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Innenwelten Anton Graffs - KUNST Magazin

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Der neue Ruhm der Outsider<br />

The Outsider’s Newfound Fame<br />

Text: Natascha Kirchner<br />

Translation: Brian Poole<br />

Uwe Breckner: Pferdekarussell, 2001<br />

14 x 15,5 x 14 cm, 8,5 x 5 x 6 cm<br />

© Aktion-Kunst-Stiftung<br />

Im Rahmen einer Ausstellung der<br />

Aktion-Kunst-Stiftung wurden Uwe<br />

Breckners Modelle von Fahrgeschäften<br />

und Fahrzeugen präsentiert. Für die<br />

akribisch genaue Umsetzung verwendet<br />

der Künstler weder Fotografien, noch<br />

technische Vorzeichnungen. Die aus<br />

Pappen, Papieren und Legos gestalteten<br />

Objekte entstehen aus der genauen<br />

Erinnerung erlebter Situationen<br />

heraus. (Bis vor Kurzem ausgestellt im<br />

Kunstverein Lippstadt)<br />

„Ist der Außenseiter wirklich draußen – oder nicht doch<br />

drinnen?“ 1 Massimilano Gionis Frage wirft Zweifel auf.<br />

Der Kurator der diesjährigen Venedig-Biennale hat dem<br />

Art <strong>Magazin</strong> zufolge eine „Biennale der Outsider“ 2 geschaffen.<br />

Mit seinem skeptischen Einwand schürte er<br />

weitere Funken im jüngst wieder entfachten Feuer des<br />

Outsider-Diskurses: Die romantische Vorstellung des<br />

von der Außenwelt abgeschotteten Künstlers, der nur<br />

aus sich selbst heraus seine volle Schöpfungskraft zieht<br />

und somit Kunst in ihrer Reinform zu schaffen vermag,<br />

ist überholt. Gionis Entscheidung, die Hauptausstellung<br />

der Biennale unter dem Titel „Der enzyklopädische<br />

Palast“ mit zahlreichen Outsider-Positionen zu füllen,<br />

hatte eine andere Motivation – und zwar die Erweiterung<br />

des Kunstdiskurses. Die Frage lautet daher: Welche<br />

Umstände liegen der neuerlichen Faszination für Outsider<br />

Art zugrunde?<br />

Der gegenwärtige Outsider-Boom lässt kaum vermuten,<br />

dass sich das Interesse für diese Kunst bis in die zweite<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.<br />

Stammeskunst aus Afrika und Ozeanien, naive Kunst<br />

und Volkskunst zogen schon damals Künstler und Publikum<br />

in ihren Bann. Schließlich wurden auch die bis<br />

dato weggesperrten „Irren“ mit ihren Wahnsinnswerken<br />

ins Visier genommen. Eine „Spätfolge romantischer<br />

Faszination für den Wahnsinn“ 3 , so Thomas Röske, der<br />

Leiter der Sammlung Prinzhorn. Zwei maßgebliche Publikationen,<br />

„Genio e follia“ (1864) von Cesare Lombroso<br />

und „L’art chez les fous“ (1907) von Marcel Réja trugen<br />

zum gesteigerten Interesse der Outsider Art innerhalb<br />

der aufbrechenden Moderne bei. Im Anschluss waren<br />

es vor allem die Künstler der Avantgarde, die sich von<br />

der sogenannten „Irrenkunst“ inspirieren ließen: Neben<br />

Paul Klee und Emil Nolde, in dessen Werken sich<br />

Einflüsse später Zeichnungen des psychisch erkrankten<br />

Ernst Josephson nachweisen lassen, wurde auch Ernst<br />

Ludwig Kirchner durch die Begegnung mit der psychisch<br />

kranken Else Blankenhorn maßgeblich geprägt.<br />

“Is the outsider really outside, and not rather within?” 1<br />

Massimilano Gioni’s question casts doubt upon the<br />

outsider’s status. According to Art <strong>Magazin</strong>, the curator<br />

of this year’s Venice Biennale has created a “Biennale<br />

of Outsiders”. 2 With his sceptical objection he has<br />

fanned the flames in the recently reignited fire engulfing<br />

outsider-discourse. The romantic notion of the artist<br />

– isolated from his surroundings, realising his full creative<br />

potential from within himself, and thus creating<br />

art in its pure form – is outmoded. But Gioni’s decision<br />

to fill the central exhibition, entitled “The Encyclopedic<br />

Palace,” with numerous outsider perspectives was motivated<br />

by something else: by the potential for extending<br />

the discourse on art. The question is rather: What<br />

are the causes of this newfound fascination for outsider<br />

art?<br />

The current outsider boom scarcely leads one to suspect<br />

that the interest for this art can actually be traced back<br />

to the second half of the nineteenth century, when tribal<br />

art from Africa and Oceania as well as naïve art and<br />

folk art began to attract artists and a larger audience.<br />

Finally, the “lunatics” who had previously been locked<br />

up with their mad works of art also attracted broader<br />

attention – a “late consequence of the romantic fascination<br />

for madness,” according to Thomas Röske, director<br />

of the Prinzhorn Collection. 3 Two decisive publications –<br />

Genio e follia (1864) by Cesare Lombroso and L’art chez<br />

les fous (1907) by Marcel Réja – contributed to the increasing<br />

interest in outsider art during the burgeoning<br />

modern period. Thereafter, particularly the artists of the<br />

avant-garde were inspired by so-called “mad art”. In addition<br />

to Paul Klee and Emil Nolde (in Nolde’s works one<br />

can find the influence of late drawings by the mentally<br />

ill artist Ernst Josephson), Ernst Ludwig Kirchner was<br />

also decisively affected by his encounter with the mentally<br />

ill Else Blankenhorn.<br />

Hans Prinzhorn, an art historian and a psychiatrist at<br />

the Psychiatric Clinic of the University of Heidelberg,<br />

Als erster Sammler von Outsider Art trat Hans Prinzhorn,<br />

Kunsthistoriker und Mediziner an der psychiatrischen<br />

Universitätsklinik in Heidelberg, in Erscheinung. Aus<br />

dem Auftrag, eine Lehrsammlung pathologischer Kunst<br />

zu betreuen, entstand eine Zusammenstellung mit<br />

seinerzeit 5000 Werken, die heute zu einer der weltweit<br />

bedeutendsten Sammlungen dieser Art zählt. 1922<br />

wurde in diesem Zusammenhang die „Bildnerei der<br />

Geisteskranken“ veröffentlicht, die sich zur „Bilderbibel“<br />

der Surrealisten um André Breton und Max Ernst entwickelte.<br />

4 Die Identifikation mit der Kunst von Psychiatriepatienten<br />

nahm ein überwältigendes Ausmaß an,<br />

das sich in inklusiven Ausstellungen der 1930er-Jahre<br />

manifestierte: Erstmals in der Geschichte der Kunst<br />

wurden anerkannte Künstler neben Autodidakten ausgestellt.<br />

Wenig später eröffnete allerdings die Ausstellung<br />

„Entartete Kunst“ (1937) in München mit einer<br />

vergleichbaren Gegenüberstellung, doch gegenteiliger<br />

Absicht, und zerstörte die Vision einer gleichberechtigten<br />

Kunstauffassung.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg weckte Jean Dubuffet die<br />

kriegsmüde Gesellschaft mit antiintellektueller Kunst<br />

auf, die er Art brut nannte, französisch für „rohe Kunst“.<br />

„Eine bescheidene Art von Kunst, die sich oft nicht einmal<br />

bewusst ist, Kunst zu sein,“ 5 – so beschreibt Dubuffet das<br />

Wesen einer Kunst, die abseits der akademisch „sauberen<br />

Elitekultur“ ihre Wurzeln schlägt und im Hinterhof<br />

des Kunstbetriebs entsteht, ohne sich ihrer aufrührerischen<br />

Möglichkeiten bewusst zu sein. Dubuffet wollte<br />

was the first collector of outsider art to appear. Tasked<br />

with curating an educational collection of pathological<br />

art, he amassed an assemblage of some 5000 works<br />

that ranks today as one of the world’s most significant<br />

collections of its kind. In 1922 he published his Artistry<br />

of the Mentally Ill, a work destined to become the pictorial<br />

bible of the surrealists around André Breton and<br />

Max Ernst. 4 The identification with the art of psychiatric<br />

patients grew to immense proportions and manifested<br />

itself in the exhibitions during the 1930s that included<br />

their works. For the first time in the history of art, recognised<br />

artists were exhibited next to autodidacts.<br />

However, soon thereafter the exhibition “Degenerate<br />

Art” (1937) opened in Munich with a comparable juxtaposition<br />

of art, though with the opposite intention, thus<br />

destroying the vision of an approach to this art on the<br />

basis of equal rights.<br />

After World War II, Jean Dubuffet reawakened war-tired<br />

society with his conception of anti-intellectual art,<br />

which he referred to as art brut – French for “raw art”.<br />

“A humble type of art that is often not even conscious<br />

that it is art” 5 was Dubuffet’s way of describing the essence<br />

of this art, which had cast its roots outside of the<br />

“clean elite culture” and developed in the offbeat areas<br />

of the art business, without even being conscious of its<br />

seditious potential. As an artist, Dubuffet wanted to<br />

draw from art in its pure form, but without establishing<br />

it or taming it through the market, and without falsifying<br />

it. Together with André Breton and Jean Paulhan, in<br />

1<br />

Massimiliano Gioni: Erst die ersten, dann die letzten Bilder. Ein Gespräch über den Willen zum totalen Wissen von Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum<br />

International, Band 222, 2013, Titel: 55. Biennale Venedig, S. 60.<br />

2<br />

Ute Diehl: Biennale der Outsider, in: art – Das Kunstmagazin, Stand: 14.03.2013, http://www.art-magazin.de/kunst/59971/biennale_venedig (abgerufen<br />

am 09.09.2013)<br />

3<br />

Thomas Röske: Kunst und Außenseiterkunst im 20. Jahrhundert, in: KunstAußenseiterKunst. Symposium Oktober 2011. Hg. von Karin Dannecker und<br />

Wolfram Voigtländer, Berlin 2011, S. 11.<br />

10<br />

4<br />

Die Surrealisten fühlten sich bei dem Anblick der Kritzeleien von Psychiatrie-Patienten in der „Écriture Automatique“, einer Methode, die das Unbewusste<br />

und Assoziative zum Vorschein bringen sollte, bestätigt. Insbesondere Max Ernst war beeindruckt von der „Irrenkunst“ und versuchte, August Natterers<br />

„Wunder-Hirthen“ in seiner Wirkung und seinem Werksprozess zu verstehen und in die eigene Bildsprache zu überführen.<br />

5<br />

Jean Dubuffet: art brut: Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst (1949). In: Derselbe, Malerei in der Falle. Antikulturelle Positionen. Schriften Bd. 1,<br />

Bern-Berlin 1991, S. 86–94.<br />

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