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Heft 1/2004 - Offene Kirche Württemberg

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für die neuen <strong>Kirche</strong>n, einen Schwerpunkt<br />

ihrer Arbeit auf die Heilung von<br />

Geist und Körper zu legen. In Afrika traf<br />

zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine<br />

explosionsartige Zunahme von christlichen<br />

Heilsbewegungen und neuen<br />

Propheten mit einer Serie von schrecklichen<br />

Epidemien zusammen, und der<br />

religiöse Boom dieser Jahre beruhte<br />

zumindest teilweise auf dem Streben<br />

nach körperlicher Gesundheit. Noch<br />

heute steht und fällt der Erfolg afrikanischer<br />

<strong>Kirche</strong>n damit, ob sie Erfolge bei<br />

solchen Heilungen haben. Selbst einstige<br />

Missionskirchen, wie etwa anglikanische<br />

oder lutherische, schenken spirituellen<br />

Heilungen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.<br />

Nirgendwo stehen sie damit in<br />

direkter Konkurrenz zur modernen<br />

Medizin: Diese wäre für die meisten<br />

Menschen ohnedies unerschwinglich.<br />

Krankheit, Ausbeutung, Umweltgifte,<br />

Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalt:<br />

Jede dieser Erfahrungen scheint ein<br />

Hinweis darauf zu sein, dass man sich<br />

im Griff dämonischer Kräfte befindet,<br />

und dass nur durch eine göttliche<br />

Intervention Rettung naht. Selbst<br />

politisch radikale Befreiungstheologen<br />

benutzen in ihren Reden und Predigten<br />

apokalyptische Wendungen. Auf die<br />

Frage, woher denn solche Vorstellungen<br />

rühren, kommt meist dieselbe Antwort:<br />

aus der Bibel. Liberalität in den Fragen<br />

der Homosexualität oder Abtreibung<br />

stößt in den konservativen afrikanischen<br />

und lateinamerikanischen <strong>Kirche</strong>n auf<br />

Unverständnis und Widerspruch. Die<br />

Christen im Süden lesen das Neue<br />

Testament wörtlich und nehmen es sehr<br />

ernst.<br />

Die kulturelle Kluft zwischen den<br />

Christen im Norden und denen im<br />

Süden wird sich in den kommenden<br />

Jahrzehnten noch vergrößern. Es<br />

herrschen revolutionäre Zeiten, ohne<br />

dass der Westen einen Anteil daran<br />

hätte. Die Folge: Wahrscheinlich<br />

werden sich in ein bis zwei Jahrzehnten<br />

zwei große christliche Gruppen gegenüberstehen,<br />

die ihr jeweiliges Gegenüber<br />

nicht einmal mehr als authentisch<br />

christlich ansehen werden.<br />

Philip Jenkins ist Geschichtsprofessor<br />

und Religionswissenschaftler an der<br />

Pennsylvania State University. Eine<br />

umfangreiche Version des Textes erschien<br />

in der amerikanischen Zeitschrift<br />

„Atlantic Monthly“. Sein<br />

neuestes Buch: The Next Christdom.<br />

Aus „chrismon“ 8/2003.<br />

Visionen<br />

Volkskirche als Auftrag<br />

Martin Weeberi<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Die Volkskirche gibt es nicht. Es gibt sie jedenfalls nicht so, dass einer<br />

bestimmten <strong>Kirche</strong> (etwa der Württembergischen Landeskirche) das Prädikat<br />

„Volkskirche“ auf einfache und eindeutige Weise zugesprochen werden<br />

könnte. Ob eine <strong>Kirche</strong> Volkskirche ist, kann nicht ein für alle mal gesagt<br />

werden. Volkskirche ist eine <strong>Kirche</strong>, der alle zugehören können, die mit der<br />

Botschaft dieser <strong>Kirche</strong> einverstanden sind.<br />

Jede Frage nach der Volkskirche setzt<br />

freilich zunächst die Beantwortung der<br />

Frage voraus, was denn <strong>Kirche</strong> sei.<br />

Diese Frage kann aus evangelischer<br />

Perspektive nur so beantwortet werden,<br />

dass man sich an der reformatorischen<br />

Lehre von der <strong>Kirche</strong> orientiert. Präziser:<br />

Die Frage nach der <strong>Kirche</strong> muss im<br />

Kontext der lutherischen Lehre von der<br />

<strong>Kirche</strong> beantwortet werden, wenn die<br />

Antwort für württembergische Verhältnisse<br />

orientierungskräftig sein soll.<br />

Grund: Die Württembergische Landeskirche<br />

ist ihrem Bekenntnisstand nach<br />

lutherisch. Man kann die lutherische<br />

Lehre von der <strong>Kirche</strong> – unter Verzicht<br />

auf die einschlägigen Zitate aus den<br />

lutherischen Bekenntnisschriften – auf<br />

eine knappe Doppelformel bringen:<br />

Gebundenheit des Inhalts, Zweckmäßigkeit<br />

der Vermittlungsformen. Der Inhalt<br />

ihrer Verkündigung ist der <strong>Kirche</strong><br />

vorgegeben. Die Art und Weise, wie<br />

dieser Inhalt am besten vermittelt wird,<br />

muss jeweils neu bestimmt werden.<br />

In diesen Bestimmungen über die<br />

<strong>Kirche</strong> ist im Grunde schon eingeschlossen,<br />

was eine Volkskirche ausmacht,<br />

auch wenn diese Pointen erst in späteren<br />

Epochen betont worden sind. Die<br />

<strong>Kirche</strong> ist Volkskirche genau darin, dass<br />

sie sich nicht über die Eigenschaften<br />

oder Fähigkeiten ihrer Mitglieder<br />

definiert. Es ist offensichtlich nicht<br />

notwendig, hinsichtlich der Mitgliedschaft<br />

in der <strong>Kirche</strong> Vorschriften zu<br />

machen. Jeder kann zur <strong>Kirche</strong> gehören:<br />

Mann oder Frau, alt oder jung, gebildet<br />

oder ungebildet, arm oder reich, gesund<br />

oder krank. In der Ursprungsepoche des<br />

Volkskirchenbegriffs hätte man gesagt,<br />

dass jeder, der zum Volk gehöre, auch<br />

Mitglied der Volkskirche sein könne.<br />

Heute, da der Volksbegriff aus vielen<br />

Gründen problematisch geworden ist,<br />

könnte man ersatzweise sagen: Volkskirche<br />

ist Regionalkirche. Jeder, der und<br />

jede, die innerhalb des <strong>Kirche</strong>ngebiets<br />

wohnt, kann Mitglied dieser <strong>Kirche</strong> sein,<br />

sofern er/sie der inhaltlichen Botschaft<br />

der <strong>Kirche</strong> zustimmen will.<br />

Damit ist klar: Ob eine <strong>Kirche</strong> Volkskirche<br />

ist, das ist keine Frage der<br />

Mitgliederzahl. Auch Minderheitskirchen<br />

können Volkskirchen sein. Und<br />

<strong>Kirche</strong>n ganz unterschiedlicher Organisationsform<br />

können ebenfalls alle<br />

Volkskirchen sein. Was die Formen ihrer<br />

Organisation anlangt, ist die Volkskirche<br />

frei. Freilich: Diese Formen können<br />

nicht beliebig gestaltet werden, sie<br />

müssen schon dem Zweck der <strong>Kirche</strong><br />

entsprechen, der Evangeliumsverkündigung.<br />

Inhaltlich jedoch ist die <strong>Kirche</strong> gebunden,<br />

ihre Botschaft steht nicht zur<br />

Disposition. Das ist der grundlegende<br />

Unterschied zwischen der <strong>Kirche</strong> und<br />

einem Wirtschaftsunternehmen: Der<br />

<strong>Kirche</strong> ist der Produktwechsel verwehrt.<br />

Freilich schließt die Behauptung, dass<br />

die Botschaft der <strong>Kirche</strong> feststehe,<br />

folgende Einsicht nicht aus: Alle Versuche,<br />

die wesentlichen Züge dieser<br />

Botschaft zu erfassen, sind menschliche<br />

und damit korrigierbare Versuche.<br />

Weder die biblischen Texte noch die<br />

Texte der Reformatoren sind jemals<br />

abschließend ausgelegt. Aus diesem<br />

Sachverhalt ergibt sich die hohe Bedeutung<br />

der Hermeneutik, der Kunst<br />

regelgeleiteter Textauslegung für die<br />

<strong>Kirche</strong>. Die Auslegungsbedürftigkeit der<br />

Texte ändert freilich nichts am Grundprinzip:<br />

Der <strong>Kirche</strong> ist der Inhalt ihrer<br />

Verkündigung vorgegeben.<br />

Aus der Vorgegebenheit der Botschaft<br />

folgt: Alle Debatten, die sinnvoll über<br />

die <strong>Kirche</strong> geführt werden können,<br />

können nur Debatten über die Zweckmäßigkeit<br />

der Vermittlungsformen sein,<br />

mit Hilfe derer die Botschaft kommuniziert<br />

wird. Zweckmäßigkeitsfragen sind<br />

nun aber, jedenfalls in nicht-technischen<br />

Zusammenhängen, Einschätzungsfragen.<br />

Und Einschätzungsfragen sollte<br />

Nr. 1, April <strong>2004</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 11

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