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Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />

Richard L. <strong>Fellner</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds<br />

Vorwort<br />

Warum verfaßt ein systemischer Psychotherapeut eine Abhandlung über<br />

die <strong>Psychoanalyse</strong>?<br />

Weil sie die "Mutter" <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen (westlichen) Psychotherapie ist. Ob-<br />

5 wohl die Systemische Familientherapie methodisch und theoretisch weit<br />

von diesen Wurzeln entfernt ist und ihren eigenen, erfolgreichen Weg<br />

beschritten hat (<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit<br />

gewidmet), stellt die <strong>Psychoanalyse</strong> nach wie vor eine wertvolle theoretische<br />

Basis und Bereicherung für die alltägliche therapeutische Praxis,<br />

10 aber auch zum Verständnis <strong>de</strong>r innerpsychischen Vorgänge allgemein<br />

dar. <strong>Die</strong> analytischen Theorien sind faszinierend und bereichernd, und<br />

machen das, was die Innenschau im Zuge einer Psychotherapie (welcher<br />

Metho<strong>de</strong> auch immer) zeigt und auf<strong>de</strong>ckt, verstehbarer und vor allem<br />

auch in Begrifflichkeiten faßbarer – was eine ganz wesentliche Vor-<br />

15 aussetzung für psychische Verarbeitung, Lernen und weiterführen<strong>de</strong><br />

Selbsterkenntnis ist.<br />

Auch heute ist es sinnvoll und für ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>s eigenen<br />

Seelenlebens hilfreich, die Grundlagen <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> zu kennen,<br />

wenn auch die (klassisch angewandte) Metho<strong>de</strong> selbst mittlerweile ü-<br />

20 berholt, ja in manchen Bereichen sogar unzeitgemäß anmutet. Insbeson<strong>de</strong>re<br />

in <strong>de</strong>n verfeinerten Techniken und Anwendungsbereichen wie<br />

psychoanalytischer Sozialtherapie, <strong>de</strong>r psychoanalytischen Kin<strong>de</strong>rtherapie,<br />

<strong>de</strong>r psychoanalytischen Gruppentherapie und <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />

Psychotherapie hat sie nach wie vor ihre Be<strong>de</strong>utung. Auch von ih-<br />

25 rem historischen Stellenwert als "Mutter" <strong>de</strong>r unzähligen, direkt o<strong>de</strong>r indirekt<br />

aus ihr hervorgegangenen mo<strong>de</strong>rnen Therapiemetho<strong>de</strong>n her verdient<br />

sie es, näher betrachtet zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Als Basis <strong>de</strong>s Textes dienten diverse von mir verfaßte Arbeiten und Aufsätze<br />

zur <strong>Psychoanalyse</strong> sowie einer von Arthur Brühlmeier. Er hat mir<br />

30 freundlicherweise – und ich möchte ihm an dieser Stelle nochmals meinen<br />

ausdrücklichen Dank dafür aussprechen - gestattet, meine Abhandlung<br />

auf seiner ebenfalls sehr umfassen<strong>de</strong>n Arbeit zur <strong>Psychoanalyse</strong><br />

Freuds aufzubauen. Ich habe diese dann in Teilbereichen komplett ü-<br />

berarbeitet, um das in meinen Archiven lagern<strong>de</strong> eigene Material zur<br />

35 Metho<strong>de</strong> ergänzt und bin somit nun in <strong>de</strong>r Lage, eine aktualisierte, und<br />

insgesamt recht <strong>de</strong>taillierte Übersicht über die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong><br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

Ich hoffe beschei<strong>de</strong>n, daß sie Interessierten zu einem besseren Verständnis<br />

<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> und ihrer Begrifflichkeiten und Psychotherapie-<br />

40 PatientInnen zu einer weiterführen<strong>de</strong>n Vernetzung <strong>de</strong>s in Ihrer Therapie<br />

Erfahrenen dienen möge – welche Metho<strong>de</strong> auch immer dort zur Anwendung<br />

kommen mag.<br />

dsp Richard L. <strong>Fellner</strong> Wien, im Mai 2004<br />

aus:<br />

http://www.psychotherapiepraxis.at/art/psychoanalyse/psychoanalyse.phtml<br />

1. EINLEITUNG .............................................................................................2<br />

1.1. WURZELN UND ENTWICKLUNG DER PSYCHOANALYSE ........................2<br />

1.2. DER BEGRIFF "PSYCHOANALYSE" .....................................................2<br />

1.3. GRUNDHYPOTHESEN.........................................................................2<br />

2. PERSÖNLICHKEITSMODELLE UND MENSCHENBILD........................2<br />

2.1. DAS TOPOLOGISCHE MODELL............................................................3<br />

2.1.1. Das Bewusstsein .................................................................3<br />

2.1.2. Das Vorbewusste.................................................................3<br />

2.2. DAS STRUKTUR-MODELL ..................................................................3<br />

2.2.1. Das Es..................................................................................3<br />

2.2.2. Das Ich.................................................................................3<br />

2.2.3. Das Über-Ich........................................................................3<br />

3. ZUGÄNGE ZUM UNBEWUSSTEN...........................................................4<br />

3.1. HYPNOSE .........................................................................................4<br />

3.2. DEUTUNG VON FEHLLEISTUNGEN ......................................................4<br />

3.3. FREIE ASSOZIATION ..........................................................................4<br />

3.4. DEUTUNG VON SYMPTOMEN UND VERHALTENSWEISEN......................4<br />

3.5. TRAUMDEUTUNG...............................................................................4<br />

3.6. PROJEKTIVE TESTS...........................................................................4<br />

4. TRIEBLEHRE ............................................................................................4<br />

4.1. LIBIDO ..............................................................................................5<br />

5. DIE ABWEHRMECHANISMEN.................................................................5<br />

5.1. VERDRÄNGUNG.................................................................................5<br />

5.2. REGRESSION ....................................................................................5<br />

5.3. RATIONALISIERUNG...........................................................................6<br />

5.4. PROJEKTION .....................................................................................6<br />

5.5. INTROJEKTION...................................................................................6<br />

5.6. IDENTIFIKATION.................................................................................6<br />

5.7. KONVERSION ....................................................................................7<br />

5.8. REAKTIONSBILDUNG..........................................................................7<br />

5.9. KOMPENSATION ................................................................................7<br />

5.10. AUTOAGGRESSION ......................................................................7<br />

5.11. SUBSTITUTION.............................................................................8<br />

5.12. REALITÄTSLEUGNUNG / VERLEUGNUNG .......................................8<br />

5.13. SUBLIMIERUNG............................................................................8<br />

5.14. VERSCHIEBUNG...........................................................................8<br />

5.15. UNGESCHEHEN MACHEN..............................................................8<br />

5.16. FLUCHT IN DIE GESUNDHEIT ........................................................8<br />

6. DIE PSYCHOSEXUELLE ENTWICKLUNG .............................................8<br />

6.1. ORALE PHASE ..................................................................................9<br />

6.2. ANALE PHASE.................................................................................10<br />

6.3. PHALLISCHE PHASE ........................................................................10<br />

6.3.1. Ödipuskomplex..................................................................11<br />

6.4. LATENZZEIT ....................................................................................11<br />

6.5. GENITALE PHASE: PUBERTÄT, ADOLESZENZ,<br />

ERWACHSENENSEXUALITÄT ............................................................11<br />

7. DIE TRAUMDEUTUNG...........................................................................12<br />

7.1. ZWECK UND WESEN DES TRAUMES.................................................12<br />

7.2. LATENTER UND MANIFESTER TRAUM, TRAUMDEUTUNG UND<br />

TRAUMARBEIT .................................................................................................12<br />

7.3. TRAUMQUELLEN..............................................................................14<br />

8. PSYCHOPATHOLOGIE UND THERAPIEZIELE ...................................14<br />

8.1. NEUROSEN .....................................................................................14<br />

8.2. PHOBIEN.........................................................................................15<br />

8.3. ZWANGSNEUROSEN ........................................................................15<br />

8.4. VON DER VIELFALT NEUROTISCHEN VERHALTENS............................15<br />

9. DIE PSYCHOANALYTISCHE TECHNIK................................................16<br />

9.1. GRUNDSÄTZLICHE ERWÄGUNGEN....................................................16<br />

9.2. DER ANALYTISCHE VERTRAG...........................................................16<br />

9.3. HEILUNGSPLAN UND THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG .........................16<br />

9.4. DIE PSYCHOANALYTISCHE DIALOGSTRUKTUR (SETTING)..................16<br />

9.5. ÜBERTRAGUNG UND GEGENÜBERTRAGUNG.....................................16<br />

9.6. DIE HEILENDEN WIRKUNGEN ...........................................................17<br />

9.7. BESONDERE SCHWIERIGKEITEN ......................................................17<br />

9.8. DER ABSCHLUSS DER THERAPIE .....................................................17<br />

10. METHODENVERGLEICH MIT DER SYSTEMISCHEN THERAPIE18<br />

11. QUELLEN UND ERGÄNZUNGEN....................................................19<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 1 von 19


Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />

1. Einleitung<br />

45 1.1. Wurzeln und Entwicklung <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong><br />

<strong>Die</strong> Genese <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Metho<strong>de</strong> kann nur im historischen<br />

Kontext verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. So wer<strong>de</strong>n für Ellenberger(1) bereits bei<br />

<strong>de</strong>n Griechen erste Ansätze einer "Forschung nach <strong>de</strong>m Unbewussten"<br />

erkennbar, aber auch schamanistische Techniken sowie gewisse Prakti-<br />

50 ken <strong>de</strong>s katholischen Exorzismus o<strong>de</strong>r Mesmer’s Magnetismus wer<strong>de</strong>n<br />

als wichtige methodische Vorläufer <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie erachtet.<br />

Sigmund Freud wur<strong>de</strong> am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg<br />

(Mähren) geboren, in <strong>de</strong>m sein Vater als Geschäftsmann tätig war.<br />

<strong>Die</strong> Familie übersie<strong>de</strong>lte 1860 nach Wien, wo Freud bis zur Besetzung<br />

55 Österreichs durch Hitler im Jahre 1938 lebte und wirkte. Er besuchte<br />

hier das Gymnasium, studierte Medizin und arbeitete von 1876 – 1882<br />

als Assistent im physiologischen Laboratorium von Prof. Ernst Brücke,<br />

wo er sich vor allem mit <strong>de</strong>m Nervensystem nie<strong>de</strong>rer Fischarten beschäftigte.<br />

60 Freud setzte seine Arbeit später als Arzt im Allgemeinen Krankenhaus<br />

fort, begleitet von seinen Forschungen, insbeson<strong>de</strong>re über das Zentralnervensystem<br />

<strong>de</strong>s Menschen. Bald galt er in Wien als führen<strong>de</strong>r Neurologe<br />

(Nervenarzt). 1885 fuhr er nach Paris, um sich bei Professor Charcot,<br />

<strong>de</strong>r damals führen<strong>de</strong>n Kapazität auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Neurologie,<br />

65 weiterzubil<strong>de</strong>n. Bei ihm lernte Freud die Hypnose kennen, die damals<br />

von <strong>de</strong>n meisten Psychiatern als Schwin<strong>de</strong>l betrachtet wur<strong>de</strong>, und in<br />

diesem Zusammenhang auch eine damals als Hysterie bezeichnete<br />

Krankheitsform, welche man in Paris mittels <strong>de</strong>r Hypnose mit einigem<br />

Erfolg behan<strong>de</strong>lte. Freud setzte die Hypnose zunächst gemeinsam mit<br />

70 Breuer primär zur Befreiung "verklemmter" Affekte ein, verzichtete aber<br />

im Laufe seiner Arbeit zunehmend auf diese suggestive Technik (Grün<strong>de</strong><br />

hiefür waren u.a. gegen die Hypnose resistente Symptome, die Tatsache,<br />

daß nicht alle Klienten ausreichend suggestibel sind, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />

nur umgangen wer<strong>de</strong>n und einige mehr).<br />

75 Er kehrte 1886 nach Wien zurück und entwickelte als Inhaber einer eigenen<br />

Arztpraxis in einer mehrjährigen, anstrengen<strong>de</strong>n Forscherarbeit<br />

die <strong>Psychoanalyse</strong>. <strong>Die</strong> Hypnose ersetzte er dabei zunächst durch die<br />

Techniken<br />

• <strong>de</strong>r freien Assoziation,<br />

80 • <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstandsanalyse sowie<br />

• <strong>de</strong>r "Couch-Technik" (zwecks Erleichterung <strong>de</strong>r Übertragung<br />

od. Regression)<br />

als wesentlichste Verfahren. 1896 wur<strong>de</strong> erstmals von ihm <strong>de</strong>r Begriff<br />

"<strong>Psychoanalyse</strong>" verwen<strong>de</strong>t - in dieser Zeit wird auch die Geburt <strong>de</strong>r<br />

85 mo<strong>de</strong>rnen Psychotherapie angesetzt. Über Jahrzehnte hinweg verdiente<br />

er <strong>de</strong>n Unterhalt für seine achtköpfige Familie mit <strong>Psychoanalyse</strong>n und<br />

schrieb abends an seinen theoretischen Abhandlungen.<br />

In Wien scharte Freud einen Kreis interessierter Ärzte um sich und<br />

grün<strong>de</strong>te mit ihnen (zu Beginn auch mit Adler) und in Zusammenarbeit<br />

90 mit Bleuler und C.G. Jung in Zürich die so genannte "Psychoanalytische<br />

Vereinigung". Er musste lange um <strong>de</strong>ren wissenschaftliche Anerkennung<br />

kämpfen und entwickelte dabei teils auch autoritäre und regelrecht<br />

fanatische Züge. Seine Schriften in<strong>de</strong>s zeichnen sich durch distanzierte<br />

wissenschaftliche Sachlichkeit und eine klassische Sprache aus.<br />

95 Nach <strong>de</strong>r Besetzung Österreichs durch Hitler, bereits schwer gezeichnet<br />

durch Gaumenkrebs (vermutlich eine Folge <strong>de</strong>s jahrzehntelangen Kettenrauchens<br />

von Zigarren) emigrierte Freud nach London, wo er 1939<br />

starb.<br />

<strong>Die</strong> folgen<strong>de</strong> Übersicht über die Metho<strong>de</strong>n und Ansätze <strong>de</strong>r Psychoana-<br />

100 lyse kann natürlich nur einen Abriß über die wichtigsten Aspekte bieten.<br />

Sein mittlerweile schon über 100 Jahre alter Ansatz wur<strong>de</strong> von Freud<br />

selbst im Laufe <strong>de</strong>r Jahrzehnte mehrmals überarbeitet und auch seit<br />

seinem Tod erfuhr die <strong>Psychoanalyse</strong> eine Weiterentwicklung, Aspekte<br />

und Ansätze, die im letzten Teil dieser Arbeit aufgezeigt wer<strong>de</strong>n sollen.<br />

105 Der Ansatz <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> war damals völlig neu und revolutionär.<br />

Er eröffnete völlig neue Sichtweisen und weiterführen<strong>de</strong> Denkansätze<br />

hinsichtlich <strong>de</strong>r Heilungsmöglichkeiten für <strong>de</strong>n Menschen. Der daraus<br />

folgen<strong>de</strong>, intensive Diskurs innerhalb <strong>de</strong>r psychoanalytischen Vereinigung,<br />

aber auch <strong>de</strong>r Umgang von Freud mit seinen Kritikern führte so-<br />

110 dann zu fortlaufen<strong>de</strong>n Abspaltungen vom "Stamm" <strong>Psychoanalyse</strong>, immer<br />

weiteren Neuentwicklungen und Ansätzen. Klassische Beispiele<br />

hierfür sind Alfred Adler (Individualpsychologie), Carl Gustav Jung (Analytische<br />

Psychologie), L. Szondi (Schicksalsanalyse), Ludwig Binswanger<br />

und Medard Boss (Daseinsanalyse), Arthur Janov (Primärtherapie)<br />

115 sowie alle (teilweise marxistisch ausgerichteten) Richtungen <strong>de</strong>r Neo-<br />

<strong>Psychoanalyse</strong> wie z.B. Erich Fromm und Harald Schultz-Hencke.<br />

<strong>Die</strong> psychoanalytische Theorie ist außeror<strong>de</strong>ntlich komplex und in Teilbereichen<br />

selbst für Fachleute schwer verstehbar. Selbst C.G. Jung flehte<br />

Freud nach Jahren <strong>de</strong>r Zusammenarbeit in einem Brief an, er möge<br />

120 ihm doch erklären, was er eigentlich mit ‘Libido’ meine. Eine abrisshafte<br />

Darstellung <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> kann daher in je<strong>de</strong>m Falle nur stark vereinfachend<br />

erfolgen und die Arbeit lediglich <strong>de</strong>n Anspruch erheben, eine<br />

Einführung in das psychoanalytische Denken zu geben.<br />

1.2. Der Begriff "<strong>Psychoanalyse</strong>"<br />

125 Der Begriff ‘<strong>Psychoanalyse</strong>’ wird heute in drei Be<strong>de</strong>utungen verwen<strong>de</strong>t:<br />

• als tiefenpsychologische Forschungsmetho<strong>de</strong> ("Freud gewann<br />

seine psychologischen Erkenntnisse durch Psycho[-<br />

]Analyse.")<br />

• als Inbegriff <strong>de</strong>r Freudschen Lehre ("<strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong><br />

misst <strong>de</strong>r Sexualität eine fundamentale Be<strong>de</strong>utung zu.")<br />

130<br />

• als Heilmetho<strong>de</strong> (Therapie-Form) ("Als Psychotherapie-<br />

Metho<strong>de</strong> wird <strong>Psychoanalyse</strong> empfohlen.")<br />

1.3. Grundhypothesen<br />

Unter einer Hypothese wird eine grundlegen<strong>de</strong> Annahme verstan<strong>de</strong>n,<br />

135 welche als unbewiesen zu gelten hat, auf welcher aber weitere theoretische<br />

Aussagen aufgebaut sein können.<br />

a) Grundlegend für die <strong>Psychoanalyse</strong> ist die Annahme <strong>de</strong>r ganzen Tiefenpsychologie,<br />

dass es ‘das Unbewusste’ gibt, einen Bereich also, zu<br />

<strong>de</strong>m das Individuum praktisch kaum einen Zugang hat, <strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>ssen<br />

140 Handlungen stark beeinflusst o<strong>de</strong>r bestimmt (<strong>de</strong>terminiert).<br />

<strong>Die</strong> Annahme eines Unbewussten mit so weit reichen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />

versetzt <strong>de</strong>m Glauben <strong>de</strong>s Rationalismus, dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich<br />

vernünftig zu han<strong>de</strong>ln weiß und mittels vernünftigem Han<strong>de</strong>ln auch<br />

eine vernünftige Welt aufbauen kann, einen argen Stoß. Es verwun<strong>de</strong>rt<br />

145 daher nicht, daß Freud damals mit seiner Annahme bei vielen Wissenschaftern<br />

und Theoretikern auf Ablehnung stieß.<br />

b) <strong>Die</strong> zweite grundlegen<strong>de</strong> Hypothese besagt, dass psychisches Geschehen<br />

grundsätzlich kausal <strong>de</strong>terminiert ist, dass also das Psychische<br />

genauso wie das Organische und Mineralische <strong>de</strong>m Gesetz von Ursa-<br />

150 che und Wirkung unterworfen ist. Wür<strong>de</strong> man also sämtliche psychische<br />

Ursachen kennen, könnte man gemäß dieser Grundannahme je<strong>de</strong>s weitere<br />

Verhalten und psychische Geschehen mit Sicherheit voraussagen.<br />

Freud wur<strong>de</strong> im materialistischen Geist <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts erzogen<br />

und blieb diesem Denken weitgehend bis an sein Lebensen<strong>de</strong> treu. Er<br />

155 teilt insofern <strong>de</strong>n typisch materialistischen Reduktionismus, <strong>de</strong>r darin<br />

besteht, dass das Geistige auf das Psychische, das Psychische auf das<br />

Organische und das Organische auf das Mineralische zurückgeführt<br />

wird. Leben, Psychisches und Geistiges sind <strong>de</strong>mnach letztlich insgesamt<br />

Ausflüsse <strong>de</strong>r Materie und können unmöglich unabhängig von die-<br />

160 ser bestehen. Im Rahmen dieses Denkens ist z.B. die Vorstellung eines<br />

individuellen Weiterlebens einer prinzipiell vom Körper lösbaren Seele<br />

nach <strong>de</strong>m physischen To<strong>de</strong> un<strong>de</strong>nkbar. Auch wi<strong>de</strong>rspricht diesem Denken<br />

grundsätzlich die Vorstellung, <strong>de</strong>r Mensch könne frei han<strong>de</strong>ln. Wie<br />

uns Freud-Forscher mitteilen, kommt das Wort ‘Freiheit’ in Freud's Wer-<br />

165 ken insgesamt nur sieben Mal vor – und selbst das nur "en passant". <strong>Die</strong><br />

Vermutung liegt nahe, daß für Freud die Unmöglichkeit wirklich freien<br />

Han<strong>de</strong>lns so selbstverständlich war, dass er nicht einmal auf die I<strong>de</strong>e<br />

kam, sich darüber theoretisch zu äußern.<br />

2. Persönlichkeitsmo<strong>de</strong>lle und Menschenbild<br />

170 Angesichts <strong>de</strong>r Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> ist es heute nicht mehr<br />

möglich, von <strong>de</strong>m Menschenbild <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> zu sprechen – dieses<br />

variiert vielmehr nach <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ologischen Position <strong>de</strong>s Analytikers.<br />

Das Menschenbild von Sigmund Freud, <strong>de</strong>m »Vater <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>«,<br />

war in <strong>de</strong>r Philosophie <strong>de</strong>s Humanismus und <strong>de</strong>r Aufklärung ver-<br />

175 wurzelt, allerdings wur<strong>de</strong> diese Philosophie durch ihn ("<strong>Die</strong> Menschheit<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 2 von 19


Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />

hat gewußt, daß sie Geist hat; ich mußte ihr zeigen, daß es auch Triebe<br />

gibt") selbst beeinflusst. Freuds Menschenbild impliziert einen "psychischen<br />

Apparat", ist also zum Teil als mechanistisch zu bezeichnen.<br />

Der Mensch zeichnet sich durch elementare, im Unbewussten gegrün-<br />

180 <strong>de</strong>te Triebregungen aus, die auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher<br />

Bedürfnisse zielen und quasi <strong>de</strong>n "Urgrund" <strong>de</strong>r menschlichen Persönlichkeit<br />

bil<strong>de</strong>n. Auch heute wird in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> hierbei <strong>de</strong>r Sexualität<br />

eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beigemessen. Bedingt durch die Irrationalität<br />

<strong>de</strong>r Triebstruktur wird ein Determinismus angenommen, <strong>de</strong>r<br />

185 letztlich die menschliche Willensfreiheit in Frage stellt. Das Ich befin<strong>de</strong>t<br />

sich permanent in einem Spannungsfeld zwischen Trieb-, Realitäts- und<br />

Gewissensansprüchen – Freud beschreibt das Ich als eine "Angststätte"(1)<br />

und betrachtet <strong>de</strong>n Menschen als Konfliktwesen – ständig überfor<strong>de</strong>rt<br />

beim Versuch, zwischen diesen Polaritäten zu vermitteln. In <strong>de</strong>r<br />

190 Mo<strong>de</strong>rne erfolgt zusätzlich noch eine ständige Konfrontation mit <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nsten apokalyptischen Gefahren.<br />

Kunst, Religion, ja alle geistigen Produktionen sind lediglich Produkte<br />

<strong>de</strong>r Triebsublimierung und entsprechen <strong>de</strong>n analogen Kompromißbildungen<br />

beispielsweise <strong>de</strong>s Traumes und <strong>de</strong>r Neurose.<br />

195 Das Menschenbild ist jedoch auch heute noch nicht abgeschlossen, wird<br />

vielmehr bei je<strong>de</strong>r Analyse vom Analysan<strong>de</strong>n für sich neu er- o<strong>de</strong>r wenigstens<br />

bearbeitet (biographische Rekonstruktion) – was einen entsprechen<strong>de</strong>n<br />

Umgang <strong>de</strong>s Analytikers mit <strong>de</strong>ssen Gegenübertragung<br />

voraussetzt. So ist etwa gegenwärtig eine Weiterdifferenzierung zu ei-<br />

200 nem höchst komplexen Personenbegriff festzustellen. Wichtig scheint es<br />

auch, das i<strong>de</strong>ologiekritische Potential <strong>de</strong>r Psychotherapie zu erwähnen<br />

(Freud, Reich!), da sie über einen ständigen Prozeß immer neuer Entmystifizierungen<br />

zu einem immer offeneren Menschenbild führen kann.<br />

2.1. Das topologische Mo<strong>de</strong>ll<br />

205 Auf <strong>de</strong>r Suche nach Bereichen, in <strong>de</strong>nen sich psychisches Geschehen<br />

abspielt, <strong>de</strong>finierte Freud drei Schauplätze:<br />

2.1.1. Das Bewusstsein<br />

Was mit "Bewusstsein" gemeint ist, weiß je<strong>de</strong>r vermutlich aus eigenem<br />

Erleben. Eine genauere Charakterisierung dieses so geheimnisvollen<br />

210 Phänomens jedoch (nämlich, dass eine Wesenheit um ihre eigene Existenz<br />

weiß und auch weiß, dass sie es weiß) erfor<strong>de</strong>rt sehr weit reichen<strong>de</strong><br />

philosophische Erwägungen, die <strong>de</strong>n Rahmen dieser Übersicht<br />

sprengen wür<strong>de</strong>n.<br />

2.1.2. Das Vorbewusste<br />

215 Unter <strong>de</strong>m Vorbewussten versteht Freud jenen Bereich von Inhalten, die<br />

zwar im Augenblick nicht bewusst, aber grundsätzlich (etwa durch "Konzentration")<br />

<strong>de</strong>m Bewusstsein zugänglich gemacht wer<strong>de</strong>n können, also<br />

das Gedächtnis, die Erinnerung, <strong>de</strong>n Sprachschatz und erworbene Fertigkeiten.<br />

220 2.1.3. Das Unbewusste<br />

Das Unbewusste ist jener Bereich, in <strong>de</strong>m sich Inhalte, die nicht ins Bewusstsein<br />

gelangt sind o<strong>de</strong>r kommen können, aber auch alles Verdrängte<br />

befin<strong>de</strong>t.<br />

Innerhalb <strong>de</strong>s Unbewussten lassen sich nach ihrer Herkunft zwei Anteile<br />

225 unterschei<strong>de</strong>n:<br />

• die ererbte biologische Grundausstattung <strong>de</strong>s Menschen,<br />

insbeson<strong>de</strong>re die biologischen Grundtriebe (Hunger, Durst,<br />

Sexualtrieb, etc.)<br />

• Wünsche, Strebungen, Vorstellungen, Erlebnisse etc., die im<br />

230 Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung irgendwann einmal bewusst waren,<br />

aber aus <strong>de</strong>m Bewusstsein verdrängt wur<strong>de</strong>n, weil sie mit<br />

Realitäts- und Erziehungsansprüchen in Konflikt gerieten.<br />

Das Unbewusste beeinflusst unsere Handlungen, unsere Denkvorgänge<br />

und Emotionen, setzt aber <strong>de</strong>m bewussten Versuch, sich an sie zu erin-<br />

235 nern, Wi<strong>de</strong>rstand entgegen. Im Gegensatz zum Vorbewussten und Bewussten<br />

haben die unbewussten psychischen Inhalte dadurch keinen direkten<br />

Zugang zum Bewusstsein, son<strong>de</strong>rn sie sind nur aus ihren Auswirkungen<br />

auf Bewusstseinsvorgänge (wozu z.B. die Fehlleistungen<br />

zählen) o<strong>de</strong>r durch bestimmte Techniken (z.B. Hypnose, Traum<strong>de</strong>utung<br />

240 u.a.) zu erschließen. Dazu später mehr.<br />

2.2. Das Struktur-Mo<strong>de</strong>ll<br />

Freud differenzierte später sein topographisches Mo<strong>de</strong>ll, als er nach <strong>de</strong>n<br />

Instanzen fragte, welche für psychisches Geschehen verantwortlich<br />

sind, also z.B.: Wer bewirkt was? Er betrachtete das Seelenleben als ei-<br />

245 nen aus Einzelteilen zusammengesetzten Apparat (die Lehre vom psychischen<br />

Apparat ist eine <strong>de</strong>r grundlegendsten Anschauungen <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>).<br />

Freud unterschei<strong>de</strong>t hierbei drei Instanzen:<br />

2.2.1. Das Es<br />

Das Es hat zwei Aspekte: zum einen ist es das natürlich Gegebene wie<br />

250 ererbte und konstitutionelle Anlagen, Geschlechtszugehörigkeit, Triebe<br />

und archaische Bil<strong>de</strong>r (bei Jung: Archetypen). Zum an<strong>de</strong>ren ist es das<br />

Auffangbecken von allem Verdrängten, das weiterhin aus <strong>de</strong>m Es heraus<br />

wirkt und psychisches Geschehen beeinflusst.<br />

Das Es ist mit einem Hexenkessel vergleichbar: einem Konglomerat von<br />

255 Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Strebungen ohne Logik,<br />

ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Maß, ohne Rücksicht sogar auf<br />

die Selbsterhaltung, einzig <strong>de</strong>m Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung<br />

verpflichtet. <strong>Die</strong>ses vorherrschen<strong>de</strong> Prinzip <strong>de</strong>s Es wird als<br />

Primärvorgang bezeichnet, <strong>de</strong>ssen Ziel die unmittelbare Triebbefriedi-<br />

260 gung o<strong>de</strong>r Wunscherfüllung ist (Lustprinzip). Seine Arbeitsweise ist aus<br />

seinen ins Bewusstsein vordringen<strong>de</strong>n Abkömmlingen wie Träume, Tagträume,<br />

Halluzinationen, freie Assoziationen etc. ersichtlich.<br />

Freud stellte sich vor, daß <strong>de</strong>r Mensch bei <strong>de</strong>r Geburt ganz Es ist, und<br />

sich die bei<strong>de</strong>n Ich-Instanzen erst im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung herausbil-<br />

265 <strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Vorstellung gilt heute allerdings als überholt - insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>r Säuglingsforschung verdanken wir Forschungsergebnisse, die ihr<br />

z.T. <strong>de</strong>utlich wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />

2.2.2. Das Ich<br />

Das Ich entwickelte sich aus <strong>de</strong>m Es und vermittelt zwischen Es (das<br />

270 ausschließlich <strong>de</strong>m Lustprinzip verpflichtet ist und von <strong>de</strong>m es darüber<br />

hinaus auch abhängig ist und beeinflusst wird), <strong>de</strong>m Über-Ich und <strong>de</strong>r<br />

äußeren Realität, die sich auf <strong>de</strong>m Realitätsprinzip grün<strong>de</strong>t. Meist sind<br />

mit <strong>de</strong>n Instrumenten <strong>de</strong>s Ich (Sinneswahrnehmung, die Motorik und alle<br />

bewussten Denk- und Willensvollzüge) aber nur Kompromisse möglich,<br />

275 die manchmal auch nur in neurotischer Form gelingen. Vorherrschen<strong>de</strong>s<br />

Prinzip <strong>de</strong>s Wachbewusstseins ist <strong>de</strong>r Sekundärvorgang, <strong>de</strong>ssen Ziel<br />

die Bewältigung von Problemen <strong>de</strong>r Realität zur mittelbaren Triebbefriedigung<br />

(Realitätsprinzip) und <strong>de</strong>ssen Gesetzmäßigkeiten die <strong>de</strong>s logischen<br />

Denkens sind. Dem Ich kommt auch die Aufgabe <strong>de</strong>r Selbsterhal-<br />

280 tung zu, es ist ein Träger (Reservoir) <strong>de</strong>r psychischen Energie, <strong>de</strong>r Libido,<br />

und entschei<strong>de</strong>t, welche Objekte mit Libido besetzt wer<strong>de</strong>n (siehe<br />

Trieblehre).<br />

Im ersten topologischen Mo<strong>de</strong>ll wür<strong>de</strong> die Ich-Instanz das Bewusste und<br />

Vorbewusste umfassen.<br />

285 2.2.3. Das Über-Ich<br />

Beim Über-Ich han<strong>de</strong>lt es sich um die kontrollieren<strong>de</strong>, mahnen<strong>de</strong> und<br />

strafen<strong>de</strong> Instanz, also um das, was man gängig (aber doch zu wenig<br />

genau) als ‘Gewissen’ bezeichnet. Es entsteht im Zuge <strong>de</strong>s ödipalen<br />

Konflikts durch Introjektion elterlicher Gebote und Verbote. Freud sieht<br />

290 im Über-Ich also, vereinfacht gesagt, die Verinnerlichung von Normen<br />

und Werten <strong>de</strong>r Gesellschaft, vorwiegend vermittelt durch die elterliche<br />

Erziehung.<br />

Abgesehen von <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Strukturmo<strong>de</strong>lls (auch 'zweites topologischen<br />

Mo<strong>de</strong>ll' genannt) aus <strong>de</strong>m 1. topologischen Mo<strong>de</strong>ll besteht<br />

295 eine Verbindung zwischen bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen auch insofern, als alle drei<br />

Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) alle drei psychischen Qualitäten (unbewusst,<br />

vorbewusst, bewusst) annehmen können. <strong>Die</strong> Zuordnung von Instanzen<br />

und psychischen Qualitäten ist jedoch nicht ein<strong>de</strong>utig: das Verdrängte<br />

ist unbewusst, entstammt aber <strong>de</strong>m Ich (unakzeptierbare Wün-<br />

300 sche und Vorstellungen). Das Über-Ich, das sich durch <strong>de</strong>n Erziehungseinfluß<br />

aus <strong>de</strong>m Ich entwickelt, ist ebenfalls teilweise unbewusst (z.B.<br />

unbewusste Schuldgefühle).<br />

Auf <strong>de</strong>r Basis all dieser Auffassungen formuliert Freud seine Vorstellung<br />

<strong>de</strong>r psychischen Gesundheit: ‘Psychisch korrekt’ sind <strong>de</strong>mnach solche<br />

305 Handlungen, in welchem das Ich die Regungen aus <strong>de</strong>m Es, die An-<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 3 von 19


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sprüche <strong>de</strong>s Über-Ich und die Erfor<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Realität in Einklang zu<br />

bringen vermag.<br />

3. Zugänge zum Unbewussten<br />

Es liegt in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Unbewussten, dass es als solches nicht direkt<br />

310 beobachtbar ist. Man ist vielmehr auf <strong>de</strong>ssen Äußerungen angewiesen,<br />

<strong>de</strong>ren Deutungen dann Rückschlüsse auf das angenommene Unbewusste<br />

ermöglichen. Hierzu entwickelte Freud mehrere Metho<strong>de</strong>n:<br />

3.1. Hypnose<br />

Freud machte die grundlegen<strong>de</strong> Ent<strong>de</strong>ckung, dass ein Mensch durch<br />

315 Hypnose nicht bloß in seinen Willenshandlungen beeinflussbar ist, son<strong>de</strong>rn<br />

dass er im hypnotischen Trance-Zustand auch in <strong>de</strong>r Lage ist, sich<br />

an frühere Erlebnisse zu erinnern, von <strong>de</strong>nen er im Wachzustand nichts<br />

mehr weiß.<br />

Dabei zeigte sich sogar, dass die neurotischen Symptome (z.B. hysteri-<br />

320 sche Anfälle) eine Zeit lang verschwan<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Klient zuvor gewisse<br />

belasten<strong>de</strong> Erlebnisse unter Einwirkung <strong>de</strong>r Hypnose wie<strong>de</strong>r erinnern<br />

und erzählen konnte. Daraus entstand dann ein wesentlicher Pfeiler<br />

<strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>: die Unschädlichmachung belasten<strong>de</strong>r und ins<br />

Unbewusste verdrängter frühkindlicher Erlebnisse durch <strong>de</strong>ren Be-<br />

325 wusstmachung.<br />

Wie Freud allerdings feststellen musste, stellten sich die neurotischen<br />

Symptome nach einer gewissen Zeit wie<strong>de</strong>r ein, weshalb er <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n<br />

Konflikt nicht als gelöst betrachten konnte. Er gab darum die<br />

Anwendung <strong>de</strong>r Hypnose schon bald wie<strong>de</strong>r auf. Heute wird die Hypno-<br />

330 se in einem Randbereich <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> teilweise wie<strong>de</strong>r praktiziert<br />

und stellt als „Hypnotherapie“, wesentlich beeinflusst und weiterentwickelt<br />

von Therapeuten wie Milton H. Erickson, in vielen Län<strong>de</strong>rn sogar<br />

eine eigenständige, anerkannte Psychotherapiemetho<strong>de</strong> dar. Verfechter<br />

<strong>de</strong>r Hypnose bzw. Hypnotherapie werfen Freud vor, er habe die Technik<br />

335 <strong>de</strong>r Hypnose wohl zu wenig beherrscht und sie allzu vorschnell verworfen.<br />

3.2. Deutung von Fehlleistungen<br />

Wenn jemand statt "Ich hab Dich lieb" "ich hack Dich lieb" schreibt, sich<br />

also verschreibt, so ist dies nach Freuds Überzeugung kein belangloser<br />

340 Zufall, son<strong>de</strong>rn eine Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten, die Rückschlüsse<br />

auf entsprechen<strong>de</strong> unbewusste Gegebenheiten (Ängste, Triebansprüche,<br />

verdrängte Wünsche, Schuldgefühle, Aggressionen, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle<br />

usf.) zulässt.<br />

Selbstverständlich sind Fehlleistungen nicht bloß im Bereiche <strong>de</strong>s<br />

345 Schreibens, son<strong>de</strong>rn bei allen gewohnheitsmäßigen Handlungen möglich.<br />

So kann man sich verhören, versprechen, verlaufen, verfahren,<br />

verwählen, vergreifen, verschlafen, o<strong>de</strong>r man kann etwas vergessen,<br />

verlegen o<strong>de</strong>r (z.B. einen Zug o<strong>de</strong>r einen Termin) verpassen. Oft zeigt<br />

sich sogar, dass das Verunfallen einem unbewussten Motiv entspricht<br />

350 und als Fehlleistung betrachtet wer<strong>de</strong>n kann.<br />

<strong>Die</strong>se Freudsche Auffassung ist heute zum Gemeingut gewor<strong>de</strong>n, recht<br />

häufig lässt sich nach Fehlleistungen <strong>de</strong>r stereotype Satz "Freud lässt<br />

grüssen" hören.<br />

Der psychoanalytisch gebil<strong>de</strong>te Mensch hat es sich angewöhnt, eigenen<br />

355 Fehlleistungen nachzugehen, weil sich meist interessante Ent<strong>de</strong>ckungen<br />

über Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten machen lassen. <strong>Die</strong><br />

manchmal etwas vorwitzigen Feststellungen gegenüber Mitmenschen,<br />

<strong>de</strong>nen eine Fehlleistung passiert, lässt er dagegen zumeist bleiben.<br />

3.3. Freie Assoziation<br />

360 Es gehört zur grundlegen<strong>de</strong>n Vereinbarung zwischen <strong>de</strong>m Psychoanalytiker<br />

und <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, dass dieser alles, was ihm irgendwie ins<br />

Bewusstsein kommt, ausspricht, mag es noch so peinlich, unmoralisch,<br />

unsinnig und kindisch erscheinen ("Grundregel"). Tut er dies, so wird er<br />

die Erfahrung machen, dass sich sofort weitere Vorstellungen o<strong>de</strong>r Ge-<br />

365 danken einstellen, die mit <strong>de</strong>m ersten in einem vielleicht vorerst nicht erkennbaren<br />

Zusammenhang stehen. Im Unbewussten sind folglich diese<br />

Vorstellungen miteinan<strong>de</strong>r verknüpft (assoziiert). Durch das freie Assoziieren<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mgemäß die Verknüpfungen von Inhalten im Unbewussten<br />

sichtbar, und es kann dann in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>m Analytiker gemein-<br />

370 sam mit <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingen, tiefer liegen<strong>de</strong> Motive (Handlungs-<br />

Grün<strong>de</strong>) in ihrem Entstehen und ihrem Zusammenhang zu verstehen.<br />

3.4. Deutung von Symptomen und Verhaltensweisen<br />

Wenn sich jemand zwangsweise täglich Dutzen<strong>de</strong> von Malen die Hän<strong>de</strong><br />

wäscht, so spricht dieses neurotische Symptom aus Sicht <strong>de</strong>r Psycho-<br />

375 analyse eine recht <strong>de</strong>utliche Sprache: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch fühlt sich<br />

schuldig und möchte seine belasten<strong>de</strong>n Schuldgefühle auf eine – allerdings<br />

unnütze – Weise beseitigen. In ähnlicher Weise lassen sich viele<br />

neurotische Symptome <strong>de</strong>uten, sei dies z.B. das zwanghafte Zählen von<br />

Gegenstän<strong>de</strong>n, das krampfhafte Ringen nach Atem bei je<strong>de</strong>m zweiten<br />

380 o<strong>de</strong>r dritten Atemzug, Erröten beim Angesprochenwer<strong>de</strong>n, zwanghaftes<br />

Kontrollieren, ob irgen<strong>de</strong>ine als wichtig gelten<strong>de</strong> Handlung (z.B. Wasser<br />

abdrehen, Licht ausschalten, Haustür zusperren) tatsächlich erfolgt ist,<br />

usf.<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>r Annahme, dass je<strong>de</strong> Verhaltensweise wenigstens<br />

385 teilweise aus <strong>de</strong>m Unbewussten <strong>de</strong>terminiert ist, ist je<strong>de</strong>s Verhalten zumin<strong>de</strong>st<br />

ein Stück weit als Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten zu betrachten<br />

und lässt sich <strong>de</strong>mzufolge als Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung benutzen.<br />

3.5. Traum<strong>de</strong>utung<br />

Freud bezeichnet die Traum<strong>de</strong>utung als die ‘via regia’ (<strong>de</strong>n königlichen<br />

390 Weg) zum Unbewussten. Ihr ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet.<br />

3.6. Projektive Tests<br />

Mit <strong>de</strong>m ‘Assoziationsexperiment’ hatte C.G.Jung erstmals gezielt ein<br />

projektives Testverfahren entwickelt und angewen<strong>de</strong>t. Projektive Tests<br />

395 beruhen auf <strong>de</strong>r Annahme, dass Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten in<br />

die Wahrnehmung einfließen. <strong>Die</strong> Reize, welche <strong>de</strong>r Test vorgibt, sind<br />

bewusst offen und diffus gehalten, um <strong>de</strong>r Projektion – d.h. <strong>de</strong>r durch<br />

das Unbewusste gesteuerten Wahrnehmung – einen möglichst großen<br />

Spielraum zu lassen und damit mehr Erkenntnisse über das <strong>de</strong>r bewuss-<br />

400 ten Wahrnehmung verborgene Unbewusste zu gewinnen.<br />

Der Psychologe o<strong>de</strong>r Therapeut liest dabei <strong>de</strong>m Proban<strong>de</strong>n zweimal eine<br />

Reihe von je 50 genormten Reizwörtern vor, die erfahrungsgemäß<br />

bei vielen Menschen mit psychischer Energie besetzt sind, und for<strong>de</strong>rt<br />

ihn auf, bei je<strong>de</strong>m Wort so schnell wie möglich zu sagen, welches an<strong>de</strong>-<br />

405 re Wort ihm dazu einfällt. Anhand <strong>de</strong>r sog. ‘Störungsmerkmale’ wer<strong>de</strong>n<br />

jene Wörter festgestellt, welche beim Proban<strong>de</strong>n emotional beson<strong>de</strong>rs<br />

belastet sind. Als Störungsmerkmale gelten z.B. stark beschleunigte o-<br />

<strong>de</strong>r verzögerte Reaktionen, Wortwie<strong>de</strong>rholungen, beson<strong>de</strong>re Kommentare,<br />

körperliche Reaktionen u.a.<br />

410 <strong>Die</strong> Jungianer haben sich bei diesem Test schon früh das psychogalvanische<br />

Experiment zunutze gemacht. Man stellte nämlich fest, dass bei<br />

je<strong>de</strong>r emotionalen Erregung die Schweißdrüsen aktiv wer<strong>de</strong>n, wodurch<br />

<strong>de</strong>r Hautwi<strong>de</strong>rstand sinkt und mehr Strom (z.B. von Finger zu Finger)<br />

fließen kann. Tatsächlich kann man feststellen, dass das Ampèremeter<br />

415 parallel zu <strong>de</strong>n oben genannten Störungsmerkmalen ausschlägt.<br />

4. Trieblehre<br />

<strong>Die</strong> Triebe sind jener Bereich, in welchem sich gewissermaßen das Organische<br />

und das Psychische begegnen. Tatsächlich lassen sich z.B.<br />

<strong>de</strong>r Nahrungs-, Geschlechts- o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb durch Beeinflussung<br />

420 <strong>de</strong>s Organismus anregen o<strong>de</strong>r dämpfen. Für Freud war es darum<br />

selbstverständlich, das Triebleben als die Basis <strong>de</strong>s Psychischen zu betrachten.<br />

<strong>Die</strong>se Anschauung stand <strong>de</strong>nn auch in Übereinstimmung mit<br />

seiner damaligen Auffassung, dass die Motive <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns im Es verwurzelt<br />

und darum zumeist auch unbewusst sind.<br />

425 Es entsprach Freuds reduktionistischem Denken, dass er <strong>de</strong>r Überzeugung<br />

war, sämtliche Triebe ließen sich auf einen einzigen o<strong>de</strong>r allenfalls<br />

zwei Grundtriebe zurückführen. Der frühe Freud glaubte, einerseits im<br />

Sexualtrieb, an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>n Ich-Trieben (Selbsterhaltungsten<strong>de</strong>nzen)<br />

diese grundlegen<strong>de</strong>n Triebe zu erkennen, in jenem Bestreben also,<br />

430 <strong>de</strong>m Organismus einerseits größtmögliche Lust zu verschaffen und ihn<br />

an<strong>de</strong>rerseits zu erhalten. Mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Narzißmus (zu Deutsch<br />

am ehesten: Selbstverliebtheit) hat er dann auch <strong>de</strong>n Ich-Trieben einen<br />

libidinösen Charakter (-> Libido) zuerkannt.<br />

Freud setzte sich zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts, einer Zeit ausge-<br />

435 prägtester Prü<strong>de</strong>rie, mit dieser Sexualisierung <strong>de</strong>s gesamten Seelenlebens<br />

harter Kritik aus. Heute scheint es aber, als hätten es sich die Kritiker<br />

Freuds etwas zu einfach gemacht, in<strong>de</strong>m sie zu wenig zur Kenntnis<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 4 von 19


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nahmen, dass Freud das Sexuelle an sich weiter fasste, als es außerhalb<br />

<strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> geschieht. So vertrat er die Auffassung, dass<br />

440 z.B. bereits das Saugen <strong>de</strong>s Säuglings an <strong>de</strong>r Mutterbrust eine "sexuelle"<br />

Handlung darstellt. Tatsächlich kann ein unvoreingenommener Betrachter<br />

unschwer feststellen, dass <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>s Saugens beim Säugling<br />

ein wirklich lustvoller Vorgang ist und dass sich das kleine Kind auch<br />

sonst durch das Lutschen <strong>de</strong>r Finger o<strong>de</strong>r irgendwelcher Gegenstän<strong>de</strong><br />

445 Lust verschafft. <strong>Die</strong> Begrifflichkeit "lustvollen Tuns" scheint hier allerdings<br />

treffen<strong>de</strong>r für das zu sein, was Freud mit <strong>de</strong>m Wort "sexuell" ausdrückte.<br />

[mehr..]<br />

Freud ergänzte seine Theorie später dadurch, dass er <strong>de</strong>m Lusttrieb <strong>de</strong>n<br />

sog. To<strong>de</strong>strieb (Destruktionstrieb, Aggressionstrieb) zur Seite stellte. Er<br />

450 sah nunmehr das menschliche Leben eingespannt zwischen die Pole<br />

<strong>de</strong>s ‘Eros’ und <strong>de</strong>s ‘Thanatos’. Im Eros sah er das aufbauen<strong>de</strong>, im Thanatos<br />

das abbauen<strong>de</strong> Prinzip. So sah er z.B. beim Essen in <strong>de</strong>r Einverleibung<br />

<strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Lusttrieb, im Zerkauen <strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Aggressionstrieb<br />

am Werk. Auch <strong>de</strong>n Sexualakt betrachtete er als eine<br />

455 Verbindung bei<strong>de</strong>r Triebe. Das völlige Fehlen <strong>de</strong>s Aggressionstriebs<br />

äußerte sich dann als Impotenz, das Fehlen <strong>de</strong>s Eros hingegen als Sadismus<br />

bzw. – im Grenzfall – im Lustmord.<br />

Viele Vertreter <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> – z.B. Fromm – folgten nicht dieser<br />

Annahme eines To<strong>de</strong>striebes. Bemerkenswert sind allerdings die Ähn-<br />

460 lichkeiten zwischen Freuds Grundtrieben und <strong>de</strong>n Grunddualitäten vieler<br />

Religionen (Gut-Böse im Christentum, Eros-Thanatos in <strong>de</strong>r griechischen<br />

Mythologie, Shiva-Vishnu im Hinduismus, Yin-Yang im chinesischen<br />

Tao etc.)<br />

4.1. Libido<br />

465 Freud geht grundsätzlich davon aus, dass ‘die Psyche’ nicht etwa eine<br />

Wesenheit, son<strong>de</strong>rn ein Vorgang (ein Geschehen, ein Prozess), also<br />

etwas Dynamisches ist. Das dynamische Geschehen <strong>de</strong>r Psyche wird<br />

gemäß seiner Vorstellung durch die psychische Energie in Gang gehalten,<br />

die er als Libido bezeichnet. <strong>Die</strong> Libido steht grundsätzlich <strong>de</strong>m Ich<br />

470 zur Verfügung und fließt ihm "von <strong>de</strong>n Organen her" zu. In dieser Vorstellung<br />

läßt sich einmal mehr Freuds Bemühen erkennen, das Psychische<br />

auf das Organische zurückzuführen - für die westliche Wissenschaft<br />

damals noch ungewohnt, erfuhren diese Vorstellungen teils heftigen<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch, heute, nach einer Öffnung für östliches Denken und<br />

475 durch Vorreiter wie Reich tiefergehend erforscht, sind sie weitgehend<br />

akzeptiert.<br />

<strong>Die</strong> Libido kann grundsätzlich frei o<strong>de</strong>r gebun<strong>de</strong>n sein. Sachverhalte<br />

wer<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Menschen dadurch be<strong>de</strong>utsam, dass sich mit <strong>de</strong>ren Vorstellung<br />

Libido verbin<strong>de</strong>t. Freud spricht davon, dass die ‘Objekte’ mit Li-<br />

480 bido ‘besetzt’ wer<strong>de</strong>n. Zunächst richtet sich die Libido auf das eigene<br />

Ich, was <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s ‘primären Narzißmus’ ausmacht (Narziß war<br />

<strong>de</strong>r griechischen Mythologie zufolge ein Hirte, <strong>de</strong>r sich beim Anblick seines<br />

Spiegelbil<strong>de</strong>s im Wasser in sich selbst verliebte). Es entspricht in<strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, dass sich die Libido auf ‘Objekte’ richtet<br />

485 und sich mit ihnen verbin<strong>de</strong>t.<br />

Das erste ‘Objekt’, das das kleine Kind mit Libido besetzt, ist die Mutterbrust.<br />

Darunter ist zu verstehen, daß im Erleben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s die Mutterbrust<br />

zum ersten und be<strong>de</strong>utsamsten Objekt seiner Wahrnehmung wird.<br />

Im Verlaufe <strong>de</strong>r Entwicklung besetzt das Kind immer mehr Objekte mit<br />

490 Libido. Man kann sagen, dass ein Objekt mit um so mehr Libido besetzt<br />

ist, je stärker es mit gefühlvollem Erleben verbun<strong>de</strong>n ist.<br />

Wird die Libido in übertriebener Weise an das eigene Ich fixiert, so<br />

spricht Freud vom ‘sekundären Narzissmus’. <strong>Die</strong>s ist eine sehr ernste<br />

psychische Störung: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch bleibt völlig auf sich selbst<br />

495 bezogen und ist eigentlich asozial und liebesunfähig.<br />

Rein formal unterschei<strong>de</strong>t Freud bei je<strong>de</strong>m Trieb vier Kriterien: Quelle,<br />

Objekt, Ziel und Drang. Im Bereich <strong>de</strong>s Ernährungstriebes z.B. ist die<br />

Quelle das objektive Nahrungsbedürfnis, das Objekt die Nahrung, <strong>de</strong>r<br />

Drang die Stärke <strong>de</strong>s Hungergefühls und das Ziel die Stillung <strong>de</strong>s Hun-<br />

500 gers. Analoges gilt für die an<strong>de</strong>ren Triebe.<br />

5. <strong>Die</strong> Abwehrmechanismen<br />

Eine grundlegen<strong>de</strong> Überzeugung <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> ist es, dass <strong>de</strong>r<br />

Mensch nicht ohne weiteres bereit o<strong>de</strong>r fähig ist, die Inhalte <strong>de</strong>s Es bewusst<br />

wer<strong>de</strong>n zu lassen und sie somit auch als Teil <strong>de</strong>s eigenen Seelen-<br />

505 lebens zu akzeptieren. Er hat vielmehr Mechanismen (Automatismen,<br />

d.s. automatisch und unbewusst ablaufen<strong>de</strong> Seelenvorgänge) entwickelt,<br />

die darauf abzielen, jene Impulse aus <strong>de</strong>m Es, die ihm aus irgendwelchen<br />

Grün<strong>de</strong>n (weil sie z.B. mit <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Über-Ichs<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong>de</strong>r Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen<br />

510 sind) als nicht akzeptabel erscheinen o<strong>de</strong>r erscheinen könnten, gewissermaßen<br />

schon im Keime zu ersticken und sie auf diese Weise gar<br />

nicht ins Bewusste kommen zu lassen.<br />

Ich habe bei <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Aufzählung die Liste <strong>de</strong>r von Freud beschriebenen<br />

Abwehrformen um einige <strong>de</strong>r von Kernberg (1976) zusam-<br />

515 mengefaßten ergänzt.<br />

5.1. Verdrängung<br />

<strong>Die</strong> Verdrängung ist <strong>de</strong>r grundlegendste Abwehrmechanismus. Für sie<br />

gilt – ebenso wie für alle an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen, bei <strong>de</strong>nen Verdrängung<br />

immer mit enthalten ist –, dass sie<br />

520 1. unbewusst passiert,<br />

2. <strong>de</strong>r Angst-Abwehr dient und<br />

3. eine Selbsttäuschung darstellt.<br />

Bei einer Verdrängung han<strong>de</strong>lt es sich um die unbewusste Unterdrückung<br />

eines Triebbedürfnisses (z.B. Sexualtrieb o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb)<br />

525 o<strong>de</strong>r eines irgendwie belasten<strong>de</strong>n Impulses aus <strong>de</strong>m Es (z.B. Min<strong>de</strong>rwertigkeits-,<br />

Schuld-, Scham- o<strong>de</strong>r Angstgefühle). Eine Verdrängung<br />

steht folglich im Gegensatz zu einem entschlossenen, bewussten Triebverzicht<br />

und ermöglicht das Ausweichen vor einer bewussten Entscheidung.<br />

530 Beispiel: Ein junger Mann, <strong>de</strong>r kurz vor <strong>de</strong>r Heirat steht, lernt einen an<strong>de</strong>ren<br />

Mann kennen, <strong>de</strong>r in ihm homoerotische Impulse auslöst. <strong>Die</strong><br />

Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß <strong>de</strong>r Impuls schon im Ansatz wie<strong>de</strong>r zurückgewiesen<br />

wird, also beim betroffenen Menschen gar nicht ins Bewusstsein<br />

gelangt. Wür<strong>de</strong> er nämlich <strong>de</strong>n homoerotischen Impuls in vol-<br />

535 ler Stärke bewusst erleben, wür<strong>de</strong> er große Ängste und Verunsicherung<br />

vor <strong>de</strong>m wichtigen Schritt <strong>de</strong>r Heirat auslösen. Er wird also folglich ruhig<br />

sein Ziel verfolgen und heiraten, unbehelligt von Ängsten und Zweifeln.<br />

Und doch kann man sich <strong>de</strong>r Erkenntnis nicht entziehen, dass seine<br />

Handlungen auf einer Selbsttäuschung beruhen.<br />

540 Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r Freudschen Instanzen-Lehre (Es, Ich, Über-<br />

Ich) drängt sich nun die Frage auf, ‘wer’ <strong>de</strong>nn da eigentlich verdrängt.<br />

Verdrängen<strong>de</strong> Instanz ist wohl das Ich (allenfalls unter <strong>de</strong>n Einwirkungen<br />

<strong>de</strong>s Über-Ich); da aber die Verdrängung unbewusst geschieht, ist es<br />

eigentlich <strong>de</strong>r unbewusste Anteil <strong>de</strong>s Ichs, <strong>de</strong>r verdrängend wirkt.<br />

545 Freud selbst war durchaus bereit, ein gewisses Ausmaß an Verdrängungen<br />

als vertretbar und psychisch nicht alarmierend zu betrachten, da<br />

sie eigentlich unvermeidlich sind. Es han<strong>de</strong>lt sich bei ihnen um einen<br />

Ausdruck jener neurotischen Züge, die je<strong>de</strong>r menschlichen Person in irgen<strong>de</strong>iner<br />

Weise anhaften. Zum Problem wer<strong>de</strong>n Verdrängungen, wenn<br />

550 sie ein großes Ausmaß angenommen haben, zentrale psychische Bereiche<br />

betreffen und sich hartnäckig je<strong>de</strong>r Bewusstmachung entziehen.<br />

In diesem Fall sind sie Ausdruck einer etablierten Neurose.<br />

Es gab in<strong>de</strong>s Psychoanalytiker im Gefolge von Freud, die je<strong>de</strong> Form von<br />

Verdrängung als Krankheitsanzeichen und auch als weiterhin krankma-<br />

555 chend betrachten und sie <strong>de</strong>shalb mit allen zu Gebote stehen<strong>de</strong>n Mitteln<br />

auflösen wollten. Am konsequentesten war hier Arthur Janov mit <strong>de</strong>r<br />

sog. Primär- o<strong>de</strong>r ‘Urschrei’–Therapie, ganz wesentlich auch die körperorientierten<br />

Ansätze in <strong>de</strong>r Therapie, die versuchen, "Blocka<strong>de</strong>n" (gewissermaßen<br />

auf körperlicher Ebene gebun<strong>de</strong>ne Verdrängungen) aufzu-<br />

560 lösen, wie etwa die Ansätze von Wilhelm Reich (einem <strong>de</strong>r wohl unkonventionellsten<br />

Schüler Freuds) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen Schüler Alexan<strong>de</strong>r Lowen<br />

(Bioenergetik).<br />

5.2. Regression<br />

Stellt sich <strong>de</strong>m Menschen in seinen Handlungen o<strong>de</strong>r Lebensbestrebun-<br />

565 gen irgen<strong>de</strong>in Hin<strong>de</strong>rnis entgegen, so gibt es – rein theoretisch – stets<br />

zwei Möglichkeiten: Entwe<strong>de</strong>r überwin<strong>de</strong>t er das Hin<strong>de</strong>rnis, o<strong>de</strong>r er<br />

scheitert. <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> konnte <strong>de</strong>n Nachweis erbringen, dass <strong>de</strong>r<br />

Mensch im zweiten Fall in <strong>de</strong>r Regel nicht einfach zur Tagesordnung<br />

übergeht, son<strong>de</strong>rn als Antwort auf sein Frustrationserlebnis regrediert,<br />

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570 d.h. eine Verhaltensweise äußert, die einer entwicklungsmäßig (genetisch)<br />

früheren Stufe entspricht. <strong>Die</strong> Regression ist insofern ein Abwehrmechanismus,<br />

als sie offenbar dazu dient, die mit <strong>de</strong>m Scheitern<br />

verbun<strong>de</strong>nen Min<strong>de</strong>rwertigkeits-, Schuld- und Angstgefühle nicht ins<br />

Bewusstsein kommen zu lassen. <strong>Die</strong> bewusste Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />

575 diesen belasten<strong>de</strong>n Inhalten wird gewissermaßen durch eine 'unreife'<br />

Ersatzhandlung zuge<strong>de</strong>ckt.<br />

Ein Beispiel:<br />

Ein Fußgänger geht in Gedanken versunken <strong>de</strong>n Gehweg entlang und<br />

läuft frontal in <strong>de</strong>n Sonnenschirm eines Straßencafes. In seinem<br />

580 Schmerz beschimpft er ihn als ‘verdammten Stecken’.<br />

Nun - kühlen Kopfes betrachtet, entbehrt seine Handlungsweise je<strong>de</strong>r<br />

Vernunft. Tiefenpsychologisch betrachtet aber ist sie verständlich: kleine<br />

Kin<strong>de</strong>r nehmen bekanntlich auch unbelebte Gegenstän<strong>de</strong> als belebt und<br />

beseelt wahr und sind darum – ohne dass dies in diesem frühen Alter<br />

585 als Regression bezeichnet wer<strong>de</strong>n dürfte – ohne weiteres bereit, z.B.<br />

<strong>de</strong>n Tisch als ‘böse’ zu beschimpfen und ihn zu schlagen, wenn sie ihren<br />

Kopf daran gestoßen haben. Wir nennen diese Erlebensweise animistisch<br />

(alles ist beseelt) o<strong>de</strong>r anthropomorph (alles hat menschliche<br />

Züge). Der beschriebene Fußgänger fiel infolge <strong>de</strong>r starken Frustration<br />

590 auf diese genetisch (entwicklungsmäßig) frühere Stufe zurück und konnte<br />

so – ohne dass er sich <strong>de</strong>ssen bewusst war, <strong>de</strong>nn all dies geschah<br />

unbewusst – einer rationalen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit seinen Min<strong>de</strong>rwertigkeits-<br />

und Angstgefühlen aus <strong>de</strong>m Wege gehen. Gefühlen, die zu<br />

verkraften offensichtlich wesentlich aufwendiger wären als die spontane<br />

595 Regression.<br />

Auch <strong>de</strong>r Griff zur Zigarette, zur Flasche o<strong>de</strong>r zu einer an<strong>de</strong>ren Droge,<br />

<strong>de</strong>r häufig in belasten<strong>de</strong>n Situationen erfolgt, kann als Regression verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n: als ein Zurücksinken ins erste Lebensjahr (-> Orale<br />

Phase), in <strong>de</strong>m sich das Kind durch Saugen, Lutschen o<strong>de</strong>r Einlullen-<br />

600 lassen Lust verschafft.<br />

Neben diesen Regressionen, die als unadäquate Abwehrmechanismen<br />

und insofern als neurotisch zu betrachten sind, gibt es eine Anzahl von<br />

regressiven Handlungen und Lebensvollzügen, die <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung<br />

<strong>de</strong>s psychischen Gleichgewichts dienen. Solche ‘legitimen’ Reg-<br />

605 ressionen sind z.B. <strong>de</strong>r Schlaf, das sexuelle Erleben, das Spiel, das belanglose<br />

Blö<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r das Mitschreien im Fußballstadion. Der tiefenpsychologisch<br />

ausgerichtete Anthropologe neigt dazu, das psychische Geschehen<br />

als ein Wechselspiel zu betrachten, in welchem sich Licht und<br />

Schatten, Zielgerichtetheit und Laissez-faire, Rationales und Irrationa-<br />

610 les, Pflichterfüllung und Lustgewinn die Waage halten sollen. Dementsprechend<br />

sind ihm alle möglichen Formen <strong>de</strong>r Regression (die konkrete<br />

Wahl wäre da eine Frage <strong>de</strong>s persönlichen Stils..) <strong>de</strong>r nötige Ausgleich<br />

zum progressiven Verhalten: zur zielgerichteten, rationalen und <strong>de</strong>n gegebenen<br />

Ordnungen unterworfenen Lebensaktivität.<br />

615 5.3. Rationalisierung<br />

Bei <strong>de</strong>r Rationalisierung han<strong>de</strong>lt es sich um das verstan<strong>de</strong>smäßige<br />

Rechtfertigen eines Verhaltens, in<strong>de</strong>m die wahren, aber nicht eingestan<strong>de</strong>nen<br />

und vom Über-Ich nicht akzeptierten Motive (Beweggrün<strong>de</strong>)<br />

durch solche ersetzt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Menschen für sich<br />

620 selbst und die an<strong>de</strong>ren als annehmbar(er) erscheinen.<br />

Fragt man etwa jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich sozial sehr engagiert, weshalb er<br />

das tut, so wird man von ihm möglicherweise hören, er ziehe aus seiner<br />

'christlichen Grundhaltung' die Konsequenz. Das ist durchaus möglich,<br />

es könnten aber auch an<strong>de</strong>re Motive ausschlaggebend o<strong>de</strong>r doch zu-<br />

625 min<strong>de</strong>st mitbeteiligt sein - so etwa das Bedürfnis, unbewusste Schuldgefühle<br />

zu kompensieren, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Drang, im Zentrum zu stehen, Anerkennung<br />

zu erhalten o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>nen man hilft, geliebt zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Auch bei diesem Mechanismus ist es offensichtlich, dass Inhalte <strong>de</strong>s Es,<br />

630 die – wür<strong>de</strong>n sie bewusst erlebt – Unwohlgefühle erzeugen wür<strong>de</strong>n, automatisch<br />

aus <strong>de</strong>m Bewussten verdrängt, also abgewehrt wer<strong>de</strong>n. Es<br />

zeigt sich hier einmal mehr, dass die Abwehrmechanismen <strong>de</strong>r Angstabwehr<br />

dienen.<br />

<strong>Die</strong> Rationalisierung ist vermutlich die verbreitetste Form <strong>de</strong>r Selbsttäu-<br />

635 schung. In<strong>de</strong>m uns die <strong>Psychoanalyse</strong> darauf aufmerksam macht und<br />

uns auch auffor<strong>de</strong>rt, Rationalisierungen aufzulösen und uns <strong>de</strong>n wahren<br />

Motiven zu stellen, erweist sich diese psychologische Anthropologie als<br />

eine Lehre mit sehr hohem ethischen Anspruch. Sie läuft auf jene Auffor<strong>de</strong>rung<br />

hinaus, die einst über <strong>de</strong>m Tempeleingang in Delphi stand:<br />

640 Erkenne dich selbst!<br />

5.4. Projektion<br />

Bei <strong>de</strong>r Projektion wer<strong>de</strong>n unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle,<br />

Ängste, aber auch eigene Schwächen und Fehler auf ‘Objekte’<br />

in <strong>de</strong>r Außenwelt übertragen. Biblisch gesprochen: "Was siehst du <strong>de</strong>n<br />

645 Splitter im Auge <strong>de</strong>ines Bru<strong>de</strong>rs, und <strong>de</strong>n Balken im eigenen Auge<br />

siehst du nicht." Als Objekte kommen grundsätzlich einzelne Personen,<br />

Personengruppen, Gegenstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Situationen in Frage.<br />

Ein Mensch, <strong>de</strong>r von seinem Vater misshan<strong>de</strong>lt und unterdrückt wur<strong>de</strong>,<br />

kann z.B. dazu neigen, in je<strong>de</strong>r Situation, in <strong>de</strong>r Autorität o<strong>de</strong>r die For<strong>de</strong>-<br />

650 rung nach Unterordnung im Spiel ist, das tyrannische Wirken <strong>de</strong>s Vaters<br />

zu sehen und sich dann in eine kämpferische Haltung zu begeben. Es<br />

ist dann, als wür<strong>de</strong> er stets je<strong>de</strong> Gelegenheit wahrnehmen, um – ersatzweise<br />

– gegen seinen Vater anzukämpfen.<br />

Projektionen auf Personengruppen sind die psychische Basis je<strong>de</strong>r Art<br />

655 von Rassenvorurteilen, Frem<strong>de</strong>n- und Gruppenhass. Situationen und<br />

Gegenstän<strong>de</strong>, die Projektionen auslösen können, sind z.B. ein laufen<strong>de</strong>r<br />

Motor, eine Uniform, ein Sonnenuntergang, ein großer Platz, ein Verkehrschaos<br />

und vieles mehr. In je<strong>de</strong>m Fall sieht <strong>de</strong>r Projizieren<strong>de</strong> im<br />

Gegenstand o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Situation mehr und an<strong>de</strong>res, als das, was diese<br />

660 ‘an sich’ be<strong>de</strong>uten, und reagiert darauf oft beson<strong>de</strong>rs emotional. Dadurch<br />

wird die erhebliche Erschwerung und Störung zwischenmenschlicher<br />

Kommunkation (die ja darauf beruht, dass wir i<strong>de</strong>ntische Begriffe<br />

haben) durch je<strong>de</strong> Form von Projektion nachvollziehbar. Man kann davon<br />

ausgehen, dass in je<strong>de</strong>m Streit, bei je<strong>de</strong>r heftigen Auseinan<strong>de</strong>rset-<br />

665 zung Projektionen im Spiele sind. Eine psychologisch korrekte ‘Schlichtung’<br />

dürfte darum niemals auf einen faulen Kompromiss hinauslaufen<br />

("du hast ein bisschen recht und du auch"), son<strong>de</strong>rn muss bei je<strong>de</strong>m<br />

Teilnehmer die Bereitschaft erzeugen, sich seinen eigenen Projektionen<br />

zu stellen.<br />

670 Bei <strong>de</strong>r Projektion wird somit eine Selbsttäuschung offenbar - man sieht<br />

das an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht so, wie es o<strong>de</strong>r er "wirklich" ist, son<strong>de</strong>rn<br />

so, wie man es o<strong>de</strong>r ihn unbewusst haben "möchte" (bzw. gewissermaßen<br />

sogar haben "muss"). Das ist auch in jenen Fällen so, wo<br />

Projektionen als durchaus angenehm erlebt wer<strong>de</strong>n, wie z.B. im Zustand<br />

675 großer Verliebtheit. In <strong>de</strong>r Regel sieht <strong>de</strong>r Verliebte die Angebetete als<br />

mehr o<strong>de</strong>r weniger fehlerfrei, wobei er allerdings ein Wunschbild (z.B.<br />

die positive Seite seiner Muttererfahrung) in die Geliebte projiziert. Der<br />

bekannte Spruch "Liebe macht blind" wäre <strong>de</strong>mgemäß in "Verliebtheit<br />

macht blind" zu korrigieren, <strong>de</strong>nn im Gegensatz zur Verliebtheit macht<br />

680 die wahre Liebe sehend, was Saint-Exupérys kleinen Prinzen <strong>de</strong>n bekannten<br />

Satz aussprechen ließ: "Man sieht nur mit <strong>de</strong>m Herzen gut".<br />

5.5. Introjektion<br />

<strong>Die</strong>s ist <strong>de</strong>r umgekehrte Vorgang <strong>de</strong>r Projektion: Es wer<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong> Anschauungen,<br />

Motive, Verhaltensweisen ins eigene Ich aufgenommen.<br />

685 Dabei geht es nicht um die legitimen Formen <strong>de</strong>s Lernens, son<strong>de</strong>rn um<br />

Imitationen, die <strong>de</strong>m eigenen Ich eigentlich fremd sind und <strong>de</strong>r Abwehr<br />

beispielsweise von Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühlen dienen sollen. Ein Beispiel<br />

dafür wäre etwa ein Musiker, <strong>de</strong>r in Erscheinungsbild und Gehaben<br />

ganz in die Rolle eines an<strong>de</strong>ren geschlüpft ist, welcher wirklich etwas<br />

690 kann und darum auch Erfolg hat. O<strong>de</strong>r etwa Menschen, die im Grun<strong>de</strong><br />

ihres Herzens eigentlich eher konservativ sind, aber plötzlich ganz unvermittelt<br />

und im Gegensatz zu ihren übrigen Überzeugungen und ihrem<br />

wirklichen Leben progressive Ansichten zum besten geben o<strong>de</strong>r sich eine<br />

Trend-Frisur zulegen - offensichtlich aus <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch<br />

695 heraus, von gewissen Kreisen besser o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs, als sie sind, angenommen<br />

zu wer<strong>de</strong>n.<br />

5.6. I<strong>de</strong>ntifikation<br />

Wird nicht bloß ein einzelner Zug eines an<strong>de</strong>ren Menschen o<strong>de</strong>r eine<br />

einzelne isolierte I<strong>de</strong>e introjiziert, son<strong>de</strong>rn das ganze Wesen eines Men-<br />

700 schen bzw. ein ganzes I<strong>de</strong>ensystem, so liegt eine I<strong>de</strong>ntifikation vor. So<br />

kennen wir etwa die starke I<strong>de</strong>ntifikation Pubertieren<strong>de</strong>r mit Idolen, die<br />

so weit gehen kann, dass sich ein Jugendlicher als "Superman" aus ei-<br />

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nem Hochhaus stürzt, um mit ausgebreitetem Cape ins Gewühl <strong>de</strong>r<br />

Strasse hinabzuschweben (real geschehen).<br />

705 Ganz allgemein ist <strong>de</strong>r ‘Fan’ ein Mensch, <strong>de</strong>r sich mit irgen<strong>de</strong>twas o<strong>de</strong>r<br />

irgend jeman<strong>de</strong>m hochgradig i<strong>de</strong>ntifiziert hat. So hängt z.B. die Seelenlage<br />

von Fußball-Fans erheblich vom Erfolg bzw. Misserfolg ‘ihres’<br />

Clubs ab: gewinnt er, sind sie euphorisch, verliert er, sind sie <strong>de</strong>pressiv.<br />

In bei<strong>de</strong>n Fällen können sich die aufgestauten Gefühle in Form von Ag-<br />

710 gressionen entla<strong>de</strong>n: im ersten Fall entwickeln sich die Gefühle <strong>de</strong>r Ü-<br />

berlegenheit zu Übermut, Arroganz und Angriffslust, im zweiten Fall entsteht<br />

aus <strong>de</strong>r erlittenen Schmach und <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>nen Frustration<br />

ein Klima <strong>de</strong>r Rache und <strong>de</strong>r ungerichteten Wut.<br />

Differenziertere Menschen neigen eher dazu, sich mit I<strong>de</strong>ensystemen zu<br />

715 i<strong>de</strong>ntifizieren, seien dies politische o<strong>de</strong>r religiöse. <strong>Die</strong> I<strong>de</strong>ntifikation ist<br />

daran zu erkennen, dass mit vorgegebenen Formeln und Gedankengängen<br />

argumentiert und insbeson<strong>de</strong>re keinerlei Zweifel zugelassen<br />

wird. Der durch die I<strong>de</strong>ntifikation begrün<strong>de</strong>te Fanatismus entwickelt in<br />

extremen Fällen – analog zum Fan-Club – ein Klima <strong>de</strong>r Gewalttätigkeit.<br />

720 <strong>Die</strong> Geschichte zeigt eindrücklich, dass viele politische und religiöse<br />

‘Revolutionäre’, die stets von <strong>de</strong>r Heiligkeit ‘ihrer Sache’ restlos überzeugt<br />

waren, nicht vor Gewalttätigkeit und Brutalität zurückschreckten.<br />

In all diesen Formen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation tritt das Moment <strong>de</strong>r Selbsterhöhung<br />

<strong>de</strong>utlich zu Tage. Ihre Basis sind die unbewussten, im und aus<br />

725 <strong>de</strong>m Es wirken<strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, die naturgemäß ängstigen<br />

und darum abgewehrt wer<strong>de</strong>n wollen. <strong>Die</strong>se Zusammenhänge hat Adler<br />

– freilich teils mit an<strong>de</strong>ren Begriffen – in das Zentrum seiner Betrachtungsweise<br />

gestellt. <strong>Die</strong> alltägliche Beobachtung zeigt sehr <strong>de</strong>utlich,<br />

dass insbeson<strong>de</strong>re solche Jugendliche zu überstarken I<strong>de</strong>ntifikationen –<br />

730 und damit zu Selbstverlust – neigen, <strong>de</strong>ren soziales Milieu nicht das<br />

Selbstwertgefühl stärkte, son<strong>de</strong>rn die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle för<strong>de</strong>rte.<br />

Für Erzieher sind darum überstarke I<strong>de</strong>ntifikationen, wie sie sich insbeson<strong>de</strong>re<br />

ab <strong>de</strong>r Pubertät zeigen, stets ein Gradmesser für die Ich-<br />

Schwäche eines jungen Menschen, es ist dann alles zu unternehmen,<br />

735 um <strong>de</strong>ssen Selbstwertgefühl zu stärken.<br />

Dass alle Abwehrmechanismen – und somit auch die I<strong>de</strong>ntifikation – <strong>de</strong>r<br />

Angstabwehr dienen, ersehen wir aus <strong>de</strong>n zahlreichen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />

sich Menschen, die extrem unterdrückt wur<strong>de</strong>n, mit ihren Unterdrückern<br />

i<strong>de</strong>ntifizierten und so eben vor ihnen keine Angst mehr haben mussten.<br />

740 <strong>Die</strong>s war nicht nur in <strong>de</strong>utschen Konzentrationslagern beobachtbar, in<br />

<strong>de</strong>nen Gefangene zu Gehilfen 'beför<strong>de</strong>rt' wur<strong>de</strong>n und sich dann als beson<strong>de</strong>rs<br />

eifrige Quäler hervortaten, son<strong>de</strong>rn auch bei Patricia Hurst, <strong>de</strong>r<br />

amerikanischen Verlegerstochter, die von einer radikalen Gruppe entführt<br />

wur<strong>de</strong> und später mit ihnen an Banküberfällen teilnahm. Analoges<br />

745 geschah z.B. auch in Stockholm, als eine westliche Botschaft von einer<br />

Gruppe linksextremer Terroristen überfallen wur<strong>de</strong> und sich eine Geisel<br />

nachher <strong>de</strong>r RAF anschloss. <strong>Die</strong> psychologische Analyse <strong>de</strong>r damaligen<br />

Geschehnisse prägte <strong>de</strong>n seither für diesen Effekt verwen<strong>de</strong>ten Begriff<br />

"Stockholm-Syndrom".<br />

750 Wie Freud aufzeigte, ist die I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater und<br />

<strong>de</strong>s Mädchens mit <strong>de</strong>r Mutter im Zuge <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />

ein entwicklungspsychologisch gesetzmäßiger Vorgang, <strong>de</strong>r dazu<br />

führt, dass die Kin<strong>de</strong>r die Norm- und Wertvorstellungen <strong>de</strong>r Eltern übernehmen<br />

und so auch in die Gesellschaft hineinwachsen. Wie sehr sich<br />

755 Jungen mitunter mit ihren Vätern i<strong>de</strong>ntifizieren, kann man gelegentlich<br />

hören, wenn je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n stärkeren, tüchtigeren, gescheiteren o<strong>de</strong>r reicheren<br />

Vater haben will.<br />

5.7. Konversion<br />

Als Konversion bezeichnet die <strong>Psychoanalyse</strong> <strong>de</strong>n Umschlag einer un-<br />

760 erledigten Affektregung (Angst, Aggression, Wut, Ärger, Schuldgefühl,<br />

Triebwunsch etc.) ins Körperliche (Somatische). Beispiele sind etwa Erröten,<br />

Ohnmachtsanfälle, Herzklopfen, Migräne, Magenlei<strong>de</strong>n, Zittern<br />

usf. Deren Charakter als Abwehrmechanismus erweist sich aus <strong>de</strong>r Tatsache,<br />

dass wie<strong>de</strong>rum ins Es verdrängte (d.h. unbewusste) und von dort<br />

765 aus wirken<strong>de</strong> Affekte in ihrem Zustand <strong>de</strong>r Unbewusstheit belassen<br />

wer<strong>de</strong>n, weil es offenbar psychisch zu aufwendig wäre, sich ihnen zu<br />

stellen, und darum <strong>de</strong>ren Manifestation im Körper in Kauf genommen<br />

wird.<br />

5.8. Reaktionsbildung<br />

770 Freud ent<strong>de</strong>ckte, dass belasten<strong>de</strong> Affekte u.a. auch dadurch abgewehrt<br />

wer<strong>de</strong>n können, dass im bewussten Verhalten und Erleben eine gegensätzliche<br />

Verhaltensweise entwickelt wird.<br />

Übertriebene Reinlichkeit etwa kann eine Reaktionsbildung sein, bei <strong>de</strong>r<br />

die täglich viele Stun<strong>de</strong>n beanspruchen<strong>de</strong> Beseitigung von Schmutz und<br />

775 Unrat eine Möglichkeit darstellt, seine wirklich vorhan<strong>de</strong>ne Schmutzlust<br />

zu befriedigen. Analog dazu ist es auch möglich, dass ein religiöser o<strong>de</strong>r<br />

politischer ‘Sittenhüter’, <strong>de</strong>r überall gegen sexuelle Unsittlichkeit ankämpft,<br />

in diesem Tun eine Möglichkeit sieht, seine überstarken, aber<br />

verdrängten sexuellen Bedürfnisse ersatzweise zu befriedigen (in Öster-<br />

780 reich war etwa ein "Pornojäger" gerichtsbekannt, <strong>de</strong>r daheim mehrere<br />

Räume mit zigtausen<strong>de</strong>n Pornovi<strong>de</strong>os und -Magazinen "zu Beweiszwecken"<br />

angefüllt hatte). Und dass Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Feuerwehr gelegentlich<br />

<strong>de</strong>m Anblick brennen<strong>de</strong>r Häuser nicht unabgeneigt sind, wissen wir nicht<br />

erst, seit sich mehrerenorts Feuerwehrmänner als Brandstifter betätig-<br />

785 ten.<br />

Es muss aber <strong>de</strong>utlich davor gewarnt wer<strong>de</strong>n, nun je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>rartige Verhalten<br />

einfach als Reaktionsbildung zu betrachten. Ein solcher Abwehrmechanismus<br />

liegt meist nur dann vor, wenn die Intensität <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n<br />

Handlungsmotive sehr übersteigert und <strong>de</strong>mentsprechend nicht<br />

790 <strong>de</strong>r Realität angemessen sind.<br />

5.9. Kompensation<br />

Wie bereits oben i.B. auf die Adler’sche Individualpsychologie erläutert<br />

wur<strong>de</strong>, neigt <strong>de</strong>r Mensch dazu, sich <strong>de</strong>m bewussten Erleben psychischer<br />

Mängel dadurch zu entziehen, dass er Verhaltensweisen äußert,<br />

795 von <strong>de</strong>nen er annimmt, dass sie ihm beson<strong>de</strong>re Geltung, Überlegenheit<br />

o<strong>de</strong>r Macht über an<strong>de</strong>re verschaffen. Als Regel kann gelten: je größer<br />

die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, <strong>de</strong>sto stärker die erfor<strong>de</strong>rliche Kompensation.<br />

Es gibt grundsätzlich keine Verhaltensweise, die nicht zur Kompensation<br />

800 gebraucht wer<strong>de</strong>n kann. So kann ein Musiker auf <strong>de</strong>m Podium musizieren,<br />

um an<strong>de</strong>re mit seiner Kunst zu erfreuen o<strong>de</strong>r um sich im Zentrum<br />

<strong>de</strong>s Interesses zu sonnen. Häufig sind Kompensationen aber von <strong>de</strong>n<br />

‘echten’ Motiven nicht zu trennen, und es ist anzunehmen, dass in fast<br />

allen Verhaltensweisen ein mehr o<strong>de</strong>r weniger großer Anteil an Kom-<br />

805 pensationsbedürfnis mitschwingt.<br />

Eine erhebliche Selbsttäuschung stellt die Kompensation insofern dar,<br />

als man ihre Funktion, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle abzuwehren, ja nicht<br />

erkennt und offensichtlich auch nicht bereit ist, seine eigenen Grenzen<br />

unbefangen zu sehen und anzuerkennen. Häufig entsteht in Bezug auf<br />

810 die betreffen<strong>de</strong>n Menschen dann <strong>de</strong>r unweigerliche Eindruck, sie lebten<br />

in einer Art "Scheinrealität".<br />

5.10. Autoaggression<br />

Einer <strong>de</strong>r möglichen Grün<strong>de</strong> für Autoaggression besteht darin, daß jemand<br />

eine nicht eingestan<strong>de</strong>ne und nicht akzeptierbare Aggression ge-<br />

815 gen an<strong>de</strong>re in Aggression gegenüber <strong>de</strong>r eigenen Person verwan<strong>de</strong>lt.<br />

<strong>Die</strong>s mag etwa vorliegen, wenn sich eine Sekretärin nach einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit <strong>de</strong>m Chef selbst die Haare rauft o<strong>de</strong>r ohrfeigt, obwohl<br />

sie sich lieber auf <strong>de</strong>n Chef stürzen wür<strong>de</strong>. Da jedoch eine solche Handlung<br />

– so angemessen sie ihrem Es auch erscheinen mag – ihre Exis-<br />

820 tenzgrundlage gefähr<strong>de</strong>n könnte, wird die ursprüngliche Aggression in<br />

eine Autoaggression verwan<strong>de</strong>lt.<br />

Es ist anzunehmen, dass <strong>de</strong>r Masochismus, zeige er sich sexuell o<strong>de</strong>r<br />

in selbstquälerischem Engagement für die an<strong>de</strong>ren, nicht bloß eine Möglichkeit<br />

ist, um verdrängte Schuldgefühle zu kompensieren, son<strong>de</strong>rn<br />

825 auch um verdrängte Aggressionen auszuleben. So steckt wohl in je<strong>de</strong>r<br />

sexuell masochistischen Handlung verdrängter Sadismus.<br />

In <strong>de</strong>r christlichen Mystik hat die Autoaggression – in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Kasteiung<br />

und <strong>de</strong>r Selbstgeißelung – eine aus tiefenpsychologischer Sicht<br />

eher zwiespältige Tradition. Ins gleiche Kapitel gehört die Geißler-<br />

830 Bewegung <strong>de</strong>s ausgehen<strong>de</strong>n Mittelalters, wo ganze Züge ‘frommer’<br />

Menschen das Land durchquerten, dabei offen ihre Sündhaftigkeit bekannten<br />

und sich selbst und ihre Bussgenossinnen und –genossen blutig<br />

peitschten. Dass damit ‘Schuld getilgt’ wer<strong>de</strong>n sollte, war lediglich die<br />

offizielle Begründung für ein wohl schlicht Schuldgefühle abwehren<strong>de</strong>s,<br />

835 womöglich sogar masochistisches Verhalten.<br />

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5.11. Substitution<br />

Eine Substitution liegt vor, wenn ein ursprüngliches Triebobjekt durch<br />

ein Ersatzobjekt ersetzt wird. Insofern ist die Autoaggression eine spezielle<br />

Form <strong>de</strong>r Substitution, <strong>de</strong>nn bei ihr wird ja nach <strong>de</strong>r obigen Erklä-<br />

840 rung ein Mitmensch als Objekt einer aggressiven Triebregung durch die<br />

eigene Person ersetzt.<br />

Eine verbreitete Form <strong>de</strong>r Substitution ist <strong>de</strong>r Fetischismus, etwa <strong>de</strong>r<br />

sexuelle Umgang mit Unterwäsche von Personen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts,<br />

Stiefeln o<strong>de</strong>r Füßen. Aber auch Ess- o<strong>de</strong>r Trunk-Sucht, die<br />

845 sich gelegentlich einstellen, wenn die sexuellen Bedürfnisse unbefriedigt<br />

bleiben müssen, können als Substitution betrachtet wer<strong>de</strong>n. Eine Substitution<br />

liegt auch vor, wenn ein vom unerfreulichen Umgang mit <strong>de</strong>r Ehefrau<br />

her frustrierter Lehrer seine aufgestauten Aggressionen an seinen<br />

Schülern ausagiert. <strong>Die</strong> in unserer Kultur häufig anzutreffen<strong>de</strong>n Süchte<br />

850 vereinsamter Menschen, etwa <strong>de</strong>r, ganze Scharen von Katzen o<strong>de</strong>r<br />

Hun<strong>de</strong>n zu verhätscheln, dürfte ebenfalls in diese Kategorie fallen.<br />

5.12. Realitätsleugnung / Verleugnung<br />

Realitätsleugnung liegt vor, wenn bestimmte be<strong>de</strong>utsame Tatbestän<strong>de</strong><br />

vom Ich ignoriert bzw. nicht wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, weil die bewusste<br />

855 Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihnen als zu belastend erlebt wird. So kommt<br />

es beispielsweise immer wie<strong>de</strong>r vor, dass ein Mensch die Seitensprünge<br />

seines Partners Mannes nicht wahrnimmt, obwohl sonst je<strong>de</strong>rmann davon<br />

weiß und ausreichen<strong>de</strong> Anzeichen dafür vorliegen. An<strong>de</strong>re, typische<br />

Beispiele sind <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>smißbrauch o<strong>de</strong>r sonstige Gewaltformen im<br />

860 Familienverband, diverse Formen von Eßstörungen, o<strong>de</strong>r aber auch,<br />

wenn jemand die Anzeichen einer Krankheit übersieht und <strong>de</strong>n Arzt erst<br />

aufsucht, wenn es dafür eigentlich bereits zu spät ist.<br />

Realitätsleugnungen sind meist überall dort festzustellen, wo ein Weltbild<br />

o<strong>de</strong>r vorgefaßte Meinungen ins Wanken kommen könnten. Hierzu<br />

865 gehört etwa auch die Brutalität <strong>de</strong>r Nazis im Dritten Reich o<strong>de</strong>r die<br />

Kriegsverbrechen <strong>de</strong>r Amerikaner (Einsatz von Uranwaffen im Kosovo-<br />

Krieg, Entzug <strong>de</strong>r Menschenrechte an teils schuldlos Inhaftierten in Guatanamo-Bay<br />

im Zuge <strong>de</strong>s Irankriegs 2002, Agent-Orange-Einsatz im<br />

Vietnam etc.). <strong>Die</strong> Vorstellung und Folgen einer Mitschuld <strong>de</strong>r als „Gute“<br />

870 dargestellten Machthaber war offenbar zu belastend, weshalb es einfacher<br />

war, sie auszublen<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r erwiesenen Realität keine<br />

Kenntnis zu nehmen. <strong>Die</strong>s kann soweit gehen, daß selbst objektive Realitäten<br />

ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n (etwa, als die Photos von Folterungen<br />

durch US-Soldaten im Irakkrieg von einigen interviewten US-Bürgern als<br />

875 'Spaßphotos unserer Jungs' umge<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>n). Wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Menschen<br />

wollen nichts von <strong>de</strong>r Bedrohung <strong>de</strong>r Menschheit durch <strong>de</strong>n<br />

Raubbau in <strong>de</strong>n Regenwäl<strong>de</strong>rn, durch die Übernutzung <strong>de</strong>r Meere,<br />

durch die Vergiftung <strong>de</strong>r Bö<strong>de</strong>n mittels Kunstdünger o<strong>de</strong>r durch unsichere<br />

Kernkraftwerke hören. Kassandra war schon <strong>de</strong>n Griechen vor Troja<br />

880 lästig. Häufig hat man jene, die wirkliche Gefahren voraussahen und<br />

warnten, mit <strong>de</strong>m Satz "Du malst <strong>de</strong>n Teufel an die Wand" heimgeschickt.<br />

Niemand lässt sich gerne in seinen vorgefaßten Meinungen<br />

durch Realitäten, die seinen eigenen Bil<strong>de</strong>rn wi<strong>de</strong>rsprechen, behelligen.<br />

Mit Realitätsverleugnung lebt es sich gewissermaßen einfacher – je<strong>de</strong>n-<br />

885 falls eine gewisse Zeit lang.<br />

5.13. Sublimierung<br />

Bei <strong>de</strong>r Sublimierung han<strong>de</strong>lt es sich um die Fähigkeit, für <strong>de</strong>n Verzicht<br />

auf verpönte (abgelehnte) Triebe bzw. Wünsche eine ausgleichen<strong>de</strong><br />

Entschädigung hervorbringen zu können. So kann z.B. eine zölibatär le-<br />

890 ben<strong>de</strong> Pianistin ihre Libido gewissermaßen verwan<strong>de</strong>ln und sie ganz in<br />

<strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst ihrer musikalischen Gestaltung stellen. O<strong>de</strong>r jemand kann<br />

durch persönliche Frustrationen sehr aggressiv gestimmt sein - statt<br />

dass er seine Wut aber an irgend jeman<strong>de</strong>m ausagiert, stürzt er sich in<br />

die Arbeit und stellt dann nach ein paar Stun<strong>de</strong>n fest, dass er in kurzer<br />

895 Zeit etwas geschaffen hat, wozu er sich zuvor kaum in <strong>de</strong>r Lage fühlte.<br />

Mit an<strong>de</strong>ren Worten: bei <strong>de</strong>r Sublimierung wird die psychosexuelle E-<br />

nergie (Libido) neutralisiert und für differenziertere soziale o<strong>de</strong>r kulturelle<br />

Leistungen eingesetzt.<br />

Ob es sich bei <strong>de</strong>r Sublimierung um ein Reifekriterium o<strong>de</strong>r einen Ab-<br />

900 wehrmechanismus han<strong>de</strong>lt, darüber existieren unterschiedliche Meinungen.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls haftet ihr – im Gegensatz zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen<br />

– kein negativer Anstrich an. Auch von einer Selbsttäuschung<br />

kann nicht gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wenn sich die Libido, die<br />

ursprünglich z.B. einer sexuellen Befriedigung dienstbar sein könnte,<br />

905 tatsächlich ‘verwan<strong>de</strong>lt’, so zeigt dies eben, dass es zum Wesen <strong>de</strong>s<br />

Menschen gehört, auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r psychischen Energie sozial und kulturell<br />

differenziertere Leistungen hervorbringen zu können.<br />

Mit Blick auf die Möglichkeit <strong>de</strong>r Sublimierung wird somit die oft gehörte<br />

Behauptung, sexuelle Enthaltsamkeit sei grundsätzlich schädlich und<br />

910 mache einen Menschen ‘verklemmt’, durch die <strong>Psychoanalyse</strong> zumin<strong>de</strong>st<br />

in dieser verallgemeinern<strong>de</strong>n Formulierung wi<strong>de</strong>rlegt. <strong>Die</strong> von<br />

christlichen, buddhistischen, hinduistischen und vielen an<strong>de</strong>ren Religionen<br />

empfohlene sexuelle Enthaltsamkeit (mit <strong>de</strong>m Ziel, alle Energien für<br />

die spirituelle Entwicklung zur Verfügung zu haben) fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Mög-<br />

915 lichkeit <strong>de</strong>r Sublimierung sogar ihre tiefenpsychologische Legitimation.<br />

5.14. Verschiebung<br />

Unter Verschiebung wird die Lösung <strong>de</strong>r Verknüpfung von Affekt und<br />

Vorstellung verstan<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Affekt an eine vom Über-Ich weniger<br />

bedrohte Vorstellung gekoppelt wird.<br />

920 Als typisches Beispiel mag ein weiteres Mal sexueller Mißbrauch dienen.<br />

Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht wur<strong>de</strong>n, empfin<strong>de</strong>n<br />

häufig Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Oftmals wird viele Jahre<br />

lang eine Verschiebung vorgenommen, in <strong>de</strong>m solche Frauen sich etwa<br />

ihre Schmerzen so erklären, daß diese eben "bei mir ja immer schon da<br />

925 waren" o<strong>de</strong>r durch "höhere Empfindlichkeit" verursacht wären. Auf diese<br />

Weise kann es vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, sich mit <strong>de</strong>r furchtbaren Vorstellung,<br />

von einem nahestehen<strong>de</strong>n Familienmitglied bis ins Innerste verletzt<br />

wor<strong>de</strong>n zu sein, konfrontieren zu müssen.<br />

5.15. Ungeschehen machen<br />

930 Darunter wird <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Kompensation einer abgelehnten Handlung<br />

durch eine darauffolgen<strong>de</strong> mit entgegengesetztem Inhalt verstan<strong>de</strong>n.<br />

Auch dieser Abwehrmechanismus wird zu <strong>de</strong>n unreifen (auf einem niedrigen<br />

Niveau <strong>de</strong>r Ich-Organisation ansetzen<strong>de</strong>n) Abwehrformen gezählt.<br />

935 Je<strong>de</strong>m von uns ist wohl ein Erlebnis mit einem Kind bekannt, das sich<br />

plötzlich ohne erkennbaren Grund "beson<strong>de</strong>rs brav" verhielt. Meist stellte<br />

sich danach heraus, daß es kurz davor etwas beson<strong>de</strong>rs "Schlimmes"<br />

angestellt hatte... Wobei in diesem speziellen Fall das "Ungeschehen<br />

machen" einerseits vorbewusst <strong>de</strong>n Betroffenen gegenüber erhofft wird,<br />

940 und <strong>de</strong>r eigentliche Abwehrmechanismus unbewusst greift – und zum<br />

Ziel hat, die Handlung <strong>de</strong>m eigenen Über-Ich gegenüber zu "neutralisieren".<br />

5.16. Flucht in die Gesundheit<br />

Hierbei ist die Angst vor <strong>de</strong>r Psychotherapie größer als ein etwaiger se-<br />

945 kundärer Krankheitsgewinn durch Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Symptomatik.<br />

<strong>Die</strong> Symtomatik verschwin<strong>de</strong>t plötzlich völlig, allerdings zumeist nur für<br />

eine sehr kurze Zeitspanne, da die eigentlichen Ursachen allein natürlich<br />

nur mit enormem Energieaufwand kompensiert wer<strong>de</strong>n konnten und<br />

das nicht dauerhaft möglich ist.<br />

950 6. <strong>Die</strong> psychosexuelle Entwicklung<br />

Nach<strong>de</strong>m Freud <strong>de</strong>n Sexualtrieb als die Basis <strong>de</strong>s Seelenlebens postuliert<br />

und die psychische Energie als Libido gefasst hatte, war es eigentlich<br />

nur logisch, die Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen vom Säugling bis ins<br />

Erwachsenenalter vorwiegend im Hinblick auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Se-<br />

955 xualtriebs und <strong>de</strong>s sexuellen Erlebens zu betrachten. <strong>Die</strong> Ergebnisse<br />

<strong>de</strong>r Entwicklungspsychologie, die von zahllosen Psychologen erarbeitet<br />

wur<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n dadurch keinesfalls gegenstandslos, son<strong>de</strong>rn Freud hat<br />

diese (insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Ansatz Hartmanns) vielmehr durch seine Sicht<br />

<strong>de</strong>r psychosexuellen Entwicklung um einen weiteren Aspekt angerei-<br />

960 chert. Viele Psychologen (etwa René Spitz, Erich Erikson, Mahler u.a.)<br />

haben ihre systematischen Beobachtungen bzw. Experimente auf die<br />

Basis <strong>de</strong>r Freudschen Theorie gestellt.<br />

<strong>Die</strong> grundlegen<strong>de</strong> Aussage Freuds besteht in <strong>de</strong>r Behauptung, die Sexualität<br />

erwache nicht erst – wie früher allgemein angenommen – mit <strong>de</strong>r<br />

965 Pubertät, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch sei bereits vom ersten Lebenstag an <strong>de</strong>s<br />

sexuellen Erlebens fähig und auch darum bemüht, es sich zu verschaffen.<br />

<strong>Die</strong>se Aussage wur<strong>de</strong> zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts – im sog.<br />

viktorianischen Zeitalter, das sich durch beson<strong>de</strong>re Prü<strong>de</strong>rie auszeich-<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 8 von 19


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nete – als skandalös betrachtet, so dass an einem Kongress <strong>de</strong>utscher<br />

970 Ärzte (um 1910) <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> – nach<strong>de</strong>m jemand <strong>de</strong>n Vorschlag gemacht<br />

hatte, man möge sich in einem Kongress mit <strong>de</strong>r Freudschen<br />

Lehre befassen – empört in die Versammlung schrie: "Meine Herren,<br />

das ist keine Sache für die Medizin, das ist eine Sache für die Polizei!"<br />

...<br />

975 Psychoanalytisch wird Sexualität jedoch eigentlich als das bezeichnet,<br />

was <strong>de</strong>m Lustgewinn aus körperlichen Funktionen dient (z.B. Nahrungsaufnahme:<br />

Reizung <strong>de</strong>r Mundschleimhaut). <strong>Die</strong> von Freud vorgenommene<br />

Be<strong>de</strong>utungserweiterung includiert <strong>de</strong>s weiteren auch alle zärtlichen<br />

Regungen - nimmt also i<strong>de</strong>ntische Wurzeln <strong>de</strong>r sinnlich-<br />

980 körperlichen und <strong>de</strong>r zärtlichen Strömungen <strong>de</strong>s Sexuallebens an. Freud<br />

unterschei<strong>de</strong>t also scharf zwischen <strong>de</strong>n Begriffen "sexuell" und "genital"<br />

- <strong>de</strong>r erstere Begriff umfaßt, wie im folgen<strong>de</strong>n aufgezeigt, auch viele Tätigkeiten,<br />

die mit <strong>de</strong>n Genitalien nichts zu tun haben. [mehr..]<br />

Sucht man nach Beziehungen bei<strong>de</strong>r Definitionen zum "konventionellen"<br />

985 Sexualleben, ist es (da Sexualität dabei nicht mehr vom Reifungszustand<br />

<strong>de</strong>r Keimdrüsen abhängt) nur folgerichtig, solche sexuellen Tätigkeiten<br />

schon früh im Leben zu suchen und ihre weitere Entwicklung zu<br />

verfolgen. Hier fin<strong>de</strong>n sich dann etwa Vornahmen zur Reizung <strong>de</strong>r<br />

Mund- und Lippenschleimhaut, <strong>de</strong>r Analschleimhaut, <strong>de</strong>r Glans Penis<br />

990 und <strong>de</strong>r Klitoris sowie <strong>de</strong>r Vaginalschleimhaut, die sich allesamt schon<br />

im frühen Kindheitsalter beobachten lassen und als Ausdrücke infantiler<br />

Sexualität bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Hierbei wer<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Grundannahmen<br />

getroffen:<br />

• Unterschiedliche Körperregionen (sog. erogene Zonen) wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />

995 einzelnen Entwicklungsstadien mit Libido-Energie (Sexualenergie) besetzt<br />

• zu einer Spannungsreduktion (Abfuhr von libidinöser Energie) führen<br />

sowohl <strong>de</strong>r normale physiologische Gebrauch sowie die künstliche<br />

Reizung dieser Körperregionen, es entstehen "Lustgefühle". So führt<br />

1000 z.B. das Saugen an <strong>de</strong>r Mutterbrust sowie das Daumenlutschen bei<strong>de</strong><br />

zu einem Lustgewinn.<br />

• das Luststreben ist weitgehend "autoerotisch", d.h., es beschränkt<br />

sich auf die Selbstreizung <strong>de</strong>r erogenen Zonen.<br />

Freud glaubte, drei frühkindliche Phasen <strong>de</strong>r Sexualentwicklung feststel-<br />

1005 len zu können, gefolgt von <strong>de</strong>r sog. Latenzzeit und <strong>de</strong>r darauf folgen<strong>de</strong>n<br />

Pubertät bzw. Adoleszenz, die ins Erwachsenenalter überleitet. <strong>Die</strong> einzelnen<br />

Phasen <strong>de</strong>r psychosexuellen Entwicklung wur<strong>de</strong>n dabei nach <strong>de</strong>r<br />

jeweils dominieren<strong>de</strong>n erogenen Zone benannt:<br />

1. Lebensjahr: Orale Phase<br />

1010 2./3. Lebensjahr: Anale Phase<br />

4./7. Lebensjahr: Phallische Phase<br />

7./11. Lebensjahr: Latenzzeit<br />

12./16. Lebensjahr: Pubertät<br />

17./21. Lebensjahr: Genitale Phase / Adolezenz<br />

1015 <strong>Die</strong>se Altersangaben sind jedoch mit großer Vorsicht zu behan<strong>de</strong>ln,<br />

<strong>de</strong>nn sie variieren je nach Milieu, Geschlecht und individuellen Voraussetzungen<br />

und sind darüber hinaus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>l unterworfen.<br />

Auch sind insbeson<strong>de</strong>re die drei frühkindlichen Phasen weniger<br />

als ein ‘Hintereinan<strong>de</strong>r’ als ein ‘Hinzukommen’ zu betrachten, in<strong>de</strong>m<br />

1020 nämlich die vorausgehen<strong>de</strong>n typischen Verhaltensweisen nicht etwa völlig<br />

verschwin<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn durch neue überlagert wer<strong>de</strong>n.<br />

6.1. Orale Phase<br />

Objektlosigkeit, Anstreben ständiger Homöostase; hin zu Objektbildung<br />

und Entwicklung <strong>de</strong>s Urvertrauens<br />

1025 Freud bezeichnet Körperregionen, <strong>de</strong>ren Reizung als beson<strong>de</strong>rs lustvoll<br />

erlebt wird, als ‘erogene Zonen’. Unter <strong>de</strong>m Eindruck, dass ein Neugeborenes<br />

beim Saugen ganz offensichtlich ein beson<strong>de</strong>rs großes Wohlbehagen<br />

erlebt und es gewissermaßen ganz in seinem Saugen aufgeht,<br />

schrieb er: "Das Wonnesaugen ist mit voller Aufzehrung <strong>de</strong>r Aufmerk-<br />

1030 samkeit verbun<strong>de</strong>n, führt entwe<strong>de</strong>r zum Einschlafen o<strong>de</strong>r selbst zu einer<br />

motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus.". Das Lusterlebnis<br />

beim Saugen wur<strong>de</strong> also als sexuelles Erleben beschrieben. <strong>Die</strong> erste<br />

erogene Zone während <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres ist also <strong>de</strong>r Mund, weshalb<br />

Freud diese Zeit als ‘orale Phase’ (oral = mündlich) bezeichnete. Im wei-<br />

1035 teren Sinne betrachtete er die ganze Haut als erogene Zone, d.h. – negativ<br />

ausgedrückt – das Lusterleben hat sich noch nicht auf die Reizung<br />

<strong>de</strong>r Genitalorgane konzentriert.<br />

Freud erkannte, dass das Aufnehmen, das Einverleiben von irgen<strong>de</strong>twas<br />

als eine grundlegen<strong>de</strong> Lebensgebär<strong>de</strong> (Modalität) verstan<strong>de</strong>n wer-<br />

1040 <strong>de</strong>n kann, die zeitlebens von zentraler Be<strong>de</strong>utung ist. Er war <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

dass die bestimmte Art, wie das Kind das Einverleiben während<br />

<strong>de</strong>s 1. Lebensjahres erlebt, das gesamte Verhältnis <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n<br />

Menschen zur Modalität <strong>de</strong>s Einverleibens und Aufnehmens prägt.<br />

Erlebt z.B. ein Säugling, dass er immer zuerst sehr lange und intensiv<br />

1045 schreien muss, bis er seinen plagen<strong>de</strong>n Hunger stillen und saugen<br />

kann, so entsteht dadurch eine gestörte Beziehung zu allem, was im Leben<br />

irgendwie mit Aufnehmen – z.B. auch mit Lernen – zu tun hat. Solche<br />

Menschen wer<strong>de</strong>n oft durch das Grundgefühl gepeinigt, immer zu<br />

kurz zu kommen, was sich in allen möglichen Formen von Gier äußern<br />

1050 kann. <strong>Die</strong>se Haltung kann auch die Grundlage für viele Formen von<br />

Sucht sein: im Rauchen und Trinken ist die orale Gebär<strong>de</strong> ganz offensichtlich,<br />

aber auch je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Rauschzustand (z.B. durch an<strong>de</strong>re<br />

Drogen) kann verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n als Versuch, sich einlullen zu lassen,<br />

d.h. in jenen frühkindlichen Zustand <strong>de</strong>r Geborgenheit und <strong>de</strong>s Noch-<br />

1055 keine-Verantwortung-tragen-Müssens zurücksinken zu können. Oral gestörte<br />

Menschen haben oft entwe<strong>de</strong>r etwas 'Aufsaugen<strong>de</strong>s' an sich (sie<br />

klammern sich beispielsweise in ungesun<strong>de</strong>r Weise an alle Mitmenschen<br />

und haben wenig Sinn für ein gewisses Distanzbedürfnis <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren),<br />

o<strong>de</strong>r sie verweigern reflexartig alles Neue, das sie stets als Be-<br />

1060 drohung empfin<strong>de</strong>n, und sagen in einer krankhaften Selbstbewahrungsten<strong>de</strong>nz<br />

chronisch nein.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> – nicht zuletzt im Gefolge von Erikson und Spitz –<br />

betont immer wie<strong>de</strong>r die große Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres für die<br />

gesun<strong>de</strong> Lebensentwicklung und zeigt auf, dass ein Mensch, <strong>de</strong>r sich in<br />

1065 <strong>de</strong>r oralen Phase von <strong>de</strong>n Eltern, insbeson<strong>de</strong>re von <strong>de</strong>r Mutter, angenommen<br />

und emotional geborgen fühlt und <strong>de</strong>r die Grun<strong>de</strong>rfahrung<br />

macht, dass seine Bedürfnisse mit aller Selbstverständlichkeit befriedigt<br />

wer<strong>de</strong>n, das sog. Urvertrauen ausbil<strong>de</strong>t (Erikson formulierte später: „das<br />

Kind lernt anzunehmen, was ihm gegeben wird“). Das Urvertrauen be-<br />

1070 grün<strong>de</strong>t für das ganze Leben eine Grundgestimmtheit, die dazu ermutigt,<br />

sich <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Lebens gegenüber positiv einzustellen und<br />

sein Wirken als sinnvoll zu erleben. Fühlt sich hingegen das Kind abgelehnt,<br />

muss es auf eine geregelte Pflege und Ernährung durch die Mutter<br />

verzichten, wird es gar vernachlässigt o<strong>de</strong>r geschlagen, erfährt es zu<br />

1075 wenig o<strong>de</strong>r keinen natürlichen Körperkontakt mit <strong>de</strong>n Eltern, so entwickelt<br />

sich das sog. Urmisstrauen, eine Grundgestimmtheit <strong>de</strong>s Pessimismus,<br />

die zu chronischer Verweigerung, zu Versagertum und zur<br />

Selbstablehnung führt.<br />

Das 1. Lebensjahr ist auch jene Zeit, in welcher <strong>de</strong>r primäre Narzissmus<br />

1080 – <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r völligen Auf-sich-selbst-Gerichtetheit <strong>de</strong>r Libido – zu<br />

Gunsten von Objekt-Bildungen überwun<strong>de</strong>n wird. Als erstes Objekt,<br />

welches <strong>de</strong>r Säugling mit Libido besetzt, gilt Freud die Mutterbrust. Im<br />

Erleben, dass sie nicht immer verfügbar ist, entwickelt sich im Kind das<br />

Gefühl einer Trennung zwischen ihm selbst und <strong>de</strong>r Welt. Gleichzeitig<br />

1085 entsteht aber auch eine tief sitzen<strong>de</strong> ambivalente (doppelwertige) Beziehung<br />

zur Mutter, <strong>de</strong>nn einerseits erfährt das Kind die Mutter ja als<br />

nährend (die Bedürfnisse befriedigend), an<strong>de</strong>rerseits als versagend (die<br />

Bedürfnisbefriedigung verweigernd). Eine ähnlich ambivalente Bezie-<br />

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hung bil<strong>de</strong>t sich später auch zum Vater, weshalb die Elternbeziehung<br />

1090 grundsätzlich als ambivalent und somit als problembehaftet zu betrachten<br />

ist. So läßt sich die häufig von schwierigen Ablösungskonflikten gekennzeichnete<br />

Pubertät auch als Prozeß verstehen, daß das Kind, das<br />

nun immer weniger auf die Nährung durch die Eltern angewiesen ist, die<br />

von <strong>de</strong>n Eltern unterschiedlichen Bedürfnisregungen stärker zulassen<br />

1095 und verfolgen will. Das "Eigene" wird dann vor allem in <strong>de</strong>m wahrgenommen,<br />

was unterschiedlich zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Eltern ist.<br />

Der amerikanische Psychoanalytiker René Spitz hat sich in beson<strong>de</strong>rer<br />

Weise mit <strong>de</strong>m 1. Lebensjahr beschäftigt. So stellte er fest, dass das<br />

‘Frem<strong>de</strong>ln’ im Alter von ca 8 Monaten (Spitz bezeichnete dies als ‘Acht-<br />

1100 Monate-Angst’) darauf beruht, dass das Kind jetzt in <strong>de</strong>r Lage ist, verschie<strong>de</strong>ne<br />

Gesichter voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n, wogegen es früher<br />

offensichtlich alle Antlitze als diejenigen <strong>de</strong>r Mutter interpretierte.<br />

Im Zuge seiner Forschungen befaßte sich Spitz beson<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>m Zusammenhang<br />

zwischen <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>r Mutter und <strong>de</strong>ssen Auswir-<br />

1105 kungen auf das Kind, wobei er 6 verschie<strong>de</strong>ne problematische Einstellungen<br />

<strong>de</strong>r Mutter zum Muttersein o<strong>de</strong>r zum Kind feststellte, welche bei<br />

diesem zu teils erheblichen psychischen Schädigungen führen können:<br />

1. unverhüllte Ablehnung<br />

2. ängstlich übertriebene Besorgnis<br />

1110 3. in Ängstlichkeit verwan<strong>de</strong>lte unbewusste Feindseligkeit<br />

4. ständiges Schwanken zwischen Verwöhnen und Feindseligkeit<br />

5. zyklische Stimmungsschwankungen <strong>de</strong>r Mutter (Launenhaftigkeit)<br />

6. kompensierte Feindseligkeit (z.B. durch Verwöhnen)<br />

Berühmt gewor<strong>de</strong>n sind die Spitz’schen Untersuchungen von Kin<strong>de</strong>rn<br />

1115 einerseits in einem Waisenhaus, wo diese durch häufig wechseln<strong>de</strong><br />

Wärterinnen betreut wur<strong>de</strong>n und in einer sehr reizarmen Umwelt (weiß<br />

und steril) lebten, und an<strong>de</strong>rerseits in einem Frauengefängnis, in welchem<br />

sich die Mütter ganz ihren Kin<strong>de</strong>rn widmen und sie selber stillen<br />

und pflegen konnten. Er stellte sehr <strong>de</strong>utliche Entwicklungsunterschie<strong>de</strong><br />

1120 fest: <strong>Die</strong> Kin<strong>de</strong>r im Frauengefängnis gediehen wun<strong>de</strong>rbar, waren selten<br />

krank, entwickelten eine überdurchschnittliche Intelligenz und waren –<br />

wie man so sagt – ‘putzmunter’. Bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn im Waisenhaus hingegen<br />

musste er nicht nur häufige Erkrankungen, son<strong>de</strong>rn auch ziemlich<br />

viele To<strong>de</strong>sfälle feststellen, und mehr o<strong>de</strong>r weniger alle Kin<strong>de</strong>r fielen<br />

1125 durch verschie<strong>de</strong>ne Störungen und Anzeichen gehemmter Entwicklung<br />

auf. Er bemerkte, dass Kin<strong>de</strong>r, die von klein auf in Spitälern aufwachsen<br />

und einer reizarmen, sterilen Umwelt sowie einer gewissen Massenabfertigung<br />

beim Füttern und Trockenlegen ausgesetzt sind, dieselben<br />

Symptome zeigen wie die untersuchten Kin<strong>de</strong>r im Waisenhaus und be-<br />

1130 zeichnete daher das beschriebene Krankheitsbild als ‘Hospitalismus’.<br />

Beson<strong>de</strong>rs gefähr<strong>de</strong>t sind davon insbeson<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r, die zwischen<br />

<strong>de</strong>m 6. Lebensmonat und 3 Jahren hospitalisiert sind. Sie zeichnen sich<br />

oft durch Kontaktarmut, Apathie, verzögertes Gehen- und Sprechenlernen,<br />

soziale Anpassungsschwierigkeiten, intellektuelle Entwicklungs-<br />

1135 rückstän<strong>de</strong>, gesteigerte Krankheitsanfälligkeit, erhöhte Sterblichkeit,<br />

Passivität, Interesselosigkeit und stereotype Bewegungen aus.<br />

Als Spätfolgen treten die bekannten und zu Teil schon erwähnten Auswirkungen<br />

einer gestörten oralen Phase auf: Süchte, Zurückschrecken<br />

vor Lebensaufgaben, Gierigkeit, mangeln<strong>de</strong> Initiative, übergroße Bedürf-<br />

1140 tigkeit nach Zuwendung und Liebe.<br />

6.2. Anale Phase<br />

Ausweitung und Überschreitung <strong>de</strong>s symbiotischen Bereiches, Selbstbestimmung<br />

von Nähe und Distanz, Entwicklung hin zu Objektkonstanz<br />

und Selbstkonstanz<br />

1145 Zwischen 1. und 3. Lebensjahr verlagert sich die Bedürfnisbefriedigung<br />

auf die anale Zone: die anale und urethrale Muskulatur wird trainiert, das<br />

Kind lernt, "zurückzuhalten" und "auszustoßen". Es kann nun seit einiger<br />

Zeit sitzen, und die Eltern setzen es, um nicht unnötig lang Win<strong>de</strong>ln waschen<br />

zu müssen, von Zeit zu Zeit aufs Töpfchen. Das Kind ist nun zu-<br />

1150 nehmend in <strong>de</strong>r Lage, die Darmentleerung willentlich zu steuern, d.h.<br />

<strong>de</strong>n Kot entwe<strong>de</strong>r zurückzuhalten o<strong>de</strong>r loszulassen. Offensichtlich ermöglicht<br />

ihm dies eine neue Weise <strong>de</strong>s Lustgewinns: Kin<strong>de</strong>r dieses Alters<br />

benutzen ihren Kot mit ungebändigter Lust als Mo<strong>de</strong>lliermasse, bemalen<br />

damit auch Bett und Wän<strong>de</strong> und stopfen ihn auch ohne weiteres<br />

1155 in <strong>de</strong>n Mund.<br />

Analog zur oralen Modalität erkennt Freud in diesem konkreten körperlichen<br />

Vorgang gewissermaßen das Grundmo<strong>de</strong>ll einer allgemeinen Lebensgebär<strong>de</strong>:<br />

<strong>de</strong>r Modalität <strong>de</strong>s Besitzens und Hergebens. Tatsächlich<br />

stellt sich <strong>de</strong>m Menschen als einem Wesen, das aufnimmt und einver-<br />

1160 leibt, logischerweise auch die Aufgabe, zu entschei<strong>de</strong>n, was und wie viel<br />

behalten und was ausgeschie<strong>de</strong>n (losgelassen) wer<strong>de</strong>n soll. Das betrifft<br />

materielle Güter genauso wie psychische Verhaftungen und geistige<br />

‘Besitztümer’. Nach Ansicht <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> wird das Verhältnis zu<br />

diesen Lebensaufgaben in <strong>de</strong>r frühen Kindheit emotional grundgelegt,<br />

1165 und zwar eben im körperlichen Erleben eines Vorgangs, <strong>de</strong>r gewissermassen<br />

das Grundmo<strong>de</strong>ll ist für alles an<strong>de</strong>re, wo auch Behalten o<strong>de</strong>r<br />

Hergeben-Müssen bzw. Hergeben-Wollen zur Diskussion steht.<br />

In diesem Zusammenhang weist die <strong>Psychoanalyse</strong> auf eine gewisse<br />

Wesensverwandtschaft zwischen Fäkalien und materiellem Besitz hin.<br />

1170 So sagt man etwa von einem Geizhals, er ‘hocke auf seinem Geld’, arme<br />

Menschen wünschen sich einen ‘Geldscheisser’, im Märchen vom<br />

Tischlein-Deck-dich "scheisst" <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>sel auf <strong>de</strong>n Befehl ‘briklebrit!’<br />

tatsächlich Goldstücke, und wenn jemand um Geld betrogen wur<strong>de</strong>, ist<br />

er "beschissen" wor<strong>de</strong>n.<br />

1175 Freud weist darauf hin, dass das Kind mit seiner nun entstehen<strong>de</strong>n Fähigkeit<br />

<strong>de</strong>r Kontrolle über die Defäkation zum Erlebnis <strong>de</strong>r Macht über<br />

die Eltern kommt – also tatsächlich auch selbst etwas außerhalb seiner<br />

selbst kontrollieren zu können. Bei<strong>de</strong>s sind auch wesentliche Grundpfeiler<br />

für Grundgefühle wie Autonomie und Selbstbewusstsein. Insofern es<br />

1180 seine Macht genießt, keimen im Kind erste Gefühle <strong>de</strong>s Sadismus auf,<br />

weshalb Freud diese Phase auch als ‘anal-sadistische’ Phase bezeichnet.<br />

Man könnte somit sagen: Psychische Themen, welche in <strong>de</strong>r analen<br />

Phase gefühlshaft grundgelegt wer<strong>de</strong>n, sind das Verhältnis zum Besitz,<br />

zur Macht, zum Behalten und Hergeben und damit auch zur Ordnung.<br />

1185 Störungen in <strong>de</strong>r analen Phase führen logischerweise zu Störungen in<br />

<strong>de</strong>n oben erwähnten Bereichen. Es bil<strong>de</strong>n sich Geiz o<strong>de</strong>r Verschwendungssucht,<br />

chaotisches Gebaren o<strong>de</strong>r übertriebene Ordnungsliebe, Eigensinn<br />

und zwanghaftes Verhalten heraus.<br />

Kluge Eltern lassen <strong>de</strong>r Schmutzlust <strong>de</strong>r Kleinen in <strong>de</strong>r analen Phase<br />

1190 <strong>de</strong>n ihr gebühren<strong>de</strong>n Raum, in<strong>de</strong>m sie ihnen Fingerfarben geben und<br />

sie im Garten mit nassem Sand und nasser Er<strong>de</strong> so richtig herummatschen<br />

lassen. Unkluge Eltern versuchen mit lieblosem Druck, ihre Kin<strong>de</strong>r<br />

so früh wie möglich ‘sauber’ zu bekommen, um damit ihren eigenen<br />

Ehrgeiz zu befriedigen ("Wissen Sie, Frau Müller, unsere Lisa ist schon<br />

1195 seit 4 Monaten sauber!“). Der Wunsch nach Selbständigkeit gerät nun<br />

ständig in Konflikt mit <strong>de</strong>n Anpassungsfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Umwelt - um hier<br />

eine zufrie<strong>de</strong>nstellen<strong>de</strong> Lösung zu ermöglichen, müssen diese also so<br />

formuliert wer<strong>de</strong>n, daß sie vom Kin<strong>de</strong> angenommen wer<strong>de</strong>n können.<br />

Alle sog. Zwangsneurosen haben ihren Ursprung in dieser Phase. Im<br />

1200 Hinblick auf diesen Zusammenhang spricht die <strong>Psychoanalyse</strong> von einem<br />

‘analen Charakter’ und meint damit einen Menschen, <strong>de</strong>r überkontrolliert<br />

ist, zu fixen I<strong>de</strong>en neigt, sich nirgends anpassen kann, stets<br />

recht haben muss und gewiss nicht ‘Fünfe gera<strong>de</strong> sein lassen’ kann.<br />

6.3. Phallische Phase<br />

1205 Stabilisierung <strong>de</strong>r Selbstkonstanz und Entwicklung <strong>de</strong>r Geschlechteri<strong>de</strong>ntität,<br />

bei positiver Auflösung <strong>de</strong>s ödipalen Konflikts: Bildung und<br />

Konsolidierung <strong>de</strong>s Über-Ich, wodurch <strong>de</strong>r Übergang von einem mehr<br />

dyadischen zu einem triadischen Beziehungsmuster vollzogen wer<strong>de</strong>n<br />

können sollte.<br />

1210 In <strong>de</strong>r phallischen Phase verlagert sich die erogene Zone auf die Genitalien.<br />

Dass Freud diesen Lebensabschnitt generell nach <strong>de</strong>m männlichen<br />

Glied (Phallus) benennt, haben ihm Frauen natürlich immer wie<strong>de</strong>r übel<br />

genommen. Seine Verteidigung, dass sich in <strong>de</strong>r embryonalen Entwicklung<br />

die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane lange nicht un-<br />

1215 terschei<strong>de</strong>n und sich später das, was beim Knaben zum Phallus wird,<br />

beim Mädchen zur Klitoris entwickelt, irritiert dann noch mehr, <strong>de</strong>nn daraus<br />

leitet sich – setzt man eine rein quantitative Sichtweise an – die Ansicht<br />

ab, die Frau sei, sexuell betrachtet, ein unvollkommener Mann. <strong>Die</strong><br />

Sache wird dann noch problematischer, wenn Freud feststellt, dass die<br />

1220 Kin<strong>de</strong>r dieses Alters ihre unterschiedliche Geschlechtlichkeit ent<strong>de</strong>cken<br />

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(sie spielen in diesem Alter oft ‘Doktorspiele’ und befriedigen so ihre<br />

Neugier<strong>de</strong> bzw. ihre Lust, sich an<strong>de</strong>ren zu zeigen: Voyeurismus und Exhibitionismus)<br />

und dann das Mädchen sieht, dass ihm etwas fehlt, das<br />

<strong>de</strong>r Vater o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Knabe hat. Freud vertritt nämlich die Ansicht, dass im<br />

1225 Mädchen - selbstverständlich unbewusst - eine Verärgerung darüber<br />

entsteht, dass ihm etwas fehlt, und er nennt dieses Gefühl <strong>de</strong>n ‘Penisneid’.<br />

Der Knabe in<strong>de</strong>s hat zu solchem Neid keinen Anlass, son<strong>de</strong>rn beginnt –<br />

was man tatsächlich sehr oft beobachten kann – in diesem Alter mit sei-<br />

1230 nem Glied zu imponieren (Imponiergehabe). Freud erfuhr in seinen zahlreichen<br />

Analysen, die er mit männlichen Klienten durchführte, dass damals<br />

offensichtlich <strong>de</strong>n meisten Knaben von ihren sittenstrengen Erzieherinnen<br />

und Erziehern gedroht wur<strong>de</strong>, man wür<strong>de</strong> ihnen das Glied abschnei<strong>de</strong>n,<br />

wenn sie weiterhin damit spielten. Freud glaubte, dass ein<br />

1235 Knabe, belastet mit dieser Drohung, tatsächlich annimmt, dass z.B. seine<br />

Schwester o<strong>de</strong>r seine Mutter früher noch einen Phallus hatten, ihn<br />

aber eben durch Kastration einbüssten. Dem Penisneid <strong>de</strong>s Mädchens<br />

entspricht seitens <strong>de</strong>s Knaben somit die – ebenfalls unbewusste – ‘Kastrationsangst’.<br />

1240 So wie in <strong>de</strong>r oralen Phase das Saugen zum Urmo<strong>de</strong>ll wird für alles,<br />

was im ganzen Leben irgendwie mit Einverleiben zu tun hat, und so wie<br />

in <strong>de</strong>r analen Phase das Behalten o<strong>de</strong>r Hergeben <strong>de</strong>r Exkremente die<br />

emotionale Gestimmtheit betreffend Besitzen und Loslassen (Hergeben,<br />

Ausgeben) präformiert, so wird die Art und Weise, wie das Kind in <strong>de</strong>r<br />

1245 phallischen Phase die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s eigenen Geschlechts erlebt, ganz<br />

allgemein zum Urmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Dominanzverhaltens. Eine allgemeine Haltung<br />

<strong>de</strong>s Kampfs gegen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rerseits auch <strong>de</strong>r Unterwerfung unter<br />

das an<strong>de</strong>re Geschlecht ist zumeist auf Störungen in <strong>de</strong>r phallischen<br />

Phase zurückzuführen.<br />

1250 6.3.1. Ödipuskomplex<br />

Im Zuge <strong>de</strong>r Verlagerung <strong>de</strong>s sexuellen Interesses auf die Genitalien<br />

und <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Zweigeschlechtlichkeit <strong>de</strong>s Menschen spielt<br />

sich in <strong>de</strong>r phallischen Phase nach Freud ein zentrales unbewusstes<br />

Geschehen ab, das er <strong>de</strong>n Ödipuskomplex nennt. <strong>Die</strong>se Benennung be-<br />

1255 zieht sich auf jene griechische Sage, wonach es das tragische Geschick<br />

von König Ödipus war, seine eigene Mutter zu ehelichen, ein – wenn<br />

auch unwillentlich begangenes – Verbrechen, das <strong>de</strong>r unglückliche König<br />

dadurch zu sühnen hoffte, dass er sich selbst die Augen ausstach.<br />

Der Ödipuskomplex spielt in <strong>de</strong>r Freudschen <strong>Psychoanalyse</strong> eine zent-<br />

1260 rale Rolle. Es geht dabei um die Beziehung zwischen Kind und Eltern,<br />

primär um die Beziehung zwischen <strong>de</strong>m Kind und <strong>de</strong>m gegengeschlechtlichen<br />

Elternteil. Im Folgen<strong>de</strong>n sei hier <strong>de</strong>r unbewusste Vorgang<br />

beschrieben, so wie er sich beim Knaben ereignet, beim Mädchen geschieht<br />

dies ungefähr spiegelbildlich:<br />

1265 Der Junge entwickelt während <strong>de</strong>r phallischen Phase <strong>de</strong>n unbewussten<br />

Triebwunsch, sich mit <strong>de</strong>r Mutter geschlechtlich zu vereinigen. Der Vater<br />

wird daher als Rivale betrachtet, <strong>de</strong>r Sohn phantasiert (stets unbewusst),<br />

dieser könnte sich durch Kastration rächen: Kastrationsangst<br />

stellt sich ein. Im Zuge dieser Rivalität entwickelt <strong>de</strong>r Knabe gegenüber<br />

1270 <strong>de</strong>m Vater auch To<strong>de</strong>swünsche, was in ihm – neben <strong>de</strong>r bereits beschriebenen<br />

Angst – tief sitzen<strong>de</strong> Schuldgefühle auslöst. Es gilt nun<br />

bei<strong>de</strong>s, die Ängste und die Schuldgefühle, abzuwehren, und dies geschieht<br />

mit <strong>de</strong>m oben beschriebenen Abwehrmechanismus <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation.<br />

In<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Knabe mit <strong>de</strong>m Vater i<strong>de</strong>ntifiziert, setzt er sich<br />

1275 gewissermaßen an seine Stelle und muss ihn damit einerseits nicht<br />

mehr fürchten und hat an<strong>de</strong>rerseits Anteil an <strong>de</strong>ssen Vorrechten gegenüber<br />

<strong>de</strong>r Mutter. <strong>Die</strong> geglückte I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater<br />

bezeichnet Freud als ‘Lösung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes’. Sie hat sehr be<strong>de</strong>utsame<br />

Folgen, <strong>de</strong>nn im Zuge dieser I<strong>de</strong>ntifikation übernimmt <strong>de</strong>r<br />

1280 Knabe die Norm- und Wertvorstellungen <strong>de</strong>s Vaters und – so Freud –<br />

damit auch <strong>de</strong>r Gesellschaft. <strong>Die</strong>se introjizierten Norm- und Wertvorstellungen<br />

stellen dann das dar, was Freud als ‘Über-Ich’ bezeichnet.<br />

Beim Mädchen geht es sich darum, dass es lernt, die Penislosigkeit zu<br />

akzeptieren. Gelingt ihm das, so kann es sich – analog zum Jungen –<br />

1285 leicht mit <strong>de</strong>r Mutter i<strong>de</strong>ntifizieren und so auch seine eigene ‘Geschlechtsrolle’<br />

annehmen. Kann es die Penislosigkeit nicht akzeptieren,<br />

so führt dies nach psychoanalytischer Erkenntnis zum ‘Männlichkeitskomplex’,<br />

<strong>de</strong>m krankhaften Bestreben, so zu sein wie <strong>de</strong>r Mann.<br />

Gestörte eheliche Beziehungen, die Abwesenheit eines Elternteils o<strong>de</strong>r<br />

1290 Fehlreaktionen eines Elternteils gegenüber <strong>de</strong>m Kind können die Ursache<br />

dafür sein, dass die I<strong>de</strong>ntifikation nicht gut gelingt, und es ist Freuds<br />

Überzeugung, dass ein schlecht o<strong>de</strong>r nicht gelöster Ödipuskomplex die<br />

Hauptursache für viele neurotische Störungen darstellt. <strong>Die</strong> Bearbeitung<br />

<strong>de</strong>s Ödipuskomplexes steht daher in einer klassischen Freudschen Ana-<br />

1295 lyse zumeist im Mittelpunkt.<br />

Ein nicht o<strong>de</strong>r schlecht gelöster Ödipuskomplex wirkt sich erfahrungsgemäß<br />

problematisch in <strong>de</strong>r späteren Partnerbeziehung aus. Männer<br />

suchen dann häufig – je nach<strong>de</strong>m, wie sie die Mutter in jener Zeit erfahren<br />

haben – entwe<strong>de</strong>r eine viel ältere Partnerin o<strong>de</strong>r entwickeln grund-<br />

1300 sätzlich Angst vor einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft. Frauen<br />

neigen zum Kampf gegen <strong>de</strong>n Mann und alles Männliche o<strong>de</strong>r Väterliche<br />

(man spricht dann etwa von einer ‘kastrieren<strong>de</strong>n Frau’) o<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n<br />

sich ebenfalls mit einem viel älteren Partner.<br />

Eine häufig vorkommen<strong>de</strong> Konstellation bei gestörten elterlichen Bezie-<br />

1305 hungen etwa ist folgen<strong>de</strong>: <strong>de</strong>r Vater neigt dazu, <strong>de</strong>n Werbungen <strong>de</strong>r<br />

Tochter (die auch während <strong>de</strong>r Schulzeit und in <strong>de</strong>r Pubertät andauern)<br />

auf eine ungesun<strong>de</strong> Weise entgegenzukommen, in<strong>de</strong>m er sich einerseits<br />

einen erotischen Ersatz für das sucht, was er bei <strong>de</strong>r eigenen Gattin<br />

nicht erhält, an<strong>de</strong>rerseits setzt er aber immer wie<strong>de</strong>r – will er mit Mo-<br />

1310 ral und Gesetz nicht in Konflikt kommen – auch schroffe Grenzen. Das<br />

führt dazu, dass die Tochter nicht nur <strong>de</strong>n Vater sehr ambivalent erfährt,<br />

son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r Mutter instinktiv als Rivalin empfun<strong>de</strong>n und darum<br />

von ihr meist abgelehnt wird, was das problematische und geheime<br />

Bündnis mit <strong>de</strong>m Vater weiter verstärkt. In ihren späteren Partnerschaf-<br />

1315 ten pflegt dann eine solche Tochter ihre Vaterbeziehung in <strong>de</strong>n Partner<br />

zu projizieren. Das be<strong>de</strong>utet vorerst einmal, dass sie in ihm <strong>de</strong>n Vater<br />

sucht, aber im Sexualleben sehr bald mit Schuldgefühlen (in <strong>de</strong>r Vater-<br />

Projektion erscheint ihr die sexuelle Beziehung zum Partner unbewusst<br />

als Inzest) und entsprechen<strong>de</strong>r Verweigerung reagiert. Ferner hat sie ja<br />

1320 <strong>de</strong>n Vater als eine Person erlebt, die wechselnd anzieht und zurückstößt,<br />

und nun wird sie vom Zwang tyrannisiert, dieses Anziehen und<br />

Zurückstoßen beim Partner zu wie<strong>de</strong>rholen und damit Macht auf ihn<br />

auszuüben. Schließlich läuft dies alles darauf hinaus, als ob sich die<br />

solcherart psychisch lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Tochter an <strong>de</strong>n Männern, die sich mit ihr<br />

1325 partnerschaftlich einlassen, für die vom Vater erlittenen Frustrationen<br />

gewissermaßen rächen möchte. <strong>Die</strong>s alles geschieht selbstverständlich<br />

unbewusst.<br />

6.4. Latenzzeit<br />

Festigung <strong>de</strong>s Primats <strong>de</strong>r Genitalität, I<strong>de</strong>ntitätsfindung, Festigung <strong>de</strong>r<br />

1330 sozialen Rolle, Strukturierung <strong>de</strong>r Zukunftsperspektive<br />

Nach psychoanalytischer Auffassung tritt etwa im Alter von 6-7 Jahren<br />

bis hin zur Pubertät das sexuelle Interesse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zurück. <strong>Die</strong> Sexualität<br />

ruht, verharrt in <strong>de</strong>r Latenz. <strong>Die</strong> Partialtriebe wer<strong>de</strong>n eher unterdrückt<br />

(z.T. sublimiert, also nichtsexuellen Zwecken zugeführt).All dies<br />

1335 zeigt sich u.a. darin, dass sich z.B. in <strong>de</strong>r Schule die Kin<strong>de</strong>r fast selbstverständlich<br />

geschlechtsspezifisch gruppieren, ja sich sogar betont vom<br />

an<strong>de</strong>ren Geschlecht distanzieren. Aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Knaben sind dann<br />

die Mädchen "blöd", und aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Mädchen die Jungen "dumm"<br />

(o<strong>de</strong>r ähnliches).<br />

1340 Hier ist vielleicht eine Bemerkung am Platze, die für die gesamte Freudsche<br />

Theorie <strong>de</strong>r kindlichen Sexualentwicklung gelten kann: es stellt<br />

sich nämlich die Frage, wie sehr die von <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> beobachteten<br />

Phänomene allgemein als zur Natur <strong>de</strong>s Menschen gehörend zu betrachten<br />

sind o<strong>de</strong>r aber aufgefasst wer<strong>de</strong>n können als Verhaltensweisen<br />

1345 in einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Situation. Angesichts <strong>de</strong>r<br />

Tatsache, dass heute ein Kind via Fernsehen (sofern es lange genug<br />

aufbleibt) mit allen möglichen Formen sexueller Praxis vertraut wer<strong>de</strong>n<br />

kann, viele Kin<strong>de</strong>r schon an <strong>de</strong>r Unterstufe fast ständig über Sexualität<br />

re<strong>de</strong>n und diesbezügliche Witze erzählen, darf man Freuds Theorie von<br />

1350 <strong>de</strong>r Latenzzeit wohl zumin<strong>de</strong>st etwas relativieren.<br />

6.5. Genitale Phase: Pubertät, Adoleszenz,<br />

Erwachsenensexualität<br />

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Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />

Ausbildung gereifter Genitalität, Selbstverantwortlichkeit, schöpferische<br />

Tätigkeit, »Meisterung <strong>de</strong>s Lebens« [Erikson] u.a.<br />

1355 <strong>Die</strong> Pubertät ist im Wesentlichen jener Abschnitt in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s<br />

jungen Menschen, in <strong>de</strong>m sich die kindliche Existenzweise in jene <strong>de</strong>s<br />

Erwachsenen umbil<strong>de</strong>t. Ein be<strong>de</strong>utsamer Aspekt dieser Umstrukturierung<br />

<strong>de</strong>r Persönlichkeit ist das Erreichen <strong>de</strong>r Geschlechtsreife. Beim<br />

Mädchen tritt sie mit <strong>de</strong>r ersten Menstruation ein, beim Knaben mit <strong>de</strong>r<br />

1360 ersten Pollution (Samenerguss). Freud nennt diesen Stand <strong>de</strong>r Entwicklung<br />

‘genitale’ Phase, das Ziel <strong>de</strong>r sexuellen Entwicklung ist erreicht.<br />

<strong>Die</strong> Geschlechtsreife führt in <strong>de</strong>r Regel auch zu einer verän<strong>de</strong>rten Einstellung<br />

gegenüber <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht. Was sich zuvor oft <strong>de</strong>utlich<br />

abstieß, stößt sich oft bloß noch zum Schein ab (Pubertieren<strong>de</strong> su-<br />

1365 chen Streit mit gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen, um mit ihnen balgen<br />

zu können) o<strong>de</strong>r zieht sich an.<br />

<strong>Die</strong> psychischen Verän<strong>de</strong>rungen, welche die Pubertät mit sich bringt,<br />

sind außeror<strong>de</strong>ntlich tiefgehend und vielfältig und betreffen die ganze<br />

Persönlichkeit.<br />

1370 7. <strong>Die</strong> Traum<strong>de</strong>utung<br />

Freuds erstmals in seinem berühmten Buch "Traumanalyse“ veröffentlichte<br />

Überlegungen zur Traum<strong>de</strong>utung trugen dazu bei, daß die <strong>Psychoanalyse</strong><br />

<strong>de</strong>n Rahmen einer reinen Psychopathologie sprengte - er<br />

wur<strong>de</strong> von ihm als "Königsweg zum Unbewussten" erachtet. Obwohl die<br />

1375 erste Auflage von Freuds Buch bei ihrem Erscheinen kaum beson<strong>de</strong>re<br />

Beachtung fand, war sich Freud offensichtlich schon früh <strong>de</strong>r epochemachen<strong>de</strong>n<br />

Be<strong>de</strong>utung seines Buches bewusst: es erschien im Oktober<br />

1899, aber Freud datierte es auf 1900 voraus und setzte unter <strong>de</strong>n Titel<br />

das rebellische Motto "flectere si nequeo superos acheronta moveba"<br />

1380 ("Und können wir uns die Götter nicht geneigt machen, so lasst uns die<br />

Unterweltlichen bewegen." – ein Zitat aus <strong>de</strong>r Antike). Neben <strong>de</strong>n ‘Drei<br />

Abhandlungen zur Sexualtheorie’ (1905), die er ebenfalls jeweils <strong>de</strong>m<br />

neuesten Stand seiner Theorieentwicklung anpasste, ist ‘<strong>Die</strong> Traum<strong>de</strong>utung’<br />

jenes Buch, <strong>de</strong>m er am meisten Sorgfalt ange<strong>de</strong>ihen ließ und das<br />

1385 er selbst in acht jeweils verän<strong>de</strong>rten und <strong>de</strong>m neuesten Entwicklungsstand<br />

angepassten Auflagen erscheinen ließ.<br />

Im gesamten Buch ist Freuds Bemühen erkennbar, <strong>de</strong>n Traum als einen<br />

Prozess zu begreifen, <strong>de</strong>r nach bestimmten Regeln aufgebaut ist und<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>shalb, sobald man diese Regeln kennt, mehr o<strong>de</strong>r weniger ein-<br />

1390 <strong>de</strong>utig ‘lesbar’ ist. Im Folgen<strong>de</strong>n sei <strong>de</strong>r Versuch gemacht, einige <strong>de</strong>r<br />

wichtigsten Regeln und damit die Freudsche Auffassung <strong>de</strong>r Funktionsweise<br />

<strong>de</strong>s Traumes darzustellen.<br />

7.1. Zweck und Wesen <strong>de</strong>s Traumes<br />

Nach Freud kommt <strong>de</strong>m Traum zuerst einmal eine rein physiologische<br />

1395 Be<strong>de</strong>utung zu: Er ist ‘<strong>de</strong>r Hüter <strong>de</strong>s Schlafs’. So ermöglicht er, Umwelto<strong>de</strong>r<br />

organische Reize umzu<strong>de</strong>uten und in <strong>de</strong>n Schlaf einzubauen. Verbreitet<br />

ist <strong>de</strong>nn auch die Erfahrung, dass <strong>de</strong>r Wecker schellt und man<br />

dann von einem Pressluftbohrer o<strong>de</strong>r Ähnlichem träumt – und selig weiterschläft.<br />

Ähnliches kann passieren, wenn die gefüllte Blase zur Entlee-<br />

1400 rung drängt und man dann träumt, man suche ein WC auf...<br />

In psychologischer Hinsicht ist nach Freud <strong>de</strong>r Traum ganz allgemein<br />

"die (verklei<strong>de</strong>te) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches."<br />

Insofern <strong>de</strong>r Wunsch verdrängt ist, han<strong>de</strong>lt es sich folglich beim<br />

Traum um eine Manifestation <strong>de</strong>s Es. Freud geht davon aus, dass im<br />

1405 Schlaf das Ich hochgradig geschwächt ist, d.h. dass die Libido von <strong>de</strong>r<br />

Motorik und <strong>de</strong>r Sinneswahrnehmung weitgehend zurückgezogen ist.<br />

Das Es nützt gewissermaßen die Gunst <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> und dringt mit seinen<br />

Inhalten ins Traumbewusstsein und – via Rückerinnerung an <strong>de</strong>n<br />

Traum – ins Bewusste ein. Da aber das Ich während <strong>de</strong>s Schlafs bloß<br />

1410 geschwächt, aber nicht völlig außer Funktion ist, stellt es sich gegen eine<br />

unverhüllte Offenbarung <strong>de</strong>s Verdrängten aus <strong>de</strong>m Es und zwingt<br />

<strong>de</strong>n geheimnisvollen Regisseur <strong>de</strong>s Traums, <strong>de</strong>n unbewussten, verdrängten<br />

Wunsch zu verschleiern und ihn in solche Bil<strong>de</strong>r zu klei<strong>de</strong>n, die<br />

<strong>de</strong>m Bewussten aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s verdrängen<strong>de</strong>n Ichs als akzeptabel<br />

1415 erscheinen. So gesehen, ist jener Traum, an <strong>de</strong>n wir uns beim Erwachen<br />

erinnern, nie genau das, was eigentlich das Es zum Ausdruck<br />

bringen wollte, son<strong>de</strong>rn stellt stets einen Kompromiss dar zwischen <strong>de</strong>m<br />

Es-Impuls und <strong>de</strong>r Gegenwehr <strong>de</strong>s Ich. Das Ich waltet <strong>de</strong>mzufolge beim<br />

Zustan<strong>de</strong>kommen eines konkreten Traumbil<strong>de</strong>s als Zensor.<br />

1420 Freuds Ansicht, je<strong>de</strong>r Traum sei eine unbewusste Wunscherfüllung,<br />

wur<strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r angezweifelt. Auf Anhieb scheinen zwar jene<br />

Träume, welche <strong>de</strong>r Träumer als sehr belastend empfin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n Kritikern<br />

recht zu geben. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich aber einwen<strong>de</strong>n,<br />

dass ja nicht <strong>de</strong>r manifeste, son<strong>de</strong>rn eben <strong>de</strong>r latente Traum die<br />

1425 Wunscherfüllung darstellt und dass die Zensur durch das Ich in einzelnen<br />

Fällen offenbar <strong>de</strong>rart gross ist, dass <strong>de</strong>r verdrängte Es-Wunsch eine<br />

gera<strong>de</strong>zu gegensätzliche Gestalt annehmen muss, um sich manifestieren<br />

zu können. Darüber hinaus entspricht es durchaus <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />

Auffassung, dass im Es die skurrilsten Wünsche, die <strong>de</strong>r<br />

1430 Selbsterhaltung vollkommen entgegenstehen, vorhan<strong>de</strong>n sein können.<br />

Wer kennt nicht z.B. die Angst, man könnte sich selbst plötzlich in die<br />

Tiefe stürzen wollen, wenn er von einer sehr hohen Brücke hinunterschaut.<br />

<strong>Die</strong>se Angst ist nur verständlich, weil im Es offensichtlich solche<br />

Wünsche lauern. Auch autoaggressive Wünsche mit <strong>de</strong>m Zwecke <strong>de</strong>r<br />

1435 Abwehr von Schuldgefühlen können zu sehr belasten<strong>de</strong>n Traumbil<strong>de</strong>rn<br />

führen.<br />

Damit ist aber <strong>de</strong>r Zweifel an Freuds Position nicht aus <strong>de</strong>r Welt geschafft<br />

– immerhin könnte es ja sein, dass zwar ein großer Teil, aber<br />

eben doch nicht alle Träume Wunscherfüllungen darstellen. Am ehesten<br />

1440 lässt sich noch Jungs Ansatz, <strong>de</strong>r Traum habe stets eine kompensatorische<br />

Funktion, gleiche also aus, was im bewussten Leben nicht ausgelebt<br />

wer<strong>de</strong>n könne, mit <strong>de</strong>r Freudschen Behauptung in Einklang bringen.<br />

Denn das Bedürfnis, ungelebte Seiten <strong>de</strong>r Persönlichkeit im Traum ersatzweise<br />

zu leben, kann sehr wohl generell als Wunscherfüllung <strong>de</strong>kla-<br />

1445 riert wer<strong>de</strong>n.<br />

7.2. Latenter und manifester Traum, Traum<strong>de</strong>utung und<br />

Traumarbeit<br />

Jenen Traumgedanken, <strong>de</strong>r im Es vorhan<strong>de</strong>n ist und sich im Träumen<br />

darstellen möchte, nennt Freud <strong>de</strong>n latenten Traum. Jenen Trauminhalt,<br />

1450 <strong>de</strong>r durch die Einwirkung <strong>de</strong>r Ich-Zensur entstellt wur<strong>de</strong>, bezeichnet<br />

Freud als manifesten Traum. Wenn also jemand einen Traum erinnert<br />

o<strong>de</strong>r erzählt, so han<strong>de</strong>lt es sich dabei stets um <strong>de</strong>n manifesten Traum.<br />

Der latente Traum kann erst sekundär, etwa via Traum<strong>de</strong>utung, ent<strong>de</strong>ckt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

1455 <strong>Die</strong> Traum<strong>de</strong>utung ist folglich die Umkehrung jenes Prozesses, <strong>de</strong>r die<br />

Umwandlung <strong>de</strong>s latenten in <strong>de</strong>n manifesten Traum bewerkstelligte.<br />

Freud nennt diesen Verwandlungsprozess, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Traumgedanken in<br />

die visuellen und akustischen Bil<strong>de</strong>r umsetzt, Traumarbeit. Es ist folglich<br />

ganz einfach: die Traumarbeit macht aus <strong>de</strong>m latenten Traum <strong>de</strong>n mani-<br />

1460 festen, und die Traum<strong>de</strong>utung geht diesen Weg wie<strong>de</strong>r zurück und ent<strong>de</strong>ckt<br />

im manifesten Traum <strong>de</strong>n ursprünglichen latenten Traum.<br />

Um die weiteren Begriffe leichter erklären zu können, hier ein Beispiel<br />

für einen möglichen manifesten Traum:<br />

Ein Lehrer träumt, er fahre mit einem rostigen VW zur Schule, überfahre<br />

1465 unterwegs ein Huhn, wer<strong>de</strong> dann von <strong>de</strong>n Schülern nicht wie gewohnt<br />

freundlich begrüßt, son<strong>de</strong>rn tätlich angegriffen, gehe dann seine Mappe<br />

suchen, die er im Auto vergessen habe, dieses habe sich aber unter<strong>de</strong>ssen<br />

in einen dreibeinigen Ofen verwan<strong>de</strong>lt, aus <strong>de</strong>m schwarzer<br />

Rauch aufsteige, und wie er ins Schulzimmer zurückkehren wolle, sei<br />

1470 dieses plötzlich eine Kirche, in welcher die Frau <strong>de</strong>s Schulabwarts die<br />

Messe lese.<br />

In diesem manifesten Traum fin<strong>de</strong>t sich eine Fülle von Elementen: Lehrer,<br />

Autofahren, VW, Rost, Schule, Huhn, Huhn überfahren usf. ‘Den<br />

Traum <strong>de</strong>uten’ heißt nun, einen Traumgedanken zu fin<strong>de</strong>n, in welchem<br />

1475 alle diese Elemente eine Entsprechung haben, für die sie als Stellvertreter<br />

gelten können. Sollte sich z.B. herausstellen, dass mit <strong>de</strong>m rostigen<br />

VW die leichte körperliche Invalidität <strong>de</strong>s Lehrers ausgedrückt ist, dass<br />

das überfahrene Huhn seine eigene Frau be<strong>de</strong>utet, mit <strong>de</strong>r er in unglücklicher<br />

Ehe lebt, und dass es sich bei seinen Schülern um seine ei-<br />

1480 genen Kin<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt, die ihn kürzlich aufgefor<strong>de</strong>rt haben, mit seiner<br />

Gemahlin ins reine zu kommen usf., so liegen hier Beispiele von Elementen<br />

aus <strong>de</strong>m latenten Traum vor.<br />

<strong>Die</strong> grundlegendste Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist folglich die Einkleidung eines<br />

Gedankens bzw. <strong>de</strong>r einzelnen Elemente eines Traumgedankens in<br />

1485 Bil<strong>de</strong>r, die in irgen<strong>de</strong>inem erkennbaren Zusammenhang mit <strong>de</strong>n latenten<br />

Traumelementen stehen. Der Zusammenhang kann im Wesen <strong>de</strong>r Sa-<br />

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Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />

che selbst liegen. Wenn jemand von ‘in die Schule gehen’ träumt, kann<br />

damit ganz allgemein die Lebensschule gemeint sein. Solche Deutungen<br />

sind im Allgemeinen einfach, und auch <strong>de</strong>r Außenstehen<strong>de</strong> kann<br />

1490 sich an <strong>de</strong>r Deutungsarbeit beteiligen. Sehr oft aber ist <strong>de</strong>r Zusammenhang<br />

zwischen <strong>de</strong>m latenten und <strong>de</strong>m manifesten Traumelement in <strong>de</strong>r<br />

konkreten Lebensgeschichte <strong>de</strong>s Träumers begrün<strong>de</strong>t. So kann sich<br />

z.B. herausstellen, dass <strong>de</strong>r Träumer in obigem Beispiel die Frau <strong>de</strong>s<br />

Schulhausabwarts letzten Sonntag in <strong>de</strong>r Kirche sah und dass ihm seine<br />

1495 Frau ‘die Leviten las’, und es ist klar, dass man erst dann einen wirklichen<br />

Zugang zum Traum fin<strong>de</strong>t, wenn man vom Träumer diese Erlebnisse<br />

mitgeteilt bekommt. Das ist <strong>de</strong>r Grund weshalb Freud nichts von<br />

reinen Fremd<strong>de</strong>utungen hielt, und seine Analysan<strong>de</strong>n zu je<strong>de</strong>m einzelnen<br />

Element <strong>de</strong>s manifesten Traumes frei assoziieren ließ (dieser Me-<br />

1500 tho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r freien Assoziation wur<strong>de</strong> dann z.B. von Jung entgegengehalten,<br />

dass dadurch eigentlich nicht <strong>de</strong>r Traum ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />

dass – via freie Assoziation – in aller Regelmäßigkeit bloß die neurotischen<br />

Züge <strong>de</strong>s Träumers sichtbar wer<strong>de</strong>n; diese wür<strong>de</strong>n sich nämlich<br />

beim freien Assoziieren stets zeigen, ganz gleich, von welchen Bil<strong>de</strong>rn,<br />

1505 Begriffen o<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>n man ausgehe).<br />

Im Rahmen dieses Verwan<strong>de</strong>lns von latenten Traumelementen in manifeste<br />

Traumbil<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t Freud fünf spezielle Formen <strong>de</strong>r<br />

Traumarbeit:<br />

1. Freud stellte fest, dass in <strong>de</strong>r Regel nicht – wie im obigen konstruier-<br />

1510 ten Beispiel – ein Element aus <strong>de</strong>m manifesten Traum jeweils einem<br />

an<strong>de</strong>ren Element im latenten Traum entspricht, son<strong>de</strong>rn dass sich mehrere<br />

Elemente <strong>de</strong>s latenten Traumes in einem einzigen Element <strong>de</strong>s<br />

manifesten Traumes vertreten lassen können. Auch das Umgekehrte ist<br />

möglich: dass nämlich ein einziges Element <strong>de</strong>s latenten Traumes in<br />

1515 mehreren Elementen <strong>de</strong>s manifesten Traumes vorkommt. Freud nennt<br />

diesen Vorgang <strong>de</strong>r Traumarbeit Verdichtung. Es könnte also sein, dass<br />

‘<strong>de</strong>s Lehrers Gemahlin’ (Element <strong>de</strong>s latenten Traums) sowohl im Huhn<br />

als auch im Ofen und in <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>s Schulhausabwarts ihre Entsprechung<br />

im manifesten Traum fin<strong>de</strong>t und dass an<strong>de</strong>rerseits im manifesten<br />

1520 Traumelement ‘rostiger VW’ die körperlichen Beschwer<strong>de</strong>n, die unerquickliche<br />

Situation am Arbeitsplatz und das angeschlagene Image beim<br />

Volk (Volkswagen) gleichzeitig ausgedrückt sind.<br />

2. Eine zweite Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verschiebung. Es han<strong>de</strong>lt<br />

sich dabei um eine Gewichtsverlagerung hinsichtlich <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utsamkeit<br />

1525 eines Elements. So kann auf Anhieb in unserem Beispiel z.B. <strong>de</strong>r rauchen<strong>de</strong><br />

Ofen als sehr wichtig erscheinen, aber bei einer genauen Analyse<br />

mag sich herausstellen, dass z.B. das Detail, dass er genau drei Beine<br />

hat, sehr wichtig ist.<br />

3. Eine weitere Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verkehrung ins Gegenteil.<br />

1530 So kann jemand träumen, dass er seine Sekretärin schlägt, und die Analyse<br />

zeigt dann, dass er sich unbewusst genau das Gegenteil wünscht<br />

(was immer das im jeweiligen Fall be<strong>de</strong>uten mag).<br />

4. Des weiteren scheint sich <strong>de</strong>r Traumregisseur einen Spaß daraus zu<br />

machen, <strong>de</strong>m Wortlaut einer Sache eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beizu-<br />

1535 messen. So kann jemand von einem Mantel träumen, und gemeint ist<br />

<strong>de</strong>r Mann, o<strong>de</strong>r jemand träumt von Klassenkamera<strong>de</strong>n Peter Bischof,<br />

und gemeint ist <strong>de</strong>r Bischof Petrus, nämlich <strong>de</strong>r Papst und damit die Beziehung<br />

zur Kirche und zur Religion. Und wenn jemand träumt, er reise<br />

gen Italien, so dürfte dies tatsächlich mit <strong>de</strong>n Genitalien im Zusammen-<br />

1540 hang stehen. Es läßt sich häufig die Erfahrung machen, dass uns <strong>de</strong>r<br />

‘Traumregisseur’ (wer und was das immer sei) viele solche Deutungen<br />

anbietet, sobald ‘er gemerkt’ hat, dass wir bei <strong>de</strong>r Deutung darauf achten.<br />

5. Schließlich vertritt Freud die Ansicht, dass bestimmten Gegenstän<strong>de</strong>n<br />

1545 feststehen<strong>de</strong> Symbole zugeordnet wer<strong>de</strong>n können. So schreibt Freud,<br />

nach<strong>de</strong>m er auf die Viel<strong>de</strong>utigkeit von Traumelementen hingewiesen<br />

und sich gegen eine starre Anwendung <strong>de</strong>r Traumsymbole verwahrt hat:<br />

"Der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) stellen wirklich zumeist<br />

die Eltern <strong>de</strong>s Träumers dar, Prinz o<strong>de</strong>r Prinzessin ist er selbst. <strong>Die</strong>sel-<br />

1550 be hohe Autorität wie <strong>de</strong>m Kaiser wird aber auch großen Männern zugestan<strong>de</strong>n,<br />

darum erscheint in manchen Träumen z.B. Goethe als Vatersymbol.<br />

Alle in die Länge reichen<strong>de</strong>n Objekte, Stöcke Baumstämme,<br />

Schirme (<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Erektion vergleichbaren Aufspannens wegen!), alle<br />

länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das<br />

1555 männliche Glied vertreten. Ein häufiges, nicht recht verständliches Symbol<br />

<strong>de</strong>sselben ist die Nagelfeile (<strong>de</strong>s Reibens und Schabens wegen?). –<br />

Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen <strong>de</strong>m Frauenleib,<br />

aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefäßen. Zimmer im<br />

Traume sind zumeist Frauenzimmer, die Schil<strong>de</strong>rung ihrer verschie<strong>de</strong>-<br />

1560 nen Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gera<strong>de</strong> nicht<br />

irre. Das Interesse, ob das Zimmer ‘offen’ o<strong>de</strong>r ‘verschlossen’ ist, wird in<br />

diesem Zusammenhange leicht verständlich. Welcher Schlüssel das<br />

Zimmer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu wer<strong>de</strong>n;<br />

die Symbolik von Schloss und Schlüssel hat Uhland im Lied vom ‘Gra-<br />

1565 fen Eberstein’ zur anmutigsten Zote gedient. – Der Traum, durch eine<br />

Flucht von Zimmern zu gehen, ist ein Bor<strong>de</strong>ll- o<strong>de</strong>r Haremstraum. Er<br />

wird aber, wie H. Sachs an schönen Beispielen gezeigt hat, zur Darstellung<br />

<strong>de</strong>r Ehe (Gegensatz) verwen<strong>de</strong>t. – Eine interessante Beziehung zur<br />

infantilen Sexualforschung ergibt sich, wenn <strong>de</strong>r Träumer von zwei<br />

1570 Zimmern träumt, die früher eines waren, o<strong>de</strong>r ein ihm bekanntes Zimmer<br />

einer Wohnung im Traume in zwei geteilt sieht o<strong>de</strong>r das Umgekehrte. In<br />

<strong>de</strong>r Kindheit hat man das weibliche Genitale (<strong>de</strong>n Popo) für einen einzigen<br />

Raum gehalten (die infantile Kloakentheorie) und erst später erfahren,<br />

dass diese Körperregion zwei geson<strong>de</strong>rte Höhlungen und Öffnun-<br />

1575 gen umfasst. – Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen,<br />

und zwar sowohl aufwärts wie abwärts, sind symbolische Darstellungen<br />

<strong>de</strong>s Geschlechtsaktes. – Glatte Wän<strong>de</strong>, über die man klettert,<br />

Fassa<strong>de</strong>n von Häusern, an <strong>de</strong>nen man sich – häufig unter starker Angst<br />

– herablässt, entsprechen aufrechten menschlichen Körpern, wie<strong>de</strong>rho-<br />

1580 len im Traum wahrscheinlich die Erinnerung an das Emporklettern <strong>de</strong>s<br />

kleinen Kin<strong>de</strong>s an Eltern und Pflegepersonen. <strong>Die</strong> ‘glatten’ Mauern sind<br />

Männer; an <strong>de</strong>n ‘Vorsprüngen’ <strong>de</strong>r Häuser hält man sich nicht selten in<br />

<strong>de</strong>r Traumangst fest. – Tische, ge<strong>de</strong>ckte Tische und Bretter sind gleichfalls<br />

Frauen, wohl <strong>de</strong>s Gegensatzes wegen, <strong>de</strong>r hier die Körperwölbun-<br />

1585 gen aufhebt. ‘Holz’ scheint überhaupt nach seinen sprachlichen Beziehungen<br />

ein Vertreter <strong>de</strong>s weiblichen Stoffes (Materie) zu sein. Der Name<br />

<strong>de</strong>r Insel Ma<strong>de</strong>ira be<strong>de</strong>utet im Portugiesischen: Holz. Da ‘Tisch und Bett’<br />

die Ehe ausmachen, wird im Traum häufig <strong>de</strong>r erstere für das letztere<br />

gesetzt und, soweit es angeht, <strong>de</strong>r sexuelle Vorstellungskomplex auf<br />

1590 <strong>de</strong>n Esskomplex transponiert. – Von Kleidungsstücken ist <strong>de</strong>r Hut einer<br />

Frau sehr häufig mit Sicherheit als Genitale, und zwar <strong>de</strong>s Mannes, zu<br />

<strong>de</strong>uten. Ebenso <strong>de</strong>r Mantel, wobei es dahingestellt bleibt, welcher Anteil<br />

an dieser Symbolverwendung <strong>de</strong>m Wortlaut zukommt. In Träumen <strong>de</strong>r<br />

Männer fin<strong>de</strong>t man häufig die Krawatte als Symbol <strong>de</strong>s Penis, wohl nicht<br />

1595 nur darum, weil sie lange herabhängt und für <strong>de</strong>n Mann charakteristisch<br />

ist, son<strong>de</strong>rn auch, weil man sie nach seinem Wohlgefallen auswählen<br />

kann, eine Freiheit, die beim Eigentlichen dieses Symbols von <strong>de</strong>r Natur<br />

verwehrt ist. Personen, die dieses Symbol im Traume verwen<strong>de</strong>n, treiben<br />

im Leben oft großen Luxus mit Krawatten und besitzen förmliche<br />

1600 Sammlungen von ihnen. – Alle komplizierten Maschinerien und Apparate<br />

<strong>de</strong>r Träume sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien – in <strong>de</strong>r<br />

Regel männliche –, in <strong>de</strong>ren Beschreibung sich die Traumsymbolik so<br />

unermüdlich wie die Witzarbeit erweist. Ganz unverkennbar ist es auch,<br />

dass alle Waffen und Werkzeuge zu Symbolen <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s<br />

1605 verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n: Pflug, Hammer, Flinte, Revolver, Dolch, Säbel usw.<br />

– Ebenso sind viele Landschaften <strong>de</strong>r Träume, beson<strong>de</strong>rs solche mit<br />

Brücken o<strong>de</strong>r mit bewal<strong>de</strong>ten Bergen, unschwer als Genitalbeschreibungen<br />

zu erkennen. Marcinowski hat eine Reihe von Beispielen gesammelt,<br />

in <strong>de</strong>nen die Träumer ihre Träume durch Zeichnungen erläu-<br />

1610 terten, welche die darin vorkommen<strong>de</strong>n Landschaften und Räumlichkeiten<br />

darstellen sollten. <strong>Die</strong>se Zeichnungen machen <strong>de</strong>n Unterschied von<br />

manifester und latenter Be<strong>de</strong>utung im Traume sehr anschaulich. Während<br />

sie, arglos betrachtet, Pläne, Landschaften und <strong>de</strong>rgleichen zu<br />

bringen scheinen, enthüllen sie sich einer eindringlicheren Untersu-<br />

1615 chung als Darstellung <strong>de</strong>s menschlichen Körpers, <strong>de</strong>r Genitalien usw.<br />

und ermöglichen erst nach dieser Auffassung das Verständnis <strong>de</strong>s<br />

Traumes. Auch darf man bei unverständlichen Wortneubildungen an Zusammensetzung<br />

aus Bestandteilen mit sexueller Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>nken. –<br />

Auch Kin<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten im Traume oft nichts an<strong>de</strong>res als Genitalien, wie<br />

1620 ja Männer und Frauen gewohnt sind, ihr Genitale liebkosend als ihr<br />

‘Kleines’ zu bezeichnen. Den ‘kleinen Bru<strong>de</strong>r’ hat Stekel richtig als Penis<br />

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erkannt. Mit einem kleinen Kin<strong>de</strong> spielen, <strong>de</strong>n Kleinen schlagen usw.<br />

sind häufig Traumdarstellungen <strong>de</strong>r Onanie. – Zur symbolischen Darstellung<br />

<strong>de</strong>r Kastration dient <strong>de</strong>r Traumarbeit: die Kahlheit, das Haar-<br />

1625 schnei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Zahnausfall und das Köpfen. Als Verwahrung gegen die<br />

Kastration ist es aufzufassen, wenn eines <strong>de</strong>r gebräuchlichen Penissymbole<br />

im Traume in Doppel- o<strong>de</strong>r Mehrzahl vorkommt. Auch das Auftreten<br />

<strong>de</strong>r Ei<strong>de</strong>chse im Traume – eines Tieres, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r abgerissene<br />

Schwanz nachwächst – hat dieselbe Be<strong>de</strong>utung. – Von <strong>de</strong>n Tieren, die<br />

1630 in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, spielen<br />

mehrere auch im Traum diese Rolle: <strong>de</strong>r Fisch, die Schnecke, die<br />

Katze, die Maus (<strong>de</strong>r Genitalbehaarung wegen), vor allem aber das be<strong>de</strong>utsamste<br />

Symbol <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s, die Schlange. Kleine Tiere,<br />

Ungeziefer sind die Vertreter von kleinen Kin<strong>de</strong>rn, z. B. <strong>de</strong>r uner-<br />

1635 wünschten Geschwister; mit Ungeziefer behaftet sein ist oft gleichzusetzen<br />

<strong>de</strong>r Gravidität (= Schwangerschaft; AB). – Als ganz rezentes3<br />

Traumsymbol <strong>de</strong>s männlichen Genitales ist das Luftschiff zu erwähnen,<br />

welches sowohl durch seine Beziehung zum Fliegen wie gelegentlich<br />

durch seine Form solche Verwendung rechtfertigt." usf. (4)<br />

1640 <strong>Die</strong> Einführung feststehen<strong>de</strong>r Symbole mit zumeist sexuellen Be<strong>de</strong>utung<br />

ist insofern ein interessantes Detail <strong>de</strong>r Freudschen Theoriebildung, als<br />

ja Freud sich zuerst gegen die früher oft verwen<strong>de</strong>ten Traum<strong>de</strong>utungsbücher<br />

wen<strong>de</strong>te, in welchen Verzeichnisse von Traumbil<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>r<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung zu fin<strong>de</strong>n waren. Freud selbst hat somit<br />

1645 wie<strong>de</strong>r einen Schritt rückwärts getan und sich wie<strong>de</strong>r ein Stück weit von<br />

seiner Position entfernt, wonach <strong>de</strong>r Traum nur aufgrund <strong>de</strong>r Kenntnis<br />

<strong>de</strong>r Lebensgeschichte (anhand freier Assoziationen) <strong>de</strong>s Träumers zu<br />

<strong>de</strong>uten ist. Um Freud gegenüber nicht ungerecht zu sein, muss darum<br />

darauf hingewiesen wer<strong>de</strong>n, dass er selber nachdrücklich davor warnt,<br />

1650 "die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Symbole für die Traum<strong>de</strong>utung zu überschätzen,<br />

etwa die Arbeit <strong>de</strong>r Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken<br />

und die Technik <strong>de</strong>r Verwertung von Einfällen <strong>de</strong>s Träumers<br />

aufzugeben. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n Techniken <strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>utung müssen einan<strong>de</strong>r<br />

ergänzen; praktisch wie theoretisch verbleibt aber <strong>de</strong>r Vorrang <strong>de</strong>m zu-<br />

1655 erst beschriebenen Verfahren(5), das <strong>de</strong>n Äußerungen <strong>de</strong>s Träumers<br />

die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung beilegt, während die von uns vorgenommene<br />

Symbolübersetzung als Hilfsmittel hinzutritt." (6)<br />

Angesichts <strong>de</strong>r Komplexität <strong>de</strong>r Traumarbeit steht je<strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>uter in<br />

je<strong>de</strong>m einzelnen Falle vor einer sehr anspruchsvollen Arbeit. Denn bei<br />

1660 je<strong>de</strong>m einzelnen Element <strong>de</strong>s manifesten Traumes muß er entschei<strong>de</strong>n,<br />

ob es direkt o<strong>de</strong>r gegenteilig zu <strong>de</strong>uten ist, einer aktuellen Problematik<br />

o<strong>de</strong>r einem zurückliegen<strong>de</strong>n Problem entspricht, ein feststehen<strong>de</strong>s<br />

Symbol ist o<strong>de</strong>r beliebig durch freie Assoziation ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kann<br />

o<strong>de</strong>r als Sache o<strong>de</strong>r vom Wortlaut her ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n muss.<br />

1665 <strong>Die</strong> Vielfalt dieser Deutungsmöglichkeit eröffnet natürlich je<strong>de</strong>r Beliebigkeit<br />

Tür und Tor. So kann man beispielsweise, will man einfach irgen<strong>de</strong>ine<br />

Deutungs-Hypothese bestätigt wissen, ein nicht passen<strong>de</strong>s Element<br />

ins Gegenteil umkehren. Es braucht darum ein Kriterium, ob man<br />

als Deuter auf <strong>de</strong>r richtigen Spur ist. <strong>Die</strong>ses Kriterium ist ein gewisses<br />

1670 Evi<strong>de</strong>nz-Erlebnis <strong>de</strong>s Träumers: er spürt intuitiv, dass die Deutung<br />

stimmt und tatsächlich eine für ihn be<strong>de</strong>utsame Problematik erhellt. Allerdings<br />

kommt es auch vor, dass z.B. <strong>de</strong>r Analytiker mit einer Deutung<br />

Recht hat, aber <strong>de</strong>r Analysand die als belastend empfun<strong>de</strong>ne Wahrheit<br />

nicht annehmen kann (<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Adler’schen Individualpsychologie<br />

1675 vertraute Analytiker achtet in diesen Fällen auch auf <strong>de</strong>n sog. Erkennungsreflex<br />

(7)).<br />

7.3. Traumquellen<br />

Es ist nun zu fragen, woher <strong>de</strong>r Traum einerseits die latenten Inhalte,<br />

an<strong>de</strong>rerseits die manifesten Bil<strong>de</strong>r bezieht. Freud ist nun davon über-<br />

1680 zeugt, dass in allen latenten Träumen irgendwelche Kindheitserinnerungen<br />

zumin<strong>de</strong>st mitbeteiligt sind. In dieser Auffassung kommt seine allgemeine<br />

Ansicht zum Ausdruck, dass die – insbeson<strong>de</strong>re frühe – Kindheit<br />

für das ganze Leben von hervorragen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist und dass<br />

auch allen neurotischen Störungen irgendwelche belasten<strong>de</strong>n Erlebnis-<br />

1685 se in <strong>de</strong>r Kindheit zu Grun<strong>de</strong> liegen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r konkreten Bil<strong>de</strong>r sind nach Freud vorerst einmal aktuelle<br />

somatische (körperliche) Quellen maßgebend, wobei er 3 verschie<strong>de</strong>ne<br />

Arten unterschei<strong>de</strong>t, nämlich<br />

• von äußeren Objekten ausgehen<strong>de</strong> Sinnesreize (z.B. Gerüche,<br />

Lärm)<br />

1690<br />

• subjektiv begrün<strong>de</strong>te Erregungszustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sinnesorgane<br />

(z.B. Ohrensausen)<br />

• aus <strong>de</strong>m Körperinneren stammen<strong>de</strong> Reize (z.B. Verdauungsbeschwer<strong>de</strong>n,<br />

Harndrang)<br />

1695 Wichtiger für die konkrete Gestaltung <strong>de</strong>r manifesten Bil<strong>de</strong>rwelt sind für<br />

Freud Erlebnisse <strong>de</strong>s Vortages, sog. Tagesreste. Freud setzt diese<br />

Aussage insofern absolut, als er annimmt, dass nicht etwa um einige<br />

Tage zurückliegen<strong>de</strong> Erfahrungen ausschlaggebend sind, son<strong>de</strong>rn immer<br />

solche <strong>de</strong>s Vortages. Wenn aber etwa trotz<strong>de</strong>m eine Begebenheit<br />

1700 <strong>de</strong>r letzten Woche her im Traume auftaucht, so geht Freud davon aus,<br />

dass man am Vortag zumin<strong>de</strong>st daran gedacht hat (eine Behauptung,<br />

die sich natürlich grundsätzlich nicht wi<strong>de</strong>rlegen lässt). Auch nimmt er<br />

als Grundregel an, dass allen verschie<strong>de</strong>nen manifesten Träumen einer<br />

einzigen Nacht stets <strong>de</strong>rselbe latente Traum zu Grun<strong>de</strong> liegt.<br />

1705 Anmerkung:<br />

Freud war <strong>de</strong>r Ansicht, dass alle Träume grundsätzlich egoistisch motiviert<br />

sind, d.h. im Lustprinzip wurzeln und nur insoweit <strong>de</strong>m Realitätsprinzip<br />

verpflichtet sind, als die Zensur <strong>de</strong>s Ichs negativ (also abwehrend<br />

und verschleiernd) wirkt.<br />

1710 Träume müssen aber nicht bloß Ausdruck verdrängter Es-Impulse<br />

(Wünsche) sein, son<strong>de</strong>rn können durchaus auch als Botschafter <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Ich-Instanzen fungieren (Ich, Über-Ich). Demgemäß können sie<br />

einem Menschen – ohne dass damit notwendigerweise Wünsche zum<br />

Ausdruck gebracht wer<strong>de</strong>n müssen – seine jetzige Lebenssituation wi-<br />

1715 <strong>de</strong>rspiegeln, ihn auf Gefahren aufmerksam machen und ihm aufzeigen,<br />

welche Entwicklungsschritte ihm angemessen sind. Freud lehnt einen<br />

solchen finalen Aspekt <strong>de</strong>s Traums ab, allerdings steht er aber in Übereinstimmung<br />

mit <strong>de</strong>r Jung’schen Theorie, wonach es die Lebensaufgabe<br />

je<strong>de</strong>s Menschen ist, alle wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Seiten seines Wesens mitein-<br />

1720 an<strong>de</strong>r zu versöhnen und so zu einer psychischen Ganzheit zu gelangen.<br />

Jung nennt diesen Prozess Individuation, und die Traum<strong>de</strong>utung kann<br />

eine wertvolle Hilfe sein, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

8. Psychopathologie und Therapieziele<br />

8.1. Neurosen<br />

1725 Freud erachtet <strong>de</strong>n Unterschied zwischen "alltäglichen" existentiellen<br />

Konflikten und neurotischen Zustandsbil<strong>de</strong>rn als einen rein quantitativen.<br />

So schreibt er (Gesammelte Werke VIII, S. 338) <strong>de</strong>nn auch, daß<br />

"...die nämlichen Komplexe und Konflikte auch bei allen Gesun<strong>de</strong>n und<br />

Normalen zu erwarten sind." (8) In <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> spricht man <strong>de</strong>s-<br />

1730 halb von einer sog. "Normalpathologie", die von <strong>de</strong>r klinischen unterschie<strong>de</strong>n<br />

wird und im Gegensatz zu dieser die beruflichen und sozialen<br />

Fertigkeiten kaum negativ beeinflusst.<br />

Der Begriff ‘Neurose’ leitet sich von ‘Neuron’ (Nervenzelle) ab. Im letzten<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt glaubte man alle psychischen Erkrankungen auf ein nicht<br />

1735 richtig funktionieren<strong>de</strong>s Nervensystem zurückführen zu können und benannte<br />

<strong>de</strong>mentsprechend auch die Spitäler für Geisteskranke ‘Nervenheilanstalten’.<br />

Bei einer Neurose han<strong>de</strong>lt es sich grundsätzlich um ein erworbenes<br />

psychisches Lei<strong>de</strong>n, das freilich sehr oft nicht als solches erkannt o<strong>de</strong>r<br />

1740 als Krankheit empfun<strong>de</strong>n wird. Zum Verständnis <strong>de</strong>s neurotischen Verhaltens<br />

kann man nach <strong>de</strong>m Verständnis <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> prinzipiell<br />

alle Abwehrmechanismen heranziehen. Insofern sie nämlich auf Verdrängung<br />

beruhen, <strong>de</strong>r Angstabwehr dienen und Selbsttäuschungen<br />

darstellen, haftet ihnen (wohl mit Ausnahme <strong>de</strong>r Sublimierung) insge-<br />

1745 samt etwas Krankhaftes an. So ließe sich theoretisch ‘psychische Gesundheit’<br />

als ‘Abwesenheit von jedwe<strong>de</strong>m Abwehrmechanismus’ <strong>de</strong>finieren<br />

und wäre i<strong>de</strong>ntisch mit absoluter Offenheit, Wahrhaftigkeit und<br />

Angstfreiheit. So gesehen lässt sich je<strong>de</strong>s Verhalten, das vom gesun<strong>de</strong>n<br />

abweicht, als ‘neurotisch’ bezeichnen – woraus sich eine Schlußfolge-<br />

1750 rung ziehen läßt, dass alle Menschen mehr o<strong>de</strong>r weniger stark irgendwelche<br />

neurotischen Züge an sich haben.<br />

Haben nun die neurotischen Züge eines Menschen allerdings ein ‘normales’<br />

(d.h. für ihn und die Umwelt noch erträgliches) Maß überschritten,<br />

so dass sich das krankhafte Verhalten <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Menschen<br />

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1755 verfestigt und in gewissen Situationen zwanghaft wie<strong>de</strong>rholt, so spricht<br />

man von einer etablierten Neurose. Der Übergang von ‘mit neurotischen<br />

Zügen behaftet’ zur ‘etablierten Neurose’ ist allerdings weitgehend quantitativer<br />

Natur und insofern fließend. Ob und inwieweit sich ein Mensch<br />

mit seiner Neurose in einer Psychotherapie systematisch auseinan<strong>de</strong>r-<br />

1760 setzen will, ist darum immer auch eine Frage <strong>de</strong>r erhofften und angestrebten<br />

Lebensqualität.<br />

Freud sieht in <strong>de</strong>r Neurose das Resultat einer unvollständigen Verdrängung<br />

von Es-Impulsen durch das Ich, wobei <strong>de</strong>r verdrängte Impuls trotz<br />

<strong>de</strong>r Verdrängung (verschleiert, gewissermaßen durch die Hintertür) in<br />

1765 das Bewusste und das Verhalten einbricht. Um diesen Einbruch <strong>de</strong>s Es-<br />

Impulses ins Verhalten erneut abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r psychische Organismus<br />

das neurotische Symptom aus. <strong>Die</strong>ses dient einerseits <strong>de</strong>r Ersatzbefriedigung<br />

<strong>de</strong>s verdrängten Impulses, an<strong>de</strong>rerseits (und gleichzeitig)<br />

<strong>de</strong>m Versuch, diesen - als belastend empfun<strong>de</strong>nen - Impuls endgül-<br />

1770 tig zu beseitigen.<br />

<strong>Die</strong>ses Theorem lässt sich am Beispiel eines Menschen ver<strong>de</strong>utlichen,<br />

<strong>de</strong>r mit tief sitzen<strong>de</strong>n, aber verdrängten Schuldgefühlen nicht zu Ran<strong>de</strong><br />

kommt und einen sog. "Waschzwang" ausbil<strong>de</strong>t. Offensichtlich kann es<br />

<strong>de</strong>m Ich grundsätzlich nicht gelingen, einen <strong>de</strong>rart starken Es-Impuls<br />

1775 (das Schuldgefühl) vollständig zu verdrängen. Der verdrängte Impuls tritt<br />

<strong>de</strong>shalb verschleiert, nämlich als allgegenwärtiges Gefühl, schmutzige<br />

Hän<strong>de</strong> zu haben, wie<strong>de</strong>r ins Bewusstsein ein. Um dieses lästige Gefühl<br />

abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch nun als neurotisches Symptom<br />

<strong>de</strong>n Waschzwang aus. In<strong>de</strong>m er sich nun täglich dutzen<strong>de</strong> Male<br />

1780 die Hän<strong>de</strong> heftig wäscht und bürstet, möchte er einerseits die Schuld<br />

ausgleichen (Ersatzbefriedigung) und an<strong>de</strong>rerseits die Schuldgefühle<br />

endgültig beseitigen.<br />

Freud teilt die Neurosen ein in:<br />

• Aktualneurosen mit vorwiegend vegetativen Symptomen auf<br />

1785 Grund starker Affektwirkungen auf das vegetative System im Zusammenhang<br />

eines aktuellen Konflikts (z. B. Schreckneurose,<br />

Angstneurose) und<br />

• Psychoneurosen mit psychischen o<strong>de</strong>r somatischen Symptomen,<br />

verursacht durch einen chronischen Triebkonflikt, wie unverarbeitete<br />

o<strong>de</strong>r verdrängte Kindheitserlebnisse. Zu <strong>de</strong>n Psychoneuro-<br />

1790<br />

sen zählen:<br />

• - alle Formen <strong>de</strong>r Hysterie (stets begleitet mit psychisch bedingten<br />

körperlichen Symptomen, z.B. Lähmungen, Ausfälle<br />

<strong>de</strong>r Sinnesorgane)<br />

1795 • - die Phobien (real nicht begrün<strong>de</strong>te, psychisch bedingte<br />

Furcht vor irgend einem beliebigen Objekt, einer bestimmten<br />

Situation o.ä.)<br />

• - die Zwangsneurosen (zwanghafte Wie<strong>de</strong>rholung stereotyper<br />

Verhaltensweisen)<br />

1800 • - die Charakterneurosen (Verwahrlosung, Psychopathie)<br />

Bei <strong>de</strong>r Behandlung von Psychoneurosen wird eine Nacherziehung zur<br />

Überwindung innerer Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> angepeilt.<br />

8.2. Phobien<br />

Grundsätzlich kann je<strong>de</strong>r Gegenstand o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Situation zum Zielobjekt<br />

1805 einer Phobie wer<strong>de</strong>n. So kann man sich krankhaft vor Mäusen, vor<br />

Spinnen, vor Hühnern, vor <strong>de</strong>m Eingeschlossensein in engen Räumen<br />

(Klaustrophobie), vor <strong>de</strong>m Überschreiten großer Plätze (Platzangst, A-<br />

goraphobie), vor <strong>de</strong>m Befahren von Tunneln usw. fürchten. In extremen<br />

Fällen fürchtet sich <strong>de</strong>r Phobiker nicht bloß vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s realen<br />

1810 Gegenstan<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn auch vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r sogar vor<br />

<strong>de</strong>m sprachlichen Ausdruck <strong>de</strong>s phobisch besetzten Objekts.<br />

Eine in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> berühmt gewor<strong>de</strong>ne Phobie ist die Pfer<strong>de</strong>phobie<br />

<strong>de</strong>s Knaben Hans. Freud erkannte in <strong>de</strong>r Analyse, dass Hans eine<br />

außeror<strong>de</strong>ntliche Angst vor <strong>de</strong>m Vater hatte, die er zu verdrängen<br />

1815 gezwungen war. Der Anblick <strong>de</strong>s erigierten Penis eines Pfer<strong>de</strong>s führte<br />

dann zur Assoziation mit <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Vaters, und so verschob Hans<br />

seine Angst vor <strong>de</strong>m Vater auf die Pfer<strong>de</strong>, was ihm ein ersatzweises<br />

Ausleben <strong>de</strong>r Angst gestattete.<br />

8.3. Zwangsneurosen<br />

1820 Neben <strong>de</strong>m bereits erwähnten Waschzwang kennt die <strong>Psychoanalyse</strong><br />

als weitere relativ häufig auftreten<strong>de</strong> Neuroseformen <strong>de</strong>n Zählzwang<br />

(<strong>de</strong>n Zwang, jedwe<strong>de</strong>s Ereignis, das sich wie<strong>de</strong>rholt, o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Ding,<br />

das in Serien auftritt, zu zählen), <strong>de</strong>n Lästerzwang (<strong>de</strong>n Zwang, z.B. bei<br />

<strong>de</strong>r andächtigen Stille eines Gottesdienstes, eines Theaters o<strong>de</strong>r eines<br />

1825 Konzerts laut fluchen zu müssen, auch: Koprolalie, Tourette-Syndrom),<br />

<strong>de</strong>n Reinigungszwang (alles und überall zu putzen, auch: Waschzwang),<br />

<strong>de</strong>n Berührungszwang (gewisse Gegenstän<strong>de</strong> im Sinne eines Rituals<br />

immer wie<strong>de</strong>r berühren zu müssen), <strong>de</strong>n Kontrollzwang (sich stets wie<strong>de</strong>r<br />

vergewissern müssen, ob man eine bestimmte Handlung wirklich<br />

1830 vollzogen hat), <strong>de</strong>n Sammelzwang (gewisse Dinge krankhaft anhäufen<br />

zu müssen), die Kleptomanie (<strong>de</strong>n Zwang, stehlen zu müssen), die Pyromanie<br />

(<strong>de</strong>n Zwang, Brän<strong>de</strong> legen zu müssen), verschie<strong>de</strong>ne Formen<br />

von Tics u.a.<br />

Ins Kapitel zwanghaften Verhaltens gehören auch zahlreiche sexuelle<br />

1835 Perversionen o<strong>de</strong>r Eßstörungen wie Magersucht (Anorexie; anorexia<br />

nervosa) o<strong>de</strong>r Bulimie.<br />

8.4. Von <strong>de</strong>r Vielfalt neurotischen Verhaltens<br />

In <strong>de</strong>r psychologischen Praxis zeigt es sich allerdings, dass man das<br />

neurotische Verhalten <strong>de</strong>r Klienten zumeist nicht fein säuberlich katalo-<br />

1840 gisieren kann. Letztlich kann je<strong>de</strong> beliebige Verhaltensweise neurotisch<br />

motiviert sein. Es han<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>shalb darum, in je<strong>de</strong>m einzelnen Fall<br />

jene Verhaltensweisen zu ent<strong>de</strong>cken, die mit beson<strong>de</strong>ren Ängsten verbun<strong>de</strong>n<br />

sind, die stereotyp wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sonst wie neben <strong>de</strong>r<br />

‘gesun<strong>de</strong>n Norm’ liegen. Der Katalog <strong>de</strong>r Abwehrmechanismen kann<br />

1845 dabei als eine gewisse Richtschnur dienen. Aufschlussreich ist stets<br />

auch die Art, wie ein Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert und<br />

wie er die sich ihm stellen<strong>de</strong>n Lebensaufgaben angeht.<br />

Allen Neurosen gemeinsam ist die Unfreiheit. Für Außenstehen<strong>de</strong> ist es<br />

oft schwer verständlich, dass ein Neurotiker gewisse Dinge willentlich<br />

1850 einfach nicht fertig bringt. So wie ein Drogensüchtiger zwanghaft zur<br />

Droge greift, ebenso zwanghaft wäscht sich <strong>de</strong>r Mensch mit einem<br />

Waschzwang die Hän<strong>de</strong> und ebenso zwanghaft muss jemand mit einem<br />

Kontrollzwang eine Sache nachkontrollieren, von <strong>de</strong>r er genau weiß,<br />

dass er sie 5 Minuten zuvor bereits zum zwanzigsten Mal kontrolliert<br />

1855 hat. Ein Mädchen, das an Magersucht lei<strong>de</strong>t, kann sehr wohl wissen,<br />

dass es essen sollte und dass dies allein sein Leben retten kann, und<br />

trotz<strong>de</strong>m sitzt es vor <strong>de</strong>m vollen Teller und verweigert – ohne etwa an<br />

Appetitlosigkeit zu lei<strong>de</strong>n – die Nahrungsaufnahme. Und wenn jemand,<br />

<strong>de</strong>r kommunikationsgestört ist, mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung konfrontiert wird,<br />

1860 doch ‘einfach mit <strong>de</strong>m Partner zu sprechen’, so erscheint (und ist) ihm<br />

das so unmöglich, wie wenn man einen Durchschnittsmenschen die Eigernordwand<br />

hoch steigen hieße.<br />

Wie Adler nachwies, ist mit je<strong>de</strong>r Neurose immer auch ein erhöhtes Geltungs-<br />

und Machtbedürfnis verbun<strong>de</strong>n. In aller Regel dienen neurotische<br />

1865 Symptome immer auch <strong>de</strong>r Machtausübung auf an<strong>de</strong>re, ohne dass sie<br />

sich einzig aus dieser Funktion heraus erklären ließen. Sehr oft ist das<br />

neurotische Lei<strong>de</strong>n auch mit Depressionen verbun<strong>de</strong>n, und die Liebesfähigkeit<br />

ist erheblich eingeschränkt.<br />

Neurosen sind in allen Schichten und insbeson<strong>de</strong>re bei allen Intelligenz-<br />

1870 klassen anzutreffen. Sehr oft lei<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> differenzierte und begabte<br />

Menschen an schweren Neurosen. Intelligenz schützt nicht vor <strong>de</strong>r Entwicklung<br />

einer Neurose, da Neurosen zum einen wie erwähnt zumeist in<br />

<strong>de</strong>r frühen Kindheit begrün<strong>de</strong>t sind und zum an<strong>de</strong>ren vom sozialen Umfeld<br />

abhängig sind, das Kin<strong>de</strong>r ja nicht auswählen können. Größere In-<br />

1875 telligenz stellt lediglich eine gewisse Hilfe bei <strong>de</strong>r Psychotherapie dar.<br />

Das Erkennen <strong>de</strong>r Neurose mag einen ersten Schritt zur Heilung ermöglichen,<br />

ohne weitere Schritte können wird sich an seinem Problem aber<br />

üblicherweise nicht das Geringste än<strong>de</strong>rn. Gelegentlich trifft man Menschen,<br />

die beinahe wie Psychologen über ihre eigenen Neurosen, <strong>de</strong>ren<br />

1880 Entstehung und Entwicklungsgeschichte Auskunft geben können, ohne<br />

dass es ihnen je gelungen wäre, sich von ihrem Lei<strong>de</strong>n zu befreien.<br />

Nicht selten verschlimmern Versuche <strong>de</strong>r "Selbsttherapie" das Problem<br />

sogar, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>ssen Komplexität erhöht o<strong>de</strong>r die ursprüngliche Symptomatik<br />

auf eine an<strong>de</strong>re, womöglich für einen selbst unauffälligere, ver-<br />

1885 schoben wird. <strong>Die</strong> Systemische Therapie erklärt sich diesen Effekt so,<br />

daß im Sinne <strong>de</strong>r Abwehr bei Versuchen einer "Selbsttherapie" die un-<br />

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erwünschten innerpsychischen Instanzen gera<strong>de</strong>zu zu noch größerer<br />

Gegenwehr "gezwungen" wer<strong>de</strong>n. Es erinnert also gewissermaßen an<br />

Münchhausens Versuch, sich selbst am eigenen Schopf aus <strong>de</strong>m Sumpf<br />

1890 zu ziehen.<br />

9. <strong>Die</strong> psychoanalytische Technik<br />

9.1. Grundsätzliche Erwägungen<br />

So weit heute erkennbar ist, ist Psychotherapie (ob <strong>Psychoanalyse</strong> o<strong>de</strong>r<br />

eine <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wissenschaftlich anerkannten Metho<strong>de</strong>n) die einzige<br />

1895 Möglichkeit, von einer Neurose geheilt wer<strong>de</strong>n zu können. Dabei ist <strong>de</strong>r<br />

Erfolg allerdings nicht garantiert, wobei er wesentlich mehr vom Patienten<br />

(auch: Klienten, in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>: Analysan<strong>de</strong>n) als vom Psychotherapeuten<br />

(in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong>: Analytiker) abhängt. <strong>Die</strong> Motivation,<br />

etwas zu unternehmen, steht jedoch zumeist in einem direkten Zu-<br />

1900 sammenhang mit <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>nsdrucks. Viele Menschen sind<br />

erst bereit, sich ihrer eigenen Psyche, ja ihrer Lebensführung insgesamt<br />

gründlich zu stellen, wenn sie unter ihren unangepassten Verhaltensweisen,<br />

Depressionen, Ängsten, Zwängen und Kommunikationsproblemen<br />

<strong>de</strong>rart lei<strong>de</strong>n, dass sie alles auf sich nehmen (also auch <strong>de</strong>n so ge-<br />

1905 fürchteten Psychotherapeuten aufsuchen), nur um Lin<strong>de</strong>rung im Lei<strong>de</strong>n<br />

erfahren zu können.<br />

Der Erfolg von gesprächsbasierten Metho<strong>de</strong>n wie im hier beschriebenen<br />

Fall <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> hängt ferner auch von <strong>de</strong>n Fähigkeiten <strong>de</strong>s<br />

Klienten ab. Nur wer über einen gewissen Intellekt, Fähigkeit <strong>de</strong>r<br />

1910 Selbstwahrnehmung (Introspektionsfähigkeit) und Beziehungsfähigkeit<br />

verfügt, nur wer grundsätzlich guten Willen hat und auch getragen ist<br />

durch einen gewissen Lebensernst, ist überhaupt zur Durchführung einer<br />

Psychotherapie, speziell einer <strong>Psychoanalyse</strong>, fähig. Weiters müssen<br />

die Betroffenen in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n psychoanalytischen Vertrag<br />

1915 (siehe unten) einzugehen. <strong>Die</strong>ser ist bei an<strong>de</strong>ren Therapieformen weniger<br />

strikt.<br />

Gut geeignet ist die analytische Metho<strong>de</strong> für alle Formen <strong>de</strong>r neurotischen<br />

Störungen - Störungen, die sich über Jahre langsam aufbauen<br />

und immer weitere Bereiche <strong>de</strong>s Lebens umfassen. Dazu gehören Per-<br />

1920 sönlichkeitsstörungen, wie mangeln<strong>de</strong>s Selbstwertgefühl, Kontaktprobleme,<br />

selbst aufgebauter Leistungszwang. Aber auch leichtere, latente<br />

Angst- und Zwangsneurosen sowie leichtere <strong>de</strong>pressive Störungen können<br />

Thema einer <strong>Psychoanalyse</strong> sein.<br />

Weniger geeignet ist eine psychoanalytische Behandlung in akut belas-<br />

1925 ten<strong>de</strong>n Lebenssituationen, somit etwa auch bei schweren Neurosen,<br />

Depressionen, Zwangserkrankungen, Psychosen und akuten Problemen<br />

wie Sucht und dgl. Denn die <strong>Psychoanalyse</strong> ist als "auf<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>s Verfahren"<br />

durch die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Kindheit für das Verständnis und die<br />

Therapie <strong>de</strong>r Krankheitssymptome als eher vergangenheitsbetont zu<br />

1930 bezeichnen – bei einer üblichen Min<strong>de</strong>sttherapiedauer von min<strong>de</strong>stens<br />

160 bis 240 Stun<strong>de</strong>n á 2-3 Stun<strong>de</strong>n pro Woche führt dies zu einer Gesamt-Therapiedauer<br />

von zumin<strong>de</strong>st 2-3 Jahren. Wird also unmittelbare<br />

therapeutische Hilfe o<strong>de</strong>r innere Stabilisierung benötigt o<strong>de</strong>r angepeilt,<br />

erfor<strong>de</strong>rt eine auf<strong>de</strong>ckend orientierte Psychotherapie wie die Psycho-<br />

1935 analyse oftmals zu viel Kraft und Durchhaltevermögen.<br />

Insgesamt lässt sich sagen, daß im Vergleich zu <strong>de</strong>n eher orthodoxen<br />

Positionen Freuds heute ganz allgemein ein weitaus größerer Indikationsbereich<br />

für die <strong>Psychoanalyse</strong> angegeben wird, wobei in zunehmen<strong>de</strong>m<br />

Maße auch die Persönlichkeitsstruktur und die Selbsterfahrung <strong>de</strong>s<br />

1940 Analytikers als Gradmesser <strong>de</strong>r Indikationsstellung betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

9.2. Der analytische Vertrag<br />

Abgesehen davon, dass <strong>de</strong>r Analysand <strong>de</strong>n Analytiker zu bezahlen hat,<br />

gehen die bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Vertrag ein: Der Analysand erklärt seine Bereitschaft,<br />

grundsätzlich alles, was ihm bewusst wird, zu sagen, gleich-<br />

1945 gültig, ob es ihm peinlich ist, ob es ihm unsinnig, unmoralisch o<strong>de</strong>r nebensächlich<br />

erscheint o<strong>de</strong>r ob er befürchtet, damit in Schwierigkeiten zu<br />

kommen. Der Analytiker stellt <strong>de</strong>m seine Bereitschaft zur Mithilfe bei <strong>de</strong>r<br />

Deutung entgegen.<br />

9.3. Heilungsplan und therapeutische Beziehung<br />

1950 Angesichts <strong>de</strong>r Tatsache, dass je<strong>de</strong> Neurose einhergeht mit einem gegenüber<br />

<strong>de</strong>n Inhalten <strong>de</strong>s Es geschwächten Ich, besteht <strong>de</strong>r Heilungsplan<br />

grundsätzlich darin, dass sich <strong>de</strong>r Analytiker mit <strong>de</strong>m geschwächten<br />

Ich <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n verbün<strong>de</strong>t und alles daran setzt, das Ich in<br />

echter Weise zu stärken. Das kann mitunter be<strong>de</strong>uten, dass sich <strong>de</strong>r<br />

1955 Analytiker in all jenen Fällen, wo <strong>de</strong>r Analysand Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> gegen die<br />

Bewusstmachung von Es-Impulsen zeigt, auf die Seite <strong>de</strong>s Es stellen<br />

muss, um <strong>de</strong>ssen Impulsen Zugang zum Bewussten <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

zu ermöglichen o<strong>de</strong>r erleichtern.<br />

<strong>Die</strong> therapeutische Beziehung steht im Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>r analytischen<br />

1960 Arbeit. Als "Prozeßvariablen" wird hierbei <strong>de</strong>r Übertragung, <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand<br />

sowie <strong>de</strong>n Abwehrmechanismen beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit gewidmet.<br />

9.4. <strong>Die</strong> psychoanalytische Dialogstruktur (Setting)<br />

Der Analysand liegt nach Möglichkeit entspannt auf einer Couch, <strong>de</strong>r<br />

1965 Analytiker sitzt hinter ihm. Der Analysand ist aufgefor<strong>de</strong>rt, alles zu sagen,<br />

was ihm in <strong>de</strong>n Sinn kommt o<strong>de</strong>r was er empfin<strong>de</strong>t. Hierbei ist es<br />

von Wichtigkeit, daß er nicht selektiv zwischen ihm belanglos, als peinlich<br />

o<strong>de</strong>r lächerlich erscheinen<strong>de</strong>n und vermeintlich wesentlichen Inhalten<br />

auswählt ("Grundregel"). Solcherart gelangen Gedanken, bildhafte<br />

1970 Vorstellungen und Gefühle ins Bewusstsein, die sonst nur bruchstücko<strong>de</strong>r<br />

schemenhaft zugänglich wären.<br />

Der Analytiker hört zu und schenkt <strong>de</strong>m gesprochenen Wort <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

größte Aufmerksamkeit. <strong>Die</strong> Abstinenz <strong>de</strong>s Analytikers (persönliches<br />

Einbringen <strong>de</strong>s Analytikers ist in <strong>de</strong>r klassischen <strong>Psychoanalyse</strong><br />

1975 während <strong>de</strong>s gesamten Behandlungsverlaufes strengst limitiert - "Abstinenzregel")<br />

soll helfen, daß sich die persönliche Geschichte <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

möglichst wenig mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Analytikers verquickt – darüber hinaus<br />

ist sie Voraussetzung für <strong>de</strong>n Aufbau einer möglichst "reinen" Übertragung,<br />

bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Analysand – begünstigt durch das beson<strong>de</strong>re Set-<br />

1980 ting dieser Metho<strong>de</strong> – eigene Persönlichkeitsstrukturen auf <strong>de</strong>n Analytiker<br />

projiziert, und diesem damit ein wichtiges Werkzeug zur Deutung<br />

und Auf<strong>de</strong>ckung in die Hand gibt. Im ständigen Prozess von Übertragungs-<br />

und Gegenübertragungsphänomenen wer<strong>de</strong>n durch die Deutungsarbeit<br />

<strong>de</strong>s Analytikers <strong>de</strong>m Klienten die eigenen Projektionen im-<br />

1985 mer bewusster, und neue Einsichten über historische Zusammenhänge<br />

<strong>de</strong>r eigenen Persönlichkeitsentwicklung können gewonnen wer<strong>de</strong>n – sofern<br />

nicht Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Weg treten (Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> nehmen die o.e.<br />

Abwehrmechanismen an und haben für <strong>de</strong>n Patienten die Funktion, <strong>de</strong>n<br />

sekundären Krankheitsgewinn angesichts beängstigend wirken<strong>de</strong>r, neu-<br />

1990 artiger schmerzhafter Erfahrungen, die durch <strong>de</strong>n Behandlungsprozeß<br />

bewusst wer<strong>de</strong>n, nicht aufgeben zu müssen. Zum flexiblen, sinnvollen<br />

Umgang mit ihnen ist ihr Bewusstwer<strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlich – die Arbeit <strong>de</strong>s<br />

Analytikers besteht daher wesentlich in <strong>de</strong>r Bearbeitung und Deutung<br />

von Wi<strong>de</strong>rstand und Übertragung).<br />

1995 "<strong>Die</strong> Neurose <strong>de</strong>s Patienten sollte sich schließlich in eine Übertragungsneurose<br />

verwan<strong>de</strong>ln, die dann analysiert wird. <strong>Die</strong> traumatische Entstehungsgeschichte<br />

<strong>de</strong>r neurotischen Symptomatik wie<strong>de</strong>rholt sich dann in<br />

ihrem Erleben als ein auf <strong>de</strong>n Analytiker projiziertes Geschehen.<br />

Schließlich zielt die Deutungsarbeit <strong>de</strong>s Analytikers darauf ab, daß <strong>de</strong>r<br />

2000 Patient die Wie<strong>de</strong>rholung als solche begreift und dadurch als Erinnerung<br />

erkennt." (Bock, S.151)<br />

9.5. Übertragung und Gegenübertragung<br />

Freud geht davon aus, dass im Zentrum je<strong>de</strong>r neurotischen Störung<br />

letztlich stets die Elternproblematik (<strong>de</strong>r Ödipuskomplex) steht. <strong>Die</strong> ana-<br />

2005 lytische Situation ermöglicht nun <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, das Bild seiner Eltern<br />

mit all ihren emotionalen Bezügen in <strong>de</strong>n Analytiker zu projizieren.<br />

<strong>Die</strong>se Projektion <strong>de</strong>r Elternbeziehung auf <strong>de</strong>n Analytiker bezeichnet<br />

Freud als Übertragung. Da bekanntlich die Elternbeziehung im Unbewussten<br />

ambivalent ist, führt dies zu <strong>de</strong>r so genannten positiven und<br />

2010 negativen Übertragung.<br />

In aller Regelmäßigkeit stellt sich zuerst die positive Übertragung ein,<br />

die bis zur Verliebtheit in <strong>de</strong>n Analytiker bzw. zu seiner Vergötterung<br />

führen kann. Das hat beim Analysan<strong>de</strong>n zur Folge, dass er, statt gesund<br />

zu wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Analytiker gefallen will. Das führt zwar zu einer gewis-<br />

2015 sen Stärkung <strong>de</strong>s Ichs und oft zur Einstellung <strong>de</strong>r Symptome, aber nach<br />

einer gewissen Zeit pflegen sich diese – lei<strong>de</strong>r – wie<strong>de</strong>r einzustellen.<br />

Der Hauptgewinn <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin,<br />

dass <strong>de</strong>r Analytiker durch <strong>de</strong>n Umstand, dass er an die Stelle <strong>de</strong>s Vaters<br />

(allenfalls <strong>de</strong>r Mutter) gesetzt wird, Macht über das Über-Ich <strong>de</strong>s Analy-<br />

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2020 san<strong>de</strong>n gewinnt. Damit hat er die Möglichkeit <strong>de</strong>r Nacherziehung <strong>de</strong>s<br />

Über-Ichs, was ja in <strong>de</strong>n meisten Fällen nötig ist, da gemäß <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />

Theorie einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neurosen in einem entwe<strong>de</strong>r<br />

zu strafen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber praktisch nicht vorhan<strong>de</strong>nen Über-Ich liegt.<br />

Konkret be<strong>de</strong>utet dies, dass <strong>de</strong>r Analytiker auf all jene Aussagen, die<br />

2025 beim Analysan<strong>de</strong>n mit Schuldgefühlen verbun<strong>de</strong>n sind, an<strong>de</strong>rs als seinerzeit<br />

die Eltern reagiert, nämlich gelassen und verstehend. Das eröffnet<br />

<strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n die Möglichkeit, sich <strong>de</strong>n verdrängten Problemen<br />

mit mehr Mut und Selbstvertrauen zu stellen.<br />

Ein weiterer Vorteil <strong>de</strong>r Übertragung – <strong>de</strong>r positiven wie <strong>de</strong>r negativen –<br />

2030 liegt darin, dass <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>m Analytiker zu agieren<br />

beginnt (diverse ‘Spiele’ treibt), was diesem die Möglichkeit <strong>de</strong>r direkten<br />

Anschauung gibt. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Der Analytiker erlebt am eigenen<br />

Leib, wie sich <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>n Eltern13 verhielt (o<strong>de</strong>r<br />

noch verhält).<br />

2035 Ein potentielles Risiko <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin, daß sich<br />

<strong>de</strong>m Analytiker in dieser Phase die Möglichkeit böte, <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n<br />

in eine neue Abhängigkeit zu bringen. Es sind <strong>de</strong>shalb nur solche Menschen<br />

für diesen Beruf geeignet, die neben <strong>de</strong>r nötigen fachlichen Kompetenz<br />

auch das entsprechen<strong>de</strong> Verantwortungsbewusstsein haben.<br />

2040 Entsprechend <strong>de</strong>r ödipalen Frustration ist meist ein späteres Umkippen<br />

<strong>de</strong>r positiven in die negative Übertragung nicht zu vermei<strong>de</strong>n, was dazu<br />

führt, dass die suggestiven Erfolge <strong>de</strong>r positiven Übertragung wie<strong>de</strong>r<br />

verschwin<strong>de</strong>n. Das bringt stets die Gefahr mit sich, dass die Analyse<br />

abgebrochen wird. Der Analytiker kann es in dieser Phase <strong>de</strong>m Analy-<br />

2045 san<strong>de</strong>n oft nirgends recht machen, er erscheint ihm unfähig, <strong>de</strong>sinteressiert,<br />

egoistisch usw. Für <strong>de</strong>n Analytiker ist dies eine <strong>de</strong>r ganz großen<br />

Klippen seines Berufs, <strong>de</strong>nn vom Konzept her <strong>de</strong>utet er die Aggressionen<br />

und die Kritiklust <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n als Projektion (als Ausdruck <strong>de</strong>r<br />

negativen Übertragung), gleichzeitig aber nimmt er damit <strong>de</strong>m Analy-<br />

2050 san<strong>de</strong>n die Möglichkeit, ihn wirklich als Person und Fachmann zu kritisieren.<br />

Es erfor<strong>de</strong>rt darum von einem Analytiker viel Fähigkeit zur<br />

Selbstkritik und Selbstreflexion, wenn er die Projektionen von echter Kritik<br />

unterschei<strong>de</strong>n können will.<br />

<strong>Die</strong> Tatsache <strong>de</strong>r positiven und negativen Übertragung erfor<strong>de</strong>rt vom<br />

2055 Analytiker die Fähigkeit, einerseits die positive Projektion zu mäßigen<br />

(was Verzicht auf Eitelkeit be<strong>de</strong>utet), an<strong>de</strong>rerseits die negative vorzubereiten<br />

und sie bei <strong>de</strong>ren Eintreffen zum Gegenstand einer konstruktiven<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zu machen.<br />

Es versteht sich von selbst, dass sowohl die positive wie auch die nega-<br />

2060 tive Übertragung auch beim Analytiker Projektionen auslösen. Freud bezeichnet<br />

sie als Gegenübertragung. Es gehört zur fachlichen Kompetenz<br />

eines Analytikers, dass er in <strong>de</strong>r Lage ist, seine Gegenübertragung zu<br />

erkennen und sich davon zu distanzieren. Das ist – abgesehen von <strong>de</strong>r<br />

Notwendigkeit <strong>de</strong>r Eigenerfahrung – einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, weshalb <strong>de</strong>r zent-<br />

2065 rale Teil einer Ausbildung zum Psychoanalytiker in <strong>de</strong>r eigenen Analyse<br />

(<strong>de</strong>r sog. Lehranalyse) besteht.<br />

9.6. <strong>Die</strong> heilen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />

Je<strong>de</strong> Psychotherapie, je<strong>de</strong> Analyse hat einen rationalen, einen emotionalen<br />

und einen Handlungsaspekt.<br />

2070 In rationaler Hinsicht besteht ein erster Heilungsschritt darin, dass im<br />

Gespräch und durch die vielen Deutungsversuche die Selbsterkenntnis<br />

<strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n erweitert wird. Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung sind die Übertragungsphänomene,<br />

alle freien Assoziationen, Träume, Fehlleistungen<br />

und das Verhalten ganz allgemein. Dabei ist wichtig, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />

2075 die Deutungen nicht forciert, da er sonst die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> im Analysan<strong>de</strong>n<br />

verstärkt o<strong>de</strong>r sie aufbaut. Darum braucht je<strong>de</strong> Analyse Zeit. Am<br />

besten ist es, wenn die Deutungen vom Analysan<strong>de</strong>n selbst gegeben<br />

wer<strong>de</strong>n, damit er die neuen Erkenntnisse innerlich bestmöglich akzeptieren<br />

kann.<br />

2080 Der emotionale Aspekt einer Analyse betrifft vorerst die Arbeit an <strong>de</strong>n –<br />

grundsätzlich unvermeidlichen und auch nötigen – Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n. Es<br />

sind ja nicht Gedanken, die die neuen Erkenntnisse nicht zulassen wollen,<br />

son<strong>de</strong>rn Gefühle: Ängste, Bindungen, Triebwünsche etc. In <strong>de</strong>m<br />

Ausmaß, in <strong>de</strong>m es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zu überwin-<br />

2085 <strong>de</strong>n, verän<strong>de</strong>rn sich seine Gefühle. Ob und in welchem Masse es einem<br />

Analysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> aufzulösen, hängt natürlich stark von<br />

seiner emotionalen Beziehung zum Analytiker ab. <strong>Die</strong>s zeigt einmal<br />

mehr, dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich auf zwischenmenschliche Beziehungen<br />

angewiesen ist, und zwar nicht bloß im Rahmen einer (ausser-<br />

2090 therapeutischen) gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, son<strong>de</strong>rn auch innerhalb <strong>de</strong>s<br />

Rahmens einer Therapie.<br />

Der Handlungsaspekt <strong>de</strong>r Analyse besteht einerseits in je<strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s<br />

Agierens, und die heilen<strong>de</strong> Wirkung ergibt sich daraus, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />

auf eine an<strong>de</strong>re (nämlich gesun<strong>de</strong>) Weise als z.B. früher die Eltern<br />

2095 auf die Provokationen <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n reagiert. An<strong>de</strong>rerseits besteht<br />

<strong>de</strong>r Handlungsaspekt in <strong>de</strong>n durch die Analyse bedingten Verän<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>s Verhaltens im Alltag, <strong>de</strong>r sich dann als so etwas wie ein Ü-<br />

bungs- o<strong>de</strong>r Versuchsfeld erweist. Bewähren sich die neuen Verhaltensweisen<br />

im Alltag für <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n, vermögen sie sich zuneh-<br />

2100 mend zu festigen und in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.<br />

Es ist hier darauf hinzuweisen, dass viele Analytiker aufgrund <strong>de</strong>r<br />

grundsätzlich darauf bestehen, dass die Analysan<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Analyse<br />

keine schwerwiegen<strong>de</strong>n und irreversiblen Lebensentscheidungen<br />

(z.B. Ehescheidung) treffen, son<strong>de</strong>rn damit zuwarten, bis <strong>de</strong>r psycho-<br />

2105 analytische Prozess abgeschlossen ist.<br />

9.7. Beson<strong>de</strong>re Schwierigkeiten<br />

Je stärker die Neurose, <strong>de</strong>sto größer kann sich einerseits das Krankheits-,<br />

an<strong>de</strong>rerseits aber auch das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis zeigen.<br />

Das Krankheitsbedürfnis entspringt <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch, Schuld-<br />

2110 gefühle abzuwehren. Das erklärt die gelegentlichen Spontanheilungen<br />

nach Unglücksfällen. Für die <strong>Psychoanalyse</strong> ist dies in<strong>de</strong>s eine oft kaum<br />

zu überwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Klippe, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Analysand ist im Tiefsten <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

dass er eigentlich das Gesund wer<strong>de</strong>n gar nicht verdient und<br />

sich darum mit seinem neurotischen Lei<strong>de</strong>n stets selbst bestrafen muss.<br />

2115 Hier hilft nur eine langwierige Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r<br />

Schuldgefühle.<br />

Wesentlich schwerwiegen<strong>de</strong>r ist das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis. Es ist <strong>de</strong>r unmittelbare<br />

Ausdruck <strong>de</strong>s Destruktionstriebes (To<strong>de</strong>striebes) und äußert sich<br />

als Trieb zur Selbstzerstörung. Freud spricht in jenen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />

2120 sich <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>strieb gewissermaßen verselbständigt und nicht mehr<br />

durch <strong>de</strong>n Eros in einem gewissen Gleichgewicht gehalten wird, von<br />

Triebentmischung. Wenn jemand vom unbewussten Drang beseelt ist,<br />

sich selbst zu zerstören, stößt die <strong>Psychoanalyse</strong> häufig an ihre Grenzen.<br />

2125 Aus systemischer Perspektive ist hier anzumerken, dass sich diese<br />

Schwierigkeiten bereits im Vorfeld einer Psychotherapie sowie im Kontext<br />

nicht freiwilliger Psychotherapie (etwa an psychiatrischen Kliniken)<br />

<strong>de</strong>utlich bemerkbar machen. Sie führen dazu, dass viele Menschen jahrelang<br />

teils schwerste psychische Belastungen ertragen, bevor sie sich<br />

2130 dazu überwin<strong>de</strong>n, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Allerdings sieht<br />

die Systemische Therapie kein Krankheits- o<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis, son<strong>de</strong>rn<br />

betrachtet Symptome teils als "sinnvolle", teils notwendige Reaktionen<br />

<strong>de</strong>s Organismus an<strong>de</strong>rs nicht mehr ertragbare, gewissermaßen<br />

auch krank machen<strong>de</strong> Lebensumgebungen. Aufgrund dieser hohen<br />

2135 Kompensationsfähigkeit <strong>de</strong>s Organismus muss <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck für die<br />

meisten Menschen bereits gewaltig und die Probleme in <strong>de</strong>ren realen<br />

Leben unüberschaubar gewor<strong>de</strong>n sein, bevor in einer Art Aufbäumen<br />

doch <strong>de</strong>r Griff zum Telefonhörer getan wird. <strong>Die</strong>s ist speziell aus Sicht<br />

<strong>de</strong>r Systemischen Therapie bedauerlich, da sie emotional, zeit- und kos-<br />

2140 tenmäßig meist mit <strong>de</strong>utlich weniger Aufwand verbun<strong>de</strong>n wäre als eine<br />

<strong>Psychoanalyse</strong>.<br />

Auf psychiatrischen Kliniken seien als Beispiel für die Auswirkungen für<br />

Selbstzerstörungs-Ten<strong>de</strong>nzen Anorexie-PatientInnen genannt, die sich<br />

mitunter selbst dann, wenn sie bereits schwerwiegen<strong>de</strong>, irreparable kör-<br />

2145 perliche Schä<strong>de</strong>n aufweisen und intravenös ernährt wer<strong>de</strong>n müssen, einer<br />

Therapie verweigern. Wobei dieses Verhalten häufig auch noch zusätzliche<br />

Grün<strong>de</strong> hat, auf die hier aber nicht näher eingegangen wer<strong>de</strong>n<br />

kann.<br />

9.8. Der Abschluss <strong>de</strong>r Therapie<br />

2150 Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine Psychotherapie macht, wird irgendwann zur Einsicht<br />

kommen, dass sich das Reservoir zu erhellen<strong>de</strong>r Konflikte nicht ausschöpfen<br />

lässt. Beson<strong>de</strong>rs <strong>Psychoanalyse</strong>n könnten wohl bis zum Le-<br />

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bensen<strong>de</strong> fortgesetzt wer<strong>de</strong>n, ohne dass <strong>de</strong>r Gesprächsstoff auszugehen<br />

bräuchte und <strong>de</strong>r Analysand das Gefühl hätte, völlig ‘gesund’ zu<br />

2155 sein.<br />

Wann also ist das En<strong>de</strong> einer Analyse (abgesehen von Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Geldmangels o<strong>de</strong>r irgendwelchen Ausbildungsvorschriften für künftige<br />

Analytiker) gekommen?. Sinnvoll scheint eine Beendigung dann, wenn<br />

sich die positive und negative Übertragung in eine sachliche, durch ob-<br />

2160 jektive Wahrnehmung geprägte zwischenmenschliche Beziehung umgebil<strong>de</strong>t<br />

hat, <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck gewichen ist und die schwerwiegendsten<br />

neurotischen Symptome verschwun<strong>de</strong>n sind (9). Wer sich ernsthaft einer<br />

Analyse ausgesetzt hat, wird auch feststellen, dass er im Alltag<br />

selbstbewusster, gelassener und sachlicher gewor<strong>de</strong>n ist und sich bei<br />

2165 <strong>de</strong>r Bewältigung seiner Lebensaufgaben we<strong>de</strong>r über- noch unterfor<strong>de</strong>rt<br />

fühlt.<br />

"Wo Es war, soll Ich wer<strong>de</strong>n"<br />

<strong>Die</strong>ses Zitat Freuds (10) drückt ein Behandlungsziel aus, das über eine<br />

Symptombeseitigung weit hinausgeht. Laut Freud kann das Ziel <strong>de</strong>r<br />

2170 Psychotherapie nicht allein die Symptombeseitigung sein, vor allem<br />

auch <strong>de</strong>shalb, da Konflikte nicht immer zu einer für <strong>de</strong>n Patienten befriedigen<strong>de</strong>n<br />

Lösung geführt wer<strong>de</strong>n können. Vielmehr soll es <strong>de</strong>m Patienten<br />

ermöglicht wer<strong>de</strong>n, sich zwischen einer tragfähigen Anzahl an<br />

Reaktionsmöglichkeiten frei entschei<strong>de</strong>n zu können. Lt. Kutter (14) ist<br />

2175 das am weitesten reichen<strong>de</strong> Ziel <strong>de</strong>r Psychotherapie die Sinnfindung<br />

o<strong>de</strong>r Wahrheitsfindung.<br />

Auch die Beendigung einer <strong>Psychoanalyse</strong> selbst ist eine ‘Unternehmung’,<br />

die sich (schon angesichts <strong>de</strong>r meist mehrjährigen Dauer) nicht<br />

so leichthin bewerkstelligen lässt und darum selbst zum Thema <strong>de</strong>r Ana-<br />

2180 lyse gemacht wer<strong>de</strong>n muss. Der Prozess <strong>de</strong>r Ablösung vom Therapeuten<br />

hat insofern in sich eine therapeutische Wirkung, als <strong>de</strong>r Analysand<br />

lernen muss, etwas loszulassen, das längerhin nicht mehr sehr sinnvoll<br />

ist, somit also realitätsbezogener zu wer<strong>de</strong>n.<br />

All die angeführten Ziele weisen über die Krankenbehandlung weit hin-<br />

2185 aus und erfor<strong>de</strong>rn eine hohe Motivation <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n. Verfügt er<br />

über diese beson<strong>de</strong>re Motivation, wird die kontinuierlich sich entwickeln<strong>de</strong><br />

I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>r Funktion <strong>de</strong>s Analytikers außer<strong>de</strong>m die<br />

Fähigkeit zur Selbstanalyse bewirken, was quasi <strong>de</strong>r Fortführung <strong>de</strong>s<br />

dann verinnerlichten Dialogs entspricht.<br />

2190 10. Metho<strong>de</strong>nvergleich mit <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />

Obwohl nur die wenigsten <strong>de</strong>r in dieser Arbeit erläuterten psychoanalytischen<br />

Grundbegriffe in <strong>de</strong>r täglichen Praxis <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />

eine Be<strong>de</strong>utung haben – eine implizite Rolle spielen sie bemerkenswerterweise<br />

doch. Je<strong>de</strong>m Systemischen Therapeuten sind Phänomene<br />

2195 wie z.B. "Wi<strong>de</strong>rstand", "Übertragung" und "Unbewusstes" vertraut, man<br />

befasst sich mit "Traum<strong>de</strong>utung" und an<strong>de</strong>ren Techniken, die ihre Wurzeln<br />

in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> haben - als Begrifflichkeiten o<strong>de</strong>r gar im theoretischen<br />

Grundgebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> jedoch spielen sie so gut wie keine<br />

Rolle. <strong>Die</strong>s liegt vor allem darin begrün<strong>de</strong>t, daß <strong>de</strong>r systemische An-<br />

2200 satz von völlig unterschiedlichen Prämissen und Hypothesen bezüglich<br />

psychischer Problemzusammenhänge ausgeht als die <strong>Psychoanalyse</strong>,<br />

was sich zwangsläufig auch stark auf Setting, Verlauf und Inhalt <strong>de</strong>r<br />

Therapie auswirkt.<br />

Den Analytiker könnte man als 'Experten für innerpsychische Verarbei-<br />

2205 tungsmuster und das Bewusst-machen <strong>de</strong>s Unbewussten' bezeichnen;<br />

<strong>de</strong>n Systemischen Therapeuten als 'Experte für Kommunikationsmuster<br />

und Denkfallen'. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit richtet sich in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong><br />

daher primär auf das Innerpsychische - <strong>de</strong>r Monolog <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

sowie die Übertragungsbeziehung zum Analytiker sind jene Instrumente,<br />

2210 die zum Therapieerfolg führen. <strong>Die</strong> Systemische Therapie hat <strong>de</strong>mgegenüber<br />

einen <strong>de</strong>utlich weiteren Focus – Probleme wer<strong>de</strong>n stets im<br />

Kontext betrachtet, in <strong>de</strong>m sie stattfin<strong>de</strong>n, und für <strong>de</strong>n Systemischen<br />

Therapeuten ist ein Übertragungsphänomen vor allem als Reflexionsbild<br />

für das interessant, was im "restlichen Leben" <strong>de</strong>s Klienten, also <strong>de</strong>m<br />

2215 Leben außerhalb <strong>de</strong>r Therapie, geschieht. "Verdrängte Gefühle" etwa<br />

führen nach Auffassung <strong>de</strong>r Systemischen Therapie zu Kommunikationsblocka<strong>de</strong>n<br />

und sollten im Laufe <strong>de</strong>s therapeutischen Prozesses verbalisierungsfähig<br />

gemacht wer<strong>de</strong>n, um die Blocka<strong>de</strong>n zu beseitigen.<br />

<strong>Die</strong>s führt zu einem weiteren, ganz wesentlichen Unterschied bei<strong>de</strong>r<br />

2220 Therapieformen: statt auf das Lei<strong>de</strong>n und das Problem, so wie dies in<br />

<strong>de</strong>r klassischen <strong>Psychoanalyse</strong> stattfin<strong>de</strong>t, richtet die Systemische Therapie<br />

<strong>de</strong>n Focus nach vorn, auf die Lösung. Und zu diesem Zweck steht<br />

weniger die Frage, warum ein Problem existiert, im Mittelpunkt, son<strong>de</strong>rn<br />

vielmehr die, was eine Lösung <strong>de</strong>s Problems verhin<strong>de</strong>rt. Wesentlich be-<br />

2225 einflusst durch Kommunikationsforschung, Kybernetik und Konstruktivismus<br />

betrachtet da <strong>de</strong>r systemische Ansatz ein Problem nicht als etwas,<br />

das (z.B.) aufgrund <strong>de</strong>r persönlichen Geschichte sein "muss" und<br />

zu <strong>de</strong>m mühsam, in einem mitunter mehrjährigen Prozess ein Alternativweg<br />

erarbeitet wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn sie fragt: "warum bist Du noch<br />

2230 nicht da?", "was brauchst Du (noch), um <strong>de</strong>n nötigen Schritt zur Lösung<br />

tun zu können?" <strong>Die</strong> auf dieser Betrachtungsweise aufsetzen<strong>de</strong>n kurzzeittherapeutischen<br />

Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie weisen<br />

im therapeutischen Alltag laufend nach, daß eine Problembeseitigung<br />

– ausreichend austherapiert durchaus auch langfristig – mit ihnen<br />

2235 schon nach vergleichsweise kurzer Zeit erreichbar ist.<br />

Das Menschenbild <strong>de</strong>r Systemischen Therapie ist also eines, das <strong>de</strong>n<br />

Klienten grundsätzlich als selbstkompetent und (wenn auch in seinem<br />

Problemkosmos) selbst-erfahren betrachtet, als Experten also für diese<br />

ihm eigene Lebenswelt, mit <strong>de</strong>m gemeinsam geforscht wird, welche Al-<br />

2240 ternativwege, welche neuen Sichtweisen ihm dabei helfen könnte, ein<br />

angestrebtes Ziel zu erreichen, ohne dass es länger seines Symptoms,<br />

Lebensunglücks o<strong>de</strong>r seiner "Störung" bedarf.<br />

Im En<strong>de</strong>rgebnis führt dies dazu, dass Systemische Therapieansätze<br />

häufig mit <strong>de</strong>m Zusatz "lösungsorientiert" attributiert wer<strong>de</strong>n. Ihre Ansät-<br />

2245 ze sind jedoch nicht so mechanistisch und funktionsorientiert wie etwa<br />

die Verhaltenstherapie, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch als fühlen<strong>de</strong>s und mit<br />

(manchmal einer Lösung ja auch aus gutem Grund entgegengerichteten!)<br />

Bedürfnissen ausgestattetes Individuum steht im Mittelpunkt. Der<br />

Blick ist bei all<strong>de</strong>m überwiegend nach vorne gerichtet und "aufgearbei-<br />

2250 tet" wird vorwiegend nur da, wo es für das zukünftige Leben <strong>de</strong>s Klienten<br />

aus seiner und <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Therapeuten Be<strong>de</strong>utung hat .. also<br />

"Sinn" macht. Psychologisch gesehen also 'minimal-invasive Eingriffe',<br />

um im Zuge <strong>de</strong>r Therapie die positiven Resourcen <strong>de</strong>s Klienten möglichst<br />

zu stärken und zu stabilisieren, dabei aber das funktionieren<strong>de</strong><br />

2255 Gesamtsystem insgesamt möglichst wenig zu beeinflussen. <strong>Die</strong>s steht<br />

im krassen Gegensatz zu <strong>de</strong>m, was eine <strong>Psychoanalyse</strong> – schon aufgrund<br />

<strong>de</strong>s unterschiedlichen Settings – häufig mit sich bringt.<br />

Im Setting bei<strong>de</strong>r Therapieformen nämlich existieren ebenso erhebliche<br />

Unterschie<strong>de</strong>. <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> richtet, und dies fin<strong>de</strong>t auch im Ablauf<br />

2260 <strong>de</strong>r Analysesitzungen seinen Nie<strong>de</strong>rschlag, <strong>de</strong>n Blick auf das Individuum.<br />

Damit es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n leichter gelingt, <strong>de</strong>n Focus auf sein<br />

Inneres zu richten, liegt er in <strong>de</strong>r klassischen <strong>Psychoanalyse</strong> auf einer<br />

Couch und es besteht kein Blickkontakt zum Analytiker, <strong>de</strong>r sich auch<br />

mit verbalen Rückmeldungen sehr zurück hält. Son<strong>de</strong>rformen im Setting<br />

2265 gibt es in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rpsychoanalyse und Gruppenpsychoanalyse. Bei <strong>de</strong>r<br />

'großen Analyse' sind wöchentlich 3-4 Sitzungen erfor<strong>de</strong>rlich, bei Son<strong>de</strong>rformen<br />

o<strong>de</strong>r falls die zeitlichen o<strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re finanziellen Möglichkeiten<br />

<strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n es nicht zulassen, wer<strong>de</strong>n mitunter auch<br />

weniger Wochenstun<strong>de</strong>n vereinbart.<br />

2270 In <strong>de</strong>r Systemischen Therapie existieren eine Vielzahl von Settings11,<br />

vom dialogartigen Gespräch (Klient und Therapeut sitzen einan<strong>de</strong>r gegenüber)<br />

über Paar- und Familiensitzungen, mitunter unterstützt von<br />

Bil<strong>de</strong>rarbeit, <strong>de</strong>r Anwendung kreativer Medien, Imaginationsübungen,<br />

und spezifischer Techniken wie Timeline, Systemaufstellungen (Famili-<br />

2275 enaufstellungen), Rollenspielen, <strong>de</strong>r Arbeit mit <strong>de</strong>m Familienbrett und<br />

einigen mehr. Sitzungen fin<strong>de</strong>n je nach Problemstellung meist im Abstand<br />

von 1-3 Wochen statt, bei anhalten<strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>r Problematik<br />

haben sich nach <strong>de</strong>m eigentlichen Abschluß <strong>de</strong>r Therapie "Kontrollbesuche"<br />

in sehr großen Abstän<strong>de</strong>n (mehreren Monaten bis zu Jah-<br />

2280 ren) bewährt.<br />

Der Nachteil <strong>de</strong>s systemischen Ansatzes ist, daß eine tiefgehen<strong>de</strong> Analyse<br />

<strong>de</strong>r psychischen Zusammenhänge, das Hinabtauchen in die tiefsten<br />

Urgrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r eigenen Seele o<strong>de</strong>r auch mehrjährige Begleitung auf <strong>de</strong>m<br />

Lebensweg per se nicht möglich ist. Denn <strong>de</strong>r Schwerpunkt einer typi-<br />

2285 schen systemischen Therapiestun<strong>de</strong> liegt ja primär auf <strong>de</strong>r Suche nach<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 18 von 19


Fach: Pädagogik <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds LK 12<br />

passen<strong>de</strong>n Problemlösungen, <strong>de</strong>r einer Analysestun<strong>de</strong> auf prozeßorientierter<br />

Problemanalyse (die Problemlösung erfolgt da eher begleitend<br />

und oft sind erste Ansätze dazu erst nach vielen Monaten bemerkbar).<br />

Aus praktischer Erfahrung kann ich jedoch sagen, daß manche KlientIn-<br />

2290 nen auch nach <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rgründigen "Lösung <strong>de</strong>s Hauptproblems" interessiert<br />

sind, die Therapie noch eine Weile fortzusetzen, um auch tiefere<br />

psychische Strukturen o<strong>de</strong>r latente Problematiken (die keinen akuten<br />

Problemdruck verursachen) zu bearbeiten o<strong>de</strong>r einfach nur, um die Gelegenheit<br />

zu nutzen und mit <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Arbeit an sich selbst fortzu-<br />

2295 fahren. Verlauf, Dauer und Tiefe <strong>de</strong>r Therapie bestimmt in <strong>de</strong>r ST in einem<br />

sehr starken Ausmaß also <strong>de</strong>r Klient.<br />

Auch die Rolle <strong>de</strong>s Therapeuten weist erhebliche Unterschie<strong>de</strong> auf. Der<br />

Systemische Therapeut versteht sich gewissermaßen als Begleiter und<br />

Unterstützer, <strong>de</strong>r sich mitunter auch persönlich und menschlich in die<br />

2300 Therapie einbringt. Der Analytiker dagegen muss sich, soll die Übertragungsbeziehung<br />

gelingen, möglichst genau an die Abstinenzregel halten.<br />

Eine Abgrenzung zu Metho<strong>de</strong>n und Ansätzen an<strong>de</strong>rer Therapieformen<br />

fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> naturgemäß wesentlich exakter und stren-<br />

2305 ger statt als in <strong>de</strong>r Systemischen Therapie. Grenzüberschreitungen in<br />

Bezug auf die je nach analytischer Metho<strong>de</strong> vorherrschen<strong>de</strong>n Lehrmeinungen<br />

erregen bis heute meist großes Aufsehen und Skepsis – aus<br />

<strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r <strong>Psychoanalyse</strong> sei hier an die Zerwürfnisse Freuds<br />

mit seinen Schülern C.G.Jung und Alfred Adler verwiesen, an <strong>de</strong>n regel-<br />

2310 rechten "Hinauswurf" Wilhelm Reichs aus <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Vereinigung,<br />

und in jüngerer Zeit waren es z.B. die Ansätze von Tilmann<br />

Moser12, die Körperkontakt zwischen Analytiker und Analysan<strong>de</strong>n beinhalteten,<br />

welche innerhalb <strong>de</strong>r analytischen Expertenschaft teils vehemente<br />

Kritik erfuhren. In <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie dagegen<br />

2315 sind starke ekletizistische Strömungen feststellbar, bei <strong>de</strong>nen sich mitunter<br />

sogar die Frage aufdrängt, ob tatsächlich nur jenes integriert wird,<br />

das <strong>de</strong>m Patienten nützt – o<strong>de</strong>r nicht vielmehr häufig auch solches, von<br />

<strong>de</strong>m einige TherapeutInnen meinen, dass es ihm nützen könne. Hier<br />

wür<strong>de</strong> ich mir, und das sei mir als Systemischem Therapeuten als per-<br />

2320 sönliche, abschließen<strong>de</strong> Bemerkung gestattet, eine professionellere<br />

Nutzung <strong>de</strong>s methodischen Handwerkszeugs nützen, das uns bereits in<br />

großer Fülle zur Verfügung steht und daß Neues nur dann integriert<br />

wird, wenn es nachgewiesenermaßen hilfreich ist und es auch – auch<br />

dies ein wichtiger Punkt – ausreichend methodisch beherrscht wird.<br />

2325 Ein Metho<strong>de</strong>nvergleich<br />

http://www.psychotherapiepraxis.at/therapiemetho<strong>de</strong>n.phtml#grafik<br />

(Wie in <strong>de</strong>r oben verlinkten Grafik ersichtlich, weist die <strong>Psychoanalyse</strong><br />

von ihren theoretischen Grundkonzepten her eine starke Vergangenheitsorientierung<br />

auf. Für das Verständnis von Neurosen und an<strong>de</strong>ren<br />

2330 psychischen Störungsbil<strong>de</strong>rn ist <strong>de</strong>r Verlauf <strong>de</strong>r Kindheit und frühen Jugend<br />

von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, folglich nimmt eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

und Bearbeitung dieser Lebensphase <strong>de</strong>n überwiegend größten<br />

Teil einer typischen <strong>Psychoanalyse</strong> in Anspruch. Demgegenüber geht<br />

die Systemische Therapie wie erwähnt von einem offeneren Konzept<br />

2335 aus und richtet <strong>de</strong>n Blick nach vorne, hin zur angestrebten Lösung.)<br />

11. Quellen und Ergänzungen<br />

Bock Rudolf, 1987, <strong>Psychoanalyse</strong>, Junfermann, Pa<strong>de</strong>rborn<br />

Ellenberger Henry, 1973, <strong>Die</strong> Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Unbewussten, Bern<br />

Freud Sigmund, 1993, Gesamtregister / Gesammelte Werke I-XVII, Fi-<br />

2340 scher, Frankfurt a.M.<br />

Brühlmeier Arthur, 1992, <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds<br />

<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1994, Sexualphasen nach Sigmund Freud<br />

<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1995, Das tiefenpsychologische Paradigma<br />

<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1994, <strong>Psychoanalyse</strong> und Bioenergetische Analyse:<br />

2345 ein Metho<strong>de</strong>nvergleich.<br />

<strong>Fellner</strong>, Richard L., 1999, Systemische Familientherapie<br />

Kernberg Otto, 1980, Klinische <strong>Psychoanalyse</strong>, Frankfurt<br />

Kernberg Otto, 2001, Narzißtische Persönlichkeitsstörungen, Schattauer,<br />

F.K. Verlag<br />

2350 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch, Suhrkamp, Frankfurt<br />

a.M.<br />

Petzold Hilarion (Hrsg.), 1990, Wege zum Menschen (Bd.I+II), Junfermann,<br />

Pa<strong>de</strong>rborn<br />

Reich Wilhelm, 1969, Über Sigmund Freud, Nexus-Verlag, Berlin<br />

2355 Schmidbauer Wolfgang, 1988, Liebeserklärung an die <strong>Psychoanalyse</strong>,<br />

Rohwolt, Reinbek<br />

1 Freud Sigmund, 1993, Gesammelte Werke XIII, S.287<br />

2 (wenigstens zum Teil)<br />

3 (= neu auftreten<strong>de</strong>s)<br />

2360 4 Freud Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 348<br />

5 hiermit ist die freie Assoziation gemeint<br />

6 Freud Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 354<br />

7 <strong>de</strong>r sog. Erkennungsreflex drückt sich in <strong>de</strong>r Regel durch ein Lächeln,<br />

Schmunzeln, verlegenes Auflachen o<strong>de</strong>r ein Augenzwinkern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>-<br />

2365 re körpersprachliche Regungen aus.<br />

8 dieser "normalneurotische" Zustand stellt auch einen Indikator für das<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Therapie (bzw. <strong>Psychoanalyse</strong>) dar.<br />

9 "normalneurotischer" Zustand, siehe auch Kapitel Neurosen"<br />

10 Freud Sigmund, Gesammelte Werke XV, S.86<br />

2370 11 <strong>Fellner</strong> R.L., 1999, Systemische Familientherapie<br />

12 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch<br />

13 (o<strong>de</strong>r auch in Paarbeziehungen); Anmerkung Richard L.<strong>Fellner</strong><br />

14 Kutter P. (Ed.), 1997, <strong>Psychoanalyse</strong> interdisziplinär; Suhrkamp,<br />

Frankfurt am Main<br />

2375 Ich ersuche, mir die zwecks leichterer Lesbarkeit gewählte Verwendung<br />

<strong>de</strong>r männlichen Form (womit ich natürlich immer auch die weiblichen<br />

Menschen meine) nachzusehen.<br />

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DSP Richard L. <strong>Fellner</strong> ist Sozialpädagoge und Psychotherapeut in<br />

2380 Wien.<br />

Nachdrucke gerne gesehen, aber nur mit Copyright-Vermerk und schriftlicher<br />

Erlaubnis <strong>de</strong>s Verfassers.<br />

Freud-<strong>Fellner</strong>.doc <strong>Fellner</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> Sigmund Freuds Seite 19 von 19

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