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alla breve - Wintersemester 2011-12

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<strong>Wintersemester</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />

Essay<br />

Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion<br />

der russischen Musikgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts sind sehr groß<br />

Unter den Millionen Russen, die ihre Heimat verlassen<br />

haben, waren viele Künstler und Komponisten. Ihre Werke<br />

prägen das Bild der russischen Kultur, noch bis heute. Denn<br />

der Prozess der Emigration hält noch immer an: Man könnte<br />

beispielsweise eine so junge und erfolgreiche Komponistin<br />

wie Lera Auerbach nennen, die 1971 in Tscheljabinsk geboren<br />

wurde und seit einer Konzertreise 1991 in den usa geblieben<br />

ist. Ihre Instrumentalwerke stehen in der Tradition der<br />

russischen Pianisten­Komponisten, aber ihre Vokalwerke verarbeiten<br />

ganz dezidiert russische Themen, beispielsweise das<br />

Requiem for a Poet mit Texten von Marina Zwetaewa (2007)<br />

oder das Russian Requiem (2007) mit Psalmen, orthodoxen<br />

Hymnen sowie Lyrik von Anna Achmatowa, Alexander Blok,<br />

Joseph Brodsky, Gawriil Derzhawin, Zinaida Hippius, Georgij<br />

Iwanow, Michail Lermontow, Ossip Mandelstam, Boris<br />

Pasternak, Alexander Puschkin und anderen – ein wahres<br />

Panoptikum russischen Geistes, gewidmet »den Opfern von<br />

Zarismus und Kommunismus«.<br />

verbinden: Musik zwischen Emigration und Stalinismus –<br />

Russische Komponisten in den 1930er und 1940er Jahren<br />

(als Buch erschienen 2004). Die jüngste russische Musikgeschichte<br />

in russischer Sprache, Istorija russkoj muzyki<br />

(ein Lehrbuch für die Hochschulen), war ursprünglich<br />

auf 10 Bände berechnet, doch soll ein 11. Band erscheinen,<br />

der unter anderem das Schicksal der russischen Musik<br />

und Komponisten auch im Ausland nach 1917 beleuchtet.<br />

Auf diesen Band darf man gespannt sein.<br />

Und schließlich wird auch die Frage zu beantworten<br />

sein, wie sich russische Musiktraditionen in den ehemaligen<br />

Sowjetrepubliken, in die sie unter Stalin oft genug mit<br />

Gewalt hineingetragen wurden, nach der Perestrojka noch<br />

erhalten haben oder nicht. Haben diese nun offiziell unabhängigen<br />

Länder mittlerweile wieder an ihre vorrevolutionären<br />

Traditionen angeknüpft – oder neue entwickelt? Gerade<br />

die Kaukasus­Nationen bieten dafür mit Gia Kancheli,<br />

Awet Terteryan und Frangis Alisade spannende Beispiele<br />

einer Interaktion von europäisch­russischen und östlichautochthonen<br />

Elementen. Aber um das alles klarer zu sehen,<br />

brauchen wir noch viele Aufführungen von Werken, viele<br />

Tagungen und viele Bücher.<br />

»Was fehlt sind Fakten und<br />

eine neue Basis der Bewertung«<br />

Man ist geneigt, genau hierin, also in der pathetischen<br />

Beschwörung und Überhöhung von Geist und Seele, um das<br />

Elend des irdischen Martyriums zu überwinden, ein Merkmal<br />

russischer Kunst zu erkennen, eigentlich schon ein Stereotyp.<br />

Auerbachs Werke erfüllen, unabhängig von ihrer Stilistik und<br />

Qualität, mustergültig das Klischee russischer Musik.<br />

Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der russischen<br />

Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts sind also sehr groß.<br />

Was in sowjetischer Zeit unmöglich war, nämlich die Zusammenschau<br />

der russischen Musikproduktion innerhalb wie<br />

außerhalb der Landesgrenzen, ist nun zumindest theoretisch<br />

denkbar. (So endete die große sowjetische Rachmaninow­<br />

Monographie von Jurij Keldysch 1973 kommentarlos mit<br />

dem Jahr seiner Emigration – als wäre der Komponist danach<br />

gestorben.) Praktisch fehlt es aber noch an vielen Voraussetzungen.<br />

Als einigermaßen erforscht kann nur die erste<br />

Emigrationswelle gelten. Zur Musik der 1930er und 1940er<br />

Jahre sind Vorarbeiten dagegen erst in Ansätzen erfolgt, nicht<br />

nur wegen der schwierigen Quellensituation in stalinistischer<br />

Zeit, sondern auch wegen des bisher kaum je hinterfragten<br />

Geschichtsmodells, wonach alle innerhalb der Sowjetunion<br />

komponierte Musik ästhetisch minderwertig war und grundsätzlich<br />

Ergebnis gewaltsamer Unterdrückung.<br />

Wie haben sich russische Musiktraditionen<br />

nach der Perestroika erhalten?<br />

Was fehlt, sind also nicht nur Fakten, sondern auch eine<br />

neue Basis der Bewertung, ein neuer, weiterer Horizont. In<br />

Dresden fand 2001 eine Tagung mit russischen und westlichen<br />

Forschern statt, die wohl erstmals versuchte, beide Seiten zu<br />

Ein Schwerpunkt des Festivals liegt auf<br />

den Kompositionen von Nikolaj Medtner<br />

(1880–1951)<br />

Im November <strong>2011</strong> wird in Saarbrücken<br />

ein Festival »Russische Musik im Exil«<br />

stattfinden, welches das Phänomen dieser<br />

so faszinierenden und vielgesichtigen<br />

zersplitterten Musikkultur neu beleuchten<br />

möchte (Homepage: www.hfm.saarland.de/frm<strong>2011</strong>).<br />

Dabei werden in einer dichten Konzertreihe konservative<br />

mit fortschrittlichen Strömungen konfrontiert, noch in<br />

Russland entstandene Werke mit solchen aus der Emigration,<br />

ältere mit jüngeren Komponistengenerationen. Beteiligt<br />

sind weltberühmte russische Künstler wie Gennadij Rozhdestwenskij,<br />

Boris Berezovsky und Alexander Rudin sowie<br />

zahlreiche Spezialisten für russische Musik aus Deutschland<br />

und England. Außerdem werden auch junge Musiker und<br />

Studenten der Hochschule für Musik Saar auftreten.<br />

Neben berühmten Namen wie Prokofjew, Rachmaninow,<br />

Strawinsky, Schnittke, Denissow, Gubajdulina liegt ein<br />

besonderer Schwerpunkt auf Kompositionen von Nikolaj<br />

Medtner, dessen 60. Todestag im November <strong>2011</strong> gefeiert<br />

wird und der als einer der typischsten Vertreter der russischen<br />

Emigration gilt, auch deswegen, weil sich um seine Werke<br />

und Person eine Art von elitärem Underground formierte,<br />

in dem die Bewahrung künstlerischer (russischer) Traditionen<br />

eine gleichsam religiöse Bedeutung bekam.<br />

Im Vorfeld dieser Konzerte wird einen öffentlichen Vortrag<br />

geben. Eine interdisziplinäre wissenschaftliche Konferenz<br />

unter dem Titel »Russian Emigré Culture: Conservatism<br />

or Evolution?«, die von den Instituten für Slawistik, für<br />

Kunstgeschichte und für Musikwissenschaft an der Universität<br />

des Saarlandes veranstaltet wird, möchte im Rahmen<br />

des Festivals die Frage nach der kulturellen Identität in den<br />

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