Das Risiko erkennen - Schaffler Verlag
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Was Reorganisation bringt<br />
<strong>Das</strong> <strong>Risiko</strong> <strong>erkennen</strong><br />
Die moderne Intensivmedizin<br />
findet sich immer mehr in<br />
einem Spannungsfeld von<br />
medizinischen, ethischen und ökonomischen<br />
Anforderungen. Zusätzlich<br />
erzeugen steigende Gesundheitsausgaben<br />
und die vermehrte Nachfrage<br />
an intensivmedizinischen Leistungen<br />
einen zunehmenden Kostendruck, der Spitalserhalter zur Frage<br />
nach der Wirtschaftlichkeit der angewandten Maßnahmen<br />
zwingt. Die Intensivmedizin als teure Medizin befindet sich dabei<br />
immer an der Schnittstelle verschiedener Interessen. Aufgrund<br />
der mit der Intensivtherapie verbundenen Kosten werden Kapazitäten<br />
in der Intensivmedizin nicht großzügig ausgebaut, sondern<br />
eher limitiert.<br />
Ziel der Intensivmedizin muss heutzutage sein, möglichst kosteneffizient<br />
mit den vorhandenen Mitteln das bestmögliche Ergebnis<br />
für unsere Patienten zu erreichen. <strong>Das</strong> bedeutet, dass neben den<br />
üblichen Zielparametern wie Überleben auch ressourcenorientierte<br />
Indizes wie etwa Verweildauer und Auslastung der Station<br />
eine große Rolle spielen. Neben patientenbezogenen Faktoren wie<br />
Alter, chronische Erkrankungen und Schweregrad der Erkrankung<br />
bei Aufnahme, gibt es heute klare Hinweise für die Bedeutung der<br />
Organisationsstruktur in diesem Zusammenhang 1 .<br />
So konnte schon vor einiger Zeit anhand eines Vergleiches von<br />
brasilianischen und US-amerikanischen Stationen gezeigt werden,<br />
dass die Menge an verfügbarer Technologie an Intensivstationen<br />
das Ergebnis (Outcome) beeinflusst 2 . Darüber hinaus haben viele<br />
Studien die Bedeutung der Verfügbarkeit von Pflegepersonal evaluiert.<br />
In den Studien von Amavaradi et al. zeigte sich konstant,<br />
dass der Schlüssel zwischen Pflegepersonal und Patienten sich direkt<br />
auf die Qualität der Betreuung niederschlug: Ab einem Schlüssel<br />
von 1:2, also wenn eine Pflegeperson mehr als zwei Patienten<br />
betreuen musste, kam es zu einer drastischen Erhöhung an Komplikationen<br />
wie Selbstextubation, Infektionen, Pneumonie und<br />
Sepsis 3 . Dieser Zusammenhang zwischen Pflegeaufwand und Outcome<br />
konnte auch durch österreichische Daten untermauert werden:<br />
In der Studie von Metnitz et al. war in den Intensivstationen<br />
in großen Spitälern ein um ca. 30 Prozent höherer Arbeitsaufwand<br />
für das Pflegepersonal – bei gleichem oder schlechterem Personalschlüssel<br />
4 . Dies führte nicht nur zu einer erhöhten (risikoadjustierten)<br />
Mortalität, sondern insgesamt zu einer deutlich verlängerten<br />
Aufenthaltsdauer und damit zu einer Reduktion der operativen Kapazität<br />
einer Intensivstation.<br />
Betroffen von diesen Komplikationen sind auch Patienten, welche<br />
nach einem Intensivaufenthalt und anschließender Überstellung<br />
auf die Normalstation wieder auf der Intensivstation aufgenommen<br />
werden müssen. In einer österreichischen Studie von Metnitz<br />
et al. zeigte sich, dass diese Patienten am letzten Tag ihres<br />
ersten Intensivaufenthaltes einen wesentlich höheren Aufwand an<br />
Kapazitätsengpässe auf den Intensivstationen stellen nicht<br />
nur ein medizinisches, sondern auch ein ethisches und gesundheitspolitisches<br />
Problem dar. Lösungen wären möglich.<br />
Philipp G.H. Metnitz, Michael J. Hiesmayr<br />
Organ-unterstützenden Maßnahmen aufwiesen und viel schneller<br />
nach ihrer Extubation von der Intensivstation verlegt wurden als<br />
Patienten, die nicht wieder auf die Intensivstation aufgenommen<br />
werden mussten 5 . Insgesamt benötigten die wiederaufgenommenen<br />
Patienten noch am letzten Tag ihres ersten Intensivaufenthaltes<br />
wesentlich mehr Pflege als Patienten, welche später nicht mehr<br />
wiederaufgenommen wurden müssen. Der häufigste Grund für die<br />
Wiederaufnahme waren (erwartungsgemäß) Probleme im Bereich<br />
des Respirationstraktes.<br />
Darüber hinaus zeigte sich, dass Patienten, welche wiederaufgenommen<br />
wurden, häufiger während der Abend- und Nachtstunden<br />
von der Intensivstation entlassen worden waren. Entlassungen<br />
während der Nachtstunden erfolgen meist vor dem Hintergrund<br />
eines akut auftretenden Bettenbedarfes, wobei jene Patienten,<br />
deren Zustand „noch am besten“ erscheint, in dieser Situation<br />
verlegt werden, um ein Intensivbett für einen anderen Patienten<br />
freizumachen. Wie diese Studie jedoch zeigt, weisen offensichtlich<br />
viele dieser vermeintlich stabilen Patienten – obwohl nicht<br />
vordergründig lebensbedrohliche – doch noch residuale Organdysfunktionen<br />
auf. Da auf der Normalstation niemals der gleiche<br />
Pflegeaufwand betrieben werden kann, kommt es in manchen<br />
Fällen dann zu einem Missverhältnis zwischen Pflegebedarf und<br />
verfügbaren Pflegeressourcen, in dessen Folge sich die Organdysfunktionen<br />
verstärken, zu Notsituationen und schließlich zu einer<br />
Wiederaufnahme auf die Intensivstation führen.<br />
Die Ergebnisse dieser Studien deuten darauf hin, dass die Entscheidung<br />
zur Transferierung in die Normalstation für viele dieser<br />
später wiederaufgenommenen Patienten zu früh gefällt wurde. Jeder<br />
in der Intensivmedizin Beschäftigte weiß um die bestehenden<br />
Kapazitätsprobleme in der Intensivmedizin, welche sich nicht allein<br />
in Österreich wiederfinden. Dies stellt allerdings nicht nur ein<br />
medizinisches, sondern auch ein ethisches und gesundheitspolitisches<br />
Problem dar.<br />
Probleme identifizieren<br />
Für die Praxis stellt sich die entscheidende Frage, ob Wiederaufnahmen<br />
verhindert werden könnten. Prinzipiell ja – allerdings wird<br />
es niemals möglich sein, alle Wiederaufnahmen zu verhindern.<br />
Dies allein schon deswegen nicht, da ein Teil auf patienteninhärente<br />
Probleme, wie etwa chronische Erkrankungen, zurückzuführen<br />
sind. Bei Patienten, bei denen entweder die Entscheidung zur Verlegung<br />
zu früh gefällt wurde oder bei jenen, deren Organfunktio-<br />
40 <strong>Das</strong> österreichische Gesundheitswesen – ÖKZ<br />
52. Jg. (2011), 03 | www.schaffler-verlag.com
Was Reorganisation bringt ::<br />
nen sich aufgrund eines nicht adäquaten Pflege- und Betreuungsniveaus<br />
an der Normalstation verschlechtern und die dann wieder<br />
Intensivpflege benötigen, wäre es aber prinzipiell möglich. Denn<br />
unsere Studie zeigt, dass Patienten, welche ein erhöhtes <strong>Risiko</strong><br />
aufweisen, als solche zu <strong>erkennen</strong> sind – und es gibt auch Möglichkeiten,<br />
ihre Organfunktionen zu verbessern.<br />
Neben der Reorganisation von Intensiveinheiten in sich scheint<br />
auch deren Integration in die Spitalslandschaft von entscheidender<br />
Bedeutung zu sein. Eine Schweizer Studie, welche Wiederaufnahmen<br />
an einem Spital über einen Zeitraum von fünf Jahren<br />
untersuchte, konnte zeigen, dass – abhängig vom Aufnahmegrund<br />
– zwischen 13 und 86 Prozent der Wiederaufnahmen zu verhindern<br />
gewesen wären. 6 Eine Simulationsstudie der Arbeitsgruppe von<br />
Chang zeigte, dass die Post-Intensiv-Sterblichkeit in einem Kollektiv<br />
englischer Intensivstationen um bis zu 39 Prozent verringert<br />
werden kann, wenn die Patienten 48 Stunden länger an der Intensivstation<br />
betreut und so in ihren – noch instabilen – Organfunktionen<br />
stabilisiert werden. 7 Allerdings würde dies – für Großbritannien<br />
berechnet – eine Vermehrung der Intensivbettenkapazität um<br />
etwa 16 Prozent bedeuten.<br />
Strukturelles Problem<br />
Wiederaufnahmen sind eben auch ein strukturelles Problem, jenseits<br />
der Verfügbarkeit von Intensivbetten. Für Patienten, die zwar<br />
nicht mehr intensivpflichtig sind, aber aus verschiedensten Gründen<br />
noch einen erhöhten Pflegebedarf aufweisen, wäre die Betreuung<br />
auf einer „Intermediate Care Unit“ ideal. Doch: Wie viele Krankenanstalten<br />
haben derartige Stationen bzw. sind gewillt, solche<br />
einzurichten, um eine optimale Betreuung von <strong>Risiko</strong>patienten zu<br />
ermöglichen?<br />
Die Frage nach der Optimierung der Prognose von Intensivpatienten<br />
liegt also längst nicht mehr ausschließlich im Bereich des<br />
Mediziners allein, ist nicht nur eine Frage der Güte der Behandlung<br />
– sie ist auch eine Frage der Finanzierung geworden. Die beschriebenen<br />
Studien und Daten zeigen in diesem Zusammenhang,<br />
dass durch eine Reorganisation der intensivmedizinischen Versorgung<br />
operative Kapazitäten in der Intensivmedizin erhöht werden<br />
können. Dazu benötigt es allerdings eine gewisse Weitsicht und<br />
einen Paradigmenwechsel: Statt in frustrane Prozesse wären mehr<br />
Investitionen in entsprechende Strukturen vonnöten. <strong>Das</strong> wäre ein<br />
erster notwendiger Schritt, um durch Reduzierung des Betten- und<br />
Verlegungsdruckes eine Optimierung der Betreuung von <strong>Risiko</strong>patienten<br />
zu ermöglichen. ::<br />
Literatur<br />
1<br />
Miranda DR, Ryan DW, Schaufeli WB, Fidler V (Eds.) Organization and Management of<br />
Intensive Care. In: Vincent JL (Ed.) Update in Intensive Care Medicine, Vol. 29.<br />
Springer-<strong>Verlag</strong> Berlin-Heidelberg 1998.<br />
2<br />
Bastos PG, Knaus WA, Zimmerman JE, Magalhaes A Jr, Sun X, Wagner DP.<br />
The importance of technology for achieving superior outcomes from intensive care.<br />
Brazil APACHE III Study Group. Intensive Care Med 1996;22:664-669.<br />
3<br />
Amaravadi RK, Dimick JB, Pronovost PJ, Lipsett PA. ICU nurse to patient ratio is<br />
associated with complications and resource use after esophagectomy. Intensive Care<br />
Med 2000;26:1857-1862.<br />
4<br />
Metnitz PhGH, Kopp A, Jordan B, Lang Th. More interventions do not necessarily<br />
improve outcome in critically ill patients. Intensive Care Med 2004;30:1586-1593.<br />
5<br />
Metnitz PhGH, Fieux F, Jordan B, Lang Th, Moreno R & Le Gall JR. Critically ill patients<br />
readmitted to intensive care units - Lessons to learn? Intensive Care Med 2003;<br />
29:241-248.<br />
6<br />
Schriber P. Dissertation, Universität Genf, Schweiz 2001.<br />
7<br />
Daly K, Beale R, Chang RW. Reduction in mortality after inappropriate early discharge<br />
from intensive care unit: logistic regression triage model. Br Med J 2001;322:1274-1276.<br />
Foto: Privat<br />
Universitätsprofessor<br />
DDr. Philipp G.H. Metnitz<br />
ist Anästhesiologischer und<br />
Intensivmedizinischer Leiter der<br />
Intensivstation 13I1 an der<br />
Universitätsklinik für Anästhesie und<br />
Allgemeine Intensivmedizin an der<br />
Medizinischen Universität Wien<br />
philipp.metnitz@meduniwien.ac.at<br />
Universitätsprofessor Dr. Michael J. Hiesmayr<br />
ist Leiter der Abteilung für Herz-Thorax-<br />
Gefäßchirurgische Anästhesie und Intensivmedizin und<br />
Vorstand der Universitätsklinik für Anästhesie,<br />
Allgemeine Intensivmedizin und Schmerzmedizin<br />
an der Medizinischen Universität Wien.<br />
michael.hiesmayr@meduniwien.ac.at<br />
Leserbrief zum Beitrag „Nosokomiale Infektionen“ von Michael J. Hiesmayr, Elisabeth Presterl<br />
und Philipp G.H. Metnitz in <strong>Das</strong> österreichische Gesundheitswesen – ÖKZ 2011/1-2, Seite 28<br />
Wenn alle den gleichen Blödsinn tun<br />
Ich lese in der letzten Ausgabe der ÖKZ einen<br />
Artikel über nosokomiale Infektionen.<br />
Dabei werden Daten gezeigt über die sogenannte<br />
beatmungsassoziierte Pneumonie.<br />
Als Pulmologe darf ich darauf hinweisen,<br />
dass die Beatmungslunge „evidence<br />
based“ eine Chimäre ist. Es wird dezidiert<br />
in der amerikanischen Literatur gefordert,<br />
dass sie als Qualitätsindikator nicht mehr<br />
verwendet wird. <strong>Das</strong> Problem ist, dass sie<br />
de facto nicht vor dem Tod zu diagnostizieren<br />
ist. Selbst aktuelle Daten aus dem<br />
AKH zeigen, dass diese Diagnose absolut<br />
unbrauchbar ist. Wir haben also hier Daten,<br />
die zwar aufgrund von unbrauchbaren<br />
Daten (welchen eigentlich?) gesammelt<br />
werden, die aber keiner realen Diagnose<br />
gegenüberstehen.<br />
Seit einem Jahr weise ich darauf hin, dass<br />
dieser Indikator evidence based aus dem<br />
europäischen Benchmarking-Projekt der<br />
Intensivstationen herausgenommen gehört.<br />
Dies wird aber von Eminenzen der<br />
Intensivstationen abgelehnt, mit der Begründung<br />
„… wir haben so schöne standardisierte<br />
Ergebnisse und deswegen<br />
wollen wir das nicht aufgeben.“ Wir wissen<br />
zwar nicht, was wir tun, aber das tun<br />
wir standardisiert! Meine Definition von<br />
Benchmarking: „Wenn alle den gleichen<br />
Blödsinn tun.“ Einen besseren Beweis als<br />
das Benchmarking-Projekt der Intensivabteilungen<br />
europaweit gibt es kaum.<br />
Universitätsprofessor Dr. Kaspar Sertl,<br />
Wien, kaspar.sertl@aon.at<br />
52. Jg. (2011), 03 | www.schaffler-verlag.com <strong>Das</strong> österreichische Gesundheitswesen – ÖKZ 41