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Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
Richard L. <strong>Fellner</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds<br />
Vorwort<br />
Warum verfaßt ein systemischer Psychotherapeut eine Abhandlung über<br />
die <strong>Psychoanalyse</strong>?<br />
Weil sie die "Mutter" <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen (westlichen) Psychotherapie ist. Ob-<br />
5 wohl die Systemische Familientherapie methodisch und theoretisch weit<br />
von diesen Wurzeln entfernt ist und ihren eigenen, erfolgreichen Weg<br />
beschritten hat (<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit<br />
gewidmet), stellt die <strong>Psychoanalyse</strong> nach wie vor eine wertvolle theoretische<br />
Basis und Bereicherung für die alltägliche therapeutische Praxis,<br />
10 aber auch zum Verständnis <strong>de</strong>r innerpsychischen Vorgänge allgemein<br />
dar. <strong>Die</strong> analytischen Theorien sind faszinierend und bereichernd, und<br />
machen das, was die Innenschau im Zuge einer Psychotherapie (welcher<br />
Metho<strong>de</strong> auch immer) zeigt und auf<strong>de</strong>ckt, verstehbarer und vor allem<br />
auch in Begrifflichkeiten faßbarer – was eine ganz wesentliche Vor-<br />
15 aussetzung für psychische Verarbeitung, Lernen und weiterführen<strong>de</strong><br />
Selbsterkenntnis ist.<br />
Auch heute ist es sinnvoll und für ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>s eigenen<br />
Seelenlebens hilfreich, die Grundlagen <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> zu kennen,<br />
wenn auch die (klassisch angewandte) Metho<strong>de</strong> selbst mittlerweile ü-<br />
20 berholt, ja in manchen Bereichen sogar unzeitgemäß anmutet. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
in <strong>de</strong>n verfeinerten Techniken und Anwendungsbereichen wie<br />
psychoanalytischer Sozialtherapie, <strong>de</strong>r psychoanalytischen Kin<strong>de</strong>rtherapie,<br />
<strong>de</strong>r psychoanalytischen Gruppentherapie und <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />
Psychotherapie hat sie nach wie vor ihre Be<strong>de</strong>utung. Auch von ih-<br />
25 rem historischen Stellenwert als "Mutter" <strong>de</strong>r unzähligen, direkt o<strong>de</strong>r indirekt<br />
aus ihr hervorgegangenen mo<strong>de</strong>rnen Therapiemetho<strong>de</strong>n her verdient<br />
sie es, näher betrachtet zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Als Basis <strong>de</strong>s Textes dienten diverse von mir verfaßte Arbeiten und Aufsätze<br />
zur <strong>Psychoanalyse</strong> sowie einer von Arthur Brühlmeier. Er hat mir<br />
30 freundlicherweise – und ich möchte ihm an dieser Stelle nochmals meinen<br />
ausdrücklichen Dank dafür aussprechen - gestattet, meine Abhandlung<br />
auf seiner ebenfalls sehr umfassen<strong>de</strong>n Arbeit zur <strong>Psychoanalyse</strong><br />
Freuds aufzubauen. Ich habe diese dann in Teilbereichen komplett ü-<br />
berarbeitet, um das in meinen Archiven lagern<strong>de</strong> eigene Material zur<br />
35 Metho<strong>de</strong> ergänzt und bin somit nun in <strong>de</strong>r Lage, eine aktualisierte, und<br />
insgesamt recht <strong>de</strong>taillierte Übersicht über die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong><br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
Ich hoffe beschei<strong>de</strong>n, daß sie Interessierten zu einem besseren Verständnis<br />
<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> und ihrer Begrifflichkeiten und Psychotherapie-<br />
40 PatientInnen zu einer weiterführen<strong>de</strong>n Vernetzung <strong>de</strong>s in Ihrer Therapie<br />
Erfahrenen dienen möge – welche Metho<strong>de</strong> auch immer dort zur Anwendung<br />
kommen mag.<br />
dsp Richard L. <strong>Fellner</strong> Wien, im Mai 2004<br />
aus:<br />
http://www.psychotherapiepraxis.at/art/psychoanalyse/psychoanalyse.phtml<br />
1. EINLEITUNG .............................................................................................2<br />
1.1. WURZELN UND ENTWICKLUNG DER PSYCHOANALYSE ........................2<br />
1.2. DER BEGRIFF "PSYCHOANALYSE" .....................................................2<br />
1.3. GRUNDHYPOTHESEN.........................................................................2<br />
2. PERSÖNLICHKEITSMODELLE UND MENSCHENBILD........................2<br />
2.1. DAS TOPOLOGISCHE MODELL............................................................3<br />
2.1.1. Das Bewusstsein .................................................................3<br />
2.1.2. Das Vorbewusste.................................................................3<br />
2.2. DAS STRUKTUR-MODELL ..................................................................3<br />
2.2.1. Das Es..................................................................................3<br />
2.2.2. Das Ich.................................................................................3<br />
2.2.3. Das Über-Ich........................................................................3<br />
3. ZUGÄNGE ZUM UNBEWUSSTEN...........................................................4<br />
3.1. HYPNOSE .........................................................................................4<br />
3.2. DEUTUNG VON FEHLLEISTUNGEN ......................................................4<br />
3.3. FREIE ASSOZIATION ..........................................................................4<br />
3.4. DEUTUNG VON SYMPTOMEN UND VERHALTENSWEISEN......................4<br />
3.5. TRAUMDEUTUNG...............................................................................4<br />
3.6. PROJEKTIVE TESTS...........................................................................4<br />
4. TRIEBLEHRE ............................................................................................4<br />
4.1. LIBIDO ..............................................................................................5<br />
5. DIE ABWEHRMECHANISMEN.................................................................5<br />
5.1. VERDRÄNGUNG.................................................................................5<br />
5.2. REGRESSION ....................................................................................5<br />
5.3. RATIONALISIERUNG...........................................................................6<br />
5.4. PROJEKTION .....................................................................................6<br />
5.5. INTROJEKTION...................................................................................6<br />
5.6. IDENTIFIKATION.................................................................................6<br />
5.7. KONVERSION ....................................................................................7<br />
5.8. REAKTIONSBILDUNG..........................................................................7<br />
5.9. KOMPENSATION ................................................................................7<br />
5.10. AUTOAGGRESSION ......................................................................7<br />
5.11. SUBSTITUTION.............................................................................8<br />
5.12. REALITÄTSLEUGNUNG / VERLEUGNUNG .......................................8<br />
5.13. SUBLIMIERUNG............................................................................8<br />
5.14. VERSCHIEBUNG...........................................................................8<br />
5.15. UNGESCHEHEN MACHEN..............................................................8<br />
5.16. FLUCHT IN DIE GESUNDHEIT ........................................................8<br />
6. DIE PSYCHOSEXUELLE ENTWICKLUNG .............................................8<br />
6.1. ORALE PHASE ..................................................................................9<br />
6.2. ANALE PHASE.................................................................................10<br />
6.3. PHALLISCHE PHASE ........................................................................10<br />
6.3.1. Ödipuskomplex..................................................................11<br />
6.4. LATENZZEIT ....................................................................................11<br />
6.5. GENITALE PHASE: PUBERTÄT, ADOLESZENZ,<br />
ERWACHSENENSEXUALITÄT ............................................................11<br />
7. DIE TRAUMDEUTUNG...........................................................................12<br />
7.1. ZWECK UND WESEN DES TRAUMES.................................................12<br />
7.2. LATENTER UND MANIFESTER TRAUM, TRAUMDEUTUNG UND<br />
TRAUMARBEIT .................................................................................................12<br />
7.3. TRAUMQUELLEN..............................................................................14<br />
8. PSYCHOPATHOLOGIE UND THERAPIEZIELE ...................................14<br />
8.1. NEUROSEN .....................................................................................14<br />
8.2. PHOBIEN.........................................................................................15<br />
8.3. ZWANGSNEUROSEN ........................................................................15<br />
8.4. VON DER VIELFALT NEUROTISCHEN VERHALTENS............................15<br />
9. DIE PSYCHOANALYTISCHE TECHNIK................................................16<br />
9.1. GRUNDSÄTZLICHE ERWÄGUNGEN....................................................16<br />
9.2. DER ANALYTISCHE VERTRAG...........................................................16<br />
9.3. HEILUNGSPLAN UND THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG .........................16<br />
9.4. DIE PSYCHOANALYTISCHE DIALOGSTRUKTUR (SETTING)..................16<br />
9.5. ÜBERTRAGUNG UND GEGENÜBERTRAGUNG.....................................16<br />
9.6. DIE HEILENDEN WIRKUNGEN ...........................................................17<br />
9.7. BESONDERE SCHWIERIGKEITEN ......................................................17<br />
9.8. DER ABSCHLUSS DER THERAPIE .....................................................17<br />
10. METHODENVERGLEICH MIT DER SYSTEMISCHEN THERAPIE18<br />
11. QUELLEN UND ERGÄNZUNGEN....................................................19<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 1 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
1. Einleitung<br />
45 1.1. Wurzeln und Entwicklung <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong><br />
<strong>Die</strong> Genese <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Metho<strong>de</strong> kann nur im historischen<br />
Kontext verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. So wer<strong>de</strong>n für Ellenberger(1) bereits bei<br />
<strong>de</strong>n Griechen erste Ansätze einer "Forschung nach <strong>de</strong>m Unbewussten"<br />
erkennbar, aber auch schamanistische Techniken sowie gewisse Prakti-<br />
50 ken <strong>de</strong>s katholischen Exorzismus o<strong>de</strong>r Mesmer’s Magnetismus wer<strong>de</strong>n<br />
als wichtige methodische Vorläufer <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie erachtet.<br />
Sigmund Freud wur<strong>de</strong> am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg<br />
(Mähren) geboren, in <strong>de</strong>m sein Vater als Geschäftsmann tätig war.<br />
<strong>Die</strong> Familie übersie<strong>de</strong>lte 1860 nach Wien, wo Freud bis zur Besetzung<br />
55 Österreichs durch Hitler im Jahre 1938 lebte und wirkte. Er besuchte<br />
hier das Gymnasium, studierte Medizin und arbeitete von 1876 – 1882<br />
als Assistent im physiologischen Laboratorium von Prof. Ernst Brücke,<br />
wo er sich vor allem mit <strong>de</strong>m Nervensystem nie<strong>de</strong>rer Fischarten beschäftigte.<br />
60 Freud setzte seine Arbeit später als Arzt im Allgemeinen Krankenhaus<br />
fort, begleitet von seinen Forschungen, insbeson<strong>de</strong>re über das Zentralnervensystem<br />
<strong>de</strong>s Menschen. Bald galt er in Wien als führen<strong>de</strong>r Neurologe<br />
(Nervenarzt). 1885 fuhr er nach Paris, um sich bei Professor Charcot,<br />
<strong>de</strong>r damals führen<strong>de</strong>n Kapazität auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Neurologie,<br />
65 weiterzubil<strong>de</strong>n. Bei ihm lernte Freud die Hypnose kennen, die damals<br />
von <strong>de</strong>n meisten Psychiatern als Schwin<strong>de</strong>l betrachtet wur<strong>de</strong>, und in<br />
diesem Zusammenhang auch eine damals als Hysterie bezeichnete<br />
Krankheitsform, welche man in Paris mittels <strong>de</strong>r Hypnose mit einigem<br />
Erfolg behan<strong>de</strong>lte. Freud setzte die Hypnose zunächst gemeinsam mit<br />
70 Breuer primär zur Befreiung "verklemmter" Affekte ein, verzichtete aber<br />
im Laufe seiner Arbeit zunehmend auf diese suggestive Technik (Grün<strong>de</strong><br />
hiefür waren u.a. gegen die Hypnose resistente Symptome, die Tatsache,<br />
daß nicht alle Klienten ausreichend suggestibel sind, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />
nur umgangen wer<strong>de</strong>n und einige mehr).<br />
75 Er kehrte 1886 nach Wien zurück und entwickelte als Inhaber einer eigenen<br />
Arztpraxis in einer mehrjährigen, anstrengen<strong>de</strong>n Forscherarbeit<br />
die <strong>Psychoanalyse</strong>. <strong>Die</strong> Hypnose ersetzte er dabei zunächst durch die<br />
Techniken<br />
• <strong>de</strong>r freien Assoziation,<br />
80 • <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstandsanalyse sowie<br />
• <strong>de</strong>r "Couch-Technik" (zwecks Erleichterung <strong>de</strong>r Übertragung<br />
od. Regression)<br />
als wesentlichste Verfahren. 1896 wur<strong>de</strong> erstmals von ihm <strong>de</strong>r Begriff<br />
"<strong>Psychoanalyse</strong>" verwen<strong>de</strong>t - in dieser Zeit wird auch die Geburt <strong>de</strong>r<br />
85 mo<strong>de</strong>rnen Psychotherapie angesetzt. Über Jahrzehnte hinweg verdiente<br />
er <strong>de</strong>n Unterhalt für seine achtköpfige Familie mit <strong>Psychoanalyse</strong>n und<br />
schrieb abends an seinen theoretischen Abhandlungen.<br />
In Wien scharte Freud einen Kreis interessierter Ärzte um sich und<br />
grün<strong>de</strong>te mit ihnen (zu Beginn auch mit Adler) und in Zusammenarbeit<br />
90 mit Bleuler und C.G. Jung in Zürich die so genannte "Psychoanalytische<br />
Vereinigung". Er musste lange um <strong>de</strong>ren wissenschaftliche Anerkennung<br />
kämpfen und entwickelte dabei teils auch autoritäre und regelrecht<br />
fanatische Züge. Seine Schriften in<strong>de</strong>s zeichnen sich durch distanzierte<br />
wissenschaftliche Sachlichkeit und eine klassische Sprache aus.<br />
95 Nach <strong>de</strong>r Besetzung Österreichs durch Hitler, bereits schwer gezeichnet<br />
durch Gaumenkrebs (vermutlich eine Folge <strong>de</strong>s jahrzehntelangen Kettenrauchens<br />
von Zigarren) emigrierte Freud nach London, wo er 1939<br />
starb.<br />
<strong>Die</strong> folgen<strong>de</strong> Übersicht über die Metho<strong>de</strong>n und Ansätze <strong>de</strong>r Psychoana-<br />
100 lyse kann natürlich nur einen Abriß über die wichtigsten Aspekte bieten.<br />
Sein mittlerweile schon über 100 Jahre alter Ansatz wur<strong>de</strong> von Freud<br />
selbst im Laufe <strong>de</strong>r Jahrzehnte mehrmals überarbeitet und auch seit<br />
seinem Tod erfuhr die <strong>Psychoanalyse</strong> eine Weiterentwicklung, Aspekte<br />
und Ansätze, die im letzten Teil dieser Arbeit aufgezeigt wer<strong>de</strong>n sollen.<br />
105 Der Ansatz <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> war damals völlig neu und revolutionär.<br />
Er eröffnete völlig neue Sichtweisen und weiterführen<strong>de</strong> Denkansätze<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>r Heilungsmöglichkeiten für <strong>de</strong>n Menschen. Der daraus<br />
folgen<strong>de</strong>, intensive Diskurs innerhalb <strong>de</strong>r psychoanalytischen Vereinigung,<br />
aber auch <strong>de</strong>r Umgang von Freud mit seinen Kritikern führte so-<br />
110 dann zu fortlaufen<strong>de</strong>n Abspaltungen vom "Stamm" <strong>Psychoanalyse</strong>, immer<br />
weiteren Neuentwicklungen und Ansätzen. Klassische Beispiele<br />
hierfür sind Alfred Adler (Individualpsychologie), Carl Gustav Jung (Analytische<br />
Psychologie), L. Szondi (Schicksalsanalyse), Ludwig Binswanger<br />
und Medard Boss (Daseinsanalyse), Arthur Janov (Primärtherapie)<br />
115 sowie alle (teilweise marxistisch ausgerichteten) Richtungen <strong>de</strong>r Neo-<br />
<strong>Psychoanalyse</strong> wie z.B. Erich Fromm und Harald Schultz-Hencke.<br />
<strong>Die</strong> psychoanalytische Theorie ist außeror<strong>de</strong>ntlich komplex und in Teilbereichen<br />
selbst für Fachleute schwer verstehbar. Selbst C.G. Jung flehte<br />
Freud nach Jahren <strong>de</strong>r Zusammenarbeit in einem Brief an, er möge<br />
120 ihm doch erklären, was er eigentlich mit ‘Libido’ meine. Eine abrisshafte<br />
Darstellung <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> kann daher in je<strong>de</strong>m Falle nur stark vereinfachend<br />
erfolgen und die Arbeit lediglich <strong>de</strong>n Anspruch erheben, eine<br />
Einführung in das psychoanalytische Denken zu geben.<br />
1.2. Der Begriff "<strong>Psychoanalyse</strong>"<br />
125 Der Begriff ‘<strong>Psychoanalyse</strong>’ wird heute in drei Be<strong>de</strong>utungen verwen<strong>de</strong>t:<br />
• als tiefenpsychologische Forschungsmetho<strong>de</strong> ("Freud gewann<br />
seine psychologischen Erkenntnisse durch Psycho[-<br />
]Analyse.")<br />
• als Inbegriff <strong>de</strong>r Freudschen Lehre ("<strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong><br />
misst <strong>de</strong>r Sexualität eine fundamentale Be<strong>de</strong>utung zu.")<br />
130<br />
• als Heilmetho<strong>de</strong> (Therapie-Form) ("Als Psychotherapie-<br />
Metho<strong>de</strong> wird <strong>Psychoanalyse</strong> empfohlen.")<br />
1.3. Grundhypothesen<br />
Unter einer Hypothese wird eine grundlegen<strong>de</strong> Annahme verstan<strong>de</strong>n,<br />
135 welche als unbewiesen zu gelten hat, auf welcher aber weitere theoretische<br />
Aussagen aufgebaut sein können.<br />
a) Grundlegend für die <strong>Psychoanalyse</strong> ist die Annahme <strong>de</strong>r ganzen Tiefenpsychologie,<br />
dass es ‘das Unbewusste’ gibt, einen Bereich also, zu<br />
<strong>de</strong>m das Individuum praktisch kaum einen Zugang hat, <strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>ssen<br />
140 Handlungen stark beeinflusst o<strong>de</strong>r bestimmt (<strong>de</strong>terminiert).<br />
<strong>Die</strong> Annahme eines Unbewussten mit so weit reichen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />
versetzt <strong>de</strong>m Glauben <strong>de</strong>s Rationalismus, dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich<br />
vernünftig zu han<strong>de</strong>ln weiß und mittels vernünftigem Han<strong>de</strong>ln auch<br />
eine vernünftige Welt aufbauen kann, einen argen Stoß. Es verwun<strong>de</strong>rt<br />
145 daher nicht, daß Freud damals mit seiner Annahme bei vielen Wissenschaftern<br />
und Theoretikern auf Ablehnung stieß.<br />
b) <strong>Die</strong> zweite grundlegen<strong>de</strong> Hypothese besagt, dass psychisches Geschehen<br />
grundsätzlich kausal <strong>de</strong>terminiert ist, dass also das Psychische<br />
genauso wie das Organische und Mineralische <strong>de</strong>m Gesetz von Ursa-<br />
150 che und Wirkung unterworfen ist. Wür<strong>de</strong> man also sämtliche psychische<br />
Ursachen kennen, könnte man gemäß dieser Grundannahme je<strong>de</strong>s weitere<br />
Verhalten und psychische Geschehen mit Sicherheit voraussagen.<br />
Freud wur<strong>de</strong> im materialistischen Geist <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts erzogen<br />
und blieb diesem Denken weitgehend bis an sein Lebensen<strong>de</strong> treu. Er<br />
155 teilt insofern <strong>de</strong>n typisch materialistischen Reduktionismus, <strong>de</strong>r darin<br />
besteht, dass das Geistige auf das Psychische, das Psychische auf das<br />
Organische und das Organische auf das Mineralische zurückgeführt<br />
wird. Leben, Psychisches und Geistiges sind <strong>de</strong>mnach letztlich insgesamt<br />
Ausflüsse <strong>de</strong>r Materie und können unmöglich unabhängig von die-<br />
160 ser bestehen. Im Rahmen dieses Denkens ist z.B. die Vorstellung eines<br />
individuellen Weiterlebens einer prinzipiell vom Körper lösbaren Seele<br />
nach <strong>de</strong>m physischen To<strong>de</strong> un<strong>de</strong>nkbar. Auch wi<strong>de</strong>rspricht diesem Denken<br />
grundsätzlich die Vorstellung, <strong>de</strong>r Mensch könne frei han<strong>de</strong>ln. Wie<br />
uns Freud-Forscher mitteilen, kommt das Wort ‘Freiheit’ in Freud's Wer-<br />
165 ken insgesamt nur sieben Mal vor – und selbst das nur "en passant". <strong>Die</strong><br />
Vermutung liegt nahe, daß für Freud die Unmöglichkeit wirklich freien<br />
Han<strong>de</strong>lns so selbstverständlich war, dass er nicht einmal auf die I<strong>de</strong>e<br />
kam, sich darüber theoretisch zu äußern.<br />
2. Persönlichkeitsmo<strong>de</strong>lle und Menschenbild<br />
170 Angesichts <strong>de</strong>r Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> ist es heute nicht mehr<br />
möglich, von <strong>de</strong>m Menschenbild <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> zu sprechen – dieses<br />
variiert vielmehr nach <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ologischen Position <strong>de</strong>s Analytikers.<br />
Das Menschenbild von Sigmund Freud, <strong>de</strong>m »Vater <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>«,<br />
war in <strong>de</strong>r Philosophie <strong>de</strong>s Humanismus und <strong>de</strong>r Aufklärung ver-<br />
175 wurzelt, allerdings wur<strong>de</strong> diese Philosophie durch ihn ("<strong>Die</strong> Menschheit<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 2 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
hat gewußt, daß sie Geist hat; ich mußte ihr zeigen, daß es auch Triebe<br />
gibt") selbst beeinflusst. Freuds Menschenbild impliziert einen "psychischen<br />
Apparat", ist also zum Teil als mechanistisch zu bezeichnen.<br />
Der Mensch zeichnet sich durch elementare, im Unbewussten gegrün-<br />
180 <strong>de</strong>te Triebregungen aus, die auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher<br />
Bedürfnisse zielen und quasi <strong>de</strong>n "Urgrund" <strong>de</strong>r menschlichen Persönlichkeit<br />
bil<strong>de</strong>n. Auch heute wird in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> hierbei <strong>de</strong>r Sexualität<br />
eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beigemessen. Bedingt durch die Irrationalität<br />
<strong>de</strong>r Triebstruktur wird ein Determinismus angenommen, <strong>de</strong>r<br />
185 letztlich die menschliche Willensfreiheit in Frage stellt. Das Ich befin<strong>de</strong>t<br />
sich permanent in einem Spannungsfeld zwischen Trieb-, Realitäts- und<br />
Gewissensansprüchen – Freud beschreibt das Ich als eine "Angststätte"(1)<br />
und betrachtet <strong>de</strong>n Menschen als Konfliktwesen – ständig überfor<strong>de</strong>rt<br />
beim Versuch, zwischen diesen Polaritäten zu vermitteln. In <strong>de</strong>r<br />
190 Mo<strong>de</strong>rne erfolgt zusätzlich noch eine ständige Konfrontation mit <strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>nsten apokalyptischen Gefahren.<br />
Kunst, Religion, ja alle geistigen Produktionen sind lediglich Produkte<br />
<strong>de</strong>r Triebsublimierung und entsprechen <strong>de</strong>n analogen Kompromißbildungen<br />
beispielsweise <strong>de</strong>s Traumes und <strong>de</strong>r Neurose.<br />
195 Das Menschenbild ist jedoch auch heute noch nicht abgeschlossen, wird<br />
vielmehr bei je<strong>de</strong>r Analyse vom Analysan<strong>de</strong>n für sich neu er- o<strong>de</strong>r wenigstens<br />
bearbeitet (biographische Rekonstruktion) – was einen entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Umgang <strong>de</strong>s Analytikers mit <strong>de</strong>ssen Gegenübertragung<br />
voraussetzt. So ist etwa gegenwärtig eine Weiterdifferenzierung zu ei-<br />
200 nem höchst komplexen Personenbegriff festzustellen. Wichtig scheint es<br />
auch, das i<strong>de</strong>ologiekritische Potential <strong>de</strong>r Psychotherapie zu erwähnen<br />
(Freud, Reich!), da sie über einen ständigen Prozeß immer neuer Entmystifizierungen<br />
zu einem immer offeneren Menschenbild führen kann.<br />
2.1. Das topologische Mo<strong>de</strong>ll<br />
205 Auf <strong>de</strong>r Suche nach Bereichen, in <strong>de</strong>nen sich psychisches Geschehen<br />
abspielt, <strong>de</strong>finierte Freud drei Schauplätze:<br />
2.1.1. Das Bewusstsein<br />
Was mit "Bewusstsein" gemeint ist, weiß je<strong>de</strong>r vermutlich aus eigenem<br />
Erleben. Eine genauere Charakterisierung dieses so geheimnisvollen<br />
210 Phänomens jedoch (nämlich, dass eine Wesenheit um ihre eigene Existenz<br />
weiß und auch weiß, dass sie es weiß) erfor<strong>de</strong>rt sehr weit reichen<strong>de</strong><br />
philosophische Erwägungen, die <strong>de</strong>n Rahmen dieser Übersicht<br />
sprengen wür<strong>de</strong>n.<br />
2.1.2. Das Vorbewusste<br />
215 Unter <strong>de</strong>m Vorbewussten versteht Freud jenen Bereich von Inhalten, die<br />
zwar im Augenblick nicht bewusst, aber grundsätzlich (etwa durch "Konzentration")<br />
<strong>de</strong>m Bewusstsein zugänglich gemacht wer<strong>de</strong>n können, also<br />
das Gedächtnis, die Erinnerung, <strong>de</strong>n Sprachschatz und erworbene Fertigkeiten.<br />
220 2.1.3. Das Unbewusste<br />
Das Unbewusste ist jener Bereich, in <strong>de</strong>m sich Inhalte, die nicht ins Bewusstsein<br />
gelangt sind o<strong>de</strong>r kommen können, aber auch alles Verdrängte<br />
befin<strong>de</strong>t.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>s Unbewussten lassen sich nach ihrer Herkunft zwei Anteile<br />
225 unterschei<strong>de</strong>n:<br />
• die ererbte biologische Grundausstattung <strong>de</strong>s Menschen,<br />
insbeson<strong>de</strong>re die biologischen Grundtriebe (Hunger, Durst,<br />
Sexualtrieb, etc.)<br />
• Wünsche, Strebungen, Vorstellungen, Erlebnisse etc., die im<br />
230 Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung irgendwann einmal bewusst waren,<br />
aber aus <strong>de</strong>m Bewusstsein verdrängt wur<strong>de</strong>n, weil sie mit<br />
Realitäts- und Erziehungsansprüchen in Konflikt gerieten.<br />
Das Unbewusste beeinflusst unsere Handlungen, unsere Denkvorgänge<br />
und Emotionen, setzt aber <strong>de</strong>m bewussten Versuch, sich an sie zu erin-<br />
235 nern, Wi<strong>de</strong>rstand entgegen. Im Gegensatz zum Vorbewussten und Bewussten<br />
haben die unbewussten psychischen Inhalte dadurch keinen direkten<br />
Zugang zum Bewusstsein, son<strong>de</strong>rn sie sind nur aus ihren Auswirkungen<br />
auf Bewusstseinsvorgänge (wozu z.B. die Fehlleistungen<br />
zählen) o<strong>de</strong>r durch bestimmte Techniken (z.B. Hypnose, Traum<strong>de</strong>utung<br />
240 u.a.) zu erschließen. Dazu später mehr.<br />
2.2. Das Struktur-Mo<strong>de</strong>ll<br />
Freud differenzierte später sein topographisches Mo<strong>de</strong>ll, als er nach <strong>de</strong>n<br />
Instanzen fragte, welche für psychisches Geschehen verantwortlich<br />
sind, also z.B.: Wer bewirkt was? Er betrachtete das Seelenleben als ei-<br />
245 nen aus Einzelteilen zusammengesetzten Apparat (die Lehre vom psychischen<br />
Apparat ist eine <strong>de</strong>r grundlegendsten Anschauungen <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>).<br />
Freud unterschei<strong>de</strong>t hierbei drei Instanzen:<br />
2.2.1. Das Es<br />
Das Es hat zwei Aspekte: zum einen ist es das natürlich Gegebene wie<br />
250 ererbte und konstitutionelle Anlagen, Geschlechtszugehörigkeit, Triebe<br />
und archaische Bil<strong>de</strong>r (bei Jung: Archetypen). Zum an<strong>de</strong>ren ist es das<br />
Auffangbecken von allem Verdrängten, das weiterhin aus <strong>de</strong>m Es heraus<br />
wirkt und psychisches Geschehen beeinflusst.<br />
Das Es ist mit einem Hexenkessel vergleichbar: einem Konglomerat von<br />
255 Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Strebungen ohne Logik,<br />
ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Maß, ohne Rücksicht sogar auf<br />
die Selbsterhaltung, einzig <strong>de</strong>m Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung<br />
verpflichtet. <strong>Die</strong>ses vorherrschen<strong>de</strong> Prinzip <strong>de</strong>s Es wird als<br />
Primärvorgang bezeichnet, <strong>de</strong>ssen Ziel die unmittelbare Triebbefriedi-<br />
260 gung o<strong>de</strong>r Wunscherfüllung ist (Lustprinzip). Seine Arbeitsweise ist aus<br />
seinen ins Bewusstsein vordringen<strong>de</strong>n Abkömmlingen wie Träume, Tagträume,<br />
Halluzinationen, freie Assoziationen etc. ersichtlich.<br />
Freud stellte sich vor, daß <strong>de</strong>r Mensch bei <strong>de</strong>r Geburt ganz Es ist, und<br />
sich die bei<strong>de</strong>n Ich-Instanzen erst im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung herausbil-<br />
265 <strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Vorstellung gilt heute allerdings als überholt - insbeson<strong>de</strong>re<br />
<strong>de</strong>r Säuglingsforschung verdanken wir Forschungsergebnisse, die ihr<br />
z.T. <strong>de</strong>utlich wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
2.2.2. Das Ich<br />
Das Ich entwickelte sich aus <strong>de</strong>m Es und vermittelt zwischen Es (das<br />
270 ausschließlich <strong>de</strong>m Lustprinzip verpflichtet ist und von <strong>de</strong>m es darüber<br />
hinaus auch abhängig ist und beeinflusst wird), <strong>de</strong>m Über-Ich und <strong>de</strong>r<br />
äußeren Realität, die sich auf <strong>de</strong>m Realitätsprinzip grün<strong>de</strong>t. Meist sind<br />
mit <strong>de</strong>n Instrumenten <strong>de</strong>s Ich (Sinneswahrnehmung, die Motorik und alle<br />
bewussten Denk- und Willensvollzüge) aber nur Kompromisse möglich,<br />
275 die manchmal auch nur in neurotischer Form gelingen. Vorherrschen<strong>de</strong>s<br />
Prinzip <strong>de</strong>s Wachbewusstseins ist <strong>de</strong>r Sekundärvorgang, <strong>de</strong>ssen Ziel<br />
die Bewältigung von Problemen <strong>de</strong>r Realität zur mittelbaren Triebbefriedigung<br />
(Realitätsprinzip) und <strong>de</strong>ssen Gesetzmäßigkeiten die <strong>de</strong>s logischen<br />
Denkens sind. Dem Ich kommt auch die Aufgabe <strong>de</strong>r Selbsterhal-<br />
280 tung zu, es ist ein Träger (Reservoir) <strong>de</strong>r psychischen Energie, <strong>de</strong>r Libido,<br />
und entschei<strong>de</strong>t, welche Objekte mit Libido besetzt wer<strong>de</strong>n (siehe<br />
Trieblehre).<br />
Im ersten topologischen Mo<strong>de</strong>ll wür<strong>de</strong> die Ich-Instanz das Bewusste und<br />
Vorbewusste umfassen.<br />
285 2.2.3. Das Über-Ich<br />
Beim Über-Ich han<strong>de</strong>lt es sich um die kontrollieren<strong>de</strong>, mahnen<strong>de</strong> und<br />
strafen<strong>de</strong> Instanz, also um das, was man gängig (aber doch zu wenig<br />
genau) als ‘Gewissen’ bezeichnet. Es entsteht im Zuge <strong>de</strong>s ödipalen<br />
Konflikts durch Introjektion elterlicher Gebote und Verbote. Freud sieht<br />
290 im Über-Ich also, vereinfacht gesagt, die Verinnerlichung von Normen<br />
und Werten <strong>de</strong>r Gesellschaft, vorwiegend vermittelt durch die elterliche<br />
Erziehung.<br />
Abgesehen von <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Strukturmo<strong>de</strong>lls (auch 'zweites topologischen<br />
Mo<strong>de</strong>ll' genannt) aus <strong>de</strong>m 1. topologischen Mo<strong>de</strong>ll besteht<br />
295 eine Verbindung zwischen bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen auch insofern, als alle drei<br />
Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) alle drei psychischen Qualitäten (unbewusst,<br />
vorbewusst, bewusst) annehmen können. <strong>Die</strong> Zuordnung von Instanzen<br />
und psychischen Qualitäten ist jedoch nicht ein<strong>de</strong>utig: das Verdrängte<br />
ist unbewusst, entstammt aber <strong>de</strong>m Ich (unakzeptierbare Wün-<br />
300 sche und Vorstellungen). Das Über-Ich, das sich durch <strong>de</strong>n Erziehungseinfluß<br />
aus <strong>de</strong>m Ich entwickelt, ist ebenfalls teilweise unbewusst (z.B.<br />
unbewusste Schuldgefühle).<br />
Auf <strong>de</strong>r Basis all dieser Auffassungen formuliert Freud seine Vorstellung<br />
<strong>de</strong>r psychischen Gesundheit: ‘Psychisch korrekt’ sind <strong>de</strong>mnach solche<br />
305 Handlungen, in welchem das Ich die Regungen aus <strong>de</strong>m Es, die An-<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 3 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
sprüche <strong>de</strong>s Über-Ich und die Erfor<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Realität in Einklang zu<br />
bringen vermag.<br />
3. Zugänge zum Unbewussten<br />
Es liegt in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Unbewussten, dass es als solches nicht direkt<br />
310 beobachtbar ist. Man ist vielmehr auf <strong>de</strong>ssen Äußerungen angewiesen,<br />
<strong>de</strong>ren Deutungen dann Rückschlüsse auf das angenommene Unbewusste<br />
ermöglichen. Hierzu entwickelte Freud mehrere Metho<strong>de</strong>n:<br />
3.1. Hypnose<br />
Freud machte die grundlegen<strong>de</strong> Ent<strong>de</strong>ckung, dass ein Mensch durch<br />
315 Hypnose nicht bloß in seinen Willenshandlungen beeinflussbar ist, son<strong>de</strong>rn<br />
dass er im hypnotischen Trance-Zustand auch in <strong>de</strong>r Lage ist, sich<br />
an frühere Erlebnisse zu erinnern, von <strong>de</strong>nen er im Wachzustand nichts<br />
mehr weiß.<br />
Dabei zeigte sich sogar, dass die neurotischen Symptome (z.B. hysteri-<br />
320 sche Anfälle) eine Zeit lang verschwan<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Klient zuvor gewisse<br />
belasten<strong>de</strong> Erlebnisse unter Einwirkung <strong>de</strong>r Hypnose wie<strong>de</strong>r erinnern<br />
und erzählen konnte. Daraus entstand dann ein wesentlicher Pfeiler<br />
<strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>: die Unschädlichmachung belasten<strong>de</strong>r und ins<br />
Unbewusste verdrängter frühkindlicher Erlebnisse durch <strong>de</strong>ren Be-<br />
325 wusstmachung.<br />
Wie Freud allerdings feststellen musste, stellten sich die neurotischen<br />
Symptome nach einer gewissen Zeit wie<strong>de</strong>r ein, weshalb er <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Konflikt nicht als gelöst betrachten konnte. Er gab darum die<br />
Anwendung <strong>de</strong>r Hypnose schon bald wie<strong>de</strong>r auf. Heute wird die Hypno-<br />
330 se in einem Randbereich <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> teilweise wie<strong>de</strong>r praktiziert<br />
und stellt als „Hypnotherapie“, wesentlich beeinflusst und weiterentwickelt<br />
von Therapeuten wie Milton H. Erickson, in vielen Län<strong>de</strong>rn sogar<br />
eine eigenständige, anerkannte Psychotherapiemetho<strong>de</strong> dar. Verfechter<br />
<strong>de</strong>r Hypnose bzw. Hypnotherapie werfen Freud vor, er habe die Technik<br />
335 <strong>de</strong>r Hypnose wohl zu wenig beherrscht und sie allzu vorschnell verworfen.<br />
3.2. Deutung von Fehlleistungen<br />
Wenn jemand statt "Ich hab Dich lieb" "ich hack Dich lieb" schreibt, sich<br />
also verschreibt, so ist dies nach Freuds Überzeugung kein belangloser<br />
340 Zufall, son<strong>de</strong>rn eine Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten, die Rückschlüsse<br />
auf entsprechen<strong>de</strong> unbewusste Gegebenheiten (Ängste, Triebansprüche,<br />
verdrängte Wünsche, Schuldgefühle, Aggressionen, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle<br />
usf.) zulässt.<br />
Selbstverständlich sind Fehlleistungen nicht bloß im Bereiche <strong>de</strong>s<br />
345 Schreibens, son<strong>de</strong>rn bei allen gewohnheitsmäßigen Handlungen möglich.<br />
So kann man sich verhören, versprechen, verlaufen, verfahren,<br />
verwählen, vergreifen, verschlafen, o<strong>de</strong>r man kann etwas vergessen,<br />
verlegen o<strong>de</strong>r (z.B. einen Zug o<strong>de</strong>r einen Termin) verpassen. Oft zeigt<br />
sich sogar, dass das Verunfallen einem unbewussten Motiv entspricht<br />
350 und als Fehlleistung betrachtet wer<strong>de</strong>n kann.<br />
<strong>Die</strong>se Freudsche Auffassung ist heute zum Gemeingut gewor<strong>de</strong>n, recht<br />
häufig lässt sich nach Fehlleistungen <strong>de</strong>r stereotype Satz "Freud lässt<br />
grüssen" hören.<br />
Der psychoanalytisch gebil<strong>de</strong>te Mensch hat es sich angewöhnt, eigenen<br />
355 Fehlleistungen nachzugehen, weil sich meist interessante Ent<strong>de</strong>ckungen<br />
über Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten machen lassen. <strong>Die</strong><br />
manchmal etwas vorwitzigen Feststellungen gegenüber Mitmenschen,<br />
<strong>de</strong>nen eine Fehlleistung passiert, lässt er dagegen zumeist bleiben.<br />
3.3. Freie Assoziation<br />
360 Es gehört zur grundlegen<strong>de</strong>n Vereinbarung zwischen <strong>de</strong>m Psychoanalytiker<br />
und <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, dass dieser alles, was ihm irgendwie ins<br />
Bewusstsein kommt, ausspricht, mag es noch so peinlich, unmoralisch,<br />
unsinnig und kindisch erscheinen ("Grundregel"). Tut er dies, so wird er<br />
die Erfahrung machen, dass sich sofort weitere Vorstellungen o<strong>de</strong>r Ge-<br />
365 danken einstellen, die mit <strong>de</strong>m ersten in einem vielleicht vorerst nicht erkennbaren<br />
Zusammenhang stehen. Im Unbewussten sind folglich diese<br />
Vorstellungen miteinan<strong>de</strong>r verknüpft (assoziiert). Durch das freie Assoziieren<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mgemäß die Verknüpfungen von Inhalten im Unbewussten<br />
sichtbar, und es kann dann in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>m Analytiker gemein-<br />
370 sam mit <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingen, tiefer liegen<strong>de</strong> Motive (Handlungs-<br />
Grün<strong>de</strong>) in ihrem Entstehen und ihrem Zusammenhang zu verstehen.<br />
3.4. Deutung von Symptomen und Verhaltensweisen<br />
Wenn sich jemand zwangsweise täglich Dutzen<strong>de</strong> von Malen die Hän<strong>de</strong><br />
wäscht, so spricht dieses neurotische Symptom aus Sicht <strong>de</strong>r Psycho-<br />
375 analyse eine recht <strong>de</strong>utliche Sprache: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch fühlt sich<br />
schuldig und möchte seine belasten<strong>de</strong>n Schuldgefühle auf eine – allerdings<br />
unnütze – Weise beseitigen. In ähnlicher Weise lassen sich viele<br />
neurotische Symptome <strong>de</strong>uten, sei dies z.B. das zwanghafte Zählen von<br />
Gegenstän<strong>de</strong>n, das krampfhafte Ringen nach Atem bei je<strong>de</strong>m zweiten<br />
380 o<strong>de</strong>r dritten Atemzug, Erröten beim Angesprochenwer<strong>de</strong>n, zwanghaftes<br />
Kontrollieren, ob irgen<strong>de</strong>ine als wichtig gelten<strong>de</strong> Handlung (z.B. Wasser<br />
abdrehen, Licht ausschalten, Haustür zusperren) tatsächlich erfolgt ist,<br />
usf.<br />
Ausgehend von <strong>de</strong>r Annahme, dass je<strong>de</strong> Verhaltensweise wenigstens<br />
385 teilweise aus <strong>de</strong>m Unbewussten <strong>de</strong>terminiert ist, ist je<strong>de</strong>s Verhalten zumin<strong>de</strong>st<br />
ein Stück weit als Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten zu betrachten<br />
und lässt sich <strong>de</strong>mzufolge als Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung benutzen.<br />
3.5. Traum<strong>de</strong>utung<br />
Freud bezeichnet die Traum<strong>de</strong>utung als die ‘via regia’ (<strong>de</strong>n königlichen<br />
390 Weg) zum Unbewussten. Ihr ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet.<br />
3.6. Projektive Tests<br />
Mit <strong>de</strong>m ‘Assoziationsexperiment’ hatte C.G.Jung erstmals gezielt ein<br />
projektives Testverfahren entwickelt und angewen<strong>de</strong>t. Projektive Tests<br />
395 beruhen auf <strong>de</strong>r Annahme, dass Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten in<br />
die Wahrnehmung einfließen. <strong>Die</strong> Reize, welche <strong>de</strong>r Test vorgibt, sind<br />
bewusst offen und diffus gehalten, um <strong>de</strong>r Projektion – d.h. <strong>de</strong>r durch<br />
das Unbewusste gesteuerten Wahrnehmung – einen möglichst großen<br />
Spielraum zu lassen und damit mehr Erkenntnisse über das <strong>de</strong>r bewuss-<br />
400 ten Wahrnehmung verborgene Unbewusste zu gewinnen.<br />
Der Psychologe o<strong>de</strong>r Therapeut liest dabei <strong>de</strong>m Proban<strong>de</strong>n zweimal eine<br />
Reihe von je 50 genormten Reizwörtern vor, die erfahrungsgemäß<br />
bei vielen Menschen mit psychischer Energie besetzt sind, und for<strong>de</strong>rt<br />
ihn auf, bei je<strong>de</strong>m Wort so schnell wie möglich zu sagen, welches an<strong>de</strong>-<br />
405 re Wort ihm dazu einfällt. Anhand <strong>de</strong>r sog. ‘Störungsmerkmale’ wer<strong>de</strong>n<br />
jene Wörter festgestellt, welche beim Proban<strong>de</strong>n emotional beson<strong>de</strong>rs<br />
belastet sind. Als Störungsmerkmale gelten z.B. stark beschleunigte o-<br />
<strong>de</strong>r verzögerte Reaktionen, Wortwie<strong>de</strong>rholungen, beson<strong>de</strong>re Kommentare,<br />
körperliche Reaktionen u.a.<br />
410 <strong>Die</strong> Jungianer haben sich bei diesem Test schon früh das psychogalvanische<br />
Experiment zunutze gemacht. Man stellte nämlich fest, dass bei<br />
je<strong>de</strong>r emotionalen Erregung die Schweißdrüsen aktiv wer<strong>de</strong>n, wodurch<br />
<strong>de</strong>r Hautwi<strong>de</strong>rstand sinkt und mehr Strom (z.B. von Finger zu Finger)<br />
fließen kann. Tatsächlich kann man feststellen, dass das Ampèremeter<br />
415 parallel zu <strong>de</strong>n oben genannten Störungsmerkmalen ausschlägt.<br />
4. Trieblehre<br />
<strong>Die</strong> Triebe sind jener Bereich, in welchem sich gewissermaßen das Organische<br />
und das Psychische begegnen. Tatsächlich lassen sich z.B.<br />
<strong>de</strong>r Nahrungs-, Geschlechts- o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb durch Beeinflussung<br />
420 <strong>de</strong>s Organismus anregen o<strong>de</strong>r dämpfen. Für Freud war es darum<br />
selbstverständlich, das Triebleben als die Basis <strong>de</strong>s Psychischen zu betrachten.<br />
<strong>Die</strong>se Anschauung stand <strong>de</strong>nn auch in Übereinstimmung mit<br />
seiner damaligen Auffassung, dass die Motive <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns im Es verwurzelt<br />
und darum zumeist auch unbewusst sind.<br />
425 Es entsprach Freuds reduktionistischem Denken, dass er <strong>de</strong>r Überzeugung<br />
war, sämtliche Triebe ließen sich auf einen einzigen o<strong>de</strong>r allenfalls<br />
zwei Grundtriebe zurückführen. Der frühe Freud glaubte, einerseits im<br />
Sexualtrieb, an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>n Ich-Trieben (Selbsterhaltungsten<strong>de</strong>nzen)<br />
diese grundlegen<strong>de</strong>n Triebe zu erkennen, in jenem Bestreben also,<br />
430 <strong>de</strong>m Organismus einerseits größtmögliche Lust zu verschaffen und ihn<br />
an<strong>de</strong>rerseits zu erhalten. Mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Narzißmus (zu Deutsch<br />
am ehesten: Selbstverliebtheit) hat er dann auch <strong>de</strong>n Ich-Trieben einen<br />
libidinösen Charakter (-> Libido) zuerkannt.<br />
Freud setzte sich zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts, einer Zeit ausge-<br />
435 prägtester Prü<strong>de</strong>rie, mit dieser Sexualisierung <strong>de</strong>s gesamten Seelenlebens<br />
harter Kritik aus. Heute scheint es aber, als hätten es sich die Kritiker<br />
Freuds etwas zu einfach gemacht, in<strong>de</strong>m sie zu wenig zur Kenntnis<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 4 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
nahmen, dass Freud das Sexuelle an sich weiter fasste, als es außerhalb<br />
<strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> geschieht. So vertrat er die Auffassung, dass<br />
440 z.B. bereits das Saugen <strong>de</strong>s Säuglings an <strong>de</strong>r Mutterbrust eine "sexuelle"<br />
Handlung darstellt. Tatsächlich kann ein unvoreingenommener Betrachter<br />
unschwer feststellen, dass <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>s Saugens beim Säugling<br />
ein wirklich lustvoller Vorgang ist und dass sich das kleine Kind auch<br />
sonst durch das Lutschen <strong>de</strong>r Finger o<strong>de</strong>r irgendwelcher Gegenstän<strong>de</strong><br />
445 Lust verschafft. <strong>Die</strong> Begrifflichkeit "lustvollen Tuns" scheint hier allerdings<br />
treffen<strong>de</strong>r für das zu sein, was Freud mit <strong>de</strong>m Wort "sexuell" ausdrückte.<br />
[mehr..]<br />
Freud ergänzte seine Theorie später dadurch, dass er <strong>de</strong>m Lusttrieb <strong>de</strong>n<br />
sog. To<strong>de</strong>strieb (Destruktionstrieb, Aggressionstrieb) zur Seite stellte. Er<br />
450 sah nunmehr das menschliche Leben eingespannt zwischen die Pole<br />
<strong>de</strong>s ‘Eros’ und <strong>de</strong>s ‘Thanatos’. Im Eros sah er das aufbauen<strong>de</strong>, im Thanatos<br />
das abbauen<strong>de</strong> Prinzip. So sah er z.B. beim Essen in <strong>de</strong>r Einverleibung<br />
<strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Lusttrieb, im Zerkauen <strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Aggressionstrieb<br />
am Werk. Auch <strong>de</strong>n Sexualakt betrachtete er als eine<br />
455 Verbindung bei<strong>de</strong>r Triebe. Das völlige Fehlen <strong>de</strong>s Aggressionstriebs<br />
äußerte sich dann als Impotenz, das Fehlen <strong>de</strong>s Eros hingegen als Sadismus<br />
bzw. – im Grenzfall – im Lustmord.<br />
Viele Vertreter <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> – z.B. Fromm – folgten nicht dieser<br />
Annahme eines To<strong>de</strong>striebes. Bemerkenswert sind allerdings die Ähn-<br />
460 lichkeiten zwischen Freuds Grundtrieben und <strong>de</strong>n Grunddualitäten vieler<br />
Religionen (Gut-Böse im Christentum, Eros-Thanatos in <strong>de</strong>r griechischen<br />
Mythologie, Shiva-Vishnu im Hinduismus, Yin-Yang im chinesischen<br />
Tao etc.)<br />
4.1. Libido<br />
465 Freud geht grundsätzlich davon aus, dass ‘die Psyche’ nicht etwa eine<br />
Wesenheit, son<strong>de</strong>rn ein Vorgang (ein Geschehen, ein Prozess), also<br />
etwas Dynamisches ist. Das dynamische Geschehen <strong>de</strong>r Psyche wird<br />
gemäß seiner Vorstellung durch die psychische Energie in Gang gehalten,<br />
die er als Libido bezeichnet. <strong>Die</strong> Libido steht grundsätzlich <strong>de</strong>m Ich<br />
470 zur Verfügung und fließt ihm "von <strong>de</strong>n Organen her" zu. In dieser Vorstellung<br />
läßt sich einmal mehr Freuds Bemühen erkennen, das Psychische<br />
auf das Organische zurückzuführen - für die westliche Wissenschaft<br />
damals noch ungewohnt, erfuhren diese Vorstellungen teils heftigen<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch, heute, nach einer Öffnung für östliches Denken und<br />
475 durch Vorreiter wie Reich tiefergehend erforscht, sind sie weitgehend<br />
akzeptiert.<br />
<strong>Die</strong> Libido kann grundsätzlich frei o<strong>de</strong>r gebun<strong>de</strong>n sein. Sachverhalte<br />
wer<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Menschen dadurch be<strong>de</strong>utsam, dass sich mit <strong>de</strong>ren Vorstellung<br />
Libido verbin<strong>de</strong>t. Freud spricht davon, dass die ‘Objekte’ mit Li-<br />
480 bido ‘besetzt’ wer<strong>de</strong>n. Zunächst richtet sich die Libido auf das eigene<br />
Ich, was <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s ‘primären Narzißmus’ ausmacht (Narziß war<br />
<strong>de</strong>r griechischen Mythologie zufolge ein Hirte, <strong>de</strong>r sich beim Anblick seines<br />
Spiegelbil<strong>de</strong>s im Wasser in sich selbst verliebte). Es entspricht in<strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, dass sich die Libido auf ‘Objekte’ richtet<br />
485 und sich mit ihnen verbin<strong>de</strong>t.<br />
Das erste ‘Objekt’, das das kleine Kind mit Libido besetzt, ist die Mutterbrust.<br />
Darunter ist zu verstehen, daß im Erleben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s die Mutterbrust<br />
zum ersten und be<strong>de</strong>utsamsten Objekt seiner Wahrnehmung wird.<br />
Im Verlaufe <strong>de</strong>r Entwicklung besetzt das Kind immer mehr Objekte mit<br />
490 Libido. Man kann sagen, dass ein Objekt mit um so mehr Libido besetzt<br />
ist, je stärker es mit gefühlvollem Erleben verbun<strong>de</strong>n ist.<br />
Wird die Libido in übertriebener Weise an das eigene Ich fixiert, so<br />
spricht Freud vom ‘sekundären Narzissmus’. <strong>Die</strong>s ist eine sehr ernste<br />
psychische Störung: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch bleibt völlig auf sich selbst<br />
495 bezogen und ist eigentlich asozial und liebesunfähig.<br />
Rein formal unterschei<strong>de</strong>t Freud bei je<strong>de</strong>m Trieb vier Kriterien: Quelle,<br />
Objekt, Ziel und Drang. Im Bereich <strong>de</strong>s Ernährungstriebes z.B. ist die<br />
Quelle das objektive Nahrungsbedürfnis, das Objekt die Nahrung, <strong>de</strong>r<br />
Drang die Stärke <strong>de</strong>s Hungergefühls und das Ziel die Stillung <strong>de</strong>s Hun-<br />
500 gers. Analoges gilt für die an<strong>de</strong>ren Triebe.<br />
5. <strong>Die</strong> Abwehrmechanismen<br />
Eine grundlegen<strong>de</strong> Überzeugung <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> ist es, dass <strong>de</strong>r<br />
Mensch nicht ohne weiteres bereit o<strong>de</strong>r fähig ist, die Inhalte <strong>de</strong>s Es bewusst<br />
wer<strong>de</strong>n zu lassen und sie somit auch als Teil <strong>de</strong>s eigenen Seelen-<br />
505 lebens zu akzeptieren. Er hat vielmehr Mechanismen (Automatismen,<br />
d.s. automatisch und unbewusst ablaufen<strong>de</strong> Seelenvorgänge) entwickelt,<br />
die darauf abzielen, jene Impulse aus <strong>de</strong>m Es, die ihm aus irgendwelchen<br />
Grün<strong>de</strong>n (weil sie z.B. mit <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Über-Ichs<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong>de</strong>r Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen<br />
510 sind) als nicht akzeptabel erscheinen o<strong>de</strong>r erscheinen könnten, gewissermaßen<br />
schon im Keime zu ersticken und sie auf diese Weise gar<br />
nicht ins Bewusste kommen zu lassen.<br />
Ich habe bei <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Aufzählung die Liste <strong>de</strong>r von Freud beschriebenen<br />
Abwehrformen um einige <strong>de</strong>r von Kernberg (1976) zusam-<br />
515 mengefaßten ergänzt.<br />
5.1. Verdrängung<br />
<strong>Die</strong> Verdrängung ist <strong>de</strong>r grundlegendste Abwehrmechanismus. Für sie<br />
gilt – ebenso wie für alle an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen, bei <strong>de</strong>nen Verdrängung<br />
immer mit enthalten ist –, dass sie<br />
520 1. unbewusst passiert,<br />
2. <strong>de</strong>r Angst-Abwehr dient und<br />
3. eine Selbsttäuschung darstellt.<br />
Bei einer Verdrängung han<strong>de</strong>lt es sich um die unbewusste Unterdrückung<br />
eines Triebbedürfnisses (z.B. Sexualtrieb o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb)<br />
525 o<strong>de</strong>r eines irgendwie belasten<strong>de</strong>n Impulses aus <strong>de</strong>m Es (z.B. Min<strong>de</strong>rwertigkeits-,<br />
Schuld-, Scham- o<strong>de</strong>r Angstgefühle). Eine Verdrängung<br />
steht folglich im Gegensatz zu einem entschlossenen, bewussten Triebverzicht<br />
und ermöglicht das Ausweichen vor einer bewussten Entscheidung.<br />
530 Beispiel: Ein junger Mann, <strong>de</strong>r kurz vor <strong>de</strong>r Heirat steht, lernt einen an<strong>de</strong>ren<br />
Mann kennen, <strong>de</strong>r in ihm homoerotische Impulse auslöst. <strong>Die</strong><br />
Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß <strong>de</strong>r Impuls schon im Ansatz wie<strong>de</strong>r zurückgewiesen<br />
wird, also beim betroffenen Menschen gar nicht ins Bewusstsein<br />
gelangt. Wür<strong>de</strong> er nämlich <strong>de</strong>n homoerotischen Impuls in vol-<br />
535 ler Stärke bewusst erleben, wür<strong>de</strong> er große Ängste und Verunsicherung<br />
vor <strong>de</strong>m wichtigen Schritt <strong>de</strong>r Heirat auslösen. Er wird also folglich ruhig<br />
sein Ziel verfolgen und heiraten, unbehelligt von Ängsten und Zweifeln.<br />
Und doch kann man sich <strong>de</strong>r Erkenntnis nicht entziehen, dass seine<br />
Handlungen auf einer Selbsttäuschung beruhen.<br />
540 Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r Freudschen Instanzen-Lehre (Es, Ich, Über-<br />
Ich) drängt sich nun die Frage auf, ‘wer’ <strong>de</strong>nn da eigentlich verdrängt.<br />
Verdrängen<strong>de</strong> Instanz ist wohl das Ich (allenfalls unter <strong>de</strong>n Einwirkungen<br />
<strong>de</strong>s Über-Ich); da aber die Verdrängung unbewusst geschieht, ist es<br />
eigentlich <strong>de</strong>r unbewusste Anteil <strong>de</strong>s Ichs, <strong>de</strong>r verdrängend wirkt.<br />
545 Freud selbst war durchaus bereit, ein gewisses Ausmaß an Verdrängungen<br />
als vertretbar und psychisch nicht alarmierend zu betrachten, da<br />
sie eigentlich unvermeidlich sind. Es han<strong>de</strong>lt sich bei ihnen um einen<br />
Ausdruck jener neurotischen Züge, die je<strong>de</strong>r menschlichen Person in irgen<strong>de</strong>iner<br />
Weise anhaften. Zum Problem wer<strong>de</strong>n Verdrängungen, wenn<br />
550 sie ein großes Ausmaß angenommen haben, zentrale psychische Bereiche<br />
betreffen und sich hartnäckig je<strong>de</strong>r Bewusstmachung entziehen.<br />
In diesem Fall sind sie Ausdruck einer etablierten Neurose.<br />
Es gab in<strong>de</strong>s Psychoanalytiker im Gefolge von Freud, die je<strong>de</strong> Form von<br />
Verdrängung als Krankheitsanzeichen und auch als weiterhin krankma-<br />
555 chend betrachten und sie <strong>de</strong>shalb mit allen zu Gebote stehen<strong>de</strong>n Mitteln<br />
auflösen wollten. Am konsequentesten war hier Arthur Janov mit <strong>de</strong>r<br />
sog. Primär- o<strong>de</strong>r ‘Urschrei’–Therapie, ganz wesentlich auch die körperorientierten<br />
Ansätze in <strong>de</strong>r Therapie, die versuchen, "Blocka<strong>de</strong>n" (gewissermaßen<br />
auf körperlicher Ebene gebun<strong>de</strong>ne Verdrängungen) aufzu-<br />
560 lösen, wie etwa die Ansätze von Wilhelm Reich (einem <strong>de</strong>r wohl unkonventionellsten<br />
Schüler Freuds) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen Schüler Alexan<strong>de</strong>r Lowen<br />
(Bioenergetik).<br />
5.2. Regression<br />
Stellt sich <strong>de</strong>m Menschen in seinen Handlungen o<strong>de</strong>r Lebensbestrebun-<br />
565 gen irgen<strong>de</strong>in Hin<strong>de</strong>rnis entgegen, so gibt es – rein theoretisch – stets<br />
zwei Möglichkeiten: Entwe<strong>de</strong>r überwin<strong>de</strong>t er das Hin<strong>de</strong>rnis, o<strong>de</strong>r er<br />
scheitert. <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> konnte <strong>de</strong>n Nachweis erbringen, dass <strong>de</strong>r<br />
Mensch im zweiten Fall in <strong>de</strong>r Regel nicht einfach zur Tagesordnung<br />
übergeht, son<strong>de</strong>rn als Antwort auf sein Frustrationserlebnis regrediert,<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 5 von 19
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570 d.h. eine Verhaltensweise äußert, die einer entwicklungsmäßig (genetisch)<br />
früheren Stufe entspricht. <strong>Die</strong> Regression ist insofern ein Abwehrmechanismus,<br />
als sie offenbar dazu dient, die mit <strong>de</strong>m Scheitern<br />
verbun<strong>de</strong>nen Min<strong>de</strong>rwertigkeits-, Schuld- und Angstgefühle nicht ins<br />
Bewusstsein kommen zu lassen. <strong>Die</strong> bewusste Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />
575 diesen belasten<strong>de</strong>n Inhalten wird gewissermaßen durch eine 'unreife'<br />
Ersatzhandlung zuge<strong>de</strong>ckt.<br />
Ein Beispiel:<br />
Ein Fußgänger geht in Gedanken versunken <strong>de</strong>n Gehweg entlang und<br />
läuft frontal in <strong>de</strong>n Sonnenschirm eines Straßencafes. In seinem<br />
580 Schmerz beschimpft er ihn als ‘verdammten Stecken’.<br />
Nun - kühlen Kopfes betrachtet, entbehrt seine Handlungsweise je<strong>de</strong>r<br />
Vernunft. Tiefenpsychologisch betrachtet aber ist sie verständlich: kleine<br />
Kin<strong>de</strong>r nehmen bekanntlich auch unbelebte Gegenstän<strong>de</strong> als belebt und<br />
beseelt wahr und sind darum – ohne dass dies in diesem frühen Alter<br />
585 als Regression bezeichnet wer<strong>de</strong>n dürfte – ohne weiteres bereit, z.B.<br />
<strong>de</strong>n Tisch als ‘böse’ zu beschimpfen und ihn zu schlagen, wenn sie ihren<br />
Kopf daran gestoßen haben. Wir nennen diese Erlebensweise animistisch<br />
(alles ist beseelt) o<strong>de</strong>r anthropomorph (alles hat menschliche<br />
Züge). Der beschriebene Fußgänger fiel infolge <strong>de</strong>r starken Frustration<br />
590 auf diese genetisch (entwicklungsmäßig) frühere Stufe zurück und konnte<br />
so – ohne dass er sich <strong>de</strong>ssen bewusst war, <strong>de</strong>nn all dies geschah<br />
unbewusst – einer rationalen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit seinen Min<strong>de</strong>rwertigkeits-<br />
und Angstgefühlen aus <strong>de</strong>m Wege gehen. Gefühlen, die zu<br />
verkraften offensichtlich wesentlich aufwendiger wären als die spontane<br />
595 Regression.<br />
Auch <strong>de</strong>r Griff zur Zigarette, zur Flasche o<strong>de</strong>r zu einer an<strong>de</strong>ren Droge,<br />
<strong>de</strong>r häufig in belasten<strong>de</strong>n Situationen erfolgt, kann als Regression verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n: als ein Zurücksinken ins erste Lebensjahr (-> Orale<br />
Phase), in <strong>de</strong>m sich das Kind durch Saugen, Lutschen o<strong>de</strong>r Einlullen-<br />
600 lassen Lust verschafft.<br />
Neben diesen Regressionen, die als unadäquate Abwehrmechanismen<br />
und insofern als neurotisch zu betrachten sind, gibt es eine Anzahl von<br />
regressiven Handlungen und Lebensvollzügen, die <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung<br />
<strong>de</strong>s psychischen Gleichgewichts dienen. Solche ‘legitimen’ Reg-<br />
605 ressionen sind z.B. <strong>de</strong>r Schlaf, das sexuelle Erleben, das Spiel, das belanglose<br />
Blö<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r das Mitschreien im Fußballstadion. Der tiefenpsychologisch<br />
ausgerichtete Anthropologe neigt dazu, das psychische Geschehen<br />
als ein Wechselspiel zu betrachten, in welchem sich Licht und<br />
Schatten, Zielgerichtetheit und Laissez-faire, Rationales und Irrationa-<br />
610 les, Pflichterfüllung und Lustgewinn die Waage halten sollen. Dementsprechend<br />
sind ihm alle möglichen Formen <strong>de</strong>r Regression (die konkrete<br />
Wahl wäre da eine Frage <strong>de</strong>s persönlichen Stils..) <strong>de</strong>r nötige Ausgleich<br />
zum progressiven Verhalten: zur zielgerichteten, rationalen und <strong>de</strong>n gegebenen<br />
Ordnungen unterworfenen Lebensaktivität.<br />
615 5.3. Rationalisierung<br />
Bei <strong>de</strong>r Rationalisierung han<strong>de</strong>lt es sich um das verstan<strong>de</strong>smäßige<br />
Rechtfertigen eines Verhaltens, in<strong>de</strong>m die wahren, aber nicht eingestan<strong>de</strong>nen<br />
und vom Über-Ich nicht akzeptierten Motive (Beweggrün<strong>de</strong>)<br />
durch solche ersetzt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Menschen für sich<br />
620 selbst und die an<strong>de</strong>ren als annehmbar(er) erscheinen.<br />
Fragt man etwa jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich sozial sehr engagiert, weshalb er<br />
das tut, so wird man von ihm möglicherweise hören, er ziehe aus seiner<br />
'christlichen Grundhaltung' die Konsequenz. Das ist durchaus möglich,<br />
es könnten aber auch an<strong>de</strong>re Motive ausschlaggebend o<strong>de</strong>r doch zu-<br />
625 min<strong>de</strong>st mitbeteiligt sein - so etwa das Bedürfnis, unbewusste Schuldgefühle<br />
zu kompensieren, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Drang, im Zentrum zu stehen, Anerkennung<br />
zu erhalten o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>nen man hilft, geliebt zu<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Auch bei diesem Mechanismus ist es offensichtlich, dass Inhalte <strong>de</strong>s Es,<br />
630 die – wür<strong>de</strong>n sie bewusst erlebt – Unwohlgefühle erzeugen wür<strong>de</strong>n, automatisch<br />
aus <strong>de</strong>m Bewussten verdrängt, also abgewehrt wer<strong>de</strong>n. Es<br />
zeigt sich hier einmal mehr, dass die Abwehrmechanismen <strong>de</strong>r Angstabwehr<br />
dienen.<br />
<strong>Die</strong> Rationalisierung ist vermutlich die verbreitetste Form <strong>de</strong>r Selbsttäu-<br />
635 schung. In<strong>de</strong>m uns die <strong>Psychoanalyse</strong> darauf aufmerksam macht und<br />
uns auch auffor<strong>de</strong>rt, Rationalisierungen aufzulösen und uns <strong>de</strong>n wahren<br />
Motiven zu stellen, erweist sich diese psychologische Anthropologie als<br />
eine Lehre mit sehr hohem ethischen Anspruch. Sie läuft auf jene Auffor<strong>de</strong>rung<br />
hinaus, die einst über <strong>de</strong>m Tempeleingang in Delphi stand:<br />
640 Erkenne dich selbst!<br />
5.4. Projektion<br />
Bei <strong>de</strong>r Projektion wer<strong>de</strong>n unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle,<br />
Ängste, aber auch eigene Schwächen und Fehler auf ‘Objekte’<br />
in <strong>de</strong>r Außenwelt übertragen. Biblisch gesprochen: "Was siehst du <strong>de</strong>n<br />
645 Splitter im Auge <strong>de</strong>ines Bru<strong>de</strong>rs, und <strong>de</strong>n Balken im eigenen Auge<br />
siehst du nicht." Als Objekte kommen grundsätzlich einzelne Personen,<br />
Personengruppen, Gegenstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Situationen in Frage.<br />
Ein Mensch, <strong>de</strong>r von seinem Vater misshan<strong>de</strong>lt und unterdrückt wur<strong>de</strong>,<br />
kann z.B. dazu neigen, in je<strong>de</strong>r Situation, in <strong>de</strong>r Autorität o<strong>de</strong>r die For<strong>de</strong>-<br />
650 rung nach Unterordnung im Spiel ist, das tyrannische Wirken <strong>de</strong>s Vaters<br />
zu sehen und sich dann in eine kämpferische Haltung zu begeben. Es<br />
ist dann, als wür<strong>de</strong> er stets je<strong>de</strong> Gelegenheit wahrnehmen, um – ersatzweise<br />
– gegen seinen Vater anzukämpfen.<br />
Projektionen auf Personengruppen sind die psychische Basis je<strong>de</strong>r Art<br />
655 von Rassenvorurteilen, Frem<strong>de</strong>n- und Gruppenhass. Situationen und<br />
Gegenstän<strong>de</strong>, die Projektionen auslösen können, sind z.B. ein laufen<strong>de</strong>r<br />
Motor, eine Uniform, ein Sonnenuntergang, ein großer Platz, ein Verkehrschaos<br />
und vieles mehr. In je<strong>de</strong>m Fall sieht <strong>de</strong>r Projizieren<strong>de</strong> im<br />
Gegenstand o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Situation mehr und an<strong>de</strong>res, als das, was diese<br />
660 ‘an sich’ be<strong>de</strong>uten, und reagiert darauf oft beson<strong>de</strong>rs emotional. Dadurch<br />
wird die erhebliche Erschwerung und Störung zwischenmenschlicher<br />
Kommunkation (die ja darauf beruht, dass wir i<strong>de</strong>ntische Begriffe<br />
haben) durch je<strong>de</strong> Form von Projektion nachvollziehbar. Man kann davon<br />
ausgehen, dass in je<strong>de</strong>m Streit, bei je<strong>de</strong>r heftigen Auseinan<strong>de</strong>rset-<br />
665 zung Projektionen im Spiele sind. Eine psychologisch korrekte ‘Schlichtung’<br />
dürfte darum niemals auf einen faulen Kompromiss hinauslaufen<br />
("du hast ein bisschen recht und du auch"), son<strong>de</strong>rn muss bei je<strong>de</strong>m<br />
Teilnehmer die Bereitschaft erzeugen, sich seinen eigenen Projektionen<br />
zu stellen.<br />
670 Bei <strong>de</strong>r Projektion wird somit eine Selbsttäuschung offenbar - man sieht<br />
das an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht so, wie es o<strong>de</strong>r er "wirklich" ist, son<strong>de</strong>rn<br />
so, wie man es o<strong>de</strong>r ihn unbewusst haben "möchte" (bzw. gewissermaßen<br />
sogar haben "muss"). Das ist auch in jenen Fällen so, wo<br />
Projektionen als durchaus angenehm erlebt wer<strong>de</strong>n, wie z.B. im Zustand<br />
675 großer Verliebtheit. In <strong>de</strong>r Regel sieht <strong>de</strong>r Verliebte die Angebetete als<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger fehlerfrei, wobei er allerdings ein Wunschbild (z.B.<br />
die positive Seite seiner Muttererfahrung) in die Geliebte projiziert. Der<br />
bekannte Spruch "Liebe macht blind" wäre <strong>de</strong>mgemäß in "Verliebtheit<br />
macht blind" zu korrigieren, <strong>de</strong>nn im Gegensatz zur Verliebtheit macht<br />
680 die wahre Liebe sehend, was Saint-Exupérys kleinen Prinzen <strong>de</strong>n bekannten<br />
Satz aussprechen ließ: "Man sieht nur mit <strong>de</strong>m Herzen gut".<br />
5.5. Introjektion<br />
<strong>Die</strong>s ist <strong>de</strong>r umgekehrte Vorgang <strong>de</strong>r Projektion: Es wer<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong> Anschauungen,<br />
Motive, Verhaltensweisen ins eigene Ich aufgenommen.<br />
685 Dabei geht es nicht um die legitimen Formen <strong>de</strong>s Lernens, son<strong>de</strong>rn um<br />
Imitationen, die <strong>de</strong>m eigenen Ich eigentlich fremd sind und <strong>de</strong>r Abwehr<br />
beispielsweise von Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühlen dienen sollen. Ein Beispiel<br />
dafür wäre etwa ein Musiker, <strong>de</strong>r in Erscheinungsbild und Gehaben<br />
ganz in die Rolle eines an<strong>de</strong>ren geschlüpft ist, welcher wirklich etwas<br />
690 kann und darum auch Erfolg hat. O<strong>de</strong>r etwa Menschen, die im Grun<strong>de</strong><br />
ihres Herzens eigentlich eher konservativ sind, aber plötzlich ganz unvermittelt<br />
und im Gegensatz zu ihren übrigen Überzeugungen und ihrem<br />
wirklichen Leben progressive Ansichten zum besten geben o<strong>de</strong>r sich eine<br />
Trend-Frisur zulegen - offensichtlich aus <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch<br />
695 heraus, von gewissen Kreisen besser o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs, als sie sind, angenommen<br />
zu wer<strong>de</strong>n.<br />
5.6. I<strong>de</strong>ntifikation<br />
Wird nicht bloß ein einzelner Zug eines an<strong>de</strong>ren Menschen o<strong>de</strong>r eine<br />
einzelne isolierte I<strong>de</strong>e introjiziert, son<strong>de</strong>rn das ganze Wesen eines Men-<br />
700 schen bzw. ein ganzes I<strong>de</strong>ensystem, so liegt eine I<strong>de</strong>ntifikation vor. So<br />
kennen wir etwa die starke I<strong>de</strong>ntifikation Pubertieren<strong>de</strong>r mit Idolen, die<br />
so weit gehen kann, dass sich ein Jugendlicher als "Superman" aus ei-<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 6 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
nem Hochhaus stürzt, um mit ausgebreitetem Cape ins Gewühl <strong>de</strong>r<br />
Strasse hinabzuschweben (real geschehen).<br />
705 Ganz allgemein ist <strong>de</strong>r ‘Fan’ ein Mensch, <strong>de</strong>r sich mit irgen<strong>de</strong>twas o<strong>de</strong>r<br />
irgend jeman<strong>de</strong>m hochgradig i<strong>de</strong>ntifiziert hat. So hängt z.B. die Seelenlage<br />
von Fußball-Fans erheblich vom Erfolg bzw. Misserfolg ‘ihres’<br />
Clubs ab: gewinnt er, sind sie euphorisch, verliert er, sind sie <strong>de</strong>pressiv.<br />
In bei<strong>de</strong>n Fällen können sich die aufgestauten Gefühle in Form von Ag-<br />
710 gressionen entla<strong>de</strong>n: im ersten Fall entwickeln sich die Gefühle <strong>de</strong>r Ü-<br />
berlegenheit zu Übermut, Arroganz und Angriffslust, im zweiten Fall entsteht<br />
aus <strong>de</strong>r erlittenen Schmach und <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>nen Frustration<br />
ein Klima <strong>de</strong>r Rache und <strong>de</strong>r ungerichteten Wut.<br />
Differenziertere Menschen neigen eher dazu, sich mit I<strong>de</strong>ensystemen zu<br />
715 i<strong>de</strong>ntifizieren, seien dies politische o<strong>de</strong>r religiöse. <strong>Die</strong> I<strong>de</strong>ntifikation ist<br />
daran zu erkennen, dass mit vorgegebenen Formeln und Gedankengängen<br />
argumentiert und insbeson<strong>de</strong>re keinerlei Zweifel zugelassen<br />
wird. Der durch die I<strong>de</strong>ntifikation begrün<strong>de</strong>te Fanatismus entwickelt in<br />
extremen Fällen – analog zum Fan-Club – ein Klima <strong>de</strong>r Gewalttätigkeit.<br />
720 <strong>Die</strong> Geschichte zeigt eindrücklich, dass viele politische und religiöse<br />
‘Revolutionäre’, die stets von <strong>de</strong>r Heiligkeit ‘ihrer Sache’ restlos überzeugt<br />
waren, nicht vor Gewalttätigkeit und Brutalität zurückschreckten.<br />
In all diesen Formen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation tritt das Moment <strong>de</strong>r Selbsterhöhung<br />
<strong>de</strong>utlich zu Tage. Ihre Basis sind die unbewussten, im und aus<br />
725 <strong>de</strong>m Es wirken<strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, die naturgemäß ängstigen<br />
und darum abgewehrt wer<strong>de</strong>n wollen. <strong>Die</strong>se Zusammenhänge hat Adler<br />
– freilich teils mit an<strong>de</strong>ren Begriffen – in das Zentrum seiner Betrachtungsweise<br />
gestellt. <strong>Die</strong> alltägliche Beobachtung zeigt sehr <strong>de</strong>utlich,<br />
dass insbeson<strong>de</strong>re solche Jugendliche zu überstarken I<strong>de</strong>ntifikationen –<br />
730 und damit zu Selbstverlust – neigen, <strong>de</strong>ren soziales Milieu nicht das<br />
Selbstwertgefühl stärkte, son<strong>de</strong>rn die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle för<strong>de</strong>rte.<br />
Für Erzieher sind darum überstarke I<strong>de</strong>ntifikationen, wie sie sich insbeson<strong>de</strong>re<br />
ab <strong>de</strong>r Pubertät zeigen, stets ein Gradmesser für die Ich-<br />
Schwäche eines jungen Menschen, es ist dann alles zu unternehmen,<br />
735 um <strong>de</strong>ssen Selbstwertgefühl zu stärken.<br />
Dass alle Abwehrmechanismen – und somit auch die I<strong>de</strong>ntifikation – <strong>de</strong>r<br />
Angstabwehr dienen, ersehen wir aus <strong>de</strong>n zahlreichen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />
sich Menschen, die extrem unterdrückt wur<strong>de</strong>n, mit ihren Unterdrückern<br />
i<strong>de</strong>ntifizierten und so eben vor ihnen keine Angst mehr haben mussten.<br />
740 <strong>Die</strong>s war nicht nur in <strong>de</strong>utschen Konzentrationslagern beobachtbar, in<br />
<strong>de</strong>nen Gefangene zu Gehilfen 'beför<strong>de</strong>rt' wur<strong>de</strong>n und sich dann als beson<strong>de</strong>rs<br />
eifrige Quäler hervortaten, son<strong>de</strong>rn auch bei Patricia Hurst, <strong>de</strong>r<br />
amerikanischen Verlegerstochter, die von einer radikalen Gruppe entführt<br />
wur<strong>de</strong> und später mit ihnen an Banküberfällen teilnahm. Analoges<br />
745 geschah z.B. auch in Stockholm, als eine westliche Botschaft von einer<br />
Gruppe linksextremer Terroristen überfallen wur<strong>de</strong> und sich eine Geisel<br />
nachher <strong>de</strong>r RAF anschloss. <strong>Die</strong> psychologische Analyse <strong>de</strong>r damaligen<br />
Geschehnisse prägte <strong>de</strong>n seither für diesen Effekt verwen<strong>de</strong>ten Begriff<br />
"Stockholm-Syndrom".<br />
750 Wie Freud aufzeigte, ist die I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater und<br />
<strong>de</strong>s Mädchens mit <strong>de</strong>r Mutter im Zuge <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
ein entwicklungspsychologisch gesetzmäßiger Vorgang, <strong>de</strong>r dazu<br />
führt, dass die Kin<strong>de</strong>r die Norm- und Wertvorstellungen <strong>de</strong>r Eltern übernehmen<br />
und so auch in die Gesellschaft hineinwachsen. Wie sehr sich<br />
755 Jungen mitunter mit ihren Vätern i<strong>de</strong>ntifizieren, kann man gelegentlich<br />
hören, wenn je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n stärkeren, tüchtigeren, gescheiteren o<strong>de</strong>r reicheren<br />
Vater haben will.<br />
5.7. Konversion<br />
Als Konversion bezeichnet die <strong>Psychoanalyse</strong> <strong>de</strong>n Umschlag einer un-<br />
760 erledigten Affektregung (Angst, Aggression, Wut, Ärger, Schuldgefühl,<br />
Triebwunsch etc.) ins Körperliche (Somatische). Beispiele sind etwa Erröten,<br />
Ohnmachtsanfälle, Herzklopfen, Migräne, Magenlei<strong>de</strong>n, Zittern<br />
usf. Deren Charakter als Abwehrmechanismus erweist sich aus <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
dass wie<strong>de</strong>rum ins Es verdrängte (d.h. unbewusste) und von dort<br />
765 aus wirken<strong>de</strong> Affekte in ihrem Zustand <strong>de</strong>r Unbewusstheit belassen<br />
wer<strong>de</strong>n, weil es offenbar psychisch zu aufwendig wäre, sich ihnen zu<br />
stellen, und darum <strong>de</strong>ren Manifestation im Körper in Kauf genommen<br />
wird.<br />
5.8. Reaktionsbildung<br />
770 Freud ent<strong>de</strong>ckte, dass belasten<strong>de</strong> Affekte u.a. auch dadurch abgewehrt<br />
wer<strong>de</strong>n können, dass im bewussten Verhalten und Erleben eine gegensätzliche<br />
Verhaltensweise entwickelt wird.<br />
Übertriebene Reinlichkeit etwa kann eine Reaktionsbildung sein, bei <strong>de</strong>r<br />
die täglich viele Stun<strong>de</strong>n beanspruchen<strong>de</strong> Beseitigung von Schmutz und<br />
775 Unrat eine Möglichkeit darstellt, seine wirklich vorhan<strong>de</strong>ne Schmutzlust<br />
zu befriedigen. Analog dazu ist es auch möglich, dass ein religiöser o<strong>de</strong>r<br />
politischer ‘Sittenhüter’, <strong>de</strong>r überall gegen sexuelle Unsittlichkeit ankämpft,<br />
in diesem Tun eine Möglichkeit sieht, seine überstarken, aber<br />
verdrängten sexuellen Bedürfnisse ersatzweise zu befriedigen (in Öster-<br />
780 reich war etwa ein "Pornojäger" gerichtsbekannt, <strong>de</strong>r daheim mehrere<br />
Räume mit zigtausen<strong>de</strong>n Pornovi<strong>de</strong>os und -Magazinen "zu Beweiszwecken"<br />
angefüllt hatte). Und dass Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Feuerwehr gelegentlich<br />
<strong>de</strong>m Anblick brennen<strong>de</strong>r Häuser nicht unabgeneigt sind, wissen wir nicht<br />
erst, seit sich mehrerenorts Feuerwehrmänner als Brandstifter betätig-<br />
785 ten.<br />
Es muss aber <strong>de</strong>utlich davor gewarnt wer<strong>de</strong>n, nun je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>rartige Verhalten<br />
einfach als Reaktionsbildung zu betrachten. Ein solcher Abwehrmechanismus<br />
liegt meist nur dann vor, wenn die Intensität <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n<br />
Handlungsmotive sehr übersteigert und <strong>de</strong>mentsprechend nicht<br />
790 <strong>de</strong>r Realität angemessen sind.<br />
5.9. Kompensation<br />
Wie bereits oben i.B. auf die Adler’sche Individualpsychologie erläutert<br />
wur<strong>de</strong>, neigt <strong>de</strong>r Mensch dazu, sich <strong>de</strong>m bewussten Erleben psychischer<br />
Mängel dadurch zu entziehen, dass er Verhaltensweisen äußert,<br />
795 von <strong>de</strong>nen er annimmt, dass sie ihm beson<strong>de</strong>re Geltung, Überlegenheit<br />
o<strong>de</strong>r Macht über an<strong>de</strong>re verschaffen. Als Regel kann gelten: je größer<br />
die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, <strong>de</strong>sto stärker die erfor<strong>de</strong>rliche Kompensation.<br />
Es gibt grundsätzlich keine Verhaltensweise, die nicht zur Kompensation<br />
800 gebraucht wer<strong>de</strong>n kann. So kann ein Musiker auf <strong>de</strong>m Podium musizieren,<br />
um an<strong>de</strong>re mit seiner Kunst zu erfreuen o<strong>de</strong>r um sich im Zentrum<br />
<strong>de</strong>s Interesses zu sonnen. Häufig sind Kompensationen aber von <strong>de</strong>n<br />
‘echten’ Motiven nicht zu trennen, und es ist anzunehmen, dass in fast<br />
allen Verhaltensweisen ein mehr o<strong>de</strong>r weniger großer Anteil an Kom-<br />
805 pensationsbedürfnis mitschwingt.<br />
Eine erhebliche Selbsttäuschung stellt die Kompensation insofern dar,<br />
als man ihre Funktion, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle abzuwehren, ja nicht<br />
erkennt und offensichtlich auch nicht bereit ist, seine eigenen Grenzen<br />
unbefangen zu sehen und anzuerkennen. Häufig entsteht in Bezug auf<br />
810 die betreffen<strong>de</strong>n Menschen dann <strong>de</strong>r unweigerliche Eindruck, sie lebten<br />
in einer Art "Scheinrealität".<br />
5.10. Autoaggression<br />
Einer <strong>de</strong>r möglichen Grün<strong>de</strong> für Autoaggression besteht darin, daß jemand<br />
eine nicht eingestan<strong>de</strong>ne und nicht akzeptierbare Aggression ge-<br />
815 gen an<strong>de</strong>re in Aggression gegenüber <strong>de</strong>r eigenen Person verwan<strong>de</strong>lt.<br />
<strong>Die</strong>s mag etwa vorliegen, wenn sich eine Sekretärin nach einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>m Chef selbst die Haare rauft o<strong>de</strong>r ohrfeigt, obwohl<br />
sie sich lieber auf <strong>de</strong>n Chef stürzen wür<strong>de</strong>. Da jedoch eine solche Handlung<br />
– so angemessen sie ihrem Es auch erscheinen mag – ihre Exis-<br />
820 tenzgrundlage gefähr<strong>de</strong>n könnte, wird die ursprüngliche Aggression in<br />
eine Autoaggression verwan<strong>de</strong>lt.<br />
Es ist anzunehmen, dass <strong>de</strong>r Masochismus, zeige er sich sexuell o<strong>de</strong>r<br />
in selbstquälerischem Engagement für die an<strong>de</strong>ren, nicht bloß eine Möglichkeit<br />
ist, um verdrängte Schuldgefühle zu kompensieren, son<strong>de</strong>rn<br />
825 auch um verdrängte Aggressionen auszuleben. So steckt wohl in je<strong>de</strong>r<br />
sexuell masochistischen Handlung verdrängter Sadismus.<br />
In <strong>de</strong>r christlichen Mystik hat die Autoaggression – in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Kasteiung<br />
und <strong>de</strong>r Selbstgeißelung – eine aus tiefenpsychologischer Sicht<br />
eher zwiespältige Tradition. Ins gleiche Kapitel gehört die Geißler-<br />
830 Bewegung <strong>de</strong>s ausgehen<strong>de</strong>n Mittelalters, wo ganze Züge ‘frommer’<br />
Menschen das Land durchquerten, dabei offen ihre Sündhaftigkeit bekannten<br />
und sich selbst und ihre Bussgenossinnen und –genossen blutig<br />
peitschten. Dass damit ‘Schuld getilgt’ wer<strong>de</strong>n sollte, war lediglich die<br />
offizielle Begründung für ein wohl schlicht Schuldgefühle abwehren<strong>de</strong>s,<br />
835 womöglich sogar masochistisches Verhalten.<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 7 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
5.11. Substitution<br />
Eine Substitution liegt vor, wenn ein ursprüngliches Triebobjekt durch<br />
ein Ersatzobjekt ersetzt wird. Insofern ist die Autoaggression eine spezielle<br />
Form <strong>de</strong>r Substitution, <strong>de</strong>nn bei ihr wird ja nach <strong>de</strong>r obigen Erklä-<br />
840 rung ein Mitmensch als Objekt einer aggressiven Triebregung durch die<br />
eigene Person ersetzt.<br />
Eine verbreitete Form <strong>de</strong>r Substitution ist <strong>de</strong>r Fetischismus, etwa <strong>de</strong>r<br />
sexuelle Umgang mit Unterwäsche von Personen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts,<br />
Stiefeln o<strong>de</strong>r Füßen. Aber auch Ess- o<strong>de</strong>r Trunk-Sucht, die<br />
845 sich gelegentlich einstellen, wenn die sexuellen Bedürfnisse unbefriedigt<br />
bleiben müssen, können als Substitution betrachtet wer<strong>de</strong>n. Eine Substitution<br />
liegt auch vor, wenn ein vom unerfreulichen Umgang mit <strong>de</strong>r Ehefrau<br />
her frustrierter Lehrer seine aufgestauten Aggressionen an seinen<br />
Schülern ausagiert. <strong>Die</strong> in unserer Kultur häufig anzutreffen<strong>de</strong>n Süchte<br />
850 vereinsamter Menschen, etwa <strong>de</strong>r, ganze Scharen von Katzen o<strong>de</strong>r<br />
Hun<strong>de</strong>n zu verhätscheln, dürfte ebenfalls in diese Kategorie fallen.<br />
5.12. Realitätsleugnung / Verleugnung<br />
Realitätsleugnung liegt vor, wenn bestimmte be<strong>de</strong>utsame Tatbestän<strong>de</strong><br />
vom Ich ignoriert bzw. nicht wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, weil die bewusste<br />
855 Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihnen als zu belastend erlebt wird. So kommt<br />
es beispielsweise immer wie<strong>de</strong>r vor, dass ein Mensch die Seitensprünge<br />
seines Partners Mannes nicht wahrnimmt, obwohl sonst je<strong>de</strong>rmann davon<br />
weiß und ausreichen<strong>de</strong> Anzeichen dafür vorliegen. An<strong>de</strong>re, typische<br />
Beispiele sind <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>smißbrauch o<strong>de</strong>r sonstige Gewaltformen im<br />
860 Familienverband, diverse Formen von Eßstörungen, o<strong>de</strong>r aber auch,<br />
wenn jemand die Anzeichen einer Krankheit übersieht und <strong>de</strong>n Arzt erst<br />
aufsucht, wenn es dafür eigentlich bereits zu spät ist.<br />
Realitätsleugnungen sind meist überall dort festzustellen, wo ein Weltbild<br />
o<strong>de</strong>r vorgefaßte Meinungen ins Wanken kommen könnten. Hierzu<br />
865 gehört etwa auch die Brutalität <strong>de</strong>r Nazis im Dritten Reich o<strong>de</strong>r die<br />
Kriegsverbrechen <strong>de</strong>r Amerikaner (Einsatz von Uranwaffen im Kosovo-<br />
Krieg, Entzug <strong>de</strong>r Menschenrechte an teils schuldlos Inhaftierten in Guatanamo-Bay<br />
im Zuge <strong>de</strong>s Irankriegs 2002, Agent-Orange-Einsatz im<br />
Vietnam etc.). <strong>Die</strong> Vorstellung und Folgen einer Mitschuld <strong>de</strong>r als „Gute“<br />
870 dargestellten Machthaber war offenbar zu belastend, weshalb es einfacher<br />
war, sie auszublen<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r erwiesenen Realität keine<br />
Kenntnis zu nehmen. <strong>Die</strong>s kann soweit gehen, daß selbst objektive Realitäten<br />
ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n (etwa, als die Photos von Folterungen<br />
durch US-Soldaten im Irakkrieg von einigen interviewten US-Bürgern als<br />
875 'Spaßphotos unserer Jungs' umge<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>n). Wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Menschen<br />
wollen nichts von <strong>de</strong>r Bedrohung <strong>de</strong>r Menschheit durch <strong>de</strong>n<br />
Raubbau in <strong>de</strong>n Regenwäl<strong>de</strong>rn, durch die Übernutzung <strong>de</strong>r Meere,<br />
durch die Vergiftung <strong>de</strong>r Bö<strong>de</strong>n mittels Kunstdünger o<strong>de</strong>r durch unsichere<br />
Kernkraftwerke hören. Kassandra war schon <strong>de</strong>n Griechen vor Troja<br />
880 lästig. Häufig hat man jene, die wirkliche Gefahren voraussahen und<br />
warnten, mit <strong>de</strong>m Satz "Du malst <strong>de</strong>n Teufel an die Wand" heimgeschickt.<br />
Niemand lässt sich gerne in seinen vorgefaßten Meinungen<br />
durch Realitäten, die seinen eigenen Bil<strong>de</strong>rn wi<strong>de</strong>rsprechen, behelligen.<br />
Mit Realitätsverleugnung lebt es sich gewissermaßen einfacher – je<strong>de</strong>n-<br />
885 falls eine gewisse Zeit lang.<br />
5.13. Sublimierung<br />
Bei <strong>de</strong>r Sublimierung han<strong>de</strong>lt es sich um die Fähigkeit, für <strong>de</strong>n Verzicht<br />
auf verpönte (abgelehnte) Triebe bzw. Wünsche eine ausgleichen<strong>de</strong><br />
Entschädigung hervorbringen zu können. So kann z.B. eine zölibatär le-<br />
890 ben<strong>de</strong> Pianistin ihre Libido gewissermaßen verwan<strong>de</strong>ln und sie ganz in<br />
<strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst ihrer musikalischen Gestaltung stellen. O<strong>de</strong>r jemand kann<br />
durch persönliche Frustrationen sehr aggressiv gestimmt sein - statt<br />
dass er seine Wut aber an irgend jeman<strong>de</strong>m ausagiert, stürzt er sich in<br />
die Arbeit und stellt dann nach ein paar Stun<strong>de</strong>n fest, dass er in kurzer<br />
895 Zeit etwas geschaffen hat, wozu er sich zuvor kaum in <strong>de</strong>r Lage fühlte.<br />
Mit an<strong>de</strong>ren Worten: bei <strong>de</strong>r Sublimierung wird die psychosexuelle E-<br />
nergie (Libido) neutralisiert und für differenziertere soziale o<strong>de</strong>r kulturelle<br />
Leistungen eingesetzt.<br />
Ob es sich bei <strong>de</strong>r Sublimierung um ein Reifekriterium o<strong>de</strong>r einen Ab-<br />
900 wehrmechanismus han<strong>de</strong>lt, darüber existieren unterschiedliche Meinungen.<br />
Je<strong>de</strong>nfalls haftet ihr – im Gegensatz zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen<br />
– kein negativer Anstrich an. Auch von einer Selbsttäuschung<br />
kann nicht gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wenn sich die Libido, die<br />
ursprünglich z.B. einer sexuellen Befriedigung dienstbar sein könnte,<br />
905 tatsächlich ‘verwan<strong>de</strong>lt’, so zeigt dies eben, dass es zum Wesen <strong>de</strong>s<br />
Menschen gehört, auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r psychischen Energie sozial und kulturell<br />
differenziertere Leistungen hervorbringen zu können.<br />
Mit Blick auf die Möglichkeit <strong>de</strong>r Sublimierung wird somit die oft gehörte<br />
Behauptung, sexuelle Enthaltsamkeit sei grundsätzlich schädlich und<br />
910 mache einen Menschen ‘verklemmt’, durch die <strong>Psychoanalyse</strong> zumin<strong>de</strong>st<br />
in dieser verallgemeinern<strong>de</strong>n Formulierung wi<strong>de</strong>rlegt. <strong>Die</strong> von<br />
christlichen, buddhistischen, hinduistischen und vielen an<strong>de</strong>ren Religionen<br />
empfohlene sexuelle Enthaltsamkeit (mit <strong>de</strong>m Ziel, alle Energien für<br />
die spirituelle Entwicklung zur Verfügung zu haben) fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Mög-<br />
915 lichkeit <strong>de</strong>r Sublimierung sogar ihre tiefenpsychologische Legitimation.<br />
5.14. Verschiebung<br />
Unter Verschiebung wird die Lösung <strong>de</strong>r Verknüpfung von Affekt und<br />
Vorstellung verstan<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Affekt an eine vom Über-Ich weniger<br />
bedrohte Vorstellung gekoppelt wird.<br />
920 Als typisches Beispiel mag ein weiteres Mal sexueller Mißbrauch dienen.<br />
Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht wur<strong>de</strong>n, empfin<strong>de</strong>n<br />
häufig Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Oftmals wird viele Jahre<br />
lang eine Verschiebung vorgenommen, in <strong>de</strong>m solche Frauen sich etwa<br />
ihre Schmerzen so erklären, daß diese eben "bei mir ja immer schon da<br />
925 waren" o<strong>de</strong>r durch "höhere Empfindlichkeit" verursacht wären. Auf diese<br />
Weise kann es vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, sich mit <strong>de</strong>r furchtbaren Vorstellung,<br />
von einem nahestehen<strong>de</strong>n Familienmitglied bis ins Innerste verletzt<br />
wor<strong>de</strong>n zu sein, konfrontieren zu müssen.<br />
5.15. Ungeschehen machen<br />
930 Darunter wird <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Kompensation einer abgelehnten Handlung<br />
durch eine darauffolgen<strong>de</strong> mit entgegengesetztem Inhalt verstan<strong>de</strong>n.<br />
Auch dieser Abwehrmechanismus wird zu <strong>de</strong>n unreifen (auf einem niedrigen<br />
Niveau <strong>de</strong>r Ich-Organisation ansetzen<strong>de</strong>n) Abwehrformen gezählt.<br />
935 Je<strong>de</strong>m von uns ist wohl ein Erlebnis mit einem Kind bekannt, das sich<br />
plötzlich ohne erkennbaren Grund "beson<strong>de</strong>rs brav" verhielt. Meist stellte<br />
sich danach heraus, daß es kurz davor etwas beson<strong>de</strong>rs "Schlimmes"<br />
angestellt hatte... Wobei in diesem speziellen Fall das "Ungeschehen<br />
machen" einerseits vorbewusst <strong>de</strong>n Betroffenen gegenüber erhofft wird,<br />
940 und <strong>de</strong>r eigentliche Abwehrmechanismus unbewusst greift – und zum<br />
Ziel hat, die Handlung <strong>de</strong>m eigenen Über-Ich gegenüber zu "neutralisieren".<br />
5.16. Flucht in die Gesundheit<br />
Hierbei ist die Angst vor <strong>de</strong>r Psychotherapie größer als ein etwaiger se-<br />
945 kundärer Krankheitsgewinn durch Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Symptomatik.<br />
<strong>Die</strong> Symtomatik verschwin<strong>de</strong>t plötzlich völlig, allerdings zumeist nur für<br />
eine sehr kurze Zeitspanne, da die eigentlichen Ursachen allein natürlich<br />
nur mit enormem Energieaufwand kompensiert wer<strong>de</strong>n konnten und<br />
das nicht dauerhaft möglich ist.<br />
950 6. <strong>Die</strong> psychosexuelle Entwicklung<br />
Nach<strong>de</strong>m Freud <strong>de</strong>n Sexualtrieb als die Basis <strong>de</strong>s Seelenlebens postuliert<br />
und die psychische Energie als Libido gefasst hatte, war es eigentlich<br />
nur logisch, die Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen vom Säugling bis ins<br />
Erwachsenenalter vorwiegend im Hinblick auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Se-<br />
955 xualtriebs und <strong>de</strong>s sexuellen Erlebens zu betrachten. <strong>Die</strong> Ergebnisse<br />
<strong>de</strong>r Entwicklungspsychologie, die von zahllosen Psychologen erarbeitet<br />
wur<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n dadurch keinesfalls gegenstandslos, son<strong>de</strong>rn Freud hat<br />
diese (insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Ansatz Hartmanns) vielmehr durch seine Sicht<br />
<strong>de</strong>r psychosexuellen Entwicklung um einen weiteren Aspekt angerei-<br />
960 chert. Viele Psychologen (etwa René Spitz, Erich Erikson, Mahler u.a.)<br />
haben ihre systematischen Beobachtungen bzw. Experimente auf die<br />
Basis <strong>de</strong>r Freudschen Theorie gestellt.<br />
<strong>Die</strong> grundlegen<strong>de</strong> Aussage Freuds besteht in <strong>de</strong>r Behauptung, die Sexualität<br />
erwache nicht erst – wie früher allgemein angenommen – mit <strong>de</strong>r<br />
965 Pubertät, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch sei bereits vom ersten Lebenstag an <strong>de</strong>s<br />
sexuellen Erlebens fähig und auch darum bemüht, es sich zu verschaffen.<br />
<strong>Die</strong>se Aussage wur<strong>de</strong> zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts – im sog.<br />
viktorianischen Zeitalter, das sich durch beson<strong>de</strong>re Prü<strong>de</strong>rie auszeich-<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 8 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
nete – als skandalös betrachtet, so dass an einem Kongress <strong>de</strong>utscher<br />
970 Ärzte (um 1910) <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> – nach<strong>de</strong>m jemand <strong>de</strong>n Vorschlag gemacht<br />
hatte, man möge sich in einem Kongress mit <strong>de</strong>r Freudschen<br />
Lehre befassen – empört in die Versammlung schrie: "Meine Herren,<br />
das ist keine Sache für die Medizin, das ist eine Sache für die Polizei!"<br />
...<br />
975 Psychoanalytisch wird Sexualität jedoch eigentlich als das bezeichnet,<br />
was <strong>de</strong>m Lustgewinn aus körperlichen Funktionen dient (z.B. Nahrungsaufnahme:<br />
Reizung <strong>de</strong>r Mundschleimhaut). <strong>Die</strong> von Freud vorgenommene<br />
Be<strong>de</strong>utungserweiterung includiert <strong>de</strong>s weiteren auch alle zärtlichen<br />
Regungen - nimmt also i<strong>de</strong>ntische Wurzeln <strong>de</strong>r sinnlich-<br />
980 körperlichen und <strong>de</strong>r zärtlichen Strömungen <strong>de</strong>s Sexuallebens an. Freud<br />
unterschei<strong>de</strong>t also scharf zwischen <strong>de</strong>n Begriffen "sexuell" und "genital"<br />
- <strong>de</strong>r erstere Begriff umfaßt, wie im folgen<strong>de</strong>n aufgezeigt, auch viele Tätigkeiten,<br />
die mit <strong>de</strong>n Genitalien nichts zu tun haben. [mehr..]<br />
Sucht man nach Beziehungen bei<strong>de</strong>r Definitionen zum "konventionellen"<br />
985 Sexualleben, ist es (da Sexualität dabei nicht mehr vom Reifungszustand<br />
<strong>de</strong>r Keimdrüsen abhängt) nur folgerichtig, solche sexuellen Tätigkeiten<br />
schon früh im Leben zu suchen und ihre weitere Entwicklung zu<br />
verfolgen. Hier fin<strong>de</strong>n sich dann etwa Vornahmen zur Reizung <strong>de</strong>r<br />
Mund- und Lippenschleimhaut, <strong>de</strong>r Analschleimhaut, <strong>de</strong>r Glans Penis<br />
990 und <strong>de</strong>r Klitoris sowie <strong>de</strong>r Vaginalschleimhaut, die sich allesamt schon<br />
im frühen Kindheitsalter beobachten lassen und als Ausdrücke infantiler<br />
Sexualität bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Hierbei wer<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Grundannahmen<br />
getroffen:<br />
• Unterschiedliche Körperregionen (sog. erogene Zonen) wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />
995 einzelnen Entwicklungsstadien mit Libido-Energie (Sexualenergie) besetzt<br />
• zu einer Spannungsreduktion (Abfuhr von libidinöser Energie) führen<br />
sowohl <strong>de</strong>r normale physiologische Gebrauch sowie die künstliche<br />
Reizung dieser Körperregionen, es entstehen "Lustgefühle". So führt<br />
1000 z.B. das Saugen an <strong>de</strong>r Mutterbrust sowie das Daumenlutschen bei<strong>de</strong><br />
zu einem Lustgewinn.<br />
• das Luststreben ist weitgehend "autoerotisch", d.h., es beschränkt<br />
sich auf die Selbstreizung <strong>de</strong>r erogenen Zonen.<br />
Freud glaubte, drei frühkindliche Phasen <strong>de</strong>r Sexualentwicklung feststel-<br />
1005 len zu können, gefolgt von <strong>de</strong>r sog. Latenzzeit und <strong>de</strong>r darauf folgen<strong>de</strong>n<br />
Pubertät bzw. Adoleszenz, die ins Erwachsenenalter überleitet. <strong>Die</strong> einzelnen<br />
Phasen <strong>de</strong>r psychosexuellen Entwicklung wur<strong>de</strong>n dabei nach <strong>de</strong>r<br />
jeweils dominieren<strong>de</strong>n erogenen Zone benannt:<br />
1. Lebensjahr: Orale Phase<br />
1010 2./3. Lebensjahr: Anale Phase<br />
4./7. Lebensjahr: Phallische Phase<br />
7./11. Lebensjahr: Latenzzeit<br />
12./16. Lebensjahr: Pubertät<br />
17./21. Lebensjahr: Genitale Phase / Adolezenz<br />
1015 <strong>Die</strong>se Altersangaben sind jedoch mit großer Vorsicht zu behan<strong>de</strong>ln,<br />
<strong>de</strong>nn sie variieren je nach Milieu, Geschlecht und individuellen Voraussetzungen<br />
und sind darüber hinaus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>l unterworfen.<br />
Auch sind insbeson<strong>de</strong>re die drei frühkindlichen Phasen weniger<br />
als ein ‘Hintereinan<strong>de</strong>r’ als ein ‘Hinzukommen’ zu betrachten, in<strong>de</strong>m<br />
1020 nämlich die vorausgehen<strong>de</strong>n typischen Verhaltensweisen nicht etwa völlig<br />
verschwin<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn durch neue überlagert wer<strong>de</strong>n.<br />
6.1. Orale Phase<br />
Objektlosigkeit, Anstreben ständiger Homöostase; hin zu Objektbildung<br />
und Entwicklung <strong>de</strong>s Urvertrauens<br />
1025 Freud bezeichnet Körperregionen, <strong>de</strong>ren Reizung als beson<strong>de</strong>rs lustvoll<br />
erlebt wird, als ‘erogene Zonen’. Unter <strong>de</strong>m Eindruck, dass ein Neugeborenes<br />
beim Saugen ganz offensichtlich ein beson<strong>de</strong>rs großes Wohlbehagen<br />
erlebt und es gewissermaßen ganz in seinem Saugen aufgeht,<br />
schrieb er: "Das Wonnesaugen ist mit voller Aufzehrung <strong>de</strong>r Aufmerk-<br />
1030 samkeit verbun<strong>de</strong>n, führt entwe<strong>de</strong>r zum Einschlafen o<strong>de</strong>r selbst zu einer<br />
motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus.". Das Lusterlebnis<br />
beim Saugen wur<strong>de</strong> also als sexuelles Erleben beschrieben. <strong>Die</strong> erste<br />
erogene Zone während <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres ist also <strong>de</strong>r Mund, weshalb<br />
Freud diese Zeit als ‘orale Phase’ (oral = mündlich) bezeichnete. Im wei-<br />
1035 teren Sinne betrachtete er die ganze Haut als erogene Zone, d.h. – negativ<br />
ausgedrückt – das Lusterleben hat sich noch nicht auf die Reizung<br />
<strong>de</strong>r Genitalorgane konzentriert.<br />
Freud erkannte, dass das Aufnehmen, das Einverleiben von irgen<strong>de</strong>twas<br />
als eine grundlegen<strong>de</strong> Lebensgebär<strong>de</strong> (Modalität) verstan<strong>de</strong>n wer-<br />
1040 <strong>de</strong>n kann, die zeitlebens von zentraler Be<strong>de</strong>utung ist. Er war <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />
dass die bestimmte Art, wie das Kind das Einverleiben während<br />
<strong>de</strong>s 1. Lebensjahres erlebt, das gesamte Verhältnis <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n<br />
Menschen zur Modalität <strong>de</strong>s Einverleibens und Aufnehmens prägt.<br />
Erlebt z.B. ein Säugling, dass er immer zuerst sehr lange und intensiv<br />
1045 schreien muss, bis er seinen plagen<strong>de</strong>n Hunger stillen und saugen<br />
kann, so entsteht dadurch eine gestörte Beziehung zu allem, was im Leben<br />
irgendwie mit Aufnehmen – z.B. auch mit Lernen – zu tun hat. Solche<br />
Menschen wer<strong>de</strong>n oft durch das Grundgefühl gepeinigt, immer zu<br />
kurz zu kommen, was sich in allen möglichen Formen von Gier äußern<br />
1050 kann. <strong>Die</strong>se Haltung kann auch die Grundlage für viele Formen von<br />
Sucht sein: im Rauchen und Trinken ist die orale Gebär<strong>de</strong> ganz offensichtlich,<br />
aber auch je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Rauschzustand (z.B. durch an<strong>de</strong>re<br />
Drogen) kann verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n als Versuch, sich einlullen zu lassen,<br />
d.h. in jenen frühkindlichen Zustand <strong>de</strong>r Geborgenheit und <strong>de</strong>s Noch-<br />
1055 keine-Verantwortung-tragen-Müssens zurücksinken zu können. Oral gestörte<br />
Menschen haben oft entwe<strong>de</strong>r etwas 'Aufsaugen<strong>de</strong>s' an sich (sie<br />
klammern sich beispielsweise in ungesun<strong>de</strong>r Weise an alle Mitmenschen<br />
und haben wenig Sinn für ein gewisses Distanzbedürfnis <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren),<br />
o<strong>de</strong>r sie verweigern reflexartig alles Neue, das sie stets als Be-<br />
1060 drohung empfin<strong>de</strong>n, und sagen in einer krankhaften Selbstbewahrungsten<strong>de</strong>nz<br />
chronisch nein.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> – nicht zuletzt im Gefolge von Erikson und Spitz –<br />
betont immer wie<strong>de</strong>r die große Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres für die<br />
gesun<strong>de</strong> Lebensentwicklung und zeigt auf, dass ein Mensch, <strong>de</strong>r sich in<br />
1065 <strong>de</strong>r oralen Phase von <strong>de</strong>n Eltern, insbeson<strong>de</strong>re von <strong>de</strong>r Mutter, angenommen<br />
und emotional geborgen fühlt und <strong>de</strong>r die Grun<strong>de</strong>rfahrung<br />
macht, dass seine Bedürfnisse mit aller Selbstverständlichkeit befriedigt<br />
wer<strong>de</strong>n, das sog. Urvertrauen ausbil<strong>de</strong>t (Erikson formulierte später: „das<br />
Kind lernt anzunehmen, was ihm gegeben wird“). Das Urvertrauen be-<br />
1070 grün<strong>de</strong>t für das ganze Leben eine Grundgestimmtheit, die dazu ermutigt,<br />
sich <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Lebens gegenüber positiv einzustellen und<br />
sein Wirken als sinnvoll zu erleben. Fühlt sich hingegen das Kind abgelehnt,<br />
muss es auf eine geregelte Pflege und Ernährung durch die Mutter<br />
verzichten, wird es gar vernachlässigt o<strong>de</strong>r geschlagen, erfährt es zu<br />
1075 wenig o<strong>de</strong>r keinen natürlichen Körperkontakt mit <strong>de</strong>n Eltern, so entwickelt<br />
sich das sog. Urmisstrauen, eine Grundgestimmtheit <strong>de</strong>s Pessimismus,<br />
die zu chronischer Verweigerung, zu Versagertum und zur<br />
Selbstablehnung führt.<br />
Das 1. Lebensjahr ist auch jene Zeit, in welcher <strong>de</strong>r primäre Narzissmus<br />
1080 – <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r völligen Auf-sich-selbst-Gerichtetheit <strong>de</strong>r Libido – zu<br />
Gunsten von Objekt-Bildungen überwun<strong>de</strong>n wird. Als erstes Objekt,<br />
welches <strong>de</strong>r Säugling mit Libido besetzt, gilt Freud die Mutterbrust. Im<br />
Erleben, dass sie nicht immer verfügbar ist, entwickelt sich im Kind das<br />
Gefühl einer Trennung zwischen ihm selbst und <strong>de</strong>r Welt. Gleichzeitig<br />
1085 entsteht aber auch eine tief sitzen<strong>de</strong> ambivalente (doppelwertige) Beziehung<br />
zur Mutter, <strong>de</strong>nn einerseits erfährt das Kind die Mutter ja als<br />
nährend (die Bedürfnisse befriedigend), an<strong>de</strong>rerseits als versagend (die<br />
Bedürfnisbefriedigung verweigernd). Eine ähnlich ambivalente Bezie-<br />
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hung bil<strong>de</strong>t sich später auch zum Vater, weshalb die Elternbeziehung<br />
1090 grundsätzlich als ambivalent und somit als problembehaftet zu betrachten<br />
ist. So läßt sich die häufig von schwierigen Ablösungskonflikten gekennzeichnete<br />
Pubertät auch als Prozeß verstehen, daß das Kind, das<br />
nun immer weniger auf die Nährung durch die Eltern angewiesen ist, die<br />
von <strong>de</strong>n Eltern unterschiedlichen Bedürfnisregungen stärker zulassen<br />
1095 und verfolgen will. Das "Eigene" wird dann vor allem in <strong>de</strong>m wahrgenommen,<br />
was unterschiedlich zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Eltern ist.<br />
Der amerikanische Psychoanalytiker René Spitz hat sich in beson<strong>de</strong>rer<br />
Weise mit <strong>de</strong>m 1. Lebensjahr beschäftigt. So stellte er fest, dass das<br />
‘Frem<strong>de</strong>ln’ im Alter von ca 8 Monaten (Spitz bezeichnete dies als ‘Acht-<br />
1100 Monate-Angst’) darauf beruht, dass das Kind jetzt in <strong>de</strong>r Lage ist, verschie<strong>de</strong>ne<br />
Gesichter voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n, wogegen es früher<br />
offensichtlich alle Antlitze als diejenigen <strong>de</strong>r Mutter interpretierte.<br />
Im Zuge seiner Forschungen befaßte sich Spitz beson<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>m Zusammenhang<br />
zwischen <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>r Mutter und <strong>de</strong>ssen Auswir-<br />
1105 kungen auf das Kind, wobei er 6 verschie<strong>de</strong>ne problematische Einstellungen<br />
<strong>de</strong>r Mutter zum Muttersein o<strong>de</strong>r zum Kind feststellte, welche bei<br />
diesem zu teils erheblichen psychischen Schädigungen führen können:<br />
1. unverhüllte Ablehnung<br />
2. ängstlich übertriebene Besorgnis<br />
1110 3. in Ängstlichkeit verwan<strong>de</strong>lte unbewusste Feindseligkeit<br />
4. ständiges Schwanken zwischen Verwöhnen und Feindseligkeit<br />
5. zyklische Stimmungsschwankungen <strong>de</strong>r Mutter (Launenhaftigkeit)<br />
6. kompensierte Feindseligkeit (z.B. durch Verwöhnen)<br />
Berühmt gewor<strong>de</strong>n sind die Spitz’schen Untersuchungen von Kin<strong>de</strong>rn<br />
1115 einerseits in einem Waisenhaus, wo diese durch häufig wechseln<strong>de</strong><br />
Wärterinnen betreut wur<strong>de</strong>n und in einer sehr reizarmen Umwelt (weiß<br />
und steril) lebten, und an<strong>de</strong>rerseits in einem Frauengefängnis, in welchem<br />
sich die Mütter ganz ihren Kin<strong>de</strong>rn widmen und sie selber stillen<br />
und pflegen konnten. Er stellte sehr <strong>de</strong>utliche Entwicklungsunterschie<strong>de</strong><br />
1120 fest: <strong>Die</strong> Kin<strong>de</strong>r im Frauengefängnis gediehen wun<strong>de</strong>rbar, waren selten<br />
krank, entwickelten eine überdurchschnittliche Intelligenz und waren –<br />
wie man so sagt – ‘putzmunter’. Bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn im Waisenhaus hingegen<br />
musste er nicht nur häufige Erkrankungen, son<strong>de</strong>rn auch ziemlich<br />
viele To<strong>de</strong>sfälle feststellen, und mehr o<strong>de</strong>r weniger alle Kin<strong>de</strong>r fielen<br />
1125 durch verschie<strong>de</strong>ne Störungen und Anzeichen gehemmter Entwicklung<br />
auf. Er bemerkte, dass Kin<strong>de</strong>r, die von klein auf in Spitälern aufwachsen<br />
und einer reizarmen, sterilen Umwelt sowie einer gewissen Massenabfertigung<br />
beim Füttern und Trockenlegen ausgesetzt sind, dieselben<br />
Symptome zeigen wie die untersuchten Kin<strong>de</strong>r im Waisenhaus und be-<br />
1130 zeichnete daher das beschriebene Krankheitsbild als ‘Hospitalismus’.<br />
Beson<strong>de</strong>rs gefähr<strong>de</strong>t sind davon insbeson<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r, die zwischen<br />
<strong>de</strong>m 6. Lebensmonat und 3 Jahren hospitalisiert sind. Sie zeichnen sich<br />
oft durch Kontaktarmut, Apathie, verzögertes Gehen- und Sprechenlernen,<br />
soziale Anpassungsschwierigkeiten, intellektuelle Entwicklungs-<br />
1135 rückstän<strong>de</strong>, gesteigerte Krankheitsanfälligkeit, erhöhte Sterblichkeit,<br />
Passivität, Interesselosigkeit und stereotype Bewegungen aus.<br />
Als Spätfolgen treten die bekannten und zu Teil schon erwähnten Auswirkungen<br />
einer gestörten oralen Phase auf: Süchte, Zurückschrecken<br />
vor Lebensaufgaben, Gierigkeit, mangeln<strong>de</strong> Initiative, übergroße Bedürf-<br />
1140 tigkeit nach Zuwendung und Liebe.<br />
6.2. Anale Phase<br />
Ausweitung und Überschreitung <strong>de</strong>s symbiotischen Bereiches, Selbstbestimmung<br />
von Nähe und Distanz, Entwicklung hin zu Objektkonstanz<br />
und Selbstkonstanz<br />
1145 Zwischen 1. und 3. Lebensjahr verlagert sich die Bedürfnisbefriedigung<br />
auf die anale Zone: die anale und urethrale Muskulatur wird trainiert, das<br />
Kind lernt, "zurückzuhalten" und "auszustoßen". Es kann nun seit einiger<br />
Zeit sitzen, und die Eltern setzen es, um nicht unnötig lang Win<strong>de</strong>ln waschen<br />
zu müssen, von Zeit zu Zeit aufs Töpfchen. Das Kind ist nun zu-<br />
1150 nehmend in <strong>de</strong>r Lage, die Darmentleerung willentlich zu steuern, d.h.<br />
<strong>de</strong>n Kot entwe<strong>de</strong>r zurückzuhalten o<strong>de</strong>r loszulassen. Offensichtlich ermöglicht<br />
ihm dies eine neue Weise <strong>de</strong>s Lustgewinns: Kin<strong>de</strong>r dieses Alters<br />
benutzen ihren Kot mit ungebändigter Lust als Mo<strong>de</strong>lliermasse, bemalen<br />
damit auch Bett und Wän<strong>de</strong> und stopfen ihn auch ohne weiteres<br />
1155 in <strong>de</strong>n Mund.<br />
Analog zur oralen Modalität erkennt Freud in diesem konkreten körperlichen<br />
Vorgang gewissermaßen das Grundmo<strong>de</strong>ll einer allgemeinen Lebensgebär<strong>de</strong>:<br />
<strong>de</strong>r Modalität <strong>de</strong>s Besitzens und Hergebens. Tatsächlich<br />
stellt sich <strong>de</strong>m Menschen als einem Wesen, das aufnimmt und einver-<br />
1160 leibt, logischerweise auch die Aufgabe, zu entschei<strong>de</strong>n, was und wie viel<br />
behalten und was ausgeschie<strong>de</strong>n (losgelassen) wer<strong>de</strong>n soll. Das betrifft<br />
materielle Güter genauso wie psychische Verhaftungen und geistige<br />
‘Besitztümer’. Nach Ansicht <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> wird das Verhältnis zu<br />
diesen Lebensaufgaben in <strong>de</strong>r frühen Kindheit emotional grundgelegt,<br />
1165 und zwar eben im körperlichen Erleben eines Vorgangs, <strong>de</strong>r gewissermassen<br />
das Grundmo<strong>de</strong>ll ist für alles an<strong>de</strong>re, wo auch Behalten o<strong>de</strong>r<br />
Hergeben-Müssen bzw. Hergeben-Wollen zur Diskussion steht.<br />
In diesem Zusammenhang weist die <strong>Psychoanalyse</strong> auf eine gewisse<br />
Wesensverwandtschaft zwischen Fäkalien und materiellem Besitz hin.<br />
1170 So sagt man etwa von einem Geizhals, er ‘hocke auf seinem Geld’, arme<br />
Menschen wünschen sich einen ‘Geldscheisser’, im Märchen vom<br />
Tischlein-Deck-dich "scheisst" <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>sel auf <strong>de</strong>n Befehl ‘briklebrit!’<br />
tatsächlich Goldstücke, und wenn jemand um Geld betrogen wur<strong>de</strong>, ist<br />
er "beschissen" wor<strong>de</strong>n.<br />
1175 Freud weist darauf hin, dass das Kind mit seiner nun entstehen<strong>de</strong>n Fähigkeit<br />
<strong>de</strong>r Kontrolle über die Defäkation zum Erlebnis <strong>de</strong>r Macht über<br />
die Eltern kommt – also tatsächlich auch selbst etwas außerhalb seiner<br />
selbst kontrollieren zu können. Bei<strong>de</strong>s sind auch wesentliche Grundpfeiler<br />
für Grundgefühle wie Autonomie und Selbstbewusstsein. Insofern es<br />
1180 seine Macht genießt, keimen im Kind erste Gefühle <strong>de</strong>s Sadismus auf,<br />
weshalb Freud diese Phase auch als ‘anal-sadistische’ Phase bezeichnet.<br />
Man könnte somit sagen: Psychische Themen, welche in <strong>de</strong>r analen<br />
Phase gefühlshaft grundgelegt wer<strong>de</strong>n, sind das Verhältnis zum Besitz,<br />
zur Macht, zum Behalten und Hergeben und damit auch zur Ordnung.<br />
1185 Störungen in <strong>de</strong>r analen Phase führen logischerweise zu Störungen in<br />
<strong>de</strong>n oben erwähnten Bereichen. Es bil<strong>de</strong>n sich Geiz o<strong>de</strong>r Verschwendungssucht,<br />
chaotisches Gebaren o<strong>de</strong>r übertriebene Ordnungsliebe, Eigensinn<br />
und zwanghaftes Verhalten heraus.<br />
Kluge Eltern lassen <strong>de</strong>r Schmutzlust <strong>de</strong>r Kleinen in <strong>de</strong>r analen Phase<br />
1190 <strong>de</strong>n ihr gebühren<strong>de</strong>n Raum, in<strong>de</strong>m sie ihnen Fingerfarben geben und<br />
sie im Garten mit nassem Sand und nasser Er<strong>de</strong> so richtig herummatschen<br />
lassen. Unkluge Eltern versuchen mit lieblosem Druck, ihre Kin<strong>de</strong>r<br />
so früh wie möglich ‘sauber’ zu bekommen, um damit ihren eigenen<br />
Ehrgeiz zu befriedigen ("Wissen Sie, Frau Müller, unsere Lisa ist schon<br />
1195 seit 4 Monaten sauber!“). Der Wunsch nach Selbständigkeit gerät nun<br />
ständig in Konflikt mit <strong>de</strong>n Anpassungsfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Umwelt - um hier<br />
eine zufrie<strong>de</strong>nstellen<strong>de</strong> Lösung zu ermöglichen, müssen diese also so<br />
formuliert wer<strong>de</strong>n, daß sie vom Kin<strong>de</strong> angenommen wer<strong>de</strong>n können.<br />
Alle sog. Zwangsneurosen haben ihren Ursprung in dieser Phase. Im<br />
1200 Hinblick auf diesen Zusammenhang spricht die <strong>Psychoanalyse</strong> von einem<br />
‘analen Charakter’ und meint damit einen Menschen, <strong>de</strong>r überkontrolliert<br />
ist, zu fixen I<strong>de</strong>en neigt, sich nirgends anpassen kann, stets<br />
recht haben muss und gewiss nicht ‘Fünfe gera<strong>de</strong> sein lassen’ kann.<br />
6.3. Phallische Phase<br />
1205 Stabilisierung <strong>de</strong>r Selbstkonstanz und Entwicklung <strong>de</strong>r Geschlechteri<strong>de</strong>ntität,<br />
bei positiver Auflösung <strong>de</strong>s ödipalen Konflikts: Bildung und<br />
Konsolidierung <strong>de</strong>s Über-Ich, wodurch <strong>de</strong>r Übergang von einem mehr<br />
dyadischen zu einem triadischen Beziehungsmuster vollzogen wer<strong>de</strong>n<br />
können sollte.<br />
1210 In <strong>de</strong>r phallischen Phase verlagert sich die erogene Zone auf die Genitalien.<br />
Dass Freud diesen Lebensabschnitt generell nach <strong>de</strong>m männlichen<br />
Glied (Phallus) benennt, haben ihm Frauen natürlich immer wie<strong>de</strong>r übel<br />
genommen. Seine Verteidigung, dass sich in <strong>de</strong>r embryonalen Entwicklung<br />
die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane lange nicht un-<br />
1215 terschei<strong>de</strong>n und sich später das, was beim Knaben zum Phallus wird,<br />
beim Mädchen zur Klitoris entwickelt, irritiert dann noch mehr, <strong>de</strong>nn daraus<br />
leitet sich – setzt man eine rein quantitative Sichtweise an – die Ansicht<br />
ab, die Frau sei, sexuell betrachtet, ein unvollkommener Mann. <strong>Die</strong><br />
Sache wird dann noch problematischer, wenn Freud feststellt, dass die<br />
1220 Kin<strong>de</strong>r dieses Alters ihre unterschiedliche Geschlechtlichkeit ent<strong>de</strong>cken<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 10 von 19
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(sie spielen in diesem Alter oft ‘Doktorspiele’ und befriedigen so ihre<br />
Neugier<strong>de</strong> bzw. ihre Lust, sich an<strong>de</strong>ren zu zeigen: Voyeurismus und Exhibitionismus)<br />
und dann das Mädchen sieht, dass ihm etwas fehlt, das<br />
<strong>de</strong>r Vater o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Knabe hat. Freud vertritt nämlich die Ansicht, dass im<br />
1225 Mädchen - selbstverständlich unbewusst - eine Verärgerung darüber<br />
entsteht, dass ihm etwas fehlt, und er nennt dieses Gefühl <strong>de</strong>n ‘Penisneid’.<br />
Der Knabe in<strong>de</strong>s hat zu solchem Neid keinen Anlass, son<strong>de</strong>rn beginnt –<br />
was man tatsächlich sehr oft beobachten kann – in diesem Alter mit sei-<br />
1230 nem Glied zu imponieren (Imponiergehabe). Freud erfuhr in seinen zahlreichen<br />
Analysen, die er mit männlichen Klienten durchführte, dass damals<br />
offensichtlich <strong>de</strong>n meisten Knaben von ihren sittenstrengen Erzieherinnen<br />
und Erziehern gedroht wur<strong>de</strong>, man wür<strong>de</strong> ihnen das Glied abschnei<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie weiterhin damit spielten. Freud glaubte, dass ein<br />
1235 Knabe, belastet mit dieser Drohung, tatsächlich annimmt, dass z.B. seine<br />
Schwester o<strong>de</strong>r seine Mutter früher noch einen Phallus hatten, ihn<br />
aber eben durch Kastration einbüssten. Dem Penisneid <strong>de</strong>s Mädchens<br />
entspricht seitens <strong>de</strong>s Knaben somit die – ebenfalls unbewusste – ‘Kastrationsangst’.<br />
1240 So wie in <strong>de</strong>r oralen Phase das Saugen zum Urmo<strong>de</strong>ll wird für alles,<br />
was im ganzen Leben irgendwie mit Einverleiben zu tun hat, und so wie<br />
in <strong>de</strong>r analen Phase das Behalten o<strong>de</strong>r Hergeben <strong>de</strong>r Exkremente die<br />
emotionale Gestimmtheit betreffend Besitzen und Loslassen (Hergeben,<br />
Ausgeben) präformiert, so wird die Art und Weise, wie das Kind in <strong>de</strong>r<br />
1245 phallischen Phase die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s eigenen Geschlechts erlebt, ganz<br />
allgemein zum Urmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Dominanzverhaltens. Eine allgemeine Haltung<br />
<strong>de</strong>s Kampfs gegen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rerseits auch <strong>de</strong>r Unterwerfung unter<br />
das an<strong>de</strong>re Geschlecht ist zumeist auf Störungen in <strong>de</strong>r phallischen<br />
Phase zurückzuführen.<br />
1250 6.3.1. Ödipuskomplex<br />
Im Zuge <strong>de</strong>r Verlagerung <strong>de</strong>s sexuellen Interesses auf die Genitalien<br />
und <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Zweigeschlechtlichkeit <strong>de</strong>s Menschen spielt<br />
sich in <strong>de</strong>r phallischen Phase nach Freud ein zentrales unbewusstes<br />
Geschehen ab, das er <strong>de</strong>n Ödipuskomplex nennt. <strong>Die</strong>se Benennung be-<br />
1255 zieht sich auf jene griechische Sage, wonach es das tragische Geschick<br />
von König Ödipus war, seine eigene Mutter zu ehelichen, ein – wenn<br />
auch unwillentlich begangenes – Verbrechen, das <strong>de</strong>r unglückliche König<br />
dadurch zu sühnen hoffte, dass er sich selbst die Augen ausstach.<br />
Der Ödipuskomplex spielt in <strong>de</strong>r Freudschen <strong>Psychoanalyse</strong> eine zent-<br />
1260 rale Rolle. Es geht dabei um die Beziehung zwischen Kind und Eltern,<br />
primär um die Beziehung zwischen <strong>de</strong>m Kind und <strong>de</strong>m gegengeschlechtlichen<br />
Elternteil. Im Folgen<strong>de</strong>n sei hier <strong>de</strong>r unbewusste Vorgang<br />
beschrieben, so wie er sich beim Knaben ereignet, beim Mädchen geschieht<br />
dies ungefähr spiegelbildlich:<br />
1265 Der Junge entwickelt während <strong>de</strong>r phallischen Phase <strong>de</strong>n unbewussten<br />
Triebwunsch, sich mit <strong>de</strong>r Mutter geschlechtlich zu vereinigen. Der Vater<br />
wird daher als Rivale betrachtet, <strong>de</strong>r Sohn phantasiert (stets unbewusst),<br />
dieser könnte sich durch Kastration rächen: Kastrationsangst<br />
stellt sich ein. Im Zuge dieser Rivalität entwickelt <strong>de</strong>r Knabe gegenüber<br />
1270 <strong>de</strong>m Vater auch To<strong>de</strong>swünsche, was in ihm – neben <strong>de</strong>r bereits beschriebenen<br />
Angst – tief sitzen<strong>de</strong> Schuldgefühle auslöst. Es gilt nun<br />
bei<strong>de</strong>s, die Ängste und die Schuldgefühle, abzuwehren, und dies geschieht<br />
mit <strong>de</strong>m oben beschriebenen Abwehrmechanismus <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation.<br />
In<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Knabe mit <strong>de</strong>m Vater i<strong>de</strong>ntifiziert, setzt er sich<br />
1275 gewissermaßen an seine Stelle und muss ihn damit einerseits nicht<br />
mehr fürchten und hat an<strong>de</strong>rerseits Anteil an <strong>de</strong>ssen Vorrechten gegenüber<br />
<strong>de</strong>r Mutter. <strong>Die</strong> geglückte I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater<br />
bezeichnet Freud als ‘Lösung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes’. Sie hat sehr be<strong>de</strong>utsame<br />
Folgen, <strong>de</strong>nn im Zuge dieser I<strong>de</strong>ntifikation übernimmt <strong>de</strong>r<br />
1280 Knabe die Norm- und Wertvorstellungen <strong>de</strong>s Vaters und – so Freud –<br />
damit auch <strong>de</strong>r Gesellschaft. <strong>Die</strong>se introjizierten Norm- und Wertvorstellungen<br />
stellen dann das dar, was Freud als ‘Über-Ich’ bezeichnet.<br />
Beim Mädchen geht es sich darum, dass es lernt, die Penislosigkeit zu<br />
akzeptieren. Gelingt ihm das, so kann es sich – analog zum Jungen –<br />
1285 leicht mit <strong>de</strong>r Mutter i<strong>de</strong>ntifizieren und so auch seine eigene ‘Geschlechtsrolle’<br />
annehmen. Kann es die Penislosigkeit nicht akzeptieren,<br />
so führt dies nach psychoanalytischer Erkenntnis zum ‘Männlichkeitskomplex’,<br />
<strong>de</strong>m krankhaften Bestreben, so zu sein wie <strong>de</strong>r Mann.<br />
Gestörte eheliche Beziehungen, die Abwesenheit eines Elternteils o<strong>de</strong>r<br />
1290 Fehlreaktionen eines Elternteils gegenüber <strong>de</strong>m Kind können die Ursache<br />
dafür sein, dass die I<strong>de</strong>ntifikation nicht gut gelingt, und es ist Freuds<br />
Überzeugung, dass ein schlecht o<strong>de</strong>r nicht gelöster Ödipuskomplex die<br />
Hauptursache für viele neurotische Störungen darstellt. <strong>Die</strong> Bearbeitung<br />
<strong>de</strong>s Ödipuskomplexes steht daher in einer klassischen Freudschen Ana-<br />
1295 lyse zumeist im Mittelpunkt.<br />
Ein nicht o<strong>de</strong>r schlecht gelöster Ödipuskomplex wirkt sich erfahrungsgemäß<br />
problematisch in <strong>de</strong>r späteren Partnerbeziehung aus. Männer<br />
suchen dann häufig – je nach<strong>de</strong>m, wie sie die Mutter in jener Zeit erfahren<br />
haben – entwe<strong>de</strong>r eine viel ältere Partnerin o<strong>de</strong>r entwickeln grund-<br />
1300 sätzlich Angst vor einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft. Frauen<br />
neigen zum Kampf gegen <strong>de</strong>n Mann und alles Männliche o<strong>de</strong>r Väterliche<br />
(man spricht dann etwa von einer ‘kastrieren<strong>de</strong>n Frau’) o<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n<br />
sich ebenfalls mit einem viel älteren Partner.<br />
Eine häufig vorkommen<strong>de</strong> Konstellation bei gestörten elterlichen Bezie-<br />
1305 hungen etwa ist folgen<strong>de</strong>: <strong>de</strong>r Vater neigt dazu, <strong>de</strong>n Werbungen <strong>de</strong>r<br />
Tochter (die auch während <strong>de</strong>r Schulzeit und in <strong>de</strong>r Pubertät andauern)<br />
auf eine ungesun<strong>de</strong> Weise entgegenzukommen, in<strong>de</strong>m er sich einerseits<br />
einen erotischen Ersatz für das sucht, was er bei <strong>de</strong>r eigenen Gattin<br />
nicht erhält, an<strong>de</strong>rerseits setzt er aber immer wie<strong>de</strong>r – will er mit Mo-<br />
1310 ral und Gesetz nicht in Konflikt kommen – auch schroffe Grenzen. Das<br />
führt dazu, dass die Tochter nicht nur <strong>de</strong>n Vater sehr ambivalent erfährt,<br />
son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r Mutter instinktiv als Rivalin empfun<strong>de</strong>n und darum<br />
von ihr meist abgelehnt wird, was das problematische und geheime<br />
Bündnis mit <strong>de</strong>m Vater weiter verstärkt. In ihren späteren Partnerschaf-<br />
1315 ten pflegt dann eine solche Tochter ihre Vaterbeziehung in <strong>de</strong>n Partner<br />
zu projizieren. Das be<strong>de</strong>utet vorerst einmal, dass sie in ihm <strong>de</strong>n Vater<br />
sucht, aber im Sexualleben sehr bald mit Schuldgefühlen (in <strong>de</strong>r Vater-<br />
Projektion erscheint ihr die sexuelle Beziehung zum Partner unbewusst<br />
als Inzest) und entsprechen<strong>de</strong>r Verweigerung reagiert. Ferner hat sie ja<br />
1320 <strong>de</strong>n Vater als eine Person erlebt, die wechselnd anzieht und zurückstößt,<br />
und nun wird sie vom Zwang tyrannisiert, dieses Anziehen und<br />
Zurückstoßen beim Partner zu wie<strong>de</strong>rholen und damit Macht auf ihn<br />
auszuüben. Schließlich läuft dies alles darauf hinaus, als ob sich die<br />
solcherart psychisch lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Tochter an <strong>de</strong>n Männern, die sich mit ihr<br />
1325 partnerschaftlich einlassen, für die vom Vater erlittenen Frustrationen<br />
gewissermaßen rächen möchte. <strong>Die</strong>s alles geschieht selbstverständlich<br />
unbewusst.<br />
6.4. Latenzzeit<br />
Festigung <strong>de</strong>s Primats <strong>de</strong>r Genitalität, I<strong>de</strong>ntitätsfindung, Festigung <strong>de</strong>r<br />
1330 sozialen Rolle, Strukturierung <strong>de</strong>r Zukunftsperspektive<br />
Nach psychoanalytischer Auffassung tritt etwa im Alter von 6-7 Jahren<br />
bis hin zur Pubertät das sexuelle Interesse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zurück. <strong>Die</strong> Sexualität<br />
ruht, verharrt in <strong>de</strong>r Latenz. <strong>Die</strong> Partialtriebe wer<strong>de</strong>n eher unterdrückt<br />
(z.T. sublimiert, also nichtsexuellen Zwecken zugeführt).All dies<br />
1335 zeigt sich u.a. darin, dass sich z.B. in <strong>de</strong>r Schule die Kin<strong>de</strong>r fast selbstverständlich<br />
geschlechtsspezifisch gruppieren, ja sich sogar betont vom<br />
an<strong>de</strong>ren Geschlecht distanzieren. Aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Knaben sind dann<br />
die Mädchen "blöd", und aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Mädchen die Jungen "dumm"<br />
(o<strong>de</strong>r ähnliches).<br />
1340 Hier ist vielleicht eine Bemerkung am Platze, die für die gesamte Freudsche<br />
Theorie <strong>de</strong>r kindlichen Sexualentwicklung gelten kann: es stellt<br />
sich nämlich die Frage, wie sehr die von <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> beobachteten<br />
Phänomene allgemein als zur Natur <strong>de</strong>s Menschen gehörend zu betrachten<br />
sind o<strong>de</strong>r aber aufgefasst wer<strong>de</strong>n können als Verhaltensweisen<br />
1345 in einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Situation. Angesichts <strong>de</strong>r<br />
Tatsache, dass heute ein Kind via Fernsehen (sofern es lange genug<br />
aufbleibt) mit allen möglichen Formen sexueller Praxis vertraut wer<strong>de</strong>n<br />
kann, viele Kin<strong>de</strong>r schon an <strong>de</strong>r Unterstufe fast ständig über Sexualität<br />
re<strong>de</strong>n und diesbezügliche Witze erzählen, darf man Freuds Theorie von<br />
1350 <strong>de</strong>r Latenzzeit wohl zumin<strong>de</strong>st etwas relativieren.<br />
6.5. Genitale Phase: Pubertät, Adoleszenz,<br />
Erwachsenensexualität<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 11 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
Ausbildung gereifter Genitalität, Selbstverantwortlichkeit, schöpferische<br />
Tätigkeit, »Meisterung <strong>de</strong>s Lebens« [Erikson] u.a.<br />
1355 <strong>Die</strong> Pubertät ist im Wesentlichen jener Abschnitt in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s<br />
jungen Menschen, in <strong>de</strong>m sich die kindliche Existenzweise in jene <strong>de</strong>s<br />
Erwachsenen umbil<strong>de</strong>t. Ein be<strong>de</strong>utsamer Aspekt dieser Umstrukturierung<br />
<strong>de</strong>r Persönlichkeit ist das Erreichen <strong>de</strong>r Geschlechtsreife. Beim<br />
Mädchen tritt sie mit <strong>de</strong>r ersten Menstruation ein, beim Knaben mit <strong>de</strong>r<br />
1360 ersten Pollution (Samenerguss). Freud nennt diesen Stand <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
‘genitale’ Phase, das Ziel <strong>de</strong>r sexuellen Entwicklung ist erreicht.<br />
<strong>Die</strong> Geschlechtsreife führt in <strong>de</strong>r Regel auch zu einer verän<strong>de</strong>rten Einstellung<br />
gegenüber <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht. Was sich zuvor oft <strong>de</strong>utlich<br />
abstieß, stößt sich oft bloß noch zum Schein ab (Pubertieren<strong>de</strong> su-<br />
1365 chen Streit mit gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen, um mit ihnen balgen<br />
zu können) o<strong>de</strong>r zieht sich an.<br />
<strong>Die</strong> psychischen Verän<strong>de</strong>rungen, welche die Pubertät mit sich bringt,<br />
sind außeror<strong>de</strong>ntlich tiefgehend und vielfältig und betreffen die ganze<br />
Persönlichkeit.<br />
1370 7. <strong>Die</strong> Traum<strong>de</strong>utung<br />
Freuds erstmals in seinem berühmten Buch "Traumanalyse“ veröffentlichte<br />
Überlegungen zur Traum<strong>de</strong>utung trugen dazu bei, daß die <strong>Psychoanalyse</strong><br />
<strong>de</strong>n Rahmen einer reinen Psychopathologie sprengte - er<br />
wur<strong>de</strong> von ihm als "Königsweg zum Unbewussten" erachtet. Obwohl die<br />
1375 erste Auflage von Freuds Buch bei ihrem Erscheinen kaum beson<strong>de</strong>re<br />
Beachtung fand, war sich Freud offensichtlich schon früh <strong>de</strong>r epochemachen<strong>de</strong>n<br />
Be<strong>de</strong>utung seines Buches bewusst: es erschien im Oktober<br />
1899, aber Freud datierte es auf 1900 voraus und setzte unter <strong>de</strong>n Titel<br />
das rebellische Motto "flectere si nequeo superos acheronta moveba"<br />
1380 ("Und können wir uns die Götter nicht geneigt machen, so lasst uns die<br />
Unterweltlichen bewegen." – ein Zitat aus <strong>de</strong>r Antike). Neben <strong>de</strong>n ‘Drei<br />
Abhandlungen zur Sexualtheorie’ (1905), die er ebenfalls jeweils <strong>de</strong>m<br />
neuesten Stand seiner Theorieentwicklung anpasste, ist ‘<strong>Die</strong> Traum<strong>de</strong>utung’<br />
jenes Buch, <strong>de</strong>m er am meisten Sorgfalt ange<strong>de</strong>ihen ließ und das<br />
1385 er selbst in acht jeweils verän<strong>de</strong>rten und <strong>de</strong>m neuesten Entwicklungsstand<br />
angepassten Auflagen erscheinen ließ.<br />
Im gesamten Buch ist Freuds Bemühen erkennbar, <strong>de</strong>n Traum als einen<br />
Prozess zu begreifen, <strong>de</strong>r nach bestimmten Regeln aufgebaut ist und<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>shalb, sobald man diese Regeln kennt, mehr o<strong>de</strong>r weniger ein-<br />
1390 <strong>de</strong>utig ‘lesbar’ ist. Im Folgen<strong>de</strong>n sei <strong>de</strong>r Versuch gemacht, einige <strong>de</strong>r<br />
wichtigsten Regeln und damit die Freudsche Auffassung <strong>de</strong>r Funktionsweise<br />
<strong>de</strong>s Traumes darzustellen.<br />
7.1. Zweck und Wesen <strong>de</strong>s Traumes<br />
Nach Freud kommt <strong>de</strong>m Traum zuerst einmal eine rein physiologische<br />
1395 Be<strong>de</strong>utung zu: Er ist ‘<strong>de</strong>r Hüter <strong>de</strong>s Schlafs’. So ermöglicht er, Umwelto<strong>de</strong>r<br />
organische Reize umzu<strong>de</strong>uten und in <strong>de</strong>n Schlaf einzubauen. Verbreitet<br />
ist <strong>de</strong>nn auch die Erfahrung, dass <strong>de</strong>r Wecker schellt und man<br />
dann von einem Pressluftbohrer o<strong>de</strong>r Ähnlichem träumt – und selig weiterschläft.<br />
Ähnliches kann passieren, wenn die gefüllte Blase zur Entlee-<br />
1400 rung drängt und man dann träumt, man suche ein WC auf...<br />
In psychologischer Hinsicht ist nach Freud <strong>de</strong>r Traum ganz allgemein<br />
"die (verklei<strong>de</strong>te) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches."<br />
Insofern <strong>de</strong>r Wunsch verdrängt ist, han<strong>de</strong>lt es sich folglich beim<br />
Traum um eine Manifestation <strong>de</strong>s Es. Freud geht davon aus, dass im<br />
1405 Schlaf das Ich hochgradig geschwächt ist, d.h. dass die Libido von <strong>de</strong>r<br />
Motorik und <strong>de</strong>r Sinneswahrnehmung weitgehend zurückgezogen ist.<br />
Das Es nützt gewissermaßen die Gunst <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> und dringt mit seinen<br />
Inhalten ins Traumbewusstsein und – via Rückerinnerung an <strong>de</strong>n<br />
Traum – ins Bewusste ein. Da aber das Ich während <strong>de</strong>s Schlafs bloß<br />
1410 geschwächt, aber nicht völlig außer Funktion ist, stellt es sich gegen eine<br />
unverhüllte Offenbarung <strong>de</strong>s Verdrängten aus <strong>de</strong>m Es und zwingt<br />
<strong>de</strong>n geheimnisvollen Regisseur <strong>de</strong>s Traums, <strong>de</strong>n unbewussten, verdrängten<br />
Wunsch zu verschleiern und ihn in solche Bil<strong>de</strong>r zu klei<strong>de</strong>n, die<br />
<strong>de</strong>m Bewussten aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s verdrängen<strong>de</strong>n Ichs als akzeptabel<br />
1415 erscheinen. So gesehen, ist jener Traum, an <strong>de</strong>n wir uns beim Erwachen<br />
erinnern, nie genau das, was eigentlich das Es zum Ausdruck<br />
bringen wollte, son<strong>de</strong>rn stellt stets einen Kompromiss dar zwischen <strong>de</strong>m<br />
Es-Impuls und <strong>de</strong>r Gegenwehr <strong>de</strong>s Ich. Das Ich waltet <strong>de</strong>mzufolge beim<br />
Zustan<strong>de</strong>kommen eines konkreten Traumbil<strong>de</strong>s als Zensor.<br />
1420 Freuds Ansicht, je<strong>de</strong>r Traum sei eine unbewusste Wunscherfüllung,<br />
wur<strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r angezweifelt. Auf Anhieb scheinen zwar jene<br />
Träume, welche <strong>de</strong>r Träumer als sehr belastend empfin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n Kritikern<br />
recht zu geben. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich aber einwen<strong>de</strong>n,<br />
dass ja nicht <strong>de</strong>r manifeste, son<strong>de</strong>rn eben <strong>de</strong>r latente Traum die<br />
1425 Wunscherfüllung darstellt und dass die Zensur durch das Ich in einzelnen<br />
Fällen offenbar <strong>de</strong>rart gross ist, dass <strong>de</strong>r verdrängte Es-Wunsch eine<br />
gera<strong>de</strong>zu gegensätzliche Gestalt annehmen muss, um sich manifestieren<br />
zu können. Darüber hinaus entspricht es durchaus <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />
Auffassung, dass im Es die skurrilsten Wünsche, die <strong>de</strong>r<br />
1430 Selbsterhaltung vollkommen entgegenstehen, vorhan<strong>de</strong>n sein können.<br />
Wer kennt nicht z.B. die Angst, man könnte sich selbst plötzlich in die<br />
Tiefe stürzen wollen, wenn er von einer sehr hohen Brücke hinunterschaut.<br />
<strong>Die</strong>se Angst ist nur verständlich, weil im Es offensichtlich solche<br />
Wünsche lauern. Auch autoaggressive Wünsche mit <strong>de</strong>m Zwecke <strong>de</strong>r<br />
1435 Abwehr von Schuldgefühlen können zu sehr belasten<strong>de</strong>n Traumbil<strong>de</strong>rn<br />
führen.<br />
Damit ist aber <strong>de</strong>r Zweifel an Freuds Position nicht aus <strong>de</strong>r Welt geschafft<br />
– immerhin könnte es ja sein, dass zwar ein großer Teil, aber<br />
eben doch nicht alle Träume Wunscherfüllungen darstellen. Am ehesten<br />
1440 lässt sich noch Jungs Ansatz, <strong>de</strong>r Traum habe stets eine kompensatorische<br />
Funktion, gleiche also aus, was im bewussten Leben nicht ausgelebt<br />
wer<strong>de</strong>n könne, mit <strong>de</strong>r Freudschen Behauptung in Einklang bringen.<br />
Denn das Bedürfnis, ungelebte Seiten <strong>de</strong>r Persönlichkeit im Traum ersatzweise<br />
zu leben, kann sehr wohl generell als Wunscherfüllung <strong>de</strong>kla-<br />
1445 riert wer<strong>de</strong>n.<br />
7.2. Latenter und manifester Traum, Traum<strong>de</strong>utung und<br />
Traumarbeit<br />
Jenen Traumgedanken, <strong>de</strong>r im Es vorhan<strong>de</strong>n ist und sich im Träumen<br />
darstellen möchte, nennt Freud <strong>de</strong>n latenten Traum. Jenen Trauminhalt,<br />
1450 <strong>de</strong>r durch die Einwirkung <strong>de</strong>r Ich-Zensur entstellt wur<strong>de</strong>, bezeichnet<br />
Freud als manifesten Traum. Wenn also jemand einen Traum erinnert<br />
o<strong>de</strong>r erzählt, so han<strong>de</strong>lt es sich dabei stets um <strong>de</strong>n manifesten Traum.<br />
Der latente Traum kann erst sekundär, etwa via Traum<strong>de</strong>utung, ent<strong>de</strong>ckt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
1455 <strong>Die</strong> Traum<strong>de</strong>utung ist folglich die Umkehrung jenes Prozesses, <strong>de</strong>r die<br />
Umwandlung <strong>de</strong>s latenten in <strong>de</strong>n manifesten Traum bewerkstelligte.<br />
Freud nennt diesen Verwandlungsprozess, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Traumgedanken in<br />
die visuellen und akustischen Bil<strong>de</strong>r umsetzt, Traumarbeit. Es ist folglich<br />
ganz einfach: die Traumarbeit macht aus <strong>de</strong>m latenten Traum <strong>de</strong>n mani-<br />
1460 festen, und die Traum<strong>de</strong>utung geht diesen Weg wie<strong>de</strong>r zurück und ent<strong>de</strong>ckt<br />
im manifesten Traum <strong>de</strong>n ursprünglichen latenten Traum.<br />
Um die weiteren Begriffe leichter erklären zu können, hier ein Beispiel<br />
für einen möglichen manifesten Traum:<br />
Ein Lehrer träumt, er fahre mit einem rostigen VW zur Schule, überfahre<br />
1465 unterwegs ein Huhn, wer<strong>de</strong> dann von <strong>de</strong>n Schülern nicht wie gewohnt<br />
freundlich begrüßt, son<strong>de</strong>rn tätlich angegriffen, gehe dann seine Mappe<br />
suchen, die er im Auto vergessen habe, dieses habe sich aber unter<strong>de</strong>ssen<br />
in einen dreibeinigen Ofen verwan<strong>de</strong>lt, aus <strong>de</strong>m schwarzer<br />
Rauch aufsteige, und wie er ins Schulzimmer zurückkehren wolle, sei<br />
1470 dieses plötzlich eine Kirche, in welcher die Frau <strong>de</strong>s Schulabwarts die<br />
Messe lese.<br />
In diesem manifesten Traum fin<strong>de</strong>t sich eine Fülle von Elementen: Lehrer,<br />
Autofahren, VW, Rost, Schule, Huhn, Huhn überfahren usf. ‘Den<br />
Traum <strong>de</strong>uten’ heißt nun, einen Traumgedanken zu fin<strong>de</strong>n, in welchem<br />
1475 alle diese Elemente eine Entsprechung haben, für die sie als Stellvertreter<br />
gelten können. Sollte sich z.B. herausstellen, dass mit <strong>de</strong>m rostigen<br />
VW die leichte körperliche Invalidität <strong>de</strong>s Lehrers ausgedrückt ist, dass<br />
das überfahrene Huhn seine eigene Frau be<strong>de</strong>utet, mit <strong>de</strong>r er in unglücklicher<br />
Ehe lebt, und dass es sich bei seinen Schülern um seine ei-<br />
1480 genen Kin<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt, die ihn kürzlich aufgefor<strong>de</strong>rt haben, mit seiner<br />
Gemahlin ins reine zu kommen usf., so liegen hier Beispiele von Elementen<br />
aus <strong>de</strong>m latenten Traum vor.<br />
<strong>Die</strong> grundlegendste Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist folglich die Einkleidung eines<br />
Gedankens bzw. <strong>de</strong>r einzelnen Elemente eines Traumgedankens in<br />
1485 Bil<strong>de</strong>r, die in irgen<strong>de</strong>inem erkennbaren Zusammenhang mit <strong>de</strong>n latenten<br />
Traumelementen stehen. Der Zusammenhang kann im Wesen <strong>de</strong>r Sa-<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 12 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
che selbst liegen. Wenn jemand von ‘in die Schule gehen’ träumt, kann<br />
damit ganz allgemein die Lebensschule gemeint sein. Solche Deutungen<br />
sind im Allgemeinen einfach, und auch <strong>de</strong>r Außenstehen<strong>de</strong> kann<br />
1490 sich an <strong>de</strong>r Deutungsarbeit beteiligen. Sehr oft aber ist <strong>de</strong>r Zusammenhang<br />
zwischen <strong>de</strong>m latenten und <strong>de</strong>m manifesten Traumelement in <strong>de</strong>r<br />
konkreten Lebensgeschichte <strong>de</strong>s Träumers begrün<strong>de</strong>t. So kann sich<br />
z.B. herausstellen, dass <strong>de</strong>r Träumer in obigem Beispiel die Frau <strong>de</strong>s<br />
Schulhausabwarts letzten Sonntag in <strong>de</strong>r Kirche sah und dass ihm seine<br />
1495 Frau ‘die Leviten las’, und es ist klar, dass man erst dann einen wirklichen<br />
Zugang zum Traum fin<strong>de</strong>t, wenn man vom Träumer diese Erlebnisse<br />
mitgeteilt bekommt. Das ist <strong>de</strong>r Grund weshalb Freud nichts von<br />
reinen Fremd<strong>de</strong>utungen hielt, und seine Analysan<strong>de</strong>n zu je<strong>de</strong>m einzelnen<br />
Element <strong>de</strong>s manifesten Traumes frei assoziieren ließ (dieser Me-<br />
1500 tho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r freien Assoziation wur<strong>de</strong> dann z.B. von Jung entgegengehalten,<br />
dass dadurch eigentlich nicht <strong>de</strong>r Traum ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />
dass – via freie Assoziation – in aller Regelmäßigkeit bloß die neurotischen<br />
Züge <strong>de</strong>s Träumers sichtbar wer<strong>de</strong>n; diese wür<strong>de</strong>n sich nämlich<br />
beim freien Assoziieren stets zeigen, ganz gleich, von welchen Bil<strong>de</strong>rn,<br />
1505 Begriffen o<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>n man ausgehe).<br />
Im Rahmen dieses Verwan<strong>de</strong>lns von latenten Traumelementen in manifeste<br />
Traumbil<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t Freud fünf spezielle Formen <strong>de</strong>r<br />
Traumarbeit:<br />
1. Freud stellte fest, dass in <strong>de</strong>r Regel nicht – wie im obigen konstruier-<br />
1510 ten Beispiel – ein Element aus <strong>de</strong>m manifesten Traum jeweils einem<br />
an<strong>de</strong>ren Element im latenten Traum entspricht, son<strong>de</strong>rn dass sich mehrere<br />
Elemente <strong>de</strong>s latenten Traumes in einem einzigen Element <strong>de</strong>s<br />
manifesten Traumes vertreten lassen können. Auch das Umgekehrte ist<br />
möglich: dass nämlich ein einziges Element <strong>de</strong>s latenten Traumes in<br />
1515 mehreren Elementen <strong>de</strong>s manifesten Traumes vorkommt. Freud nennt<br />
diesen Vorgang <strong>de</strong>r Traumarbeit Verdichtung. Es könnte also sein, dass<br />
‘<strong>de</strong>s Lehrers Gemahlin’ (Element <strong>de</strong>s latenten Traums) sowohl im Huhn<br />
als auch im Ofen und in <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>s Schulhausabwarts ihre Entsprechung<br />
im manifesten Traum fin<strong>de</strong>t und dass an<strong>de</strong>rerseits im manifesten<br />
1520 Traumelement ‘rostiger VW’ die körperlichen Beschwer<strong>de</strong>n, die unerquickliche<br />
Situation am Arbeitsplatz und das angeschlagene Image beim<br />
Volk (Volkswagen) gleichzeitig ausgedrückt sind.<br />
2. Eine zweite Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verschiebung. Es han<strong>de</strong>lt<br />
sich dabei um eine Gewichtsverlagerung hinsichtlich <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utsamkeit<br />
1525 eines Elements. So kann auf Anhieb in unserem Beispiel z.B. <strong>de</strong>r rauchen<strong>de</strong><br />
Ofen als sehr wichtig erscheinen, aber bei einer genauen Analyse<br />
mag sich herausstellen, dass z.B. das Detail, dass er genau drei Beine<br />
hat, sehr wichtig ist.<br />
3. Eine weitere Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verkehrung ins Gegenteil.<br />
1530 So kann jemand träumen, dass er seine Sekretärin schlägt, und die Analyse<br />
zeigt dann, dass er sich unbewusst genau das Gegenteil wünscht<br />
(was immer das im jeweiligen Fall be<strong>de</strong>uten mag).<br />
4. Des weiteren scheint sich <strong>de</strong>r Traumregisseur einen Spaß daraus zu<br />
machen, <strong>de</strong>m Wortlaut einer Sache eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beizu-<br />
1535 messen. So kann jemand von einem Mantel träumen, und gemeint ist<br />
<strong>de</strong>r Mann, o<strong>de</strong>r jemand träumt von Klassenkamera<strong>de</strong>n Peter Bischof,<br />
und gemeint ist <strong>de</strong>r Bischof Petrus, nämlich <strong>de</strong>r Papst und damit die Beziehung<br />
zur Kirche und zur Religion. Und wenn jemand träumt, er reise<br />
gen Italien, so dürfte dies tatsächlich mit <strong>de</strong>n Genitalien im Zusammen-<br />
1540 hang stehen. Es läßt sich häufig die Erfahrung machen, dass uns <strong>de</strong>r<br />
‘Traumregisseur’ (wer und was das immer sei) viele solche Deutungen<br />
anbietet, sobald ‘er gemerkt’ hat, dass wir bei <strong>de</strong>r Deutung darauf achten.<br />
5. Schließlich vertritt Freud die Ansicht, dass bestimmten Gegenstän<strong>de</strong>n<br />
1545 feststehen<strong>de</strong> Symbole zugeordnet wer<strong>de</strong>n können. So schreibt Freud,<br />
nach<strong>de</strong>m er auf die Viel<strong>de</strong>utigkeit von Traumelementen hingewiesen<br />
und sich gegen eine starre Anwendung <strong>de</strong>r Traumsymbole verwahrt hat:<br />
"Der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) stellen wirklich zumeist<br />
die Eltern <strong>de</strong>s Träumers dar, Prinz o<strong>de</strong>r Prinzessin ist er selbst. <strong>Die</strong>sel-<br />
1550 be hohe Autorität wie <strong>de</strong>m Kaiser wird aber auch großen Männern zugestan<strong>de</strong>n,<br />
darum erscheint in manchen Träumen z.B. Goethe als Vatersymbol.<br />
Alle in die Länge reichen<strong>de</strong>n Objekte, Stöcke Baumstämme,<br />
Schirme (<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Erektion vergleichbaren Aufspannens wegen!), alle<br />
länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das<br />
1555 männliche Glied vertreten. Ein häufiges, nicht recht verständliches Symbol<br />
<strong>de</strong>sselben ist die Nagelfeile (<strong>de</strong>s Reibens und Schabens wegen?). –<br />
Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen <strong>de</strong>m Frauenleib,<br />
aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefäßen. Zimmer im<br />
Traume sind zumeist Frauenzimmer, die Schil<strong>de</strong>rung ihrer verschie<strong>de</strong>-<br />
1560 nen Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gera<strong>de</strong> nicht<br />
irre. Das Interesse, ob das Zimmer ‘offen’ o<strong>de</strong>r ‘verschlossen’ ist, wird in<br />
diesem Zusammenhange leicht verständlich. Welcher Schlüssel das<br />
Zimmer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu wer<strong>de</strong>n;<br />
die Symbolik von Schloss und Schlüssel hat Uhland im Lied vom ‘Gra-<br />
1565 fen Eberstein’ zur anmutigsten Zote gedient. – Der Traum, durch eine<br />
Flucht von Zimmern zu gehen, ist ein Bor<strong>de</strong>ll- o<strong>de</strong>r Haremstraum. Er<br />
wird aber, wie H. Sachs an schönen Beispielen gezeigt hat, zur Darstellung<br />
<strong>de</strong>r Ehe (Gegensatz) verwen<strong>de</strong>t. – Eine interessante Beziehung zur<br />
infantilen Sexualforschung ergibt sich, wenn <strong>de</strong>r Träumer von zwei<br />
1570 Zimmern träumt, die früher eines waren, o<strong>de</strong>r ein ihm bekanntes Zimmer<br />
einer Wohnung im Traume in zwei geteilt sieht o<strong>de</strong>r das Umgekehrte. In<br />
<strong>de</strong>r Kindheit hat man das weibliche Genitale (<strong>de</strong>n Popo) für einen einzigen<br />
Raum gehalten (die infantile Kloakentheorie) und erst später erfahren,<br />
dass diese Körperregion zwei geson<strong>de</strong>rte Höhlungen und Öffnun-<br />
1575 gen umfasst. – Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen,<br />
und zwar sowohl aufwärts wie abwärts, sind symbolische Darstellungen<br />
<strong>de</strong>s Geschlechtsaktes. – Glatte Wän<strong>de</strong>, über die man klettert,<br />
Fassa<strong>de</strong>n von Häusern, an <strong>de</strong>nen man sich – häufig unter starker Angst<br />
– herablässt, entsprechen aufrechten menschlichen Körpern, wie<strong>de</strong>rho-<br />
1580 len im Traum wahrscheinlich die Erinnerung an das Emporklettern <strong>de</strong>s<br />
kleinen Kin<strong>de</strong>s an Eltern und Pflegepersonen. <strong>Die</strong> ‘glatten’ Mauern sind<br />
Männer; an <strong>de</strong>n ‘Vorsprüngen’ <strong>de</strong>r Häuser hält man sich nicht selten in<br />
<strong>de</strong>r Traumangst fest. – Tische, ge<strong>de</strong>ckte Tische und Bretter sind gleichfalls<br />
Frauen, wohl <strong>de</strong>s Gegensatzes wegen, <strong>de</strong>r hier die Körperwölbun-<br />
1585 gen aufhebt. ‘Holz’ scheint überhaupt nach seinen sprachlichen Beziehungen<br />
ein Vertreter <strong>de</strong>s weiblichen Stoffes (Materie) zu sein. Der Name<br />
<strong>de</strong>r Insel Ma<strong>de</strong>ira be<strong>de</strong>utet im Portugiesischen: Holz. Da ‘Tisch und Bett’<br />
die Ehe ausmachen, wird im Traum häufig <strong>de</strong>r erstere für das letztere<br />
gesetzt und, soweit es angeht, <strong>de</strong>r sexuelle Vorstellungskomplex auf<br />
1590 <strong>de</strong>n Esskomplex transponiert. – Von Kleidungsstücken ist <strong>de</strong>r Hut einer<br />
Frau sehr häufig mit Sicherheit als Genitale, und zwar <strong>de</strong>s Mannes, zu<br />
<strong>de</strong>uten. Ebenso <strong>de</strong>r Mantel, wobei es dahingestellt bleibt, welcher Anteil<br />
an dieser Symbolverwendung <strong>de</strong>m Wortlaut zukommt. In Träumen <strong>de</strong>r<br />
Männer fin<strong>de</strong>t man häufig die Krawatte als Symbol <strong>de</strong>s Penis, wohl nicht<br />
1595 nur darum, weil sie lange herabhängt und für <strong>de</strong>n Mann charakteristisch<br />
ist, son<strong>de</strong>rn auch, weil man sie nach seinem Wohlgefallen auswählen<br />
kann, eine Freiheit, die beim Eigentlichen dieses Symbols von <strong>de</strong>r Natur<br />
verwehrt ist. Personen, die dieses Symbol im Traume verwen<strong>de</strong>n, treiben<br />
im Leben oft großen Luxus mit Krawatten und besitzen förmliche<br />
1600 Sammlungen von ihnen. – Alle komplizierten Maschinerien und Apparate<br />
<strong>de</strong>r Träume sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien – in <strong>de</strong>r<br />
Regel männliche –, in <strong>de</strong>ren Beschreibung sich die Traumsymbolik so<br />
unermüdlich wie die Witzarbeit erweist. Ganz unverkennbar ist es auch,<br />
dass alle Waffen und Werkzeuge zu Symbolen <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s<br />
1605 verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n: Pflug, Hammer, Flinte, Revolver, Dolch, Säbel usw.<br />
– Ebenso sind viele Landschaften <strong>de</strong>r Träume, beson<strong>de</strong>rs solche mit<br />
Brücken o<strong>de</strong>r mit bewal<strong>de</strong>ten Bergen, unschwer als Genitalbeschreibungen<br />
zu erkennen. Marcinowski hat eine Reihe von Beispielen gesammelt,<br />
in <strong>de</strong>nen die Träumer ihre Träume durch Zeichnungen erläu-<br />
1610 terten, welche die darin vorkommen<strong>de</strong>n Landschaften und Räumlichkeiten<br />
darstellen sollten. <strong>Die</strong>se Zeichnungen machen <strong>de</strong>n Unterschied von<br />
manifester und latenter Be<strong>de</strong>utung im Traume sehr anschaulich. Während<br />
sie, arglos betrachtet, Pläne, Landschaften und <strong>de</strong>rgleichen zu<br />
bringen scheinen, enthüllen sie sich einer eindringlicheren Untersu-<br />
1615 chung als Darstellung <strong>de</strong>s menschlichen Körpers, <strong>de</strong>r Genitalien usw.<br />
und ermöglichen erst nach dieser Auffassung das Verständnis <strong>de</strong>s<br />
Traumes. Auch darf man bei unverständlichen Wortneubildungen an Zusammensetzung<br />
aus Bestandteilen mit sexueller Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>nken. –<br />
Auch Kin<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten im Traume oft nichts an<strong>de</strong>res als Genitalien, wie<br />
1620 ja Männer und Frauen gewohnt sind, ihr Genitale liebkosend als ihr<br />
‘Kleines’ zu bezeichnen. Den ‘kleinen Bru<strong>de</strong>r’ hat Stekel richtig als Penis<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 13 von 19
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erkannt. Mit einem kleinen Kin<strong>de</strong> spielen, <strong>de</strong>n Kleinen schlagen usw.<br />
sind häufig Traumdarstellungen <strong>de</strong>r Onanie. – Zur symbolischen Darstellung<br />
<strong>de</strong>r Kastration dient <strong>de</strong>r Traumarbeit: die Kahlheit, das Haar-<br />
1625 schnei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Zahnausfall und das Köpfen. Als Verwahrung gegen die<br />
Kastration ist es aufzufassen, wenn eines <strong>de</strong>r gebräuchlichen Penissymbole<br />
im Traume in Doppel- o<strong>de</strong>r Mehrzahl vorkommt. Auch das Auftreten<br />
<strong>de</strong>r Ei<strong>de</strong>chse im Traume – eines Tieres, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r abgerissene<br />
Schwanz nachwächst – hat dieselbe Be<strong>de</strong>utung. – Von <strong>de</strong>n Tieren, die<br />
1630 in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, spielen<br />
mehrere auch im Traum diese Rolle: <strong>de</strong>r Fisch, die Schnecke, die<br />
Katze, die Maus (<strong>de</strong>r Genitalbehaarung wegen), vor allem aber das be<strong>de</strong>utsamste<br />
Symbol <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s, die Schlange. Kleine Tiere,<br />
Ungeziefer sind die Vertreter von kleinen Kin<strong>de</strong>rn, z. B. <strong>de</strong>r uner-<br />
1635 wünschten Geschwister; mit Ungeziefer behaftet sein ist oft gleichzusetzen<br />
<strong>de</strong>r Gravidität (= Schwangerschaft; AB). – Als ganz rezentes3<br />
Traumsymbol <strong>de</strong>s männlichen Genitales ist das Luftschiff zu erwähnen,<br />
welches sowohl durch seine Beziehung zum Fliegen wie gelegentlich<br />
durch seine Form solche Verwendung rechtfertigt." usf. (4)<br />
1640 <strong>Die</strong> Einführung feststehen<strong>de</strong>r Symbole mit zumeist sexuellen Be<strong>de</strong>utung<br />
ist insofern ein interessantes Detail <strong>de</strong>r Freudschen Theoriebildung, als<br />
ja Freud sich zuerst gegen die früher oft verwen<strong>de</strong>ten Traum<strong>de</strong>utungsbücher<br />
wen<strong>de</strong>te, in welchen Verzeichnisse von Traumbil<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>r<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung zu fin<strong>de</strong>n waren. Freud selbst hat somit<br />
1645 wie<strong>de</strong>r einen Schritt rückwärts getan und sich wie<strong>de</strong>r ein Stück weit von<br />
seiner Position entfernt, wonach <strong>de</strong>r Traum nur aufgrund <strong>de</strong>r Kenntnis<br />
<strong>de</strong>r Lebensgeschichte (anhand freier Assoziationen) <strong>de</strong>s Träumers zu<br />
<strong>de</strong>uten ist. Um Freud gegenüber nicht ungerecht zu sein, muss darum<br />
darauf hingewiesen wer<strong>de</strong>n, dass er selber nachdrücklich davor warnt,<br />
1650 "die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Symbole für die Traum<strong>de</strong>utung zu überschätzen,<br />
etwa die Arbeit <strong>de</strong>r Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken<br />
und die Technik <strong>de</strong>r Verwertung von Einfällen <strong>de</strong>s Träumers<br />
aufzugeben. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n Techniken <strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>utung müssen einan<strong>de</strong>r<br />
ergänzen; praktisch wie theoretisch verbleibt aber <strong>de</strong>r Vorrang <strong>de</strong>m zu-<br />
1655 erst beschriebenen Verfahren(5), das <strong>de</strong>n Äußerungen <strong>de</strong>s Träumers<br />
die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung beilegt, während die von uns vorgenommene<br />
Symbolübersetzung als Hilfsmittel hinzutritt." (6)<br />
Angesichts <strong>de</strong>r Komplexität <strong>de</strong>r Traumarbeit steht je<strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>uter in<br />
je<strong>de</strong>m einzelnen Falle vor einer sehr anspruchsvollen Arbeit. Denn bei<br />
1660 je<strong>de</strong>m einzelnen Element <strong>de</strong>s manifesten Traumes muß er entschei<strong>de</strong>n,<br />
ob es direkt o<strong>de</strong>r gegenteilig zu <strong>de</strong>uten ist, einer aktuellen Problematik<br />
o<strong>de</strong>r einem zurückliegen<strong>de</strong>n Problem entspricht, ein feststehen<strong>de</strong>s<br />
Symbol ist o<strong>de</strong>r beliebig durch freie Assoziation ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kann<br />
o<strong>de</strong>r als Sache o<strong>de</strong>r vom Wortlaut her ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n muss.<br />
1665 <strong>Die</strong> Vielfalt dieser Deutungsmöglichkeit eröffnet natürlich je<strong>de</strong>r Beliebigkeit<br />
Tür und Tor. So kann man beispielsweise, will man einfach irgen<strong>de</strong>ine<br />
Deutungs-Hypothese bestätigt wissen, ein nicht passen<strong>de</strong>s Element<br />
ins Gegenteil umkehren. Es braucht darum ein Kriterium, ob man<br />
als Deuter auf <strong>de</strong>r richtigen Spur ist. <strong>Die</strong>ses Kriterium ist ein gewisses<br />
1670 Evi<strong>de</strong>nz-Erlebnis <strong>de</strong>s Träumers: er spürt intuitiv, dass die Deutung<br />
stimmt und tatsächlich eine für ihn be<strong>de</strong>utsame Problematik erhellt. Allerdings<br />
kommt es auch vor, dass z.B. <strong>de</strong>r Analytiker mit einer Deutung<br />
Recht hat, aber <strong>de</strong>r Analysand die als belastend empfun<strong>de</strong>ne Wahrheit<br />
nicht annehmen kann (<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Adler’schen Individualpsychologie<br />
1675 vertraute Analytiker achtet in diesen Fällen auch auf <strong>de</strong>n sog. Erkennungsreflex<br />
(7)).<br />
7.3. Traumquellen<br />
Es ist nun zu fragen, woher <strong>de</strong>r Traum einerseits die latenten Inhalte,<br />
an<strong>de</strong>rerseits die manifesten Bil<strong>de</strong>r bezieht. Freud ist nun davon über-<br />
1680 zeugt, dass in allen latenten Träumen irgendwelche Kindheitserinnerungen<br />
zumin<strong>de</strong>st mitbeteiligt sind. In dieser Auffassung kommt seine allgemeine<br />
Ansicht zum Ausdruck, dass die – insbeson<strong>de</strong>re frühe – Kindheit<br />
für das ganze Leben von hervorragen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist und dass<br />
auch allen neurotischen Störungen irgendwelche belasten<strong>de</strong>n Erlebnis-<br />
1685 se in <strong>de</strong>r Kindheit zu Grun<strong>de</strong> liegen.<br />
Bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r konkreten Bil<strong>de</strong>r sind nach Freud vorerst einmal aktuelle<br />
somatische (körperliche) Quellen maßgebend, wobei er 3 verschie<strong>de</strong>ne<br />
Arten unterschei<strong>de</strong>t, nämlich<br />
• von äußeren Objekten ausgehen<strong>de</strong> Sinnesreize (z.B. Gerüche,<br />
Lärm)<br />
1690<br />
• subjektiv begrün<strong>de</strong>te Erregungszustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sinnesorgane<br />
(z.B. Ohrensausen)<br />
• aus <strong>de</strong>m Körperinneren stammen<strong>de</strong> Reize (z.B. Verdauungsbeschwer<strong>de</strong>n,<br />
Harndrang)<br />
1695 Wichtiger für die konkrete Gestaltung <strong>de</strong>r manifesten Bil<strong>de</strong>rwelt sind für<br />
Freud Erlebnisse <strong>de</strong>s Vortages, sog. Tagesreste. Freud setzt diese<br />
Aussage insofern absolut, als er annimmt, dass nicht etwa um einige<br />
Tage zurückliegen<strong>de</strong> Erfahrungen ausschlaggebend sind, son<strong>de</strong>rn immer<br />
solche <strong>de</strong>s Vortages. Wenn aber etwa trotz<strong>de</strong>m eine Begebenheit<br />
1700 <strong>de</strong>r letzten Woche her im Traume auftaucht, so geht Freud davon aus,<br />
dass man am Vortag zumin<strong>de</strong>st daran gedacht hat (eine Behauptung,<br />
die sich natürlich grundsätzlich nicht wi<strong>de</strong>rlegen lässt). Auch nimmt er<br />
als Grundregel an, dass allen verschie<strong>de</strong>nen manifesten Träumen einer<br />
einzigen Nacht stets <strong>de</strong>rselbe latente Traum zu Grun<strong>de</strong> liegt.<br />
1705 Anmerkung:<br />
Freud war <strong>de</strong>r Ansicht, dass alle Träume grundsätzlich egoistisch motiviert<br />
sind, d.h. im Lustprinzip wurzeln und nur insoweit <strong>de</strong>m Realitätsprinzip<br />
verpflichtet sind, als die Zensur <strong>de</strong>s Ichs negativ (also abwehrend<br />
und verschleiernd) wirkt.<br />
1710 Träume müssen aber nicht bloß Ausdruck verdrängter Es-Impulse<br />
(Wünsche) sein, son<strong>de</strong>rn können durchaus auch als Botschafter <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Ich-Instanzen fungieren (Ich, Über-Ich). Demgemäß können sie<br />
einem Menschen – ohne dass damit notwendigerweise Wünsche zum<br />
Ausdruck gebracht wer<strong>de</strong>n müssen – seine jetzige Lebenssituation wi-<br />
1715 <strong>de</strong>rspiegeln, ihn auf Gefahren aufmerksam machen und ihm aufzeigen,<br />
welche Entwicklungsschritte ihm angemessen sind. Freud lehnt einen<br />
solchen finalen Aspekt <strong>de</strong>s Traums ab, allerdings steht er aber in Übereinstimmung<br />
mit <strong>de</strong>r Jung’schen Theorie, wonach es die Lebensaufgabe<br />
je<strong>de</strong>s Menschen ist, alle wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Seiten seines Wesens mitein-<br />
1720 an<strong>de</strong>r zu versöhnen und so zu einer psychischen Ganzheit zu gelangen.<br />
Jung nennt diesen Prozess Individuation, und die Traum<strong>de</strong>utung kann<br />
eine wertvolle Hilfe sein, um dieses Ziel zu erreichen.<br />
8. Psychopathologie und Therapieziele<br />
8.1. Neurosen<br />
1725 Freud erachtet <strong>de</strong>n Unterschied zwischen "alltäglichen" existentiellen<br />
Konflikten und neurotischen Zustandsbil<strong>de</strong>rn als einen rein quantitativen.<br />
So schreibt er (Gesammelte Werke VIII, S. 338) <strong>de</strong>nn auch, daß<br />
"...die nämlichen Komplexe und Konflikte auch bei allen Gesun<strong>de</strong>n und<br />
Normalen zu erwarten sind." (8) In <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> spricht man <strong>de</strong>s-<br />
1730 halb von einer sog. "Normalpathologie", die von <strong>de</strong>r klinischen unterschie<strong>de</strong>n<br />
wird und im Gegensatz zu dieser die beruflichen und sozialen<br />
Fertigkeiten kaum negativ beeinflusst.<br />
Der Begriff ‘Neurose’ leitet sich von ‘Neuron’ (Nervenzelle) ab. Im letzten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt glaubte man alle psychischen Erkrankungen auf ein nicht<br />
1735 richtig funktionieren<strong>de</strong>s Nervensystem zurückführen zu können und benannte<br />
<strong>de</strong>mentsprechend auch die Spitäler für Geisteskranke ‘Nervenheilanstalten’.<br />
Bei einer Neurose han<strong>de</strong>lt es sich grundsätzlich um ein erworbenes<br />
psychisches Lei<strong>de</strong>n, das freilich sehr oft nicht als solches erkannt o<strong>de</strong>r<br />
1740 als Krankheit empfun<strong>de</strong>n wird. Zum Verständnis <strong>de</strong>s neurotischen Verhaltens<br />
kann man nach <strong>de</strong>m Verständnis <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> prinzipiell<br />
alle Abwehrmechanismen heranziehen. Insofern sie nämlich auf Verdrängung<br />
beruhen, <strong>de</strong>r Angstabwehr dienen und Selbsttäuschungen<br />
darstellen, haftet ihnen (wohl mit Ausnahme <strong>de</strong>r Sublimierung) insge-<br />
1745 samt etwas Krankhaftes an. So ließe sich theoretisch ‘psychische Gesundheit’<br />
als ‘Abwesenheit von jedwe<strong>de</strong>m Abwehrmechanismus’ <strong>de</strong>finieren<br />
und wäre i<strong>de</strong>ntisch mit absoluter Offenheit, Wahrhaftigkeit und<br />
Angstfreiheit. So gesehen lässt sich je<strong>de</strong>s Verhalten, das vom gesun<strong>de</strong>n<br />
abweicht, als ‘neurotisch’ bezeichnen – woraus sich eine Schlußfolge-<br />
1750 rung ziehen läßt, dass alle Menschen mehr o<strong>de</strong>r weniger stark irgendwelche<br />
neurotischen Züge an sich haben.<br />
Haben nun die neurotischen Züge eines Menschen allerdings ein ‘normales’<br />
(d.h. für ihn und die Umwelt noch erträgliches) Maß überschritten,<br />
so dass sich das krankhafte Verhalten <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Menschen<br />
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1755 verfestigt und in gewissen Situationen zwanghaft wie<strong>de</strong>rholt, so spricht<br />
man von einer etablierten Neurose. Der Übergang von ‘mit neurotischen<br />
Zügen behaftet’ zur ‘etablierten Neurose’ ist allerdings weitgehend quantitativer<br />
Natur und insofern fließend. Ob und inwieweit sich ein Mensch<br />
mit seiner Neurose in einer Psychotherapie systematisch auseinan<strong>de</strong>r-<br />
1760 setzen will, ist darum immer auch eine Frage <strong>de</strong>r erhofften und angestrebten<br />
Lebensqualität.<br />
Freud sieht in <strong>de</strong>r Neurose das Resultat einer unvollständigen Verdrängung<br />
von Es-Impulsen durch das Ich, wobei <strong>de</strong>r verdrängte Impuls trotz<br />
<strong>de</strong>r Verdrängung (verschleiert, gewissermaßen durch die Hintertür) in<br />
1765 das Bewusste und das Verhalten einbricht. Um diesen Einbruch <strong>de</strong>s Es-<br />
Impulses ins Verhalten erneut abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r psychische Organismus<br />
das neurotische Symptom aus. <strong>Die</strong>ses dient einerseits <strong>de</strong>r Ersatzbefriedigung<br />
<strong>de</strong>s verdrängten Impulses, an<strong>de</strong>rerseits (und gleichzeitig)<br />
<strong>de</strong>m Versuch, diesen - als belastend empfun<strong>de</strong>nen - Impuls endgül-<br />
1770 tig zu beseitigen.<br />
<strong>Die</strong>ses Theorem lässt sich am Beispiel eines Menschen ver<strong>de</strong>utlichen,<br />
<strong>de</strong>r mit tief sitzen<strong>de</strong>n, aber verdrängten Schuldgefühlen nicht zu Ran<strong>de</strong><br />
kommt und einen sog. "Waschzwang" ausbil<strong>de</strong>t. Offensichtlich kann es<br />
<strong>de</strong>m Ich grundsätzlich nicht gelingen, einen <strong>de</strong>rart starken Es-Impuls<br />
1775 (das Schuldgefühl) vollständig zu verdrängen. Der verdrängte Impuls tritt<br />
<strong>de</strong>shalb verschleiert, nämlich als allgegenwärtiges Gefühl, schmutzige<br />
Hän<strong>de</strong> zu haben, wie<strong>de</strong>r ins Bewusstsein ein. Um dieses lästige Gefühl<br />
abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch nun als neurotisches Symptom<br />
<strong>de</strong>n Waschzwang aus. In<strong>de</strong>m er sich nun täglich dutzen<strong>de</strong> Male<br />
1780 die Hän<strong>de</strong> heftig wäscht und bürstet, möchte er einerseits die Schuld<br />
ausgleichen (Ersatzbefriedigung) und an<strong>de</strong>rerseits die Schuldgefühle<br />
endgültig beseitigen.<br />
Freud teilt die Neurosen ein in:<br />
• Aktualneurosen mit vorwiegend vegetativen Symptomen auf<br />
1785 Grund starker Affektwirkungen auf das vegetative System im Zusammenhang<br />
eines aktuellen Konflikts (z. B. Schreckneurose,<br />
Angstneurose) und<br />
• Psychoneurosen mit psychischen o<strong>de</strong>r somatischen Symptomen,<br />
verursacht durch einen chronischen Triebkonflikt, wie unverarbeitete<br />
o<strong>de</strong>r verdrängte Kindheitserlebnisse. Zu <strong>de</strong>n Psychoneuro-<br />
1790<br />
sen zählen:<br />
• - alle Formen <strong>de</strong>r Hysterie (stets begleitet mit psychisch bedingten<br />
körperlichen Symptomen, z.B. Lähmungen, Ausfälle<br />
<strong>de</strong>r Sinnesorgane)<br />
1795 • - die Phobien (real nicht begrün<strong>de</strong>te, psychisch bedingte<br />
Furcht vor irgend einem beliebigen Objekt, einer bestimmten<br />
Situation o.ä.)<br />
• - die Zwangsneurosen (zwanghafte Wie<strong>de</strong>rholung stereotyper<br />
Verhaltensweisen)<br />
1800 • - die Charakterneurosen (Verwahrlosung, Psychopathie)<br />
Bei <strong>de</strong>r Behandlung von Psychoneurosen wird eine Nacherziehung zur<br />
Überwindung innerer Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> angepeilt.<br />
8.2. Phobien<br />
Grundsätzlich kann je<strong>de</strong>r Gegenstand o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Situation zum Zielobjekt<br />
1805 einer Phobie wer<strong>de</strong>n. So kann man sich krankhaft vor Mäusen, vor<br />
Spinnen, vor Hühnern, vor <strong>de</strong>m Eingeschlossensein in engen Räumen<br />
(Klaustrophobie), vor <strong>de</strong>m Überschreiten großer Plätze (Platzangst, A-<br />
goraphobie), vor <strong>de</strong>m Befahren von Tunneln usw. fürchten. In extremen<br />
Fällen fürchtet sich <strong>de</strong>r Phobiker nicht bloß vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s realen<br />
1810 Gegenstan<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn auch vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r sogar vor<br />
<strong>de</strong>m sprachlichen Ausdruck <strong>de</strong>s phobisch besetzten Objekts.<br />
Eine in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> berühmt gewor<strong>de</strong>ne Phobie ist die Pfer<strong>de</strong>phobie<br />
<strong>de</strong>s Knaben Hans. Freud erkannte in <strong>de</strong>r Analyse, dass Hans eine<br />
außeror<strong>de</strong>ntliche Angst vor <strong>de</strong>m Vater hatte, die er zu verdrängen<br />
1815 gezwungen war. Der Anblick <strong>de</strong>s erigierten Penis eines Pfer<strong>de</strong>s führte<br />
dann zur Assoziation mit <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Vaters, und so verschob Hans<br />
seine Angst vor <strong>de</strong>m Vater auf die Pfer<strong>de</strong>, was ihm ein ersatzweises<br />
Ausleben <strong>de</strong>r Angst gestattete.<br />
8.3. Zwangsneurosen<br />
1820 Neben <strong>de</strong>m bereits erwähnten Waschzwang kennt die <strong>Psychoanalyse</strong><br />
als weitere relativ häufig auftreten<strong>de</strong> Neuroseformen <strong>de</strong>n Zählzwang<br />
(<strong>de</strong>n Zwang, jedwe<strong>de</strong>s Ereignis, das sich wie<strong>de</strong>rholt, o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Ding,<br />
das in Serien auftritt, zu zählen), <strong>de</strong>n Lästerzwang (<strong>de</strong>n Zwang, z.B. bei<br />
<strong>de</strong>r andächtigen Stille eines Gottesdienstes, eines Theaters o<strong>de</strong>r eines<br />
1825 Konzerts laut fluchen zu müssen, auch: Koprolalie, Tourette-Syndrom),<br />
<strong>de</strong>n Reinigungszwang (alles und überall zu putzen, auch: Waschzwang),<br />
<strong>de</strong>n Berührungszwang (gewisse Gegenstän<strong>de</strong> im Sinne eines Rituals<br />
immer wie<strong>de</strong>r berühren zu müssen), <strong>de</strong>n Kontrollzwang (sich stets wie<strong>de</strong>r<br />
vergewissern müssen, ob man eine bestimmte Handlung wirklich<br />
1830 vollzogen hat), <strong>de</strong>n Sammelzwang (gewisse Dinge krankhaft anhäufen<br />
zu müssen), die Kleptomanie (<strong>de</strong>n Zwang, stehlen zu müssen), die Pyromanie<br />
(<strong>de</strong>n Zwang, Brän<strong>de</strong> legen zu müssen), verschie<strong>de</strong>ne Formen<br />
von Tics u.a.<br />
Ins Kapitel zwanghaften Verhaltens gehören auch zahlreiche sexuelle<br />
1835 Perversionen o<strong>de</strong>r Eßstörungen wie Magersucht (Anorexie; anorexia<br />
nervosa) o<strong>de</strong>r Bulimie.<br />
8.4. Von <strong>de</strong>r Vielfalt neurotischen Verhaltens<br />
In <strong>de</strong>r psychologischen Praxis zeigt es sich allerdings, dass man das<br />
neurotische Verhalten <strong>de</strong>r Klienten zumeist nicht fein säuberlich katalo-<br />
1840 gisieren kann. Letztlich kann je<strong>de</strong> beliebige Verhaltensweise neurotisch<br />
motiviert sein. Es han<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>shalb darum, in je<strong>de</strong>m einzelnen Fall<br />
jene Verhaltensweisen zu ent<strong>de</strong>cken, die mit beson<strong>de</strong>ren Ängsten verbun<strong>de</strong>n<br />
sind, die stereotyp wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sonst wie neben <strong>de</strong>r<br />
‘gesun<strong>de</strong>n Norm’ liegen. Der Katalog <strong>de</strong>r Abwehrmechanismen kann<br />
1845 dabei als eine gewisse Richtschnur dienen. Aufschlussreich ist stets<br />
auch die Art, wie ein Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert und<br />
wie er die sich ihm stellen<strong>de</strong>n Lebensaufgaben angeht.<br />
Allen Neurosen gemeinsam ist die Unfreiheit. Für Außenstehen<strong>de</strong> ist es<br />
oft schwer verständlich, dass ein Neurotiker gewisse Dinge willentlich<br />
1850 einfach nicht fertig bringt. So wie ein Drogensüchtiger zwanghaft zur<br />
Droge greift, ebenso zwanghaft wäscht sich <strong>de</strong>r Mensch mit einem<br />
Waschzwang die Hän<strong>de</strong> und ebenso zwanghaft muss jemand mit einem<br />
Kontrollzwang eine Sache nachkontrollieren, von <strong>de</strong>r er genau weiß,<br />
dass er sie 5 Minuten zuvor bereits zum zwanzigsten Mal kontrolliert<br />
1855 hat. Ein Mädchen, das an Magersucht lei<strong>de</strong>t, kann sehr wohl wissen,<br />
dass es essen sollte und dass dies allein sein Leben retten kann, und<br />
trotz<strong>de</strong>m sitzt es vor <strong>de</strong>m vollen Teller und verweigert – ohne etwa an<br />
Appetitlosigkeit zu lei<strong>de</strong>n – die Nahrungsaufnahme. Und wenn jemand,<br />
<strong>de</strong>r kommunikationsgestört ist, mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung konfrontiert wird,<br />
1860 doch ‘einfach mit <strong>de</strong>m Partner zu sprechen’, so erscheint (und ist) ihm<br />
das so unmöglich, wie wenn man einen Durchschnittsmenschen die Eigernordwand<br />
hoch steigen hieße.<br />
Wie Adler nachwies, ist mit je<strong>de</strong>r Neurose immer auch ein erhöhtes Geltungs-<br />
und Machtbedürfnis verbun<strong>de</strong>n. In aller Regel dienen neurotische<br />
1865 Symptome immer auch <strong>de</strong>r Machtausübung auf an<strong>de</strong>re, ohne dass sie<br />
sich einzig aus dieser Funktion heraus erklären ließen. Sehr oft ist das<br />
neurotische Lei<strong>de</strong>n auch mit Depressionen verbun<strong>de</strong>n, und die Liebesfähigkeit<br />
ist erheblich eingeschränkt.<br />
Neurosen sind in allen Schichten und insbeson<strong>de</strong>re bei allen Intelligenz-<br />
1870 klassen anzutreffen. Sehr oft lei<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> differenzierte und begabte<br />
Menschen an schweren Neurosen. Intelligenz schützt nicht vor <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
einer Neurose, da Neurosen zum einen wie erwähnt zumeist in<br />
<strong>de</strong>r frühen Kindheit begrün<strong>de</strong>t sind und zum an<strong>de</strong>ren vom sozialen Umfeld<br />
abhängig sind, das Kin<strong>de</strong>r ja nicht auswählen können. Größere In-<br />
1875 telligenz stellt lediglich eine gewisse Hilfe bei <strong>de</strong>r Psychotherapie dar.<br />
Das Erkennen <strong>de</strong>r Neurose mag einen ersten Schritt zur Heilung ermöglichen,<br />
ohne weitere Schritte können wird sich an seinem Problem aber<br />
üblicherweise nicht das Geringste än<strong>de</strong>rn. Gelegentlich trifft man Menschen,<br />
die beinahe wie Psychologen über ihre eigenen Neurosen, <strong>de</strong>ren<br />
1880 Entstehung und Entwicklungsgeschichte Auskunft geben können, ohne<br />
dass es ihnen je gelungen wäre, sich von ihrem Lei<strong>de</strong>n zu befreien.<br />
Nicht selten verschlimmern Versuche <strong>de</strong>r "Selbsttherapie" das Problem<br />
sogar, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>ssen Komplexität erhöht o<strong>de</strong>r die ursprüngliche Symptomatik<br />
auf eine an<strong>de</strong>re, womöglich für einen selbst unauffälligere, ver-<br />
1885 schoben wird. <strong>Die</strong> Systemische Therapie erklärt sich diesen Effekt so,<br />
daß im Sinne <strong>de</strong>r Abwehr bei Versuchen einer "Selbsttherapie" die un-<br />
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erwünschten innerpsychischen Instanzen gera<strong>de</strong>zu zu noch größerer<br />
Gegenwehr "gezwungen" wer<strong>de</strong>n. Es erinnert also gewissermaßen an<br />
Münchhausens Versuch, sich selbst am eigenen Schopf aus <strong>de</strong>m Sumpf<br />
1890 zu ziehen.<br />
9. <strong>Die</strong> psychoanalytische Technik<br />
9.1. Grundsätzliche Erwägungen<br />
So weit heute erkennbar ist, ist Psychotherapie (ob <strong>Psychoanalyse</strong> o<strong>de</strong>r<br />
eine <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wissenschaftlich anerkannten Metho<strong>de</strong>n) die einzige<br />
1895 Möglichkeit, von einer Neurose geheilt wer<strong>de</strong>n zu können. Dabei ist <strong>de</strong>r<br />
Erfolg allerdings nicht garantiert, wobei er wesentlich mehr vom Patienten<br />
(auch: Klienten, in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>: Analysan<strong>de</strong>n) als vom Psychotherapeuten<br />
(in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>: Analytiker) abhängt. <strong>Die</strong> Motivation,<br />
etwas zu unternehmen, steht jedoch zumeist in einem direkten Zu-<br />
1900 sammenhang mit <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>nsdrucks. Viele Menschen sind<br />
erst bereit, sich ihrer eigenen Psyche, ja ihrer Lebensführung insgesamt<br />
gründlich zu stellen, wenn sie unter ihren unangepassten Verhaltensweisen,<br />
Depressionen, Ängsten, Zwängen und Kommunikationsproblemen<br />
<strong>de</strong>rart lei<strong>de</strong>n, dass sie alles auf sich nehmen (also auch <strong>de</strong>n so ge-<br />
1905 fürchteten Psychotherapeuten aufsuchen), nur um Lin<strong>de</strong>rung im Lei<strong>de</strong>n<br />
erfahren zu können.<br />
Der Erfolg von gesprächsbasierten Metho<strong>de</strong>n wie im hier beschriebenen<br />
Fall <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> hängt ferner auch von <strong>de</strong>n Fähigkeiten <strong>de</strong>s<br />
Klienten ab. Nur wer über einen gewissen Intellekt, Fähigkeit <strong>de</strong>r<br />
1910 Selbstwahrnehmung (Introspektionsfähigkeit) und Beziehungsfähigkeit<br />
verfügt, nur wer grundsätzlich guten Willen hat und auch getragen ist<br />
durch einen gewissen Lebensernst, ist überhaupt zur Durchführung einer<br />
Psychotherapie, speziell einer <strong>Psychoanalyse</strong>, fähig. Weiters müssen<br />
die Betroffenen in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n psychoanalytischen Vertrag<br />
1915 (siehe unten) einzugehen. <strong>Die</strong>ser ist bei an<strong>de</strong>ren Therapieformen weniger<br />
strikt.<br />
Gut geeignet ist die analytische Metho<strong>de</strong> für alle Formen <strong>de</strong>r neurotischen<br />
Störungen - Störungen, die sich über Jahre langsam aufbauen<br />
und immer weitere Bereiche <strong>de</strong>s Lebens umfassen. Dazu gehören Per-<br />
1920 sönlichkeitsstörungen, wie mangeln<strong>de</strong>s Selbstwertgefühl, Kontaktprobleme,<br />
selbst aufgebauter Leistungszwang. Aber auch leichtere, latente<br />
Angst- und Zwangsneurosen sowie leichtere <strong>de</strong>pressive Störungen können<br />
Thema einer <strong>Psychoanalyse</strong> sein.<br />
Weniger geeignet ist eine psychoanalytische Behandlung in akut belas-<br />
1925 ten<strong>de</strong>n Lebenssituationen, somit etwa auch bei schweren Neurosen,<br />
Depressionen, Zwangserkrankungen, Psychosen und akuten Problemen<br />
wie Sucht und dgl. Denn die <strong>Psychoanalyse</strong> ist als "auf<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>s Verfahren"<br />
durch die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Kindheit für das Verständnis und die<br />
Therapie <strong>de</strong>r Krankheitssymptome als eher vergangenheitsbetont zu<br />
1930 bezeichnen – bei einer üblichen Min<strong>de</strong>sttherapiedauer von min<strong>de</strong>stens<br />
160 bis 240 Stun<strong>de</strong>n á 2-3 Stun<strong>de</strong>n pro Woche führt dies zu einer Gesamt-Therapiedauer<br />
von zumin<strong>de</strong>st 2-3 Jahren. Wird also unmittelbare<br />
therapeutische Hilfe o<strong>de</strong>r innere Stabilisierung benötigt o<strong>de</strong>r angepeilt,<br />
erfor<strong>de</strong>rt eine auf<strong>de</strong>ckend orientierte Psychotherapie wie die Psycho-<br />
1935 analyse oftmals zu viel Kraft und Durchhaltevermögen.<br />
Insgesamt lässt sich sagen, daß im Vergleich zu <strong>de</strong>n eher orthodoxen<br />
Positionen Freuds heute ganz allgemein ein weitaus größerer Indikationsbereich<br />
für die <strong>Psychoanalyse</strong> angegeben wird, wobei in zunehmen<strong>de</strong>m<br />
Maße auch die Persönlichkeitsstruktur und die Selbsterfahrung <strong>de</strong>s<br />
1940 Analytikers als Gradmesser <strong>de</strong>r Indikationsstellung betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />
9.2. Der analytische Vertrag<br />
Abgesehen davon, dass <strong>de</strong>r Analysand <strong>de</strong>n Analytiker zu bezahlen hat,<br />
gehen die bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Vertrag ein: Der Analysand erklärt seine Bereitschaft,<br />
grundsätzlich alles, was ihm bewusst wird, zu sagen, gleich-<br />
1945 gültig, ob es ihm peinlich ist, ob es ihm unsinnig, unmoralisch o<strong>de</strong>r nebensächlich<br />
erscheint o<strong>de</strong>r ob er befürchtet, damit in Schwierigkeiten zu<br />
kommen. Der Analytiker stellt <strong>de</strong>m seine Bereitschaft zur Mithilfe bei <strong>de</strong>r<br />
Deutung entgegen.<br />
9.3. Heilungsplan und therapeutische Beziehung<br />
1950 Angesichts <strong>de</strong>r Tatsache, dass je<strong>de</strong> Neurose einhergeht mit einem gegenüber<br />
<strong>de</strong>n Inhalten <strong>de</strong>s Es geschwächten Ich, besteht <strong>de</strong>r Heilungsplan<br />
grundsätzlich darin, dass sich <strong>de</strong>r Analytiker mit <strong>de</strong>m geschwächten<br />
Ich <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n verbün<strong>de</strong>t und alles daran setzt, das Ich in<br />
echter Weise zu stärken. Das kann mitunter be<strong>de</strong>uten, dass sich <strong>de</strong>r<br />
1955 Analytiker in all jenen Fällen, wo <strong>de</strong>r Analysand Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> gegen die<br />
Bewusstmachung von Es-Impulsen zeigt, auf die Seite <strong>de</strong>s Es stellen<br />
muss, um <strong>de</strong>ssen Impulsen Zugang zum Bewussten <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
zu ermöglichen o<strong>de</strong>r erleichtern.<br />
<strong>Die</strong> therapeutische Beziehung steht im Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>r analytischen<br />
1960 Arbeit. Als "Prozeßvariablen" wird hierbei <strong>de</strong>r Übertragung, <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand<br />
sowie <strong>de</strong>n Abwehrmechanismen beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit gewidmet.<br />
9.4. <strong>Die</strong> psychoanalytische Dialogstruktur (Setting)<br />
Der Analysand liegt nach Möglichkeit entspannt auf einer Couch, <strong>de</strong>r<br />
1965 Analytiker sitzt hinter ihm. Der Analysand ist aufgefor<strong>de</strong>rt, alles zu sagen,<br />
was ihm in <strong>de</strong>n Sinn kommt o<strong>de</strong>r was er empfin<strong>de</strong>t. Hierbei ist es<br />
von Wichtigkeit, daß er nicht selektiv zwischen ihm belanglos, als peinlich<br />
o<strong>de</strong>r lächerlich erscheinen<strong>de</strong>n und vermeintlich wesentlichen Inhalten<br />
auswählt ("Grundregel"). Solcherart gelangen Gedanken, bildhafte<br />
1970 Vorstellungen und Gefühle ins Bewusstsein, die sonst nur bruchstücko<strong>de</strong>r<br />
schemenhaft zugänglich wären.<br />
Der Analytiker hört zu und schenkt <strong>de</strong>m gesprochenen Wort <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
größte Aufmerksamkeit. <strong>Die</strong> Abstinenz <strong>de</strong>s Analytikers (persönliches<br />
Einbringen <strong>de</strong>s Analytikers ist in <strong>de</strong>r klassischen <strong>Psychoanalyse</strong><br />
1975 während <strong>de</strong>s gesamten Behandlungsverlaufes strengst limitiert - "Abstinenzregel")<br />
soll helfen, daß sich die persönliche Geschichte <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
möglichst wenig mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Analytikers verquickt – darüber hinaus<br />
ist sie Voraussetzung für <strong>de</strong>n Aufbau einer möglichst "reinen" Übertragung,<br />
bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Analysand – begünstigt durch das beson<strong>de</strong>re Set-<br />
1980 ting dieser Metho<strong>de</strong> – eigene Persönlichkeitsstrukturen auf <strong>de</strong>n Analytiker<br />
projiziert, und diesem damit ein wichtiges Werkzeug zur Deutung<br />
und Auf<strong>de</strong>ckung in die Hand gibt. Im ständigen Prozess von Übertragungs-<br />
und Gegenübertragungsphänomenen wer<strong>de</strong>n durch die Deutungsarbeit<br />
<strong>de</strong>s Analytikers <strong>de</strong>m Klienten die eigenen Projektionen im-<br />
1985 mer bewusster, und neue Einsichten über historische Zusammenhänge<br />
<strong>de</strong>r eigenen Persönlichkeitsentwicklung können gewonnen wer<strong>de</strong>n – sofern<br />
nicht Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Weg treten (Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> nehmen die o.e.<br />
Abwehrmechanismen an und haben für <strong>de</strong>n Patienten die Funktion, <strong>de</strong>n<br />
sekundären Krankheitsgewinn angesichts beängstigend wirken<strong>de</strong>r, neu-<br />
1990 artiger schmerzhafter Erfahrungen, die durch <strong>de</strong>n Behandlungsprozeß<br />
bewusst wer<strong>de</strong>n, nicht aufgeben zu müssen. Zum flexiblen, sinnvollen<br />
Umgang mit ihnen ist ihr Bewusstwer<strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlich – die Arbeit <strong>de</strong>s<br />
Analytikers besteht daher wesentlich in <strong>de</strong>r Bearbeitung und Deutung<br />
von Wi<strong>de</strong>rstand und Übertragung).<br />
1995 "<strong>Die</strong> Neurose <strong>de</strong>s Patienten sollte sich schließlich in eine Übertragungsneurose<br />
verwan<strong>de</strong>ln, die dann analysiert wird. <strong>Die</strong> traumatische Entstehungsgeschichte<br />
<strong>de</strong>r neurotischen Symptomatik wie<strong>de</strong>rholt sich dann in<br />
ihrem Erleben als ein auf <strong>de</strong>n Analytiker projiziertes Geschehen.<br />
Schließlich zielt die Deutungsarbeit <strong>de</strong>s Analytikers darauf ab, daß <strong>de</strong>r<br />
2000 Patient die Wie<strong>de</strong>rholung als solche begreift und dadurch als Erinnerung<br />
erkennt." (Bock, S.151)<br />
9.5. Übertragung und Gegenübertragung<br />
Freud geht davon aus, dass im Zentrum je<strong>de</strong>r neurotischen Störung<br />
letztlich stets die Elternproblematik (<strong>de</strong>r Ödipuskomplex) steht. <strong>Die</strong> ana-<br />
2005 lytische Situation ermöglicht nun <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, das Bild seiner Eltern<br />
mit all ihren emotionalen Bezügen in <strong>de</strong>n Analytiker zu projizieren.<br />
<strong>Die</strong>se Projektion <strong>de</strong>r Elternbeziehung auf <strong>de</strong>n Analytiker bezeichnet<br />
Freud als Übertragung. Da bekanntlich die Elternbeziehung im Unbewussten<br />
ambivalent ist, führt dies zu <strong>de</strong>r so genannten positiven und<br />
2010 negativen Übertragung.<br />
In aller Regelmäßigkeit stellt sich zuerst die positive Übertragung ein,<br />
die bis zur Verliebtheit in <strong>de</strong>n Analytiker bzw. zu seiner Vergötterung<br />
führen kann. Das hat beim Analysan<strong>de</strong>n zur Folge, dass er, statt gesund<br />
zu wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Analytiker gefallen will. Das führt zwar zu einer gewis-<br />
2015 sen Stärkung <strong>de</strong>s Ichs und oft zur Einstellung <strong>de</strong>r Symptome, aber nach<br />
einer gewissen Zeit pflegen sich diese – lei<strong>de</strong>r – wie<strong>de</strong>r einzustellen.<br />
Der Hauptgewinn <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin,<br />
dass <strong>de</strong>r Analytiker durch <strong>de</strong>n Umstand, dass er an die Stelle <strong>de</strong>s Vaters<br />
(allenfalls <strong>de</strong>r Mutter) gesetzt wird, Macht über das Über-Ich <strong>de</strong>s Analy-<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 16 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
2020 san<strong>de</strong>n gewinnt. Damit hat er die Möglichkeit <strong>de</strong>r Nacherziehung <strong>de</strong>s<br />
Über-Ichs, was ja in <strong>de</strong>n meisten Fällen nötig ist, da gemäß <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />
Theorie einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neurosen in einem entwe<strong>de</strong>r<br />
zu strafen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber praktisch nicht vorhan<strong>de</strong>nen Über-Ich liegt.<br />
Konkret be<strong>de</strong>utet dies, dass <strong>de</strong>r Analytiker auf all jene Aussagen, die<br />
2025 beim Analysan<strong>de</strong>n mit Schuldgefühlen verbun<strong>de</strong>n sind, an<strong>de</strong>rs als seinerzeit<br />
die Eltern reagiert, nämlich gelassen und verstehend. Das eröffnet<br />
<strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n die Möglichkeit, sich <strong>de</strong>n verdrängten Problemen<br />
mit mehr Mut und Selbstvertrauen zu stellen.<br />
Ein weiterer Vorteil <strong>de</strong>r Übertragung – <strong>de</strong>r positiven wie <strong>de</strong>r negativen –<br />
2030 liegt darin, dass <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>m Analytiker zu agieren<br />
beginnt (diverse ‘Spiele’ treibt), was diesem die Möglichkeit <strong>de</strong>r direkten<br />
Anschauung gibt. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Der Analytiker erlebt am eigenen<br />
Leib, wie sich <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>n Eltern13 verhielt (o<strong>de</strong>r<br />
noch verhält).<br />
2035 Ein potentielles Risiko <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin, daß sich<br />
<strong>de</strong>m Analytiker in dieser Phase die Möglichkeit böte, <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n<br />
in eine neue Abhängigkeit zu bringen. Es sind <strong>de</strong>shalb nur solche Menschen<br />
für diesen Beruf geeignet, die neben <strong>de</strong>r nötigen fachlichen Kompetenz<br />
auch das entsprechen<strong>de</strong> Verantwortungsbewusstsein haben.<br />
2040 Entsprechend <strong>de</strong>r ödipalen Frustration ist meist ein späteres Umkippen<br />
<strong>de</strong>r positiven in die negative Übertragung nicht zu vermei<strong>de</strong>n, was dazu<br />
führt, dass die suggestiven Erfolge <strong>de</strong>r positiven Übertragung wie<strong>de</strong>r<br />
verschwin<strong>de</strong>n. Das bringt stets die Gefahr mit sich, dass die Analyse<br />
abgebrochen wird. Der Analytiker kann es in dieser Phase <strong>de</strong>m Analy-<br />
2045 san<strong>de</strong>n oft nirgends recht machen, er erscheint ihm unfähig, <strong>de</strong>sinteressiert,<br />
egoistisch usw. Für <strong>de</strong>n Analytiker ist dies eine <strong>de</strong>r ganz großen<br />
Klippen seines Berufs, <strong>de</strong>nn vom Konzept her <strong>de</strong>utet er die Aggressionen<br />
und die Kritiklust <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n als Projektion (als Ausdruck <strong>de</strong>r<br />
negativen Übertragung), gleichzeitig aber nimmt er damit <strong>de</strong>m Analy-<br />
2050 san<strong>de</strong>n die Möglichkeit, ihn wirklich als Person und Fachmann zu kritisieren.<br />
Es erfor<strong>de</strong>rt darum von einem Analytiker viel Fähigkeit zur<br />
Selbstkritik und Selbstreflexion, wenn er die Projektionen von echter Kritik<br />
unterschei<strong>de</strong>n können will.<br />
<strong>Die</strong> Tatsache <strong>de</strong>r positiven und negativen Übertragung erfor<strong>de</strong>rt vom<br />
2055 Analytiker die Fähigkeit, einerseits die positive Projektion zu mäßigen<br />
(was Verzicht auf Eitelkeit be<strong>de</strong>utet), an<strong>de</strong>rerseits die negative vorzubereiten<br />
und sie bei <strong>de</strong>ren Eintreffen zum Gegenstand einer konstruktiven<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zu machen.<br />
Es versteht sich von selbst, dass sowohl die positive wie auch die nega-<br />
2060 tive Übertragung auch beim Analytiker Projektionen auslösen. Freud bezeichnet<br />
sie als Gegenübertragung. Es gehört zur fachlichen Kompetenz<br />
eines Analytikers, dass er in <strong>de</strong>r Lage ist, seine Gegenübertragung zu<br />
erkennen und sich davon zu distanzieren. Das ist – abgesehen von <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit <strong>de</strong>r Eigenerfahrung – einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, weshalb <strong>de</strong>r zent-<br />
2065 rale Teil einer Ausbildung zum Psychoanalytiker in <strong>de</strong>r eigenen Analyse<br />
(<strong>de</strong>r sog. Lehranalyse) besteht.<br />
9.6. <strong>Die</strong> heilen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />
Je<strong>de</strong> Psychotherapie, je<strong>de</strong> Analyse hat einen rationalen, einen emotionalen<br />
und einen Handlungsaspekt.<br />
2070 In rationaler Hinsicht besteht ein erster Heilungsschritt darin, dass im<br />
Gespräch und durch die vielen Deutungsversuche die Selbsterkenntnis<br />
<strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n erweitert wird. Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung sind die Übertragungsphänomene,<br />
alle freien Assoziationen, Träume, Fehlleistungen<br />
und das Verhalten ganz allgemein. Dabei ist wichtig, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />
2075 die Deutungen nicht forciert, da er sonst die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> im Analysan<strong>de</strong>n<br />
verstärkt o<strong>de</strong>r sie aufbaut. Darum braucht je<strong>de</strong> Analyse Zeit. Am<br />
besten ist es, wenn die Deutungen vom Analysan<strong>de</strong>n selbst gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n, damit er die neuen Erkenntnisse innerlich bestmöglich akzeptieren<br />
kann.<br />
2080 Der emotionale Aspekt einer Analyse betrifft vorerst die Arbeit an <strong>de</strong>n –<br />
grundsätzlich unvermeidlichen und auch nötigen – Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n. Es<br />
sind ja nicht Gedanken, die die neuen Erkenntnisse nicht zulassen wollen,<br />
son<strong>de</strong>rn Gefühle: Ängste, Bindungen, Triebwünsche etc. In <strong>de</strong>m<br />
Ausmaß, in <strong>de</strong>m es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zu überwin-<br />
2085 <strong>de</strong>n, verän<strong>de</strong>rn sich seine Gefühle. Ob und in welchem Masse es einem<br />
Analysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> aufzulösen, hängt natürlich stark von<br />
seiner emotionalen Beziehung zum Analytiker ab. <strong>Die</strong>s zeigt einmal<br />
mehr, dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich auf zwischenmenschliche Beziehungen<br />
angewiesen ist, und zwar nicht bloß im Rahmen einer (ausser-<br />
2090 therapeutischen) gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, son<strong>de</strong>rn auch innerhalb <strong>de</strong>s<br />
Rahmens einer Therapie.<br />
Der Handlungsaspekt <strong>de</strong>r Analyse besteht einerseits in je<strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s<br />
Agierens, und die heilen<strong>de</strong> Wirkung ergibt sich daraus, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />
auf eine an<strong>de</strong>re (nämlich gesun<strong>de</strong>) Weise als z.B. früher die Eltern<br />
2095 auf die Provokationen <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n reagiert. An<strong>de</strong>rerseits besteht<br />
<strong>de</strong>r Handlungsaspekt in <strong>de</strong>n durch die Analyse bedingten Verän<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>s Verhaltens im Alltag, <strong>de</strong>r sich dann als so etwas wie ein Ü-<br />
bungs- o<strong>de</strong>r Versuchsfeld erweist. Bewähren sich die neuen Verhaltensweisen<br />
im Alltag für <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n, vermögen sie sich zuneh-<br />
2100 mend zu festigen und in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.<br />
Es ist hier darauf hinzuweisen, dass viele Analytiker aufgrund <strong>de</strong>r<br />
grundsätzlich darauf bestehen, dass die Analysan<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Analyse<br />
keine schwerwiegen<strong>de</strong>n und irreversiblen Lebensentscheidungen<br />
(z.B. Ehescheidung) treffen, son<strong>de</strong>rn damit zuwarten, bis <strong>de</strong>r psycho-<br />
2105 analytische Prozess abgeschlossen ist.<br />
9.7. Beson<strong>de</strong>re Schwierigkeiten<br />
Je stärker die Neurose, <strong>de</strong>sto größer kann sich einerseits das Krankheits-,<br />
an<strong>de</strong>rerseits aber auch das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis zeigen.<br />
Das Krankheitsbedürfnis entspringt <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch, Schuld-<br />
2110 gefühle abzuwehren. Das erklärt die gelegentlichen Spontanheilungen<br />
nach Unglücksfällen. Für die <strong>Psychoanalyse</strong> ist dies in<strong>de</strong>s eine oft kaum<br />
zu überwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Klippe, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Analysand ist im Tiefsten <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />
dass er eigentlich das Gesund wer<strong>de</strong>n gar nicht verdient und<br />
sich darum mit seinem neurotischen Lei<strong>de</strong>n stets selbst bestrafen muss.<br />
2115 Hier hilft nur eine langwierige Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r<br />
Schuldgefühle.<br />
Wesentlich schwerwiegen<strong>de</strong>r ist das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis. Es ist <strong>de</strong>r unmittelbare<br />
Ausdruck <strong>de</strong>s Destruktionstriebes (To<strong>de</strong>striebes) und äußert sich<br />
als Trieb zur Selbstzerstörung. Freud spricht in jenen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />
2120 sich <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>strieb gewissermaßen verselbständigt und nicht mehr<br />
durch <strong>de</strong>n Eros in einem gewissen Gleichgewicht gehalten wird, von<br />
Triebentmischung. Wenn jemand vom unbewussten Drang beseelt ist,<br />
sich selbst zu zerstören, stößt die <strong>Psychoanalyse</strong> häufig an ihre Grenzen.<br />
2125 Aus systemischer Perspektive ist hier anzumerken, dass sich diese<br />
Schwierigkeiten bereits im Vorfeld einer Psychotherapie sowie im Kontext<br />
nicht freiwilliger Psychotherapie (etwa an psychiatrischen Kliniken)<br />
<strong>de</strong>utlich bemerkbar machen. Sie führen dazu, dass viele Menschen jahrelang<br />
teils schwerste psychische Belastungen ertragen, bevor sie sich<br />
2130 dazu überwin<strong>de</strong>n, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Allerdings sieht<br />
die Systemische Therapie kein Krankheits- o<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis, son<strong>de</strong>rn<br />
betrachtet Symptome teils als "sinnvolle", teils notwendige Reaktionen<br />
<strong>de</strong>s Organismus an<strong>de</strong>rs nicht mehr ertragbare, gewissermaßen<br />
auch krank machen<strong>de</strong> Lebensumgebungen. Aufgrund dieser hohen<br />
2135 Kompensationsfähigkeit <strong>de</strong>s Organismus muss <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck für die<br />
meisten Menschen bereits gewaltig und die Probleme in <strong>de</strong>ren realen<br />
Leben unüberschaubar gewor<strong>de</strong>n sein, bevor in einer Art Aufbäumen<br />
doch <strong>de</strong>r Griff zum Telefonhörer getan wird. <strong>Die</strong>s ist speziell aus Sicht<br />
<strong>de</strong>r Systemischen Therapie bedauerlich, da sie emotional, zeit- und kos-<br />
2140 tenmäßig meist mit <strong>de</strong>utlich weniger Aufwand verbun<strong>de</strong>n wäre als eine<br />
<strong>Psychoanalyse</strong>.<br />
Auf psychiatrischen Kliniken seien als Beispiel für die Auswirkungen für<br />
Selbstzerstörungs-Ten<strong>de</strong>nzen Anorexie-PatientInnen genannt, die sich<br />
mitunter selbst dann, wenn sie bereits schwerwiegen<strong>de</strong>, irreparable kör-<br />
2145 perliche Schä<strong>de</strong>n aufweisen und intravenös ernährt wer<strong>de</strong>n müssen, einer<br />
Therapie verweigern. Wobei dieses Verhalten häufig auch noch zusätzliche<br />
Grün<strong>de</strong> hat, auf die hier aber nicht näher eingegangen wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
9.8. Der Abschluss <strong>de</strong>r Therapie<br />
2150 Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine Psychotherapie macht, wird irgendwann zur Einsicht<br />
kommen, dass sich das Reservoir zu erhellen<strong>de</strong>r Konflikte nicht ausschöpfen<br />
lässt. Beson<strong>de</strong>rs <strong>Psychoanalyse</strong>n könnten wohl bis zum Le-<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 17 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
bensen<strong>de</strong> fortgesetzt wer<strong>de</strong>n, ohne dass <strong>de</strong>r Gesprächsstoff auszugehen<br />
bräuchte und <strong>de</strong>r Analysand das Gefühl hätte, völlig ‘gesund’ zu<br />
2155 sein.<br />
Wann also ist das En<strong>de</strong> einer Analyse (abgesehen von Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Geldmangels o<strong>de</strong>r irgendwelchen Ausbildungsvorschriften für künftige<br />
Analytiker) gekommen?. Sinnvoll scheint eine Beendigung dann, wenn<br />
sich die positive und negative Übertragung in eine sachliche, durch ob-<br />
2160 jektive Wahrnehmung geprägte zwischenmenschliche Beziehung umgebil<strong>de</strong>t<br />
hat, <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck gewichen ist und die schwerwiegendsten<br />
neurotischen Symptome verschwun<strong>de</strong>n sind (9). Wer sich ernsthaft einer<br />
Analyse ausgesetzt hat, wird auch feststellen, dass er im Alltag<br />
selbstbewusster, gelassener und sachlicher gewor<strong>de</strong>n ist und sich bei<br />
2165 <strong>de</strong>r Bewältigung seiner Lebensaufgaben we<strong>de</strong>r über- noch unterfor<strong>de</strong>rt<br />
fühlt.<br />
"Wo Es war, soll Ich wer<strong>de</strong>n"<br />
<strong>Die</strong>ses Zitat Freuds (10) drückt ein Behandlungsziel aus, das über eine<br />
Symptombeseitigung weit hinausgeht. Laut Freud kann das Ziel <strong>de</strong>r<br />
2170 Psychotherapie nicht allein die Symptombeseitigung sein, vor allem<br />
auch <strong>de</strong>shalb, da Konflikte nicht immer zu einer für <strong>de</strong>n Patienten befriedigen<strong>de</strong>n<br />
Lösung geführt wer<strong>de</strong>n können. Vielmehr soll es <strong>de</strong>m Patienten<br />
ermöglicht wer<strong>de</strong>n, sich zwischen einer tragfähigen Anzahl an<br />
Reaktionsmöglichkeiten frei entschei<strong>de</strong>n zu können. Lt. Kutter (14) ist<br />
2175 das am weitesten reichen<strong>de</strong> Ziel <strong>de</strong>r Psychotherapie die Sinnfindung<br />
o<strong>de</strong>r Wahrheitsfindung.<br />
Auch die Beendigung einer <strong>Psychoanalyse</strong> selbst ist eine ‘Unternehmung’,<br />
die sich (schon angesichts <strong>de</strong>r meist mehrjährigen Dauer) nicht<br />
so leichthin bewerkstelligen lässt und darum selbst zum Thema <strong>de</strong>r Ana-<br />
2180 lyse gemacht wer<strong>de</strong>n muss. Der Prozess <strong>de</strong>r Ablösung vom Therapeuten<br />
hat insofern in sich eine therapeutische Wirkung, als <strong>de</strong>r Analysand<br />
lernen muss, etwas loszulassen, das längerhin nicht mehr sehr sinnvoll<br />
ist, somit also realitätsbezogener zu wer<strong>de</strong>n.<br />
All die angeführten Ziele weisen über die Krankenbehandlung weit hin-<br />
2185 aus und erfor<strong>de</strong>rn eine hohe Motivation <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n. Verfügt er<br />
über diese beson<strong>de</strong>re Motivation, wird die kontinuierlich sich entwickeln<strong>de</strong><br />
I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>r Funktion <strong>de</strong>s Analytikers außer<strong>de</strong>m die<br />
Fähigkeit zur Selbstanalyse bewirken, was quasi <strong>de</strong>r Fortführung <strong>de</strong>s<br />
dann verinnerlichten Dialogs entspricht.<br />
2190 10. Metho<strong>de</strong>nvergleich mit <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />
Obwohl nur die wenigsten <strong>de</strong>r in dieser Arbeit erläuterten psychoanalytischen<br />
Grundbegriffe in <strong>de</strong>r täglichen Praxis <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />
eine Be<strong>de</strong>utung haben – eine implizite Rolle spielen sie bemerkenswerterweise<br />
doch. Je<strong>de</strong>m Systemischen Therapeuten sind Phänomene<br />
2195 wie z.B. "Wi<strong>de</strong>rstand", "Übertragung" und "Unbewusstes" vertraut, man<br />
befasst sich mit "Traum<strong>de</strong>utung" und an<strong>de</strong>ren Techniken, die ihre Wurzeln<br />
in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> haben - als Begrifflichkeiten o<strong>de</strong>r gar im theoretischen<br />
Grundgebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> jedoch spielen sie so gut wie keine<br />
Rolle. <strong>Die</strong>s liegt vor allem darin begrün<strong>de</strong>t, daß <strong>de</strong>r systemische An-<br />
2200 satz von völlig unterschiedlichen Prämissen und Hypothesen bezüglich<br />
psychischer Problemzusammenhänge ausgeht als die <strong>Psychoanalyse</strong>,<br />
was sich zwangsläufig auch stark auf Setting, Verlauf und Inhalt <strong>de</strong>r<br />
Therapie auswirkt.<br />
Den Analytiker könnte man als 'Experten für innerpsychische Verarbei-<br />
2205 tungsmuster und das Bewusst-machen <strong>de</strong>s Unbewussten' bezeichnen;<br />
<strong>de</strong>n Systemischen Therapeuten als 'Experte für Kommunikationsmuster<br />
und Denkfallen'. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit richtet sich in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong><br />
daher primär auf das Innerpsychische - <strong>de</strong>r Monolog <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
sowie die Übertragungsbeziehung zum Analytiker sind jene Instrumente,<br />
2210 die zum Therapieerfolg führen. <strong>Die</strong> Systemische Therapie hat <strong>de</strong>mgegenüber<br />
einen <strong>de</strong>utlich weiteren Focus – Probleme wer<strong>de</strong>n stets im<br />
Kontext betrachtet, in <strong>de</strong>m sie stattfin<strong>de</strong>n, und für <strong>de</strong>n Systemischen<br />
Therapeuten ist ein Übertragungsphänomen vor allem als Reflexionsbild<br />
für das interessant, was im "restlichen Leben" <strong>de</strong>s Klienten, also <strong>de</strong>m<br />
2215 Leben außerhalb <strong>de</strong>r Therapie, geschieht. "Verdrängte Gefühle" etwa<br />
führen nach Auffassung <strong>de</strong>r Systemischen Therapie zu Kommunikationsblocka<strong>de</strong>n<br />
und sollten im Laufe <strong>de</strong>s therapeutischen Prozesses verbalisierungsfähig<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n, um die Blocka<strong>de</strong>n zu beseitigen.<br />
<strong>Die</strong>s führt zu einem weiteren, ganz wesentlichen Unterschied bei<strong>de</strong>r<br />
2220 Therapieformen: statt auf das Lei<strong>de</strong>n und das Problem, so wie dies in<br />
<strong>de</strong>r klassischen <strong>Psychoanalyse</strong> stattfin<strong>de</strong>t, richtet die Systemische Therapie<br />
<strong>de</strong>n Focus nach vorn, auf die Lösung. Und zu diesem Zweck steht<br />
weniger die Frage, warum ein Problem existiert, im Mittelpunkt, son<strong>de</strong>rn<br />
vielmehr die, was eine Lösung <strong>de</strong>s Problems verhin<strong>de</strong>rt. Wesentlich be-<br />
2225 einflusst durch Kommunikationsforschung, Kybernetik und Konstruktivismus<br />
betrachtet da <strong>de</strong>r systemische Ansatz ein Problem nicht als etwas,<br />
das (z.B.) aufgrund <strong>de</strong>r persönlichen Geschichte sein "muss" und<br />
zu <strong>de</strong>m mühsam, in einem mitunter mehrjährigen Prozess ein Alternativweg<br />
erarbeitet wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn sie fragt: "warum bist Du noch<br />
2230 nicht da?", "was brauchst Du (noch), um <strong>de</strong>n nötigen Schritt zur Lösung<br />
tun zu können?" <strong>Die</strong> auf dieser Betrachtungsweise aufsetzen<strong>de</strong>n kurzzeittherapeutischen<br />
Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie weisen<br />
im therapeutischen Alltag laufend nach, daß eine Problembeseitigung<br />
– ausreichend austherapiert durchaus auch langfristig – mit ihnen<br />
2235 schon nach vergleichsweise kurzer Zeit erreichbar ist.<br />
Das Menschenbild <strong>de</strong>r Systemischen Therapie ist also eines, das <strong>de</strong>n<br />
Klienten grundsätzlich als selbstkompetent und (wenn auch in seinem<br />
Problemkosmos) selbst-erfahren betrachtet, als Experten also für diese<br />
ihm eigene Lebenswelt, mit <strong>de</strong>m gemeinsam geforscht wird, welche Al-<br />
2240 ternativwege, welche neuen Sichtweisen ihm dabei helfen könnte, ein<br />
angestrebtes Ziel zu erreichen, ohne dass es länger seines Symptoms,<br />
Lebensunglücks o<strong>de</strong>r seiner "Störung" bedarf.<br />
Im En<strong>de</strong>rgebnis führt dies dazu, dass Systemische Therapieansätze<br />
häufig mit <strong>de</strong>m Zusatz "lösungsorientiert" attributiert wer<strong>de</strong>n. Ihre Ansät-<br />
2245 ze sind jedoch nicht so mechanistisch und funktionsorientiert wie etwa<br />
die Verhaltenstherapie, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch als fühlen<strong>de</strong>s und mit<br />
(manchmal einer Lösung ja auch aus gutem Grund entgegengerichteten!)<br />
Bedürfnissen ausgestattetes Individuum steht im Mittelpunkt. Der<br />
Blick ist bei all<strong>de</strong>m überwiegend nach vorne gerichtet und "aufgearbei-<br />
2250 tet" wird vorwiegend nur da, wo es für das zukünftige Leben <strong>de</strong>s Klienten<br />
aus seiner und <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Therapeuten Be<strong>de</strong>utung hat .. also<br />
"Sinn" macht. Psychologisch gesehen also 'minimal-invasive Eingriffe',<br />
um im Zuge <strong>de</strong>r Therapie die positiven Resourcen <strong>de</strong>s Klienten möglichst<br />
zu stärken und zu stabilisieren, dabei aber das funktionieren<strong>de</strong><br />
2255 Gesamtsystem insgesamt möglichst wenig zu beeinflussen. <strong>Die</strong>s steht<br />
im krassen Gegensatz zu <strong>de</strong>m, was eine <strong>Psychoanalyse</strong> – schon aufgrund<br />
<strong>de</strong>s unterschiedlichen Settings – häufig mit sich bringt.<br />
Im Setting bei<strong>de</strong>r Therapieformen nämlich existieren ebenso erhebliche<br />
Unterschie<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> richtet, und dies fin<strong>de</strong>t auch im Ablauf<br />
2260 <strong>de</strong>r Analysesitzungen seinen Nie<strong>de</strong>rschlag, <strong>de</strong>n Blick auf das Individuum.<br />
Damit es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n leichter gelingt, <strong>de</strong>n Focus auf sein<br />
Inneres zu richten, liegt er in <strong>de</strong>r klassischen <strong>Psychoanalyse</strong> auf einer<br />
Couch und es besteht kein Blickkontakt zum Analytiker, <strong>de</strong>r sich auch<br />
mit verbalen Rückmeldungen sehr zurück hält. Son<strong>de</strong>rformen im Setting<br />
2265 gibt es in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rpsychoanalyse und Gruppenpsychoanalyse. Bei <strong>de</strong>r<br />
'großen Analyse' sind wöchentlich 3-4 Sitzungen erfor<strong>de</strong>rlich, bei Son<strong>de</strong>rformen<br />
o<strong>de</strong>r falls die zeitlichen o<strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re finanziellen Möglichkeiten<br />
<strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n es nicht zulassen, wer<strong>de</strong>n mitunter auch<br />
weniger Wochenstun<strong>de</strong>n vereinbart.<br />
2270 In <strong>de</strong>r Systemischen Therapie existieren eine Vielzahl von Settings11,<br />
vom dialogartigen Gespräch (Klient und Therapeut sitzen einan<strong>de</strong>r gegenüber)<br />
über Paar- und Familiensitzungen, mitunter unterstützt von<br />
Bil<strong>de</strong>rarbeit, <strong>de</strong>r Anwendung kreativer Medien, Imaginationsübungen,<br />
und spezifischer Techniken wie Timeline, Systemaufstellungen (Famili-<br />
2275 enaufstellungen), Rollenspielen, <strong>de</strong>r Arbeit mit <strong>de</strong>m Familienbrett und<br />
einigen mehr. Sitzungen fin<strong>de</strong>n je nach Problemstellung meist im Abstand<br />
von 1-3 Wochen statt, bei anhalten<strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>r Problematik<br />
haben sich nach <strong>de</strong>m eigentlichen Abschluß <strong>de</strong>r Therapie "Kontrollbesuche"<br />
in sehr großen Abstän<strong>de</strong>n (mehreren Monaten bis zu Jah-<br />
2280 ren) bewährt.<br />
Der Nachteil <strong>de</strong>s systemischen Ansatzes ist, daß eine tiefgehen<strong>de</strong> Analyse<br />
<strong>de</strong>r psychischen Zusammenhänge, das Hinabtauchen in die tiefsten<br />
Urgrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r eigenen Seele o<strong>de</strong>r auch mehrjährige Begleitung auf <strong>de</strong>m<br />
Lebensweg per se nicht möglich ist. Denn <strong>de</strong>r Schwerpunkt einer typi-<br />
2285 schen systemischen Therapiestun<strong>de</strong> liegt ja primär auf <strong>de</strong>r Suche nach<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 18 von 19
Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />
passen<strong>de</strong>n Problemlösungen, <strong>de</strong>r einer Analysestun<strong>de</strong> auf prozeßorientierter<br />
Problemanalyse (die Problemlösung erfolgt da eher begleitend<br />
und oft sind erste Ansätze dazu erst nach vielen Monaten bemerkbar).<br />
Aus praktischer Erfahrung kann ich jedoch sagen, daß manche KlientIn-<br />
2290 nen auch nach <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rgründigen "Lösung <strong>de</strong>s Hauptproblems" interessiert<br />
sind, die Therapie noch eine Weile fortzusetzen, um auch tiefere<br />
psychische Strukturen o<strong>de</strong>r latente Problematiken (die keinen akuten<br />
Problemdruck verursachen) zu bearbeiten o<strong>de</strong>r einfach nur, um die Gelegenheit<br />
zu nutzen und mit <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Arbeit an sich selbst fortzu-<br />
2295 fahren. Verlauf, Dauer und Tiefe <strong>de</strong>r Therapie bestimmt in <strong>de</strong>r ST in einem<br />
sehr starken Ausmaß also <strong>de</strong>r Klient.<br />
Auch die Rolle <strong>de</strong>s Therapeuten weist erhebliche Unterschie<strong>de</strong> auf. Der<br />
Systemische Therapeut versteht sich gewissermaßen als Begleiter und<br />
Unterstützer, <strong>de</strong>r sich mitunter auch persönlich und menschlich in die<br />
2300 Therapie einbringt. Der Analytiker dagegen muss sich, soll die Übertragungsbeziehung<br />
gelingen, möglichst genau an die Abstinenzregel halten.<br />
Eine Abgrenzung zu Metho<strong>de</strong>n und Ansätzen an<strong>de</strong>rer Therapieformen<br />
fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> naturgemäß wesentlich exakter und stren-<br />
2305 ger statt als in <strong>de</strong>r Systemischen Therapie. Grenzüberschreitungen in<br />
Bezug auf die je nach analytischer Metho<strong>de</strong> vorherrschen<strong>de</strong>n Lehrmeinungen<br />
erregen bis heute meist großes Aufsehen und Skepsis – aus<br />
<strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> sei hier an die Zerwürfnisse Freuds<br />
mit seinen Schülern C.G.Jung und Alfred Adler verwiesen, an <strong>de</strong>n regel-<br />
2310 rechten "Hinauswurf" Wilhelm Reichs aus <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Vereinigung,<br />
und in jüngerer Zeit waren es z.B. die Ansätze von Tilmann<br />
Moser12, die Körperkontakt zwischen Analytiker und Analysan<strong>de</strong>n beinhalteten,<br />
welche innerhalb <strong>de</strong>r analytischen Expertenschaft teils vehemente<br />
Kritik erfuhren. In <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie dagegen<br />
2315 sind starke ekletizistische Strömungen feststellbar, bei <strong>de</strong>nen sich mitunter<br />
sogar die Frage aufdrängt, ob tatsächlich nur jenes integriert wird,<br />
das <strong>de</strong>m Patienten nützt – o<strong>de</strong>r nicht vielmehr häufig auch solches, von<br />
<strong>de</strong>m einige TherapeutInnen meinen, dass es ihm nützen könne. Hier<br />
wür<strong>de</strong> ich mir, und das sei mir als Systemischem Therapeuten als per-<br />
2320 sönliche, abschließen<strong>de</strong> Bemerkung gestattet, eine professionellere<br />
Nutzung <strong>de</strong>s methodischen Handwerkszeugs nützen, das uns bereits in<br />
großer Fülle zur Verfügung steht und daß Neues nur dann integriert<br />
wird, wenn es nachgewiesenermaßen hilfreich ist und es auch – auch<br />
dies ein wichtiger Punkt – ausreichend methodisch beherrscht wird.<br />
2325 Ein Metho<strong>de</strong>nvergleich<br />
http://www.psychotherapiepraxis.at/therapiemetho<strong>de</strong>n.phtml#grafik<br />
(Wie in <strong>de</strong>r oben verlinkten Grafik ersichtlich, weist die <strong>Psychoanalyse</strong><br />
von ihren theoretischen Grundkonzepten her eine starke Vergangenheitsorientierung<br />
auf. Für das Verständnis von Neurosen und an<strong>de</strong>ren<br />
2330 psychischen Störungsbil<strong>de</strong>rn ist <strong>de</strong>r Verlauf <strong>de</strong>r Kindheit und frühen Jugend<br />
von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, folglich nimmt eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
und Bearbeitung dieser Lebensphase <strong>de</strong>n überwiegend größten<br />
Teil einer typischen <strong>Psychoanalyse</strong> in Anspruch. Demgegenüber geht<br />
die Systemische Therapie wie erwähnt von einem offeneren Konzept<br />
2335 aus und richtet <strong>de</strong>n Blick nach vorne, hin zur angestrebten Lösung.)<br />
11. Quellen und Ergänzungen<br />
Bock Rudolf, 1987, <strong>Psychoanalyse</strong>, Junfermann, Pa<strong>de</strong>rborn<br />
Ellenberger Henry, 1973, <strong>Die</strong> Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Unbewussten, Bern<br />
Freud Sigmund, 1993, Gesamtregister / Gesammelte Werke I-XVII, Fi-<br />
2340 scher, Frankfurt a.M.<br />
Brühlmeier Arthur, 1992, <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds<br />
<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1994, Sexualphasen nach Sigmund Freud<br />
<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1995, Das tiefenpsychologische Paradigma<br />
<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1994, <strong>Psychoanalyse</strong> und Bioenergetische Analyse:<br />
2345 ein Metho<strong>de</strong>nvergleich.<br />
<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1999, Systemische Familientherapie<br />
Kernberg Otto, 1980, Klinische <strong>Psychoanalyse</strong>, Frankfurt<br />
Kernberg Otto, 2001, Narzißtische Persönlichkeitsstörungen, Schattauer,<br />
F.K. Verlag<br />
2350 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch, Suhrkamp, Frankfurt<br />
a.M.<br />
Petzold Hilarion (Hrsg.), 1990, Wege zum Menschen (Bd.I+II), Junfermann,<br />
Pa<strong>de</strong>rborn<br />
Reich Wilhelm, 1969, Über Sigmund Freud, Nexus-Verlag, Berlin<br />
2355 Schmidbauer Wolfgang, 1988, Liebeserklärung an die <strong>Psychoanalyse</strong>,<br />
Rohwolt, Reinbek<br />
1 Freud Sigmund, 1993, Gesammelte Werke XIII, S.287<br />
2 (wenigstens zum Teil)<br />
3 (= neu auftreten<strong>de</strong>s)<br />
2360 4 Freud Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 348<br />
5 hiermit ist die freie Assoziation gemeint<br />
6 Freud Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 354<br />
7 <strong>de</strong>r sog. Erkennungsreflex drückt sich in <strong>de</strong>r Regel durch ein Lächeln,<br />
Schmunzeln, verlegenes Auflachen o<strong>de</strong>r ein Augenzwinkern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>-<br />
2365 re körpersprachliche Regungen aus.<br />
8 dieser "normalneurotische" Zustand stellt auch einen Indikator für das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Therapie (bzw. <strong>Psychoanalyse</strong>) dar.<br />
9 "normalneurotischer" Zustand, siehe auch Kapitel Neurosen"<br />
10 Freud Sigmund, Gesammelte Werke XV, S.86<br />
2370 11 <strong>Fellner</strong> R.L., 1999, Systemische Familientherapie<br />
12 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch<br />
13 (o<strong>de</strong>r auch in Paarbeziehungen); Anmerkung Richard L.<strong>Fellner</strong><br />
14 Kutter P. (Ed.), 1997, <strong>Psychoanalyse</strong> interdisziplinär; Suhrkamp,<br />
Frankfurt am Main<br />
2375 Ich ersuche, mir die zwecks leichterer Lesbarkeit gewählte Verwendung<br />
<strong>de</strong>r männlichen Form (womit ich natürlich immer auch die weiblichen<br />
Menschen meine) nachzusehen.<br />
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DSP Richard L. <strong>Fellner</strong> ist Sozialpädagoge und Psychotherapeut in<br />
2380 Wien.<br />
Nachdrucke gerne gesehen, aber nur mit Copyright-Vermerk und schriftlicher<br />
Erlaubnis <strong>de</strong>s Verfassers.<br />
Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 19 von 19