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Ein versicherungsökonomischer Blick auf die ... - Schaffler Verlag

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EBM<br />

<strong>Ein</strong> versicherungsökonomischer <strong>Blick</strong><br />

<strong>auf</strong> <strong>die</strong> evidenzbasierte Medizin *<br />

Ärzte und Patienten beeinflussen mit ihren Handlungen bewusst<br />

und unbewusst das versicherungstechnische Risiko und damit<br />

<strong>die</strong> finanzielle Situation von Krankenkassen. Diese Handlungen<br />

und Interaktionen werden von Informations- und Anreizproblemen<br />

begleitet. Gleichzeitig vermag es eine Krankenkasse nicht,<br />

jede <strong>die</strong>ser Handlungen zu beobachten, zu bewerten und ggf.<br />

direkt zu korrigieren. Der vorliegende Beitrag diskutiert vor <strong>die</strong>sem<br />

Hintergrund <strong>die</strong> Frage, inwiefern das Konzept der evidenzbasierten<br />

Medizin dabei helfen kann, das versicherungstechnische<br />

Risiko positiv zu beeinflussen.<br />

Thomas Nebling<br />

Versicherungstechnisches<br />

Risiko<br />

Krankenversicherungen, wie Versicherungen<br />

generell, sind einem versicherungstechnischen<br />

Risiko ausgesetzt. Dieses<br />

versicherungstechnische Risiko besteht in<br />

der Gefahr, dass <strong>die</strong> tatsächliche Gesamtsumme<br />

der Versicherungsschäden nach<br />

oben von der erwarteten Gesamtsumme<br />

der Versicherungsschäden abweicht. Im<br />

Jargon der Krankenversicherung wird<br />

der Begriff des Versicherungsschadens<br />

durch den der Leistungsausgaben oder<br />

Krankheitskosten ersetzt. Weichen <strong>die</strong> tatsächlichen<br />

von den erwarteten Leistungsausgaben<br />

nach oben ab, so kommt eine<br />

Krankenversicherung in Finanzierungsprobleme.<br />

Dies betrifft auch <strong>die</strong> gesetzliche<br />

Krankenversicherung (GKV). In Zeiten<br />

eines Gesundheitsfonds ist <strong>die</strong> Kalkulation<br />

der <strong>Ein</strong>nahmen einer Krankenkasse<br />

zwar weitgehend zentralisiert. Das Risiko,<br />

dass <strong>die</strong> tatsächlichen Leistungsausgaben<br />

von den geplanten durchschnittlichen<br />

Leistungsausgaben, <strong>die</strong> bei der Kalkulation<br />

der Zuweisungen an <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

zugrunde gelegt werden, abweichen,<br />

besteht jedoch nach wie vor. Es verschärft<br />

sich sogar noch, da <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

kaum noch Möglichkeiten haben, ihre <strong>Ein</strong>nahmen<br />

effektiv zu beeinflussen.<br />

In der versicherungsökonomischen Literatur<br />

werden verschiedene Formen des<br />

versicherungstechnischen Risikos unterschieden.<br />

Dieser Beitrag konzentriert sich<br />

<strong>auf</strong> das Änderungsrisiko und <strong>die</strong> Überinanspruchnahme<br />

(ex-post Moral Hazard).<br />

Das Änderungsrisiko beschreibt <strong>die</strong> Gefahr,<br />

dass <strong>die</strong> tatsächlichen von den erwarteten<br />

Leistungsausgaben abweichen,<br />

weil sich <strong>die</strong> versicherten Krankheitsrisiken<br />

bzw. <strong>die</strong> Gesundheitszustände der<br />

Versicherten verändert haben. Überinanspruchnahme<br />

beschreibt <strong>die</strong> Gefahr, dass<br />

<strong>die</strong> tatsächlichen von den erwarteten<br />

Leistungsausgaben abweichen, weil <strong>die</strong><br />

Versicherten im Krankheitsfall mehr und<br />

kostenintensivere Leistungen in Anspruch<br />

genommen haben, als es für eine erfolgreiche<br />

Behandlung tatsächlich notwendig<br />

gewesen wäre.<br />

Änderungsrisiko<br />

Das Änderungsrisiko tritt u. a. dann ein,<br />

wenn eine Therapie nicht zu einer Verbesserung,<br />

sondern zu einer Verschlechterung<br />

des Gesundheitszustandes der<br />

Versicherten führt. Dies ist bei Surrogattrugschlüssen<br />

der Fall. Hintergrund ist<br />

eine Definition von Behandlungszielen<br />

anhand biomedizinischer und physiologischer<br />

Parameter wie etwa Blutdruck,<br />

Blutzuckerspiegel, Vitaminspiegel, Cholesterinspiegel<br />

usw. Diese Parameter können<br />

<strong>auf</strong> einfache Weise mit numerischen<br />

Werten dargestellt werden. Da eine positive<br />

Veränderung in ihren Werten mit einer<br />

36


EBM<br />

Verbesserung des Gesundheitszustandes<br />

assoziiert wird, werden solche Laborparameter<br />

als Surrogatparameter bezeichnet.<br />

Surrogatparameter sind Ersatz-Messgrößen<br />

für den Gesundheitszustand des<br />

Patienten. Hiervon zu unterscheiden sind<br />

patientenrelevante Endpunkte. Dies sind<br />

jene Effekte einer Behandlung, welche für<br />

den Patienten selbst von höchstem persönlichen<br />

Interesse sind. Zu den typischen<br />

patientenrelevanten Endpunkten gehört<br />

der vom Patienten wahrgenommene Gewinn<br />

an Gesundheit, Lebensqualität und<br />

Lebenserwartung. Surrogattrugschlüsse<br />

kommen nun dadurch zustande, dass sich<br />

in Folge einer Behandlung zwar das anvisierte<br />

Surrogatergebnis erreichen lässt<br />

(z. B. Senkung des Blutzuckerspiegels),<br />

sich in der Folge patientenrelevante Endpunkte<br />

jedoch verschlechtern (Zunahme<br />

von Herzinfarkt, Schlaganfall und Lungenembolie<br />

sowie kardialer Mortalität). In<br />

<strong>die</strong>sen Fällen finanzieren <strong>die</strong> Krankenkassen<br />

also medizinische Behandlungen, <strong>die</strong><br />

in einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes<br />

der Patienten münden.<br />

Damit steigt das Änderungsrisiko.<br />

Überinanspruchnahme<br />

Foto: Roland Singer<br />

Das Gesundheitswesen sowie <strong>die</strong> medizinischen<br />

Leistungen, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sem<br />

System angeboten und erbracht werden,<br />

sind durch einen hohen Komplexitätsgrad<br />

charakterisiert. Komplexität verursacht Intransparenz<br />

und Unsicherheit. Unter <strong>die</strong>sen<br />

Voraussetzungen besteht <strong>die</strong> Gefahr<br />

eines „blinden“ Navigierens durch das<br />

Versorgungssystem. Als Konsequenz ergeben<br />

sich folglich frustrierende Irrwege<br />

von Patienten durch das Gesundheitswesen,<br />

<strong>auf</strong> der Suche nach dem richtigen<br />

Behandler und der richtigen Behandlung.<br />

Diese Umstände bedingen eine nichtinten<strong>die</strong>rte<br />

Überinanspruchnahme medizinischer<br />

Leistungen und deren Anbieter.<br />

Mangels Transparenz müssen viele Patienten<br />

nach dem Prinzip „Trial and Error“<br />

mehrere Anbieter und Behandlungen<br />

ausprobieren, bis sie eine befriedigende<br />

Lösung gefunden haben. Hinzu kommt,<br />

dass häufig Quantität fälschlicherweise<br />

mit Qualität gleichgesetzt wird, also <strong>die</strong><br />

Annahme, dass umso mehr für <strong>die</strong> Gesundheit<br />

getan wird, je mehr Leistungen<br />

in Anspruch genommen werden („Viel hilft<br />

viel“). Dabei bleibt unberücksichtigt, dass<br />

jede medizinische Intervention, <strong>die</strong> wirkt,<br />

stets auch mit dem Risiko unerwünschter<br />

Nebenwirkungen verbunden ist. Je mehr<br />

Leistungen in Anspruch genommen werden,<br />

desto höher das Risiko unerwünschter<br />

Nebenwirkungen, desto höher <strong>die</strong> Gefahr,<br />

dass sich der Gesundheitszustand<br />

verschlechtert. <strong>Ein</strong> weiterer Trugschluss<br />

liegt darin, von den Merkmalen „neu“ und<br />

„teuer“ <strong>auf</strong> eine hohe Qualität eines Arzneimittels<br />

zu schließen.<br />

Ursachenforschung<br />

<strong>Ein</strong>e Versicherungsleistung wird in Form<br />

einer Versorgungsleistung innerhalb der<br />

Arzt-Patienten-Beziehung gewährt. Die<br />

Interaktionen zwischen Ärzten und Patienten<br />

basieren daher <strong>auf</strong> der Nutzung<br />

von finanziellen Ressourcen, <strong>die</strong> von den<br />

Krankenkassen bereitgestellt werden.<br />

Das Verhalten von Ärzten und Patienten<br />

beeinflusst <strong>die</strong> Höhe des Behandlungserfolges<br />

sowie das Ausmaß an Effektivität<br />

und Effizienz, mit welchem der Behandlungserfolg<br />

realisiert wird. Hieraus folgt,<br />

dass <strong>die</strong> Interaktionen zwischen Arzt und<br />

Patient Auswirkungen sowohl <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Leistungsinanspruchnahme<br />

(ex-post Moral<br />

Hazard) als auch <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Veränderung des<br />

Gesundheitszustandes (Änderungsrisiko)<br />

des Patienten haben. Mit anderen Worten<br />

nehmen Ärzte und Patienten mit ihren<br />

Entscheidungen <strong>Ein</strong>fluss <strong>auf</strong> das versicherungstechnische<br />

Risiko.<br />

Nach der ökonomischen Handlungstheorie<br />

versuchen Akteure ihren individuellen<br />

Nutzen unter bestimmten Restriktionen zu<br />

maximieren und folgen dabei den Anreizen<br />

der Situation. Zu den Anreizen einer Situati-<br />

<br />

37


EBM<br />

on gehören monetäre wie nicht-monetäre<br />

handlungsbestimmende Vorteilserwartungen.<br />

Zu den Restriktionen zählt u. a.<br />

der Informationsstand eines Handelnden.<br />

Wenn <strong>die</strong> Handlungen von Ärzten und Patienten<br />

das versicherungstechnische Risiko<br />

beeinflussen, so sind hier insbesondere<br />

Informations- und Anreizprobleme zu<br />

berücksichtigen. Informationsprobleme<br />

liegen etwa vor, wenn Ärzten <strong>die</strong> Gefahren<br />

von Surrogattrugschlüssen nicht<br />

bewusst sind und Patienten nicht wissen,<br />

welche Leistungsinanspruchnahme den<br />

höchstmöglichen Gewinn an Gesundheit<br />

und Lebensqualität erwarten lässt,<br />

sie also <strong>die</strong> Relationen von Nutzen und<br />

Risiken medizinischer Maßnahmen nicht<br />

kennen. Wenn Patienten im Glauben sind,<br />

dass es für ihre Gesundheit am besten<br />

sei, möglichst viele oder möglichst teure<br />

Leistungen in Anspruch zu nehmen, dann<br />

ist nachvollziehbar, dass sie einen Anreiz<br />

haben, genau <strong>die</strong>s zu tun. Bei den Verhaltensanreizen<br />

der Ärzte sind neben den<br />

Honorarstrukturen und der Beeinflussung<br />

durch <strong>die</strong> Pharmaindustrie zu dem auch<br />

<strong>die</strong> Erwartungen der Patienten zu berücksichtigen,<br />

<strong>die</strong> wiederum das Verhalten der<br />

Ärzte beeinflussen.<br />

Evidenzbasierte Medizin<br />

als Lösung?<br />

Die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin<br />

(EbM) stellen eine bestimmte methodische<br />

Vorgehensweise in der täglichen<br />

Patientenversorgung dar. EbM ist der gewissenhafte,<br />

ausdrückliche und vernünftige<br />

Gebrauch der gegenwärtig besten<br />

externen, wissenschaftlichen Evidenz für<br />

Entscheidungen in der medizinischen Versorgung<br />

individueller Patienten. EbM besteht<br />

aus den folgenden drei Bausteinen:<br />

das Beste aus systematischer Forschung<br />

gewonnene, wissenschaftlich<br />

gesicherte Wissen (externe Evidenz),<br />

<strong>die</strong> individuelle klinische Expertise des<br />

Arztes (interne Evidenz) und<br />

<strong>die</strong> individuellen Werte, Wünsche, Bedürfnisse,<br />

Präferenzen, Erwartungen<br />

und Erfahrungen des einzelnen Patienten.<br />

Zunächst geht es der EbM darum, Nutzen<br />

und Risiken medizinischer Maßnahmen<br />

einer soliden wissenschaftlichen Überprüfung<br />

zu unterziehen. Anschließend gilt es,<br />

<strong>die</strong> gewonnenen Erkenntnisse an Ärzte<br />

und Patienten in einer jeweils adäquaten<br />

Sprache zu kommunizieren (Leitlinien und<br />

Entscheidungshilfen). Die Adressierung<br />

der Patienten leitet sich daraus ab, dass<br />

EbM ausdrücklich <strong>die</strong> gemeinsame und<br />

partnerschaftliche Entscheidungsfindung<br />

zwischen Arzt und Patient (shared decision-making,<br />

SDM) vorsieht. Der Behandlungserfolg<br />

hängt von der Entscheidungsqualität<br />

ab. Daher benötigen Ärzte und<br />

Patienten gleichermaßen eine fun<strong>die</strong>rte<br />

Entscheidungsgrundlage. Hierzu gehören<br />

realistische Vorstellungen darüber, was<br />

von einer Intervention zu erwarten ist und<br />

was nicht. Unter <strong>die</strong>sen Voraussetzungen<br />

können <strong>die</strong> für den individuellen Fall richtigen<br />

Entscheidungen getroffen werden.<br />

Evidenzbasierte Informationen stellen<br />

zwar keine Garantie dar. Sie können aber<br />

das Risiko einer Fehlentscheidung (Surrogattrugschluss,<br />

nicht zielführende Leistungen)<br />

bestmöglich reduzieren. Die Erfahrung<br />

zeigt, dass sich in vielen Fällen<br />

ein schnellerer und/oder höherer Behandlungserfolg<br />

einstellt, wenn Patienten aktiv<br />

in <strong>die</strong> medizinische Entscheidungsfindung<br />

mit einbezogen werden.<br />

Nicht nur <strong>die</strong> reine Wissensvermittlung,<br />

sondern auch <strong>die</strong> Vermittlung von Handlungskompetenzen<br />

ist ein Anliegen der<br />

EbM. Bei Ärzten geht es um <strong>die</strong> Kompetenz,<br />

zu einer bestimmten Fragestellung<br />

den aktuellen Stand der wissenschaftlichen<br />

Forschung zu recherchieren und<br />

<strong>die</strong> gefundenen Informationen kritisch <strong>auf</strong><br />

deren Anwendbarkeit in der konkreten Situation<br />

zu bewerten. Den Patienten möchte<br />

<strong>die</strong> EbM Gesundheitskompetenzen<br />

vermitteln. Hierzu gehören etwa <strong>die</strong> folgenden<br />

Fähigkeiten:<br />

schriftliche und mündliche Gesundheits-<br />

und Patienteninformationen zu<br />

recherchieren sowie kritisch <strong>auf</strong> deren<br />

Evidenz (Wahrheitsgehalt, Aussagekraft,<br />

Glaubwürdigkeit) und persönliche<br />

Relevanz beurteilen zu können,<br />

sich seiner Bedürfnisse und Präferenzen<br />

Klarheit zu verschaffen, <strong>die</strong>se<br />

gegenüber Leistungserbringern klar artikulieren<br />

zu können sowie gemeinsam<br />

mit ihnen nach einer Lösung zu suchen<br />

(SDM).<br />

Fazit<br />

Der Zugang zur externen Evidenz für Ärzte<br />

und Patienten sowie <strong>die</strong> Gesundheitskompetenzen<br />

der Patienten stellen Restriktionen<br />

der Handelnden dar. Ärzte und<br />

Patienten versuchen unter <strong>die</strong>sen Restriktionen<br />

ihren Nutzen zu maximieren. Je größer<br />

<strong>die</strong>se Restriktionen, desto höher <strong>die</strong><br />

Gefahr, dass <strong>die</strong> Interaktionen zwischen<br />

Arzt und Patient zu einer Erhöhung des<br />

versicherungstechnischen Risikos führen.<br />

Da EbM <strong>die</strong>se Restriktionen <strong>auf</strong>weichen<br />

kann, kommt ihr eine entsprechende versicherungsökonomische<br />

Bedeutung zu.<br />

Hieraus ergibt sich <strong>die</strong> Forderung, dass<br />

<strong>die</strong> evidenzbasierte Medizin eine größere<br />

gesundheitspolitische Aufmerksamkeit<br />

und systematische Förderung sowie eine<br />

stärkere Berücksichtigung in der GKV erfahren<br />

sollte.<br />

<br />

*<br />

rungsökonomische<br />

Bedeutung der evidenzbasier-<br />

<br />

<br />

Befunde der Gesundheitswissenschaften, S. 131-<br />

142, Baden-Baden, Nomos. Literaturhinweise im<br />

<br />

THOMAS NEBLING<br />

Techniker Krankenkasse<br />

Stabsstelle Strategisches Vertrags- und<br />

Versorgungsmanagement<br />

thomas.nebling@tk-online.de<br />

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