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Heft 1/2004 - Offene Kirche Württemberg

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man nicht mit verkrampfter Verbissenheit<br />

behandeln. Man tut gut daran, sie<br />

vorsichtig zu traktieren. Zu dieser<br />

Vorsicht gehört zunächst ein Zutrauen<br />

zur Tradition: Unsere Vorgänger und<br />

Vorgängerinnen waren nicht dumm<br />

oder töricht oder beschränkt. Trotzdem:<br />

Die Welt verändert sich. Diese Veränderungen<br />

wollen wahrgenommen werden.<br />

Sonst funktioniert, was gestern funktioniert<br />

hat, heute nicht mehr – und<br />

morgen schon gar nicht.<br />

Zu den einschneidendsten Veränderungen<br />

der religiösen Landschaft in unserer<br />

Gegenwart gehört der Sachverhalt, der<br />

mit dem Stichwort der Individualisierung<br />

schon oft beschrieben wurde: Jeder<br />

und jede macht sich einen eigenen Reim<br />

auf das, was sie/er in der Predigt oder<br />

im Religionsunterricht gehört hat. Oder<br />

schärfer formuliert: JedeR schnitzt sich<br />

seine eigene Religion zurecht.<br />

Auf diese neue Privatreligion haben<br />

etliche Praktische Theologen in den<br />

letzten Jahren unsere Aufmerksamkeit<br />

gelenkt. Sie weisen etwa hin auf die<br />

Religion der unzerstörbaren Liebe, wie<br />

sie der „Titanic“-Film transportiert und<br />

zum Ausdruck bringt. Und dann stellen<br />

sie die besorgte Frage, ob sich die Leute,<br />

die sich von jener Liebesreligion ihr<br />

Herz rühren lassen (und wessen Herz<br />

wäre hier schon völlig unempfänglich?),<br />

überhaupt noch in der kirchlichen<br />

Verkündigung wiederfinden können.<br />

Müsste die kirchliche Verkündigung<br />

sich nicht völlig verwandeln, um jenen<br />

privatreligiösen Individuen noch zum<br />

Herzen und aus dem Herzen sprechen<br />

zu können? Verliert die <strong>Kirche</strong> nicht ihr<br />

Volk an die individualisierte Privatreligion?<br />

Angesichts dieser bangen Frage hilft<br />

jedoch schon der Hinweis auf einen<br />

ganz schlichten Sachverhalt: Auch die<br />

Leute, die bei „Titanic“ ergriffen<br />

weinen, laden zu ihrer Hochzeit nicht<br />

ins Kino. Sie feiern einen Gottesdienst.<br />

Offensichtlich sind auch sie der Ansicht,<br />

dass die kirchliche Verkündigung etwas<br />

leistet, was nur schlecht ersetzbar ist.<br />

Und da es angesichts der Pluralität von<br />

Lebensstilen und Geschmackspräferenzen<br />

ein hoffnungsloses Unterfangen<br />

wäre, allem und jedem gerecht werden<br />

zu wollen, wäre die <strong>Kirche</strong> gar nicht so<br />

schlecht beraten, in ruhiger Gelassenheit<br />

ihre klassischen Kernkompetenzen<br />

zu pflegen: Die durchdachte Predigt,<br />

den soliden Unterricht, die zuverlässige<br />

Seelsorge. Gerade die Konzentration auf<br />

ein erkennbares Profil könnte die<br />

angemessene Antwort auf die Pluralisierung<br />

der Gesellschaft und der<br />

Lebensläufe sein. Salopp gesagt: Wo<br />

„<strong>Kirche</strong>“ draufsteht, sollte auch <strong>Kirche</strong><br />

drinsein. Eine <strong>Kirche</strong>, die nur als<br />

„light“-Version von etwas erscheint, was<br />

es anderswo im Original gibt, wirkt nur<br />

irritierend – oder lächerlich.<br />

Wie Predigt, Unterricht und Seelsorge<br />

dann rezipiert werden, das braucht nicht<br />

mehr die Sorge der <strong>Kirche</strong> zu sein.<br />

Gerade im Verzicht auf die Kontrolle<br />

über die private, individuelle Aneignung<br />

der öffentlich-kirchlichen Glaubensverkündigung<br />

erweist sich die <strong>Kirche</strong> als<br />

Volkskirche – als <strong>Kirche</strong>, welche die<br />

Mitgliedschaft in ihr nicht an intellektuelle<br />

oder ästhetische oder politische<br />

Präferenzen bindet.<br />

Die <strong>Kirche</strong>, die sich über ihren Auftrag<br />

definiert, und nicht über die Eigenschaften<br />

ihrer Mitglieder, ist Volkskirche.<br />

Was die <strong>Kirche</strong> zur <strong>Kirche</strong> macht, das<br />

macht sie auch zur Volkskirche. Alle,<br />

die ihrer Botschaft zustimmen, können<br />

zu ihr gehören.<br />

Dr. Martin Weeber ist Wissenschaftlicher<br />

Assistent für Praktische<br />

Theologie an der Universität<br />

Tübingen<br />

Meilensteine der Theologie<br />

Mit Zuversicht leben –<br />

Helmut Gollwitzer, Christ und Sozialist<br />

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Aufgewachsen in einem nationalkonservativen<br />

bayerischen lutherischen<br />

Pfarrhaus beginnt er das Theologie- und<br />

Philosophiestudium in München und<br />

begegnet im Sommersemester 1930 in<br />

Bonn dem reformierten Theologen Karl<br />

Barth, dessen Schüler er zeitlebens wird.<br />

In Bonn erlebt Gollwitzer eine Theologie,<br />

„die Theologie zu sein wagt“, die<br />

dem heraufziehenden Ungeist in<br />

Deutschland zu wehren sucht und sich<br />

scharf abgrenzt gegen die nationalistischen<br />

und antisemitischen Irrungen<br />

deutscher Theologie. Im Jahr 1935 wird<br />

Karl Barth aus Deutschland ausgewiesen<br />

Rainer Weitzeli<br />

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„Die christliche Botschaft ist das große Verbot der Resignation und die große<br />

Erlaubnis zur Hoffnung.“ Dieser Satz, den Helmut Gollwitzer uns an der Freien<br />

Universität Berlin gelehrt, in der Dahlemer Gemeinde gepredigt und den<br />

Brigitte und er uns gelebt haben, dieser Satz könnte als Motto über dem Leben<br />

Helmut Gollwitzers stehen.<br />

und mit ihm muss auch sein Assistent<br />

Gollwitzer die Bonner Theologische<br />

Fakultät verlassen. Zunächst wird er<br />

Schlossprediger und Prinzenerzieher<br />

beim Fürsten Reuß, dann Mitarbeiter<br />

des thüringischen Landesbruderrates<br />

und 1937 des Bruderrats in Berlin. Im<br />

gleichen Jahr promoviert er bei Barth in<br />

Basel.<br />

Nach der Verhaftung Martin Niemöllers<br />

übernimmt er dessen Gemeinde Berlin-<br />

Dahlem. „Uns allen war klar, dass für<br />

ihn eine lange Leidenszeit begonnen<br />

habe (Niemöller war acht Jahre inhaftiert).<br />

So beschlossen wir am Abend des<br />

folgenden Sonntags einen Fürbittegottesdienst<br />

zu halten, bei dem ich über<br />

Apostelgeschichte 12,5 predigte: Und<br />

Petrus ward im Gefängnis gehalten, aber<br />

die Gemeinde betete ohne Aufhören für<br />

ihn zu Gott. Zu diesen Fürbittegottesdiensten<br />

kam die Dahlemer Gemeinde<br />

von nun an jeden Abend zusammen,<br />

acht Jahre hindurch... So wurde die<br />

Annen-<strong>Kirche</strong> seit dem 1. Juli 1937 ein<br />

Mittelpunkt der bekennenden und<br />

betenden Gemeinde, ein Haus des<br />

Segens für uns alle.“ In dieser bekennenden<br />

und betenden Gemeinde ist<br />

Gollwitzer bis zum 3. September 1940<br />

Lehrer, Prediger, Seelsorger. Seine<br />

vielleicht berühmteste Predigt hält er<br />

1938 unmittelbar nach der Reichspogromnacht.<br />

Erich Fried berichtet in<br />

seiner Frankfurter Römerberg-Rede:<br />

„Professor Gollwitzer hat seine Predigt<br />

mit den Worten eingeleitet: ‚Ringsum<br />

brennen Gotteshäuser. Ich weiß nicht,<br />

was ich sagen soll, ich sage lieber nichts,<br />

ich lese die zehn Gebote vor.´“ Hier<br />

beginnt Gollwitzers Kampf für ein neues<br />

Verhältnis von Christen und Juden,<br />

hierher rührt seine lebenslange solidarische<br />

Beziehung zum Volk der Juden.<br />

Seite 12 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 1, April <strong>2004</strong>

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