KIDS Aktuell - preprintmedia OHG Agentur für Digitale Medien
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Ja<br />
zu Marlene<br />
In der 13. Schwangerschaftswoche erfahren<br />
Anne und Carsten Volkmer, dass sie ein behindertes<br />
Kind erwarten. Die Entscheidung<br />
<strong>für</strong> das Baby ist ein sehr emotionaler Prozess.<br />
von Hanna Kastendieck<br />
„Das ist schon sch..., wenn die schlimmsten Be<strong>für</strong>chtungen<br />
sich bewahrheiten ... Morgen rufe ich im AK<br />
Barmbek bei der Pränataldiagnostik an. Ich melde<br />
mich morgen mal. Im Moment kriege ich irgendwie<br />
auch so schwer Zugang zu meinen Gefühlen. Das ist<br />
so schwer zu fassen, nur die Nachricht, dass was nicht<br />
stimmt und dass es wohl eher was Schlimmes ist ...“<br />
Es ist der 23. August 2010, 20.39 Uhr, ein Montag, als<br />
Anne Volkmer diese Mail an ihre besten Freundinnen<br />
abschickt. Die 37-Jährige erwartet ihr zweites Kind. Es<br />
ist die 13. Schwangerschaftswoche. Am Morgen sind<br />
die Eltern in der Praxis gewesen. Ein Routinetermin<br />
bei Dr. Schuh. Der Gynäkologe macht einen Ultraschall.<br />
Anne sieht ihr Baby auf dem Bildschirm. Wie<br />
immer überfällt sie eine Mischung aus Neugier, Freude,<br />
Hoffnung und diffuser Angst. Neugier darauf, wie<br />
sich der Fötus entwickelt. Freude darüber, dass das<br />
Ungeborene wächst. Hoffnung, dass alles in Ordnung<br />
ist. Und Angst davor, dass der Arzt etwas Auffälliges<br />
entdeckt. Etwas länger hinschaut, als nötig. An diesem<br />
Vormittag hat Anne das Gefühl, dass ihr Gynäkologe<br />
überhaupt nicht mehr aufhört zu schallen. Er<br />
fragt die Eltern, ob man bei der Pränataldiagnostik im<br />
AK Barmbek angemeldet sei. Er spricht von Auffälligkeiten<br />
im Bauch- und Nackenbereich. Sagt, dass es etwas<br />
Genetisches sein könne oder eine Infektion. Anne<br />
und Carsten spüren, dass er einen konkreten Verdacht<br />
hat. Sie ahnen, dass es sich um Trisomie handeln<br />
könnte. Ihr Kind - ein Kind mit Down-Syndrom?<br />
„... vor dem Termin im AK Barmbek habe ich genauso<br />
Angst, denn vielleicht ist es mit einer Diagnose noch<br />
viel schlimmer als ohne ...“. Anne kann nicht schlafen.<br />
Sie hat sich an den Rechner gesetzt. Es ist 4.58 Uhr<br />
früh. Vor 24 Stunden war die Welt noch in Ordnung.<br />
Jetzt ist nichts mehr wie es war. Jeder Termin ist einer<br />
zu viel. Anne schleppt sich zur Arbeit, macht früher<br />
als sonst Feierabend.<br />
Sie versucht sich abzulenken, geht mit Töchterchen<br />
Johanna spazieren. Die Eineinhalbjährige spürt, dass<br />
etwas mit Mama und Papa nicht stimmt. Anne ruft<br />
im AK Barmbek an. Sie bekommt einen Termin <strong>für</strong><br />
Donnerstag. Sie hat furchtbare Angst vor der Untersuchung.<br />
Weil sie spürt, dass aus einer unguten<br />
Ahnung eine schreckliche Gewissheit werden könnte.<br />
„… Und auch der Termin am Donnerstag wird einfach<br />
kommen, es wird ein schreckliches Gefühl sein. Ich<br />
bete, dass es nicht zu schlimm wird. Die Hoffnung auf<br />
eine Entwarnung ist so klein, die kann ich gar nicht<br />
spüren ...“ Anne ist geschockt, auch wenn es noch gar<br />
keinen Befund gibt. Sie, die Juristin, die immer alles<br />
im Griff hat, verliert die Kontrolle. Die Untersuchung<br />
im Pränatalzentrum dauert eineinhalb Stunden.<br />
Es gebe schwerwiegende Flüssigkeitsansammlungen<br />
im Nacken des Fötus, sagt die Ärztin. Der Humangenetiker<br />
spricht von Trisomie 13, 18, 21. Von Wahrscheinlichkeiten,<br />
die nicht <strong>für</strong> das Leben und die guten<br />
Hoffnungen sprechen. Anne und Carsten entscheiden<br />
sich <strong>für</strong> eine Fruchtwasseruntersuchung, um Gewissheit<br />
zu erlangen welche Chromosomenabweichung<br />
vorliegt. Der Arzt sagt auch, dass es sein könne,<br />
dass das Baby die Schwangerschaft nicht überlebt.<br />
Und dass es dann geboren werden muss.<br />
„… Eine Trisomie 18, 13, 21. Bis Donnerstag waren es<br />
Zahlen. Jetzt sind es Schicksale. Schlimme Schicksale.<br />
Down-Syndrom. Wie lieben Eltern ein Trisomie 18-<br />
oder 13-Kind? Werde ich irgendwann vor der Frage<br />
stehen, wie ich mir diese Frage stellen konnte? Werde<br />
ich mich <strong>für</strong> die Gedanken schämen? Keiner kann<br />
uns die Entscheidung abnehmen. Ich kann mir nicht<br />
vorstellen, dass ich mich <strong>für</strong> einen Abbruch entscheide.<br />
Aber kann ich mir vorstellen, mit einem schwer<br />
behinderten Kind zu leben … ?”, schreibt Anne zwei<br />
Tage später.<br />
Anne und Carsten sind sprachlos, obwohl es so vieles<br />
zu besprechen gäbe. Früher haben sie oft darüber<br />
geredet, „was wäre, wenn...” Jetzt finden sie die Worte<br />
nicht. Dem „Wenn” muss ein „Dann” folgen. „Alles vorher<br />
Gehörte wird zur Hülse”, sagt Anne. Carsten hat<br />
seinen Zivildienst vor Augen. Er hat eineinhalb Jahre<br />
mit Behinderten gelebt, sie gepflegt und betreut und<br />
auch deren Eltern erlebt und mit ihnen gesprochen.<br />
Er weiß, dass eine Behinderung kein Weltuntergang<br />
ist und dass auch die Eltern Erfüllung finden können.<br />
Und dann sind sie sich irgendwann einig, dass<br />
das Baby auf die Welt kommen soll. Noch klammern<br />
sich die Eltern an einen Funken Hoffnung. Die letzte<br />
Gewissheit soll eine Fruchtwasseruntersuchung bringen.<br />
Mitte September ist der Termin. Das Ergebnis ist<br />
eindeutig. Das 21. Chromosom ist dreifach vorhanden,<br />
statt wie normalerweise zweifach.<br />
Anne nimmt über ein Internetforum Kontakt zu einer<br />
anderen betroffenen Schwangeren auf. Diese entscheidet<br />
sich nach vielen Wochen doch gegen das<br />
Kind. Freunde raten den Eltern, sich bei einer psychosozialen<br />
Beratungsstelle Hilfe zu holen. Sie bekommen<br />
einen Termin bei Maren Weidner. Sie ist Ärztin<br />
und als Beraterin bei Pro Familia tätig. Sie spricht mit<br />
22<br />
<strong>KIDS</strong> <strong>Aktuell</strong> / Nr. 28 – Herbst 2013