zur Bibliotheksbenutzung per Beamer und<br />
Notebook in den Schulen anzubieten. Es können auch<br />
nur kleinere Elemente wie Bilderbuchkino sein. Wichtig ist<br />
uns, den Schulen und KiTas zu signalisieren, dass wir sie als<br />
Partner brauchen, und zu verdeutlichen, was wir zu bieten<br />
haben. Das soll natürlich nicht den Bibliotheksbesuch<br />
der Klassen ausschließen. Häufig ist dieser aber, insbesondere<br />
für entferntere Schulen, die mit der Straßenbahn<br />
kommen, mit hohem organisatorischen und finanziellen<br />
Aufwand verbunden. >
28 29<br />
In der öffentlichen Diskussion werden oft die mangelnden<br />
Sprachkenntnisse der Migranten und deren Kinder beklagt<br />
und verantwortlich gemacht für die enormen Bildungsdefizite<br />
bei Migranten. Was kann eine öffentliche Bibliothek<br />
in diesem Zusammenhang leisten, was müsste sie leisten?<br />
Bibliotheken können einen breiten Zugang zu Informationen<br />
gewährleisten, ohne dass die Kosten für den Nutzenden<br />
eine Rolle spielen. Familien, die erkannt haben, welche<br />
Möglichkeiten über Lernspiele, Schülerhilfen, Erstlesebücher,<br />
zweisprachige Bilderbücher, Sprachkurse, Medien<br />
für Integrationskurse oder frei nutzbare Datenbanken in<br />
einer Bibliothek zur Verfügung stehen und diese nutzen,<br />
haben eine gute Chance, den Weg aus der sprachlichen<br />
Isolation heraus zu finden. Aber es bedarf des individuellen<br />
Engagements insbesondere der Eltern, sich und ihren<br />
Kindern den Zugang zur Nutzung von Angeboten zu<br />
ermöglichen und diesen auch zu begleiten.<br />
Dabei ist es Aufgabe der Bibliothek, die Hemmschwellen<br />
zur Nutzung durch einfache Modalitäten, zielgruppenspezifische<br />
Angebote und kostenfreie Ausweise so gering wie<br />
irgend möglich zu halten. Über die Kinder, die mit den<br />
Klassen die Bibliothek kennen lernen, führt der Weg<br />
oftmals zu den Eltern, die ihre Kinder dann auch einmal<br />
begleiten. Ferner kooperieren wir mit zahlreichen Integrationskursen,<br />
in denen ein Bibliotheksbesuch fester Bestandteil<br />
geworden ist. Wichtig ist dabei immer den persönlichen<br />
Nutzen herauszustellen, also z.B. eine bestimmte Zeitschrift,<br />
für die man sich interessiert, aktuelle DVDs,<br />
die günstiger sind als in der Videothek, Sprachkurse etc.<br />
Wie sieht die Stadtbibliothek West in zehn Jahren aus –<br />
was ist Ihre Bibliotheks-Utopie?<br />
Meine Utopie wäre eine noch stärkere Ausrichtung auf die<br />
sozialen Belange und Anforderungen des Stadtteils, welche<br />
sich dann auch in den beruflichen Qualifikationen der<br />
KollegInnen vor <strong>Ort</strong> widerspiegeln müssten. Soziale<br />
Bibliotheksarbeit beinhaltet zu einem großen Teil auch die<br />
Überbrückung von Mobilitätsdefiziten, aufsuchende Arbeit<br />
z.B. in Altenheimen. Es sollte fester und verbindlicher<br />
Bestandteil der Lehrpläne der Schulen werden, die Bibliothek<br />
zu besuchen. Bedingt durch die hohe Aufenthaltsqualität<br />
des Gebäudes würde ich mir wünschen, dass die<br />
Nutzung durch Gruppen aus dem Stadtteil auch außerhalb<br />
der Öffnungszeiten flexibler zu gestalten wäre, damit<br />
viele davon profitieren.<br />
Die Stadtbibliothek West hat die Initiative<br />
a_b_c-gröpelingen mitentwickelt. Was hat eine Bibliothek<br />
in einem Netzwerk mit Schulen, KiTas, <strong>Kultur</strong>einrichtungen,<br />
VHS und anderen eigentlich zu suchen? Wo sehen Sie<br />
Ihre Rolle in einer zukünftigen Bildungslandschaft<br />
Gröpelingen?<br />
Alleine kann diese Aufgabe, die Schaffung einer innovativen<br />
Bildungslandschaft, niemand bewältigen. Ich sehe die<br />
Bibliothek als stabilisierendes Bindeglied zwischen all<br />
diesen Einrichtungen. Wir sind finanziell gesichert und<br />
können auch mittel- bis langfristig planen. Ferner sind wir<br />
durch entsprechendes Fachpersonal in der Lage, verschiedene<br />
qualifizierte Angebote zu präsentieren, die die Bereiche<br />
schulische Bildung, Leseförderung, Zugang zu Informa<br />
tionen und Freizeit abdecken. Unsere Rolle kann darin<br />
bestehen, als Einrichtung, die im Jahr über 80.000 Besucher<br />
hat und knapp 3000 Kinder und Jugendliche als Kunden<br />
zählt, Trends und Entwicklungen zu streuen und unseren<br />
guten Ruf für die Interessen der Initiative einzubringen.<br />
Gegenüber der Politik ist es ein Signal, dass sich auch die<br />
eher klassischen Einrichtungen, wie die VHS und wir dem<br />
Projekt a_b_c gröpelingen verschrieben haben. Einiges von<br />
dem, was wir ohnehin schon tun oder für die Zukunft geplant<br />
haben, findet sich als Baustein in dem Projekt wieder.<br />
Über das gemeinsame Entwickeln werden sich Qualitäten<br />
entwickeln lassen, die für die Kinder und Jugendlichen des<br />
Stadtteils eine nachhaltige Wirkung haben könnten, da es<br />
ein mehrjähriges und altersgestuftes Projekt ist. Und<br />
schließlich nehmen wir mit der Teilnahme und Mitentwicklung<br />
auch die durch die Finanzierung durch Steuergelder<br />
übertragene Verantwortung für den Stadtteil wahr. <<br />
Informationen zur Stadtbibliothek West unter<br />
www.stadtbibliothek-bremen.de/Standorte-in-Bremen-West.html<br />
Öko in Gröpelingen?<br />
Kein Problem!<br />
Blockhaus Walle liefert auch nach Gröpelingen<br />
– alles was das Öko-Herz begehrt<br />
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Tel. 39 45 20<br />
Wir kommen an unsere Grenzen<br />
Gespräch mit Yusuf Ekiz, Öffentlichkeitsreferent des DITIB<br />
Landesverbands Niedersachsen und Bremen<br />
Herr Ekiz, im deutschen Bildungssystem haben es Kinder<br />
mit Migrationshintergrund besonders schwer. In Gröpelingen<br />
sind es vor allem die Kinder der türkischen Einwanderer,<br />
die keinen Schulabschluss bekommen oder keine<br />
Lehrstelle. Nur die wenigsten Migrantenkinder erreichen<br />
das Abitur und studieren. Was sind die Gründe für diese<br />
Entwicklung?<br />
Ich denke, dass vor allem die erste Generation von Migranten<br />
es sehr schwer hatten, sich in das deutsche Bildungssystem<br />
einzuarbeiten. Sie hatten sehr viele Probleme, die<br />
sie bewältigen mussten. Die fehlenden Deutschkenntnisse,<br />
eine ganz andere <strong>Kultur</strong>, die Angst vor dem Unbekannten<br />
sind nur einige von den Problemen.<br />
Viele aus der ersten Generation kommen aus der unteren<br />
Schicht und haben jahrelang versucht, sich in der Gesellschaft<br />
zu etablieren. Genau hier hat die Politik zu wenig<br />
getan. Es herrschte die Auffassung „Sie werden schon nach<br />
einigen Jahren wieder in ihre Heimatländer zurückkehren“.<br />
Dies geschah aber nicht. Die Migranten sind hier geblieben<br />
und haben sich hier heimisch gefühlt.<br />
Die deutsche Politik und auch die Lehrkräfte haben es<br />
verpasst, dieser Generation das Bildungssystem näher zu<br />
bringen und die Kinder für eine bessere Bildung zu animieren.<br />
Die heutige Debatte um die Fremdsprache Türkisch ist<br />
dabei auch nicht förderlich.<br />
Hasst der Westen den Islam?<br />
Seit dem „11. September“ – dem Terroranschlag auf die Twin-Towers in<br />
New York – sehen sich muslimische Gröpelinger vermehrt einem Generalverdacht<br />
ausgesetzt. Abend für Abend flimmern die Bilder vom Krieg<br />
des Westens gegen „radikale Islamisten“ über den Bildschirm. Sehr genau<br />
wird wahrgenommen, wie desinteressiert die deutsche Öffentlichkeit<br />
den Mord an einer junge Muslimin in einem deutschen Gerichtssaal<br />
im Juli des Jahres zur Kenntnis genommen hat.<br />
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit islamischer <strong>Kultur</strong> in<br />
Gröpelingen, eine ernsthafte verbindliche Zusammenarbeit ist der<br />
Schlüssel für bessere Bildungsabschlüsse von Kindern und Jugendlichen<br />
aus islamischen Zuwandererfamilien.<br />
Yusuf Ekiz vom DITB (Dachverband Türkisch Islamische Union)<br />
In der öffentlichen Meinung wird den Migranten oft<br />
vorgeworfen, ihre Kinder zu wenig zu fördern. Wie sieht<br />
das aus Ihrer Sicht aus? Welche besonderen Schwierigkeiten<br />
haben die Eltern? Welches Interesse an Bildung gibt<br />
es konkret in den Migrantenfamilien?<br />
Welche Art von Hilfe kann von einem Elternteil erwartet<br />
werden, der selber dem deutschen Bildungssystem fremd<br />
ist und sich mit den Gegebenheiten überhaupt nicht<br />
auskennt? Den Migranten wurde viel mehr abverlangt, als<br />
sie überhaupt bewältigen konnten. Die Unterstützung kam<br />
dabei zu kurz. Dieses Defizit wird ja heute auch anerkannt.<br />
Jede Migrantenfamilie möchte natürlich, dass ihre Kinder<br />
eine erfolgreiche Bildung genießen. Hier möchte ich gerne<br />
ein persönliches Beispiel bringen um das Problem zu<br />
verdeutlichen:<br />
In der sechsten Klasse wurde mir „Real Plus“ empfohlen,<br />
obwohl ich einen Schnitt von 1,7 hatte. Damals haben<br />
meine Eltern sich gedacht: „Ok, schicken wir ihn dann in die<br />
Realschule. Das scheint wohl das Beste zu sein“. >
30 31<br />
Ich wollte jedoch – und das nur weil meine deutschen<br />
Freunde ins Gymnasium gehen wollten – das Gymnasium<br />
besuchen und habe meine Eltern auch selber davon überzeugt.<br />
Dann ging ich aufs Gymnasium und habe anschließend<br />
mein Abitur und danach mein Studium absolviert.<br />
Hätte ich die Realschule besucht, hätte ich vielleicht<br />
eine Lehre gemacht und nicht studiert. Ich denke, dass auch<br />
viele Lehrkräfte zu wenig über die Möglichkeiten überhaupt<br />
aufgeklärt haben.<br />
Heutzutage sehen wir ja, dass die dritte Generation an<br />
Migranten höhere Abschlüsse erlangen, was sehr positiv zu<br />
beurteilen ist. Das ist aber auch nur dadurch entstanden,<br />
dass die zweite Generation das System kennengelernt hat<br />
und dementsprechend die Chancen ihrer Kinder fördert.<br />
Ein besonders schwieriges Problem scheint zu sein, wenn<br />
Kinder dringend Förderung brauchen. Viele Migranten<br />
lehnen das ab. Warum wird diese Hilfe nicht angenommen?<br />
Ich habe während meiner Schullaufbahn keine Förderangebote<br />
– zu meiner Zeit gab es nur wenige – wahrgenommen.<br />
Heute denke ich, dass es durchaus sinnvoll gewesen wäre,<br />
diese wahrzunehmen. Es hätte mir sicherlich einiges<br />
erleichtert.<br />
Hier sollte angesetzt werden und mehr Aufklärungsarbeit<br />
in den Migrantenverbänden geleistet werden. Ich denke,<br />
dass viele Familien immer noch keinen Nutzen in solchen<br />
Förderangeboten sehen. Diese Angebote, wenn sie denn<br />
kostenpflichtig sind, können leider von einigen Familien<br />
nicht wahrgenommen werden. Die Angebote sollten nicht<br />
kostenpflichtig sein. Wenn diese Angebote nachmittags<br />
stattfinden, kollidiert es meist mit dem konsularischen<br />
Türkischunterricht. So war es zumindest bei mir der Fall.<br />
Hier muss wieder das Bildungssystem der türkischen<br />
Sprache eine größere Bedeutung beimessen. Die Familien<br />
möchten nicht, dass ihre Kinder der türkischen Sprache<br />
nicht mächtig sind. Deshalb wollen Sie, dass ihre Kinder<br />
sowohl die deutsche als auch die türkische Sprache gut<br />
beherrschen und schicken dementsprechend ihre Kinder in<br />
diesen Unterricht. Würde Türkisch jedoch regulär im<br />
Unterricht erteilt, hätten wir das Problem nicht und die<br />
Kinder würden keiner Doppelbelastung ausgesetzt werden.<br />
Einige Schulen fühlen sich insbesondere von den Moscheen<br />
wenig unterstützt. Dabei könnten doch die Moscheen<br />
ihren Einfluss nutzen, um die Probleme im Bildungsbereich<br />
besser zu lösen. Wie sehen Sie die Rolle der Moscheen?<br />
Was können Moscheen tun, um die Bildungschancen für<br />
Migrantenkinder zu verbessern?<br />
Die Aufgaben der Moscheen sind vielfältig und wichtig. Sie<br />
haben Recht, wenn Sie behaupten, die Moscheen könnten<br />
diese Brückenfunktion wahrnehmen und in der Lösung des<br />
Problems eine große Rolle spielen.<br />
Sprachcafe Deutsch<br />
Ungezwungen Deutsch sprechen in gemütlicher Atmosphäre – das ist<br />
das Ziel des im vergangenen Jahr erstmals eingerichteten „Sprachcafé<br />
Deutsch“ im café brand in Gröpelingen. Sprachcafés sind Konversationsnachmittage,<br />
an denen Menschen mit guten bis sehr guten deutschen<br />
Sprachkenntnissen bzw. Muttersprachler und Menschen, die mindestens<br />
Grund kenntnisse in der deutschen Sprache besitzen, aber wenig<br />
Gelegenheit haben diese anzuwenden, teilnehmen.<br />
Sprachcafé-Nachmittage sind keine reinen Sprachkurse, sie sollen vor<br />
allem dazu dienen, das Kennenlernen und den Austausch zwischen<br />
Menschen im Stadtteil zu fördern und dabei die Deutschkenntnisse der<br />
TeilnehmerInnen weiterzuentwickeln.<br />
Das Sprachcafé findet unter der Leitung der Moderatorin Ruken Aytas<br />
statt, die mit großer Sensibilität durch die Veranstaltung führt und verschiedene<br />
Gesprächsthemen einbringt, wie z.B. Familie, Zweisprachigkeit<br />
bei Kindern, Freizeit, Sport. Auch die bisher für die Dauer der Gesprächszeit<br />
angebotene Kinderbetreuung gehört zum Konzept.<br />
Die Pilotphase von November 2008 bis März diesen Jahres wurde vom<br />
Stadtteilbeirat Gröpelingen finanziell unterstützt. Das Ergebnis war so<br />
ermutigend, dass sich die Bremer Volkshochschule West jetzt zur Fortführung<br />
des Projektes entschlossen hat. Einmal im Monat soll es dieses<br />
Angebot künftig geben. Initiatorinnen sind Susanne Nolte von der Bremer<br />
Volkshochschule West und Ulrike Pala aus dem <strong>Ort</strong>samt West, die<br />
sich über das steigende Interesse des Projektes freuen. Ihre Einschätzung:<br />
„Wer dieses Angebot wahrnimmt, muss auch Vertrauen in das Projekt<br />
und die Menschen haben, die es durchführen. Dieses Vertrauen ist in<br />
den bisherigen Veranstaltungen gewachsen und bildet eine gute Basis<br />
für die Fortsetzung des Sprachcafé“.<br />
Susanne Nolte<br />
Weitere Informationen erhalten Sie unter 361-82 08 (VHS) oder<br />
361-84 70 (<strong>Ort</strong>samt West).<br />
Jedoch gibt es eine Tatsache, die leider immer wieder<br />
ausgeblendet wird: Die Arbeit in den Moscheen findet<br />
ausschließlich ehrenamtlich statt. Erwerbstätige <strong>Vor</strong>standsmitglieder<br />
versuchen nach ihrer regulären Arbeit den<br />
Moscheebetrieb aufrecht zu erhalten. Die Moscheen<br />
finanzieren sich ausschließlich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen,<br />
die gerade mal die Kosten jeder Gemeinde<br />
abdecken.<br />
Gleichzeitig erleben wir, dass gerade die Jugendlichen, die<br />
in der Moschee sind und diese auch regelmäßig besuchen,<br />
die ethischen Werte mitnehmen und höhere Abschlüsse<br />
erlangen als gleichaltrige Migranten, die die Angebote der<br />
Moschee nicht nutzen.<br />
Es wird in den Moscheen – ihren Möglichkeiten entsprechend<br />
– viel getan. Da diese Arbeit jedoch ausschließlich<br />
ehrenamtlich stattfindet, stößt sie an ihre Grenzen.<br />
Hier muss wieder die Politik eingreifen und die Moscheen<br />
OECD Studie<br />
unterstützen. Seit vielen Jahrzehnten wird die Arbeit ohne<br />
jegliche Unterstützung der Politik fortgesetzt. Nun ist es an<br />
der Zeit, die Moscheen und die islamischen Dachverbände<br />
zu unterstützen, um die Probleme, die Sie ansprechen, zu<br />
bewältigen.<br />
Die Politik sollte dazu auf Bundes- und Landesebene<br />
Staatsverträge mit den Dachverbänden unterzeichnen, die<br />
eine <strong>Vor</strong>stufe auf dem Weg zur „Körperschaft des öffentlichen<br />
Rechts“ darstellen. Somit könnten die Gemeinden<br />
viel mehr leisten und genau zur Lösung dieser Probleme<br />
beitragen.<br />
Viele sehen in mangelnden Deutschkenntnissen eine<br />
Ursache der Probleme für Migrantenkinder im deutschen<br />
Schulsystem. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die<br />
Sprache?<br />
Die fehlenden Deutschkenntnisse sind mit Sicherheit ein<br />
Hindernis auf dem Weg zu einem erfolgreichem Schulabschluss.<br />
Hier kann ich nur wieder auf das eben genannte<br />
Defizit in der sprachlichen Förderung zu sprechen kommen.<br />
Auch bei gleichen Bildungsabschlüssen sind Nachkommen der Migranten benachteiligt<br />
Nachkommen von Einwanderern haben in Deutschland und Österreich<br />
deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als junge<br />
Menschen mit zumindest einem im Inland geborenen Elternteil.<br />
Dies gilt auch, wenn sie das gleiche Bildungsniveau erreichen. In<br />
der Schweiz gelingt die Arbeitsmarktintegration der sogenannten<br />
„zweiten Generation“ dagegen vergleichsweise gut. Zu diesem Ergebnis<br />
kommt eine Vergleichsstudie zur Arbeitsmarktintegration<br />
der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(OECD), die im Oktober 2009 in Paris vorgestellt wurde.<br />
Zum ersten Mal liegen mit dieser Studie Vergleichszahlen für 16<br />
OECD-Länder zur Arbeitsmarktintegration der im Inland geborenen<br />
Nachkommen von Migranten vor. Die Daten sind ein wichtiger<br />
Indikator für den Integrationserfolg, da sowohl die Nachkommen<br />
von Migranten als auch die Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund<br />
(schließt auch Personen mit nur einem im Ausland geborenen<br />
Elternteil ein) ihre gesamte Sozialisation und Ausbildung im<br />
gleichen Land erhalten haben. Die Studie ist Teil eines gemeinsamen<br />
Projektes von OECD und Europäischer Kommission und wurde<br />
Anfang Oktober in Brüssel unter Fachleuten diskutiert.<br />
Geringqualifizierte unter Migrantenkindern deutlich<br />
überrepräsentiert<br />
In Deutschland ist unter den 20 bis 29-Jährigen mit Migrationshintergrund<br />
der Anteil der Geringqualifizierten ohne Abitur oder abgeschlossene<br />
Berufsausbildung doppelt so hoch wie in der gleichen<br />
Altersgruppe ohne Migrationshintergrund, in Österreich sogar dreimal<br />
so hoch. Auch bei den PISA-Studien zeigt sich ein ähnliches Bild:<br />
Die Migranten werden in ihrer Herkunftssprache nicht<br />
unterstützt. Wir sehen leider gerade auch in Bremen, dass<br />
die türkische Sprache aus den Lehrplänen gestrichen und in<br />
den Schulen nicht mehr angeboten wird. Das ist eine<br />
gravierende Fehlentwicklung. Wissenschaftliche Studien<br />
belegen, dass Kinder, die ihre eigene Herkunftssprache gut<br />
beherrschen, auch die deutsche, bzw. die Sprache des<br />
Landes, in dem sie leben, besser verstehen und lernen<br />
können. Die Sprache ist das wichtigste Element auf dem<br />
Weg zu einem erfolgreichen Abschluss. Deshalb sollte die<br />
Herkunftssprache gefördert werden, damit das Problem<br />
keines mehr ist.<<br />
Der vergleichsweise hohe Anteil an Geringqualifizierten bei den 20-<br />
bis 29-Jährigen mit Migrationshintergrund korrespondiert in<br />
Deutschland und Österreich mit großen Defiziten, die Jugendliche<br />
mit Migrationshintergrund in ihren schulischen Leistungen aufweisen.<br />
Hochqualifizierte Einwandererkinder werden diskriminiert<br />
Besonders bemerkenswert ist aber ein weiteres Ergebnis der Studie:<br />
Auch bei gleichem Bildungsstand haben junge Erwachsene mit<br />
Migrationshintergrund deutlich geringere Beschäftigungschancen<br />
als die Vergleichsgruppe ohne im Ausland geborene Eltern.<br />
So haben in Deutschland 90 Prozent der 20 bis 29-jährigen hochqualifizierten<br />
Männer ohne Migrationshintergrund einen Arbeitsplatz.<br />
Bei der vergleichbaren Gruppe mit Migrationshintergrund<br />
sind es dagegen nur 81 Prozent.<br />
Je besser sich die Kinder der Einwanderer qualifizieren, je höhere<br />
Bildungsabschlüsse sie erreichen, desto weniger Chancen haben<br />
sie, einen angemessenen Beruf ausüben zu können. „Dieser Befund<br />
überrascht, da beide Gruppen ihre Bildungsabschlüsse in der<br />
Regel im Inland erworben haben. Eine Erklärung könnte sein, dass<br />
in Deutschland und Österreich auf dem Arbeitsmarkt die Erwartung<br />
vorherrscht, dass Migranten und deren Nachkommen eher<br />
gering qualifiziert sind. Bildungserfolge von Migranten und deren<br />
Nachkommen werden entsprechend noch nicht ausreichen honoriert“,<br />
sagte OECD-Migrationsexperte Thomas Liebig.<br />
www.oecd.org/document/63/0,3343,de_34968570_35008930_4388025<br />
5_1_1_1_1,00.html
33<br />
Erinnerung muss neu gedacht werden<br />
In einer multiethnischen Stadtgesellschaft braucht es neue Formen der<br />
Geschichtsaneignung<br />
Zeichnung: Inna Komova<br />
Ausgerechnet Stalin! Kann man den einstigen sowjetischen<br />
Diktator historisch überhaupt anders einordnen denn als<br />
Unterdrücker vieler Völker, Chef eines Terrorregimes,<br />
oberster Herrscher der Gulags? Man kann. Im Westbad<br />
treffe ich sonntags oft einen Flüchtling aus dem Iran – Kurde.<br />
Er äußert im Gespräch: „Die glücklichste Zeit für uns<br />
Kurden war zu Zeiten Stalins. Für kurze Zeit hatten wir<br />
damals einen eigenen Staat.“ 1 Dies ist nur ein Beispiel für<br />
die vielfältigen Facetten, die heute die Erinnerungslandschaft<br />
unserer Stadtteile prägen, und die sich nicht<br />
bruchlos ins offizielle deutsche Geschichtsbild einfügen.<br />
Ein anderes Beispiel: In der antifaschistischen Projektwoche<br />
der Gesamtschule West wurde eine SchülerInnengruppe<br />
gefragt, ob in ihrer Familie über Erlebnisse aus der Nazizeit<br />
gesprochen wurde. Einige Schülerinnen und Schüler<br />
berichteten von Erzählungen ihrer Großeltern über<br />
Bombenangriffe, Fronterlebnisse, einer auch von Berichten<br />
über Zwangsarbeiter. Ein Schüler aus einer Migrantenfamilie<br />
sagte: „Meine Großmutter hat erzählt, dass mein Groß vater<br />
von Armeniern umgebracht wurde.“ Gibt es im Schulunterricht<br />
Raum, auch diese familienbiographischen Überlieferungen<br />
in ihren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen<br />
und zu diskutieren? Haben diese verschiedenen Sichtweisen<br />
Konsequenzen für den Geschichts- und Politikunterricht<br />
an unseren Schulen? Kann diese Vielfalt Chancen bieten zur<br />
Entwicklung eines multipolaren Weltbildes?<br />
In einer Reihe von Stadtteilen stellen Jugendliche aus<br />
Migrantenfamilien heute einen großen Teil der Schülerinnen<br />
und Schüler. 2 Sehen sie die Beschäftigung mit dem<br />
Holocaust als ihre Sache an?<br />
1 Während des 2. Weltkrieges besetzten die Sowjetunion und<br />
Großbritannien den Westen des neutralen Iran. Die Kurden wurden<br />
ermuntert, eine autonome Republik zu bilden. Am 15. Dezember 1945<br />
wurde die Volksrepublik Kurdistan ausgerufen. Nach dem Rückzug der<br />
sowjetischen Armee eroberte der Iran im folgenden Jahr die Region und<br />
zerschlug die kurdische Republik. Bis heute wird die Republik Kurdistan<br />
von vielen Kurden als <strong>Vor</strong>bild kurdischer Selbstverwaltung angesehen und<br />
auch idealisiert. (wikipedia, Republik Kurdistan)<br />
2 Im Dezember 2008 betrug der Anteil von Migranten im Land Bremen<br />
19 Prozent. In Stadtteilen wie Gröpelingen war dieser Anteil mit rund<br />
40 Prozent doppelt so hoch. Unter den Jugendlichen von 0 bis 18 Jahren<br />
stammten in Gröpelingen zu diesem Zeitpunkt 61,54 Prozent aus<br />
Migrantenfamilien. Bei den Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren<br />
betrug ihr Anteil knapp 50 Prozent. (Angaben Statistisches Landesamt)<br />
Im Auftrag der ZEIT befragte ein Meinungsforschungsinstitut<br />
türkische Migranten 3 : Was wissen Deutschtürken<br />
über den Holocaust? Die Ergebnisse zeigen: Die Erinnerung<br />
an den Holocaust ist den Deutschtürken nicht fremd.<br />
Im Gegenteil: Die intensive Beschäftigung mit der Judenverfolgung<br />
sei eine Sache „aller in Deutschland lebender<br />
Bürger“ sagten 70 Prozent der Befragten. Auf konkrete<br />
Schilderungen über den Holocaust reagieren sie überwiegend<br />
mit Mitgefühl. Allerdings steht ein erheblicher Teil der<br />
Befragten dem aus dem Holocaust abgeleiteten Grundsatz<br />
deutscher Politik, dass die Bundesrepublik eine besondere<br />
Verantwortung für Israel habe, eher skeptisch gegenüber.<br />
53% stimmten der Forderung zu, „die Deutschen sollten<br />
sich heute weniger mit der Judenverfolgung, dafür mehr<br />
mit der Politik Israels gegenüber den Palästinensern<br />
beschäftigen.“<br />
ExpertInnen wie die Berliner Professorin Dr. Viola Georgi<br />
sehen die eindimensionale Vermittlung der deutschen<br />
Geschichte kritisch: „Die hegemoniale Geschichte der<br />
Mehrheitsgesellschaft stellt in der Einwanderungsgesellschaft<br />
nur eine Dimension von Geschichte dar … Die<br />
Geschichte der Anderen und die vielfachen Verschränkungen<br />
von Geschichte werden nicht als Bestandteil der nationalen<br />
Erinnerungskultur anerkannt.“ Insofern der Nationalsozialis<br />
mus und die Erinnerung an ihn für das Geschichtsbewusstsein<br />
in Deutschland grundlegend ist, besteht eine<br />
Tendenz, Menschen aus anderen Traditionszusammenhängen,<br />
mit anderen Geschichten und Erinnerungen aus der<br />
Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft auszuschließen.<br />
Frau Georgi zieht daraus den Schluss: „Es ist die durch die<br />
Migration stärker sichtbar werdende … gesellschaftliche<br />
Pluralität, die die althergebrachte Geschichtskultur,<br />
traditionell bemühte Geschichtsbilder und vermeintlich<br />
vertraute Formen des Geschichtsbewusstseins in Frage<br />
stellt, beziehungsweise mit neuen Fragen herausfordert.“ 4 ><br />
3 Deutschtürken und der Holocaust, Geteilte Erinnerung in DIE ZEIT,<br />
http://www.zeit.de/2010/04/Editorial-Umfrage?<br />
4 Viola Georgi, Geschichte in der deutschen Einwanderungsgesellschaft,<br />
Referat auf dem 2. Bundesfachkongress Interkultur, 20. bis 22. Oktober<br />
2008
34 35<br />
Ähnlich sehen auch andere Wissenschaftler die Gefahr von<br />
Wolfgang Benz, langjähriger Mitherausgeber der Dachauer<br />
An der Gesamtschule West erkunden Schülerinnen und<br />
müssen. Insofern ist die Arbeit von GeschichtslehrerInnen<br />
Ausschlusstendenzen in Bezug auf Einwandererkinder. 5<br />
Hefte relativiert dagegen die Bedeutung von Zeitzeugen:<br />
Schüler innerhalb der jährlichen Projektwoche mit Zeit-<br />
und Geschichtsinitiativen zur Zeit das Mitwirken an einer<br />
Unter den Pädagogen im Bremer Westen, mit denen wir<br />
sprachen, ist umstritten, wieweit Jugendliche aus Migrantenfamilien<br />
einen anderen Zugang zur deutschen Geschichte<br />
brauchen.<br />
Der Leiter des Schulzentrums Alwin-Lonke-Straße, Hans-<br />
Joachim Gries sieht das Problem der Geschichtsvermittlung<br />
nicht als eine spezielle Frage für Jugendliche aus Migrantenfamilien.<br />
<strong>Vor</strong>dringlicher erscheint für ihn, dass eine junge<br />
Generation heranwächst, die immer weniger biographische<br />
Bezüge zu Nationalsozialismus und Krieg hat. Außerordentlich<br />
hoch wird von vielen Lehrerinnen und Lehrern die<br />
Bedeutung von Zeitzeugen für die lebendige Vermittlung<br />
von Geschichte eingeschätzt. „Bei den Berichten von<br />
Überlebenden des KZ Sachsenhausen sind die SchülerInnen<br />
zwei Stunden still. Das erlebt man sonst nicht im Klassenraum“,<br />
sagt Gries.<br />
Die Erfahrungen an anderen Schulen wie beispielsweise bei<br />
den antifaschistischen Projektwochen der Gesamtschule<br />
West unterstreichen, wie wichtig die Erzählungen von<br />
Zeitzeugen für ein mitfühlendes Interesse von Jugendlichen<br />
an Geschichte in der Vergangenheit waren.<br />
5 vgl. etwa Oliver Hollstein: „Der Einschluss der NS-Geschichte in das<br />
nationale Identitätskonzept der Bundesrepublik begründet … Ausschließungsphänomene.<br />
Wenn man Auschwitz zum negativen Bezugspunkt<br />
nationaler Sinnstiftung macht und darüber gesellschaftliche Integration<br />
zu begründen versucht, wird die Adressierung von Nicht-Staatsangehörigen<br />
bzw. Staatsangehörigen nichtdeutscher Herkunft im Kontext der<br />
Erinnerungspolitik problematisch.“ Oliver Hollstein et al., Nationalsozialismus<br />
im Geschichtsunterricht, Beobachtungen unterschiedlicher<br />
Kommunikation, Frankfurt a.M. 2002, S. 13<br />
„Die Überlebenden des Holocaust sind für eine kurze Zeit<br />
noch eine wertvolle Ergänzung des Unterrichts, weil sie mit<br />
ihrem Zeugnis das Geschehen konkretisieren können. Aber<br />
sie ersetzen nicht die verantwortliche Darstellung durch<br />
Lehrerin und Lehrer. Deshalb ist die Klage, dass diese Zeitzeugen<br />
bald nicht mehr zur Verfügung stehen, auch aus<br />
didaktischer Hinsicht unberechtigt. Die Zeugen haben doch<br />
Spuren hinterlassen, in Gestalt von Texten, als Videoaufzeichnungen,<br />
als Tondokumente. Das kann nacherzählt,<br />
interpretiert, analysiert werden. Damit lassen sich nicht nur<br />
Einstiege finden, die das Interesse wecken.“ – Beispiel sind<br />
etwa die Interviews des Visual History Archivs der Shoah<br />
Foundation, Spielberg-Archiv, mit denen Zeitzeugen<br />
jederzeit zur Verfügung stehen, nicht nur zum einmaligen<br />
<strong>Vor</strong>trag, sondern zur systematischen Arbeit. 6<br />
In den Schulen im Bremer Westen gibt es vielfältige<br />
Ansätze in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus:<br />
Seit 16 Jahren fahren etwa Schülerinnen und Schüler des<br />
Schulzentrums Alwin-Lonke-Straße in das KZ Sachsenhausen.<br />
<strong>Vor</strong>rangig sind es Berufsschüler. Der Zugang zur NS-Geschichte<br />
wird vermittelt, über das, „was sie können“, so der<br />
Schulleiter. Deshalb sind die Jugendlichen während der<br />
Woche in Sachsenhausen auch handwerklich beim Instandhalten<br />
der Gedenkstätte tätig. Andere Jugendliche derselben<br />
Schule gestalteten ein Ensemble aus großen Betonquadern<br />
als Mahnmal für die Opfer des ehemaligen KZ-Außenlagers<br />
Bahrsplate.<br />
6 Wolfgang Benz, Wenn die Zeugen schweigen, Dachauer Hefte,<br />
Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen<br />
Konzentrationslager, Nr. 25, S.15<br />
zeugen Relikte des nationalsozialistischen Terrorregimes in<br />
den Stadtteilen des Bremer Westens.<br />
Eigene Forschungen vor <strong>Ort</strong> wie künstlerische Bearbeitung<br />
des Nationalsozialismus scheinen ein Feld zu sein, in dem<br />
deutsche Jugendliche und solche aus Migrationsfamilien<br />
sich einen gemeinsamen Zugang zur Geschichte eröffnen<br />
können. „Es ist wichtig, dass Migrantenkinder die Geschichte<br />
Deutschlands kennen lernen. Lehrerinnen und Lehrer<br />
können nicht die vielen verschiedenen geschichtlichen<br />
Hintergründe einer multipolaren Gesellschaft vermitteln.<br />
Sie sollten aber den Kindern Handwerkszeug und Maßstäbe<br />
an die Hand geben, mit denen sie sich ihre eigene Geschichte<br />
aneignen können“, meint etwa Angelika Hofner,<br />
Lehrerin an der Grundschule Nordstraße und Mitglied in der<br />
Landesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel.<br />
Beides, die vielfältige Herkunft und Geschichtshintergrund<br />
von Jugendlichen und das Fehlen von Zeitzeugen werfen<br />
neue Fragen für Geschichts- und Politikunterricht auf.<br />
So vielfältig wie die multikulturelle Gesellschaft in vielen<br />
unserer Stadtteile muss auch die Annäherung an das<br />
Thema „Nationalsozialismus“ sein. Ein staatlich verordnetes<br />
ritualisiertes Gedenken stößt Jugendliche eher ab.<br />
Wenn wir den Anspruch ernst nehmen, dass aus der<br />
Geschichte zu lernen heißt, Auschwitz nie wieder zu<br />
zulassen und gegenwärtigen Tendenzen der Entmenschlichung<br />
entgegen zu treten, dann werden wir solche<br />
individuellen Annäherungen an Geschichte unterstützen<br />
und Experimente im Geschichtsunterricht und in der Arbeit<br />
der Geschichts- und Gedenkstätteninitiativen zulassen<br />
noch offenen Werkstatt „Geschichte“.<br />
Eike Hemmer<br />
HEIMAT<br />
ist Thema einer Projektreihe der Arbeitnehmerkammer<br />
Bremen, die aus unterschiedlichen Perspektiven das heutige<br />
Verständnis von HEIMAT in unserer Gesellschaft beleuchten<br />
will.<br />
<strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. fragt in diesem Rahmen nach „Heimat“<br />
in der Einwanderungsgesellschaft: Wird Heimat über nationale<br />
Erinnerungskultur konstruiert? Und wo haben die<br />
Erinnerungen der Einwanderer in der deutschen Erinnerungskultur<br />
ihren Platz?<br />
Mit dem Kunstprojekt „Internationale Heimatkunde“<br />
sondiert <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. exemplarisch im Stadtteil<br />
Gröpelingen Möglichkeiten, deutsche Geschichte und<br />
antifaschistische Erinnerungskultur neu zu diskutieren<br />
und HEIMAT vor dem Hintergrund globaler Wanderungsbewegungen<br />
neu zu denken.<br />
Zum Auftakt wird mit diesem Fachtag eine Debatte angestoßen:<br />
Brauchen wir eine neue Erinnerungskultur in<br />
der Einwanderungsgesellschaft?<br />
Im Herbst 2010 werden dann Schülerinnen und Schüler<br />
der Gesamtschule West in einer von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V.<br />
initiierten Performance ihre Positionen und Statements<br />
zur Aktualität von Totalitarismus und demokratischer Erinnerungsarbeit<br />
zeigen.<br />
Unsere Geschichten – Eure Geschichte?<br />
„Heute kann ich meinen Kindern Antworten auf ihre Fragen zum Nationalsozialismus geben“, resümiert Sultan Emirzeoglu ihre Erfahrungen<br />
aus dem mehrmonatigen Seminar der „Neuköllner Stadtteilmütter“, das Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Zusammenarbeit<br />
mit dem Diakonischen Werk Neukölln-Oberspree im Jahr 2008 organisiert hatte. Die 34-Jährige Mutter von zwei Kindern lebt in Neukölln<br />
und ist eine von vierzehn Teilnehmerinnen des ASF-Seminars, die den LeserInnen der Broschüre einen Einblick in ihre Reflexionen über die<br />
Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus ermöglichen. Ganz verschiedene Perspektiven sind in der Broschüre<br />
versammelt – sie spiegeln die unterschiedlichen Herkunftsländer, Ausbildungs- und Berufswege und familiären Umstände der Teilnehmerinnen<br />
wider. Trotz aller Differenzen wird dabei deutlich: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus wird<br />
von den Frauen als zentrales Moment des Verständnisses und der Partizipation in der Mehrheitsgesellschaft gesehen.<br />
Eingeleitet wird die Broschüre u.a. von Günter Piening, Integrationsbeauftragter des Landes Berlin, zur Frage der<br />
„Herausforderungen der Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“. Die ASF-Projektleiterin Jutta<br />
Weduwen widmet sich in ihrem Beitrag der oft gestellten Fragen „Was haben Neuköllner Migrantinnen mit der<br />
Geschichte des Nationalsozialismus zu tun“, während sich Professor Astrid Messerschmidt mit der Frage der<br />
„Kritischen Zugehörigkeit als Ausdruck geschichtsbewusster Integrationsarbeit“ auseinandersetzt.<br />
Unsere Geschichten – Eure Geschichte?<br />
Neuköllner Stadtteilmütter und ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus<br />
Hrsg. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Berlin, 2010, 72 S., vierfarbig<br />
Die Broschüre kann gegen einen Unkostenbeitrag von 3 Euro bestellt werden bei: infobuero@asf-ev.de oder 030 28 39 52 03
37<br />
Die ASBEST-Katastrophe<br />
Der lange Kampf um den Neubau der Gesamtschule West<br />
Edelgard Hemmer war als Elternsprecherin sechs Jahre im<br />
Arbeitskreis Ökologische Schulbausanierung GSW (AKÖ)<br />
aktiv und hat sich für den Abriss und die Neugestaltung der<br />
Gesamtschule West engagiert.<br />
Nach jahrelangem Kampf von Eltern und Lehrern wurde<br />
vor zehn Jahren die GSW neu gebaut. Wenn Du heute die<br />
GSW besuchst, wie empfindest Du die Schule?<br />
Schön zu sehen, dass die Pläne zur Neugestaltung so umgesetzt<br />
wurden, wie sie erarbeitet wurden. Kein Vergleich<br />
zu vorher. Die Anstrengungen haben sich auf jeden Fall<br />
gelohnt. Damals gab es eine große Aufbruchstimmung für<br />
einen neuen Bau und neue Inhalte, neue Wege, Räume und<br />
Zugänge. Das Anonyme zu durchbrechen. Und tatsächlich<br />
gibt es neue pädagogische Konzepte, Veränderungen im<br />
Außenbereich und im Arbeitsbereich, denn beide Bereiche<br />
gehören zusammen. Auch die Schüler gehen anders<br />
mit ihrer Schule um und die Schule bekommt viele Anmeldungen.<br />
Geschenkt wurde Euch das nicht ...<br />
Ja, es war ein jahrelanger Kampf, wenn ich mir die Chronologie<br />
anschaue. Früh ist schon vom Gesundheitsamt auf<br />
gesundheitliche Probleme aufmerksam gemacht worden,<br />
aber bis endlich was ins Rollen kam, vergingen Jahre.<br />
Der Betonbau war typisch für die 70er Jahre. Aber die gesundheitlichen<br />
Beeinträchtigungen durch Asbest und PCB<br />
sowie die erheblichen baulichen Mängel begleiteten die<br />
Schule seit ihrer Gründung. Das Lüftungs- und Heizungssystem<br />
hatte nie richtig funktioniert. Die GSW war marode<br />
und eine Fehlkonstruktion. Deswegen wollten einzelne<br />
Lehrer und Eltern im AKÖ, im Gegensatz zur Behörde, von<br />
Anfang an den Abriss des Gebäudes und einen Neubau.<br />
Also musste unbedingt ein Gutachten her, das dann auch<br />
auf eindrucksvolle Weise die Notwendigkeit einer Gesamtsanierung<br />
belegte. Der Arbeitskreis war auch an der<br />
Auswahl der Gutachter beteiligt. Ich hatte überhaupt keine<br />
Ahnung, was das bedeutet, wie teuer es ist und wie lange<br />
so etwas dauert.<br />
Wer beteiligte sich im AKÖ?<br />
In diesem Arbeitskreis saßen Schüler, Eltern, Lehrer,<br />
Schulleitung, nicht unterrichtendes Personal, Personalrat,<br />
Stadtteilbücherei zusammen mit Vertretern der Behörden,<br />
Senator für Bildung und Gesundheitsamt gemeinsam am<br />
runden Tisch. Diese Art der Herangehensweise, also runder<br />
Tisch statt Hierarchie und Konfrontation, war neu im<br />
Vergleich zu anderen Fällen der Schadstoffsanierung<br />
anderer öffentlicher Gebäude. Trotz aller positiven<br />
Erfahrungen mit den verschiedensten Behördenvertretern<br />
war die zentrale Erfahrung aller schulischen Beteiligten,<br />
dass ohne permanenten Druck von unten der Prozess sehr<br />
schnell zum Stillstand gekommen wäre.<br />
Was waren Eure Schwachpunkte?<br />
Ein Problem des AKÖ bestand auch in der Vermittlung.<br />
Monatliche Rundbriefe an die Eltern waren neben der<br />
Arbeit nicht möglich. Bei PCB musste Überzeugungsarbeit<br />
geleistet werden, da es damals neu auf der Giftliste stand<br />
und vielen unbekannt war. Auf den Elternbeiratssitzungen<br />
habe ich versucht, die Infos aus dem AKÖ weiterzutragen,<br />
aber auch nicht jedes Mal, da den Eltern andere Themen<br />
unter den Nägeln brannten. Auch gab es für diese jahrelange<br />
Elternarbeit keine finanzielle Unterstützung. Für<br />
Lehrerschaft und Behörde gehörte das in ihre Arbeitszeit.<br />
Was wurde diskutiert?<br />
Wir haben uns über Maßnahmen einer ökologischen<br />
Schulbausanierung Gedanken gemacht und Konzepte<br />
erarbeitet, wie der Schulbetrieb in der Übergangszeit ohne<br />
größere Verluste aufrechterhalten werden kann. Ziel war<br />
auf jeden Fall ein Neubau für eine Ganztagsgesamtschule,<br />
ohne die Schülerschaft auseinanderzureißen. Alarmiert<br />
durch die Messergebnisse dachte ich am Anfang, notgedrungen<br />
eine Übergangszeit von bis zu einem Jahr hinzunehmen.<br />
Wir waren empört und besorgt um die<br />
Gesundheit unserer Kinder; ein so belasteter Privatbetrieb<br />
hätte sofort saniert werden oder schließen müssen. Aber<br />
hier hat es jahrelange Auseinandersetzung gebraucht.<br />
Wir haben diskutiert über Schülerzahl und Jahrgangsstufen,<br />
über räumliche und pädagogische Veränderungen. Es gab<br />
ein Wochenende mit Supervision für alle aus dem AKÖ, das >
38<br />
hat gegenseitiges Verständnis und einen freundlichen<br />
Umgang miteinander gefördert. Zukunftsvisionen<br />
wurden geweckt. Wir haben eine Reformschule in Hessen<br />
besucht und viele Anregungen von dort mitgenommen.<br />
Im Gegensatz zur damaligen vollgekritzelten, hässlichen<br />
GSW war die Schülerschaft dort mitverantwortlich für die<br />
Gestaltung ihrer Schule. Wir wollten auch, dass der<br />
Neubau und das Außengelände den pädagogischen Anforderungen<br />
einer Ganztagsgesamtschule entsprechen, dass<br />
alle Räume möglichst maximale Belichtung sowie natürliche<br />
Be- und Entlüftungsmöglichkeiten und Behaglichkeit<br />
bieten, neben Unterrichtsfunktion für unterschiedliche<br />
Lernsituationen auch Aufenthaltsqualitäten. Schule eben<br />
als Lebensraum erlebbar. Das ganze sollte natürlich auch<br />
ressourcenschonend angelegt sein und Identifikation<br />
statt Anonymität schaffen. Schulgelände als Erfahrungsraum<br />
anstelle von versiegelter Ödnis. Das Neukonzept<br />
legte viel Wert auf die enge Verzahnung von Außen- und<br />
Innenräumen, die einzelnen Jahrgänge erhalten für sie<br />
direkt zugängliche Außenflächen, an deren konkrete<br />
Gestaltung die Schüler beteiligt werden.<br />
Die Auseinandersetzung stand über Jahre immer im<br />
Spannungsfeld der gesundheitlichen Belastungen und der<br />
damit verbundenen Ängste einerseits, des Werbens für<br />
die Schule als Angebotsschule – trotz aller Schadstoffe –<br />
und der verschieden Optionen des Senators für Bildung<br />
für die Schulentwicklungsplanung im Bremer Westen<br />
andererseits. Die unterschiedlichen Interessenslagen der<br />
verschiedenen an der Regierung beteiligten Parteien und<br />
die angespannte Haushaltslage Bremens, besonders des<br />
Bildungsressorts, machten das nicht einfach.<br />
Trotz all dieser Schwierigkeiten am Ziel einer Gesamtsanierung<br />
durch Neubau über all die Jahre festgehalten zu<br />
haben, erforderte von allen Beteiligten enorme Kraft und<br />
Durchhaltevermögen. Ich fühlte mich schon manchmal<br />
überfordert, aber das Ergebnis ist sehr positiv und ich<br />
habe viel gelernt auf politischer Ebene in den Gremien,<br />
wie Behörden arbeiten oder auch nicht. Alle Beteiligten<br />
haben viel gelernt durch gegenseitiges Zuhören. Diese<br />
Erfahrung möchte ich nicht missen.<br />
Das Gespräch führte Claudia Ruthard<br />
40 Jahre Gesamtschule West<br />
Tag der offenen Tür<br />
24. September 2010<br />
Kurze Chronologie<br />
1970<br />
Die Gesamtschule West wird gegründet und über Jahre hinweg fertiggestellt.<br />
1976<br />
Gesundheitsamt Bremen attestiert schwerwiegende gesundheitliche<br />
Probleme im Zusammenhang mit dem Gebäude. Im Bericht des schulärztlichen<br />
Dienstes wird diese Schule mit einer seelenlosen Lernfabrik<br />
verglichen, in der die Kinder bei ihrer Planung vergessen wurden.<br />
1984<br />
Umfrage unter Lehrern: Häufung von Augenflimmern, Konzentrationsstörungen,<br />
Kopfschmerzen, Infekten der Atemwege und Stimmbandproblemen.<br />
1991<br />
Erhöhte PCB-Werte gemessen, die Werte überschreiten z.T. den Interventionswert.<br />
Arbeitskreis Ökologische Schulbausanierung GSW (AKÖ)<br />
konstituiert sich, Beratungen im wöchentlichen oder 14-tägigen Rhythmus;<br />
Eltern und Lehrer verlangen Gesamtsanierung.<br />
1992<br />
In über der Hälfte der Räume wird Asbest gefunden, in immer mehr Räumen<br />
wird PCB gefunden. Gesamtschülervertretung der GSW und Eltern<br />
fordern Abriss und Neubau. Auf Drängen gibt der Bildungssenator ein<br />
Gutachten über Gesamtsanierung in Auftrag.<br />
1993<br />
Wiederholt hohe PCB-Messwerte. Ein Großteil des Gebäudes wird aus<br />
Gründen der Gesundheitsvorsorge geschlossen; immer mehr Klassen<br />
ziehen in Provisorien.<br />
1994<br />
Erstellung des Gutachtens verzögert sich, da sich die <strong>Vor</strong>gaben des Bildungssenators<br />
für spätere Nutzung des Gebäudes ständig ändern. In<br />
mehreren Aktionen fordern Schüler, Eltern und Lehrer massiv: keine weiteren<br />
Verzögerungen.<br />
1995<br />
Gutachten wird endlich im Februar vorgelegt und belegt eindrucksvoll:<br />
Das Gebäude macht krank! Maroder Zustand der Schule weist neben<br />
Asbest und PCB auch auf bau- und feuertechnische Mängel hin; große<br />
Aktion vor dem Rathaus; Senat beschließt Sanierung und entscheidet<br />
sich für Abriss und Neubau.<br />
1996<br />
Planungsauftrag wird vergeben; in Zusammenarbeit mit den Nutzern<br />
entsteht ein von allen Seiten akzeptiertes Konzept.<br />
1997<br />
Baumaßnahmen beginnen.<br />
1998<br />
Erster Bauabschnitt ist bezugsfertig.<br />
646 Stunden ... und dann?<br />
MigrantInnen brauchen Wege in die Stadt<br />
646 Stunden verbringen Frauen und Männer aus unterschiedlichsten Ländern gemeinsam in<br />
der Volkshochschule Bremen West und lernen vor allem Deutsch. Seit 2005 finanziert das<br />
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bundesweit solche Integrationskurse. Neben dem<br />
Erlernen der deutschen Sprache wird auch über Politik und Demokratie, Geschichte der<br />
Bundesrepublik und über unsere Gesellschaft informiert und diskutiert.<br />
Für einige TeilnehmerInnen ist der Kurs Pflicht, um etwa eine Ausbildung, Fördergelder oder<br />
einen Aufenthaltsstatus zu erlangen – für alle TeilnehmerInnen ist es eine Möglichkeit, mit<br />
anderen MigrantInnen in Kontakt zu kommen und dieses ihnen oft so fremde Land kennen zu<br />
lernen. Stolz werden nach den ersten Unterrichtsstunden erste Einkäufe auf der Lindenhofstraße<br />
in Deutsch gemacht und beim Besuch in der Stadtbibliothek West Bücher auf deutsch<br />
ausgeliehen.<br />
645 Stunden ist eine lange Zeit, viele Monate verbringen die TeilnehmerInnen mit ihren<br />
KursleiterInnen fast täglich zusammen, Freundschaften und Netzwerke entstehen.<br />
Doch am Ende des Kurses ist für manche die Frage: Und nun?<br />
Die eigene Geschichte erzählen<br />
Die Bremer Volkshochschule West und <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> e.V. haben deshalb ein gemeinsames<br />
Projekt angeschoben, das die TeilnehmerInnen der Integrationskurse ermutigen soll, Gröpelingen<br />
intensiver kennen zu lernen. Mit „Wege in die Stadt“ wird eine Möglichkeit geschaffen, an<br />
die vielfältigen Strukturen, Vereine, Aktivitäten in Gröpelingen anzuknüpfen und die eigene<br />
Geschichte mitzubringen. Das Projekt wird als Modellvorhaben aus LOS-Mitteln finanziert. Die<br />
Idee: Eine intensive Woche lang arbeiten die TeilnehmerInnen der Integrationskurse künstlerisch<br />
zu den Themen „Meine Geschichte“, „Meine Heimat“, „Mein Leben in Gröpelingen“.<br />
Am Anfang gab es noch skeptische Fragen: Würden die TeilnehmerInnen freiwillig kommen?<br />
Würden sie sich auf die künstlerische Arbeit im Atelier einlassen? Als es dann mit drei Integrationskursen<br />
los ging, zeigte sich rasch die Begeisterungsfähigkeit und die Talente der knapp<br />
50 Frauen und Männer aus aller Frauen und Herren Länder. Zuerst waren sie verwundert, dass<br />
es diesmal nicht darum ging, etwas über Deutschland zu erfahren – sondern das Deutschland<br />
etwas über sie erfahren wollte. Und dann sprudelten die Ideen und kreativen Einfälle los.<br />
Eine Gruppe entwickelte anhand von autobiographischen Schuhgeschichten kleine Objekte,<br />
die mit den Geschichten auf Straßen und Plätzen Gröpelingens installiert wurden. Eine weitere<br />
Gruppe entwickelte Geschichten zum Erzählen, story telling – wie es in vielen <strong>Kultur</strong>en alter<br />
Brauch ist. Als die Gruppe ihren ersten umjubelten Auftritt bei den Weserwegen am Pier 2<br />
hatte, war dies für fast alle das erste mal, dass sie sich stolz, fröhlich und glücklich in ihrem<br />
Stadtteil präsentierten. Einige werden sogar beim Internationalen Erzählfestival Feuerspuren<br />
von <strong>Kultur</strong> <strong>Vor</strong> <strong>Ort</strong> im Herbst aufzutreten. Eine dritte Gruppe kommentierte mit photographischen<br />
Mitteln Gröpelingen und stellte Fotos und Kommentare in vielen verschiedenen<br />
Sprachen im Atelierhaus Roter Hahn aus.<br />
Am Ende haben die TeilnehmerInnen <strong>Ort</strong>e, Persönlichkeiten und Einrichtungen kennen gelernt,<br />
denen sie vertrauen und mit denen sie viele Wege in die Stadt und in den Stadtteil gehen<br />
werden.<br />
Lutz Liffers