48 THALIA | Lieblingsbild Michael Köhlmeier – Mein Lieblingsbild Pieter Bruegel der Ältere – Der Selbstmord Sauls Ich weiß nicht mehr, wer mir von ihm erzählt hat, meine bibelfeste Mutter oder mein Vater. Saul, der prominenteste Suizident des Alten Testaments, ist eine in seiner Haltlosigkeit unheimliche Figur, wie sie Shakespeare hätte zum Leben gestalten können. Der erste König Israels, gesalbt vom Propheten Samuel, war zerrissen und zerteilt in seine politische Aufgabe als Führer im Kampf gegen die Amalekiter und die Philister und in seine Leidenschaften und Vorurteile, seinen Hang zum Aberglauben und seinen Neid. Er überwarf sich mit Samuel, der daraufhin Gottes Segen von ihm abzog und David zum künftigen König salbte. „Ein böser Geist kam über ihn“, heißt es. Er verfiel der Schwermut, holte den jungen David an seinen Hof, liebte ihn und hasste ihn gleichermaßen, versuchte gar, ihn zu töten, und ließ sich von ihm auf der Lyra vorspielen, denn nichts konnte seine innere Qual lindern außer der Gesang dieses jungen Mannes. Ohne Plan führt er Krieg gegen die Philister, er verliert seine beiden Söhne, und im Gebirge Gilboa wird sein Heer vernichtend geschlagen. Er bittet seinen Waffenträger, ihn zu töten. Aber der kann es nicht. Da stürzt sich Saul in sein Schwert. Pieter Bruegel der Ältere hat das Gemälde 1562 geschaffen. Es gibt nicht viele Bilder in der Geschichte der Malerei, die mit solcher Dramatik aufwarten können. Wir sehen das Heer des Saul, gepresst in eine Schlucht, wie ein in die Enge getriebener Igel. Die Lanzen sind gegen den Himmel gerichtet, ein Ungetüm, das gequält und schließlich geschlachtet wird. Weit draußen auf dem Meer brennt ein Schiff, als wäre es als ein Menetekel von Gott selbst in Brand gesteckt worden. Abseits, links vorne, kniet Saul. Sinkt auf sein Schwert nieder. Der launische, unberechenbare Held sieht mit brechendem Auge, dass seine Tragödie, noch ehe sie vollbracht ist, zur Fußnote der Geschichte degradiert wird. Der Betrachter des Bildes bemerkt ihn vielleicht gar nicht, muss von einem Kundigen erst auf die beiden kleinen Figuren aufmerksam gemacht werden. In der Bibliothek meines Vater befand sich ein Band über den älteren Bruegel. Die Bilder haben mich verzaubert. Und verunsichert. Der Bethlehemitische Kindermord – dass er in einem flämischen Dorf geschah, fiel mir nicht auf, aber dass in diesem Dorf eine Kirche stand, zur Zeit der Geburt Christi, das verwirrte mich. Der Mythos, klärte mich mein Vater auf, findet immer und überall statt. Der Blindensturz war gespenstisch, ich war angewidert und ohne Mitleid. Der Turmbau zu Babel fesselte über Stunden meine Imagination. Am stärksten aber beeindruckte mich Der Selbstmord Sauls. Ich stellte mir vor, das Bild sei ein Monumentalgemälde. So viel war darauf zu sehen. Bei meinem ersten Aufenthalt in Wien besuchte ich das Kunsthistorische Museum. Dort hängt das Bild. Es ist sehr klein. 33,5 x 55 cm. Die Speere sind mit einem einzigen Haar gemalt worden. In einem albtraumhaften Kaleidoskop wechselt der Maler die Gewichtungen, so dass wir zerrissen und zerteilt werden zwischen Individuellem und Kollektivem, story und history, zwischen großer Geschichte und dem kleinem persönlichen Leid. Michael Köhlmeier Ab 25.08. bei <strong>Thalia</strong> Michael Köhlmeier Zwei Herren am Strand 256 Seiten, € 17,90 ISBN 978-3-446-24603-4 eBook, € 13,99 ISBN 978-3-446-24759-8 Hanser Michael Köhlmeier Die Abenteuer des Joel Spazierer 656 Seiten, € 24,90 ISBN 978-3-446-24178-7 eBook, € 18,99 ISBN 978-3-446-24286-9 Hanser
THALIA | Lieblingsbild 49 Foto: © Peter-Andreas Hassiepen Michael Köhlmeier 1949 in Hard am Bodensee geboren, studierte Germanistik und Politologie in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. Er lebt mit seiner Frau als Schriftsteller in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Michael Köhlmeier erhält den Walter-Hasenclever-Literaturpreis 20<strong>14</strong>. Bei Hanser erschienen seine Romane „Abendland“, „Madalyn“ und zuletzt „Die Abenteuer des Joel Spazierer“. Sein neuer Roman Zwei Herren am Strand erscheint am 25.08.20<strong>14</strong>. Pieter Bruegel d. Ä., Selbstmord Sauls, 1562, 33,5 x 55 cm, Öl auf Holz © Interfoto