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zeitungzur - Schauspiel Frankfurt

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Die<br />

<strong>zeitungzur</strong><br />

Spielzeit 2013/ 14<br />

GEMEIN<br />

Mit Beiträgen von<br />

Schorsch Kamerun<br />

Nargess Eskandari-Grünberg<br />

Guillaume Paoli<br />

Simone Dietz<br />

Sven Hillenkamp<br />

Wilhelm Heitmeyer<br />

Daniel Keil<br />

Jörg Splett<br />

Maggie Thieme / Elmar Brähler<br />

Karl-Heinz Biesold<br />

Dirk Setton<br />

Tilman Allert<br />

Juliane Rebentisch<br />

SCHAFT


02<br />

e d i t o r i a l S T A D T<br />

03<br />

u n d i n h a l t<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />

EDIT<br />

ORIAL<br />

Fehlt es in unserer Gesellschaft an gemeinsamen Werten oder überhaupt an Gemeinschaft?<br />

Ist »Gemeinschaft« heutzutage eine angemessene Antwort auf die<br />

neoliberale Desintegration der Gesellschaft oder können wir gut und gerne darauf<br />

verzichten? Wie viel Differenz ist unerlässlich für ein lebendiges soziales Gebilde,<br />

für dessen Kritik, seine Veränderung? Wie viel Einigkeit ist produktiv für ein friedliches<br />

Zusammenleben, wann beginnt der Zwang zur Vereinheitlichung, die Gewalt?<br />

Gemeinschaft, Individualitätsstreben und Außenseitertum sind Begriffe, die das Feld<br />

abstecken, auf welchem sich die Spielzeit 13/14 des <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> bewegt. Wir<br />

haben Künstler, Politiker und Wissenschaftler eingeladen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.<br />

Die einen tun es auf der Bühne im Theater, den anderen möchten<br />

wir mit dieser Publikation eine gedankliche Bühne eröffnen.<br />

S<br />

chorsch Kamerun, Sänger und Regisseur, unterhält sich anlässlich seines Stadtprojektes<br />

»<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous« mit der <strong>Frankfurt</strong>er Dezernentin für Integration,<br />

Nargess Eskandari-Grünberg, über Möglichkeiten und Grenzen gezielter Förderung<br />

von Gemeinschaft. Nach dem Verschwinden von »Gemeinschaft«, d. h. von überpersönlichen<br />

Strukturen und Institutionen, ist das »Du« – so die These des Soziologen<br />

Sven Hillenkamp – die einzige Instanz, die dem Menschen noch einen Wert verleihen<br />

kann. In welche Nöte uns diese Abhängigkeit von der Liebe bzw. Wertschätzung eines<br />

Einzelnen und die Abwesenheit von gesellschaftlichen Institutionen bringt, umkreisen u. a.<br />

Stücke wie Lars von Triers »Dogville« oder »Gefährliche Liebschaften« von Christopher<br />

Hampton. Auf der anderen Seite spielt Florian Fiedlers humoreske Inszenierung von<br />

Schnitzlers »Anatol« damit, wie viel Spaß und Lustgewinn man aus dieser Situation<br />

auch ziehen kann. Im Zusammenhang mit Molières »Menschenfeind« denkt die Philosophin<br />

Simone Dietz über den Wert der Lüge für ein vitales Gemeinschaftsleben nach,<br />

während Jörg Splett Gewissenstreue und unbedingten Respekt vor dem anderen für<br />

eine Gemeinschaft freier Menschen als unerlässlich erachtet und religionsphilosophisch<br />

begründet. In der künstlerischen Auseinandersetzung des polnischen Filmemachers<br />

und Autors Krzysztof Kieślowski mit den zehn Geboten wird deutlich, dass in einer<br />

weltlichen Gesellschaft oder in dem sogenannten »postmetaphysischen Zeitalter« allgemeinverbindliche<br />

Werte keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Wie kann<br />

Wahrheit ein absoluter Wert sein, wenn eine Notlüge Menschenleben rettet? Vielleicht<br />

brauchen moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften zu ihrer Integration auch nicht<br />

unbedingt einen unerschütterlichen Wertekanon als integrative Maßnahme. Sind andere<br />

Strategien möglicherweise besser geeignet, integrativ zu wirken, z. B. die Verfahren<br />

demokratischer Meinungs- und Willensbildung? Eine Frage, die in Christopher<br />

Rüpings Inszenierung von »Dekalog – Die zehn Gebote« eine Rolle spielt.<br />

D<br />

er Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer forscht seit über dreißig Jahren zu den<br />

Themen Rechtsextremismus und soziale Desintegration. In seinem Text beschreibt<br />

er, warum es eine Fehleinschätzung wäre, die Gewaltverbrechen des NSU als Einzelphänomen<br />

zu stilisieren. Die Ereignisse rund um den NSU nahm der Dramatiker<br />

Lothar Kittstein zum Anlass für sein Stück »Der weiße Wolf«. Mit den Folgen des inneren<br />

und äußeren Krieges und den Wiedereingliederungsschwierigkeiten der Heimkehrer<br />

beschäftigen sich aus aktuellem Anlass die beiden Stücke »Draußen vor der Tür« von<br />

Wolfgang Borchert und »Ajax« von Sophokles. Der niederländische Regisseur Thibaud<br />

Delpeut liest die antike Tragödie vor dem Hintergrund der Afghanistan-Heimkehrer.<br />

Karl-Heinz Biesold, emeritierter leitender Arzt der Abteilung Neurologie und Psychotherapie<br />

am Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg, beschreibt das gegenwärtige Dilemma<br />

der Bundeswehrsoldaten, während der Arzt und Psychologe Elmar Brähler von der<br />

Universität Leipzig über die psychischen Folgen der Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg<br />

bis hin zu den Auswirkungen auf die Enkelgeneration forscht.<br />

I<br />

m Kontext von Jorinde Dröses Nibelungen-Inszenierung macht sich der <strong>Frankfurt</strong>er<br />

Politologe Daniel Keil Gedanken zum Mythos der Europäischen Gemeinschaft. Den<br />

Wunsch nach innerer Vereinheitlichung entlarvt Keil als eine maßgeblich von<br />

Deutschland forcierte Politik, die sich v. a. um den Wert der »Leistung« gruppiert. Das<br />

»Andere« wird dabei als »das Unproduktive« in Abgrenzung zum »produktiven WIR«<br />

konstruiert. Offen bleibt die Frage, ob und wie sich eine Gemeinschaft wie die europäische<br />

ohne den Zwang zur Identität gestalten lässt. Dass es in der »Natur von<br />

Gemeinschaft« liegt, nicht per se »gut«, sondern von tragischen Widersprüchen durchzogen<br />

zu sein, erläutert der <strong>Frankfurt</strong>er Philosoph Dirk Setton anhand von Lars von<br />

Triers »Dogville« und den »Bakchen« von Euripides. Ausgehend von Maxim Gorkis<br />

»Kinder der Sonne« widmet sich der in Berlin lebende französische Philosoph und<br />

Schriftsteller Guillaume Paoli dem Thema des kollektiven Widerstands und der Rolle<br />

der Intellektuellen. Als intellektueller Unruhestifter, als Außenseiter, dessen Aufgabe<br />

es ist, seine Autonomie gegenüber Staat und Gesellschaft zu bewahren, um sie kritisieren<br />

zu können, verstand sich Zeit seines Lebens der österreichische Autor Thomas<br />

Bernhard. Mit »Wille zur Wahrheit« dramatisiert und inszeniert Intendant Oliver Reese<br />

zum ersten Mal Thomas Bernhards fünfbändige Autobiografie. Der <strong>Frankfurt</strong>er Soziologe<br />

Tilman Allert schildert in dem vorliegenden Essay die Erfahrung des jungen<br />

Bernhard, in der kleinsten gemeinschaftlichen Zelle, der Familie, immer schon »anwesend<br />

abwesend« gewesen zu sein.<br />

Zum Schluss macht Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an<br />

der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, das Verhältnis von Theater und Gemeinschaft<br />

zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Ein wichtiger Impuls des modernen<br />

politischen Theaters in der Nachfolge von Brecht war es, die Zuschauer von angeblich<br />

passiven Konsumenten in eine Gemeinschaft von aktiv Urteilenden zu verwandeln.<br />

Rebentisch zieht in Zweifel, dass in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, in welcher<br />

Eigeninitiative und Vernetzung zu den entscheidenden Forderungen geworden sind,<br />

»Aktivierung« und »Teilhabe« per se die zeitgenössischen künstlerischen Gegenstrategien<br />

sind. Statt das Publikum in eine Gemeinschaft zu verwandeln, könnte es in einer<br />

zeitgenössischen kritischen Theaterpraxis vielmehr darum gehen, die Position des<br />

Zuschauens, die Aktivität des Interpretierens und Urteilens sowie das dabei vorausgesetzte<br />

Soziale zum Gegenstand einer reflexiven Auseinandersetzung zu machen.<br />

Wir haben den Illustrator Paul Davis gebeten, zu den aufgeworfenen Themen Stellung<br />

zu beziehen. Davis lebt in London und zeichnet u. a. für »The Guardian« und<br />

»The New York Times«. Mit einer lakonischen Leichtigkeit und Ironie entlarven<br />

seine Illustrationen die Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens. Sie bringen<br />

zum Ausdruck, dass unsere persönlichen, kleinen und alltäglichen Utopien, aber auch<br />

die großen politischen Versprechen der Gegenwart, schnell zur Groteske verrutschen,<br />

wenn man sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft.<br />

wem gehört die stadt? 03<br />

Schorsch Kamerun im Gespräch mit Nargess Eskandari-Grünberg<br />

Feigheit vor dem Volk 07<br />

Guillaume Paoli<br />

Über Gemeinschaft und Lüge 10<br />

Simone Dietz<br />

Furchtbares DU! Stürzendes ICH! 14<br />

Sven Hillenkamp<br />

Der Nationalsozialistische Untergrund und 18<br />

die gesellschaftliche Selbstentlastung<br />

Wilhelm Heitmeyer<br />

Gemeinschaft und Mythos: zum Verhältnis von nationaler und 21<br />

europäischer Identität<br />

Daniel Keil<br />

Über Religion und Gemeinschaft 25<br />

Ein Gespräch mit dem <strong>Frankfurt</strong>er Religionsphilosophen Jörg Splett<br />

Kriegsheimkehrer, Kriegskinder, Kriegsenkel 28<br />

Maggie Thieme und Elmar Brähler<br />

Ajax in Afghanistan 33<br />

Ein Gespräch mit dem Militärarzt Karl-Heinz Biesold<br />

Albträume der Gemeinschaft 36<br />

Dirk Setton<br />

Thomas Bernhard – die Fiktionalisierung einer biografischen Erfahrung 40<br />

Tilman Allert<br />

Emanzipierte Zuschauer und spekulative Kollektivitäten 44<br />

Juliane Rebentisch<br />

S<br />

chorsch<br />

Kamerun ist Sänger der<br />

Hamburger Band »Die goldenen<br />

Zitronen« und TheateR Regisseur<br />

begehbarer Konzertinstallationen.<br />

Mit Dr. Nargess Eskandari-Grünberg ,<br />

Dezernentin für Integration in<br />

FranK Furt, spricht er über ein<br />

Theater für alle, die Möglichkeiten<br />

und Grenzen gezielter Förderung<br />

von Gemeinschaft und die Imitation<br />

der Liebe durch die Stadt planung.


04<br />

S T A D T S T A D T<br />

05<br />

G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />

Erstmal raus auf<br />

d e n P l a t z ,<br />

zu den Andern!<br />

<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous<br />

von Schorsch Kamerun Uraufführung Juni 2014<br />

die<br />

Wemgehört<br />

Stadt?<br />

Schorsch Kamerun im Gespräch mit<br />

Nargess Eskandari-Grünberg<br />

Kamerun: Gerade geht es in meinen Projekten um die<br />

Frage: Gibt es ein neues WIR? Ich glaube, wir erleben<br />

derzeit die Renaissance einer kollektiven physischen<br />

Begegnung. Das Stadtprojekt »<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous«<br />

wird im Juni 2014 auf dem Willy-Brandt-Platz<br />

den Versuch unternehmen, die unterschiedlichen kulturellen<br />

Milieus <strong>Frankfurt</strong>s komprimiert in einer Art<br />

Modell- und Stimmenpark sicht- und hörbar zu machen.<br />

Was passiert, wenn die Menschen <strong>Frankfurt</strong>s<br />

vor der Euro-Skulptur künstlich und distanzlos gemischt<br />

werden?<br />

Eskandari-Grünberg: Wir sagen ja immer, die Stadt ist<br />

der Ort der Begegnung, wo Menschen sich treffen. In<br />

<strong>Frankfurt</strong> leben wir in einer der multikulturellsten, vielfältigsten<br />

Städte der Welt, mit über 170 Nationen und sehr<br />

vielen Subkulturen. Mit unserem Kulturangebot erreichen<br />

wir jedoch nur einen Teil der Menschen. Jetzt könnte<br />

man sagen, der andere Teil interessiert sich nicht für<br />

Hochkultur. Oder wir stellen die Frage, was wir ändern<br />

müssen, damit das Publikum in den Kultureinrichtungen<br />

die Vielfalt unserer Stadt widerspiegelt. Deswegen bin<br />

ich gespannt darauf, wie Sie es mit Ihrem Stadtprojekt<br />

schaffen, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Biografie<br />

in einen Dialog zu bringen.<br />

dender Aktualität. Wie zum Beispiel der Tahrir-Platz in<br />

Kairo oder der Taksim-Platz in Istanbul. Nur, wie entsteht<br />

eigentlich dieses Zusammenkommen? Und das wäre<br />

auch die Frage an Sie: Lässt es sich lenken, wie integriert<br />

wird, oder kann das nur eigenständig passieren?<br />

Eskandari-Grünberg: Ich denke, vor Ort zu gehen, ist<br />

ein guter Ansatz, um Kultureinrichtungen zu öffnen. Als<br />

Integrationsdezernentin kümmere ich mich um eine<br />

Stadt, die vielfältig ist. Integration bedeutet, die Stadt<br />

gemeinsam zu gestalten. Wir müssen Wege schaffen,<br />

dass die Menschen sagen: Ich partizipiere, ich interessiere<br />

mich und entscheide mit.<br />

Kamerun: Die zentrale Frage ist doch, wie schafft es die<br />

Stadtregierung, diese Möglichkeiten von Begegnung<br />

»von oben« und gleichzeitig »unautoritär« herzustellen?<br />

Das ist ja auch ein Anliegen bei unserem Projekt, dass<br />

es nicht als »geführt« aufgefasst wird.<br />

Eskandari-Grünberg: Es geht darum, Partizipation gezielt<br />

zu fördern. Vielfalt kann sich im öffentlichen Raum durch<br />

Kunst, durch die Benennung von Straßen und Plätzen<br />

oder durch eine einladende Gestaltung von Gebäuden<br />

ausdrücken. Straßen, Plätze, Grünanlagen und öffentliche<br />

Gebäude sind identitätsstiftende Symbole und<br />

können Begegnung und Selbstdarstellung unterschiedlicher<br />

Gruppen fördern und ausdrücken. Integration<br />

heißt kreativ sein.<br />

Kamerun: Aber wer ist hier eigentlich kreativ? Muss<br />

nicht eigentlich erst mal derjenige, der dort lebt, Kreativität<br />

hervorbringen? Das ist doch das Problem von<br />

Stadtplanung, würde ich sagen, vielleicht auch von Integration:<br />

Gegenden müssen wachsen, von sich aus, damit<br />

sie authentisch sind. Vielleicht ist diese Art von stadtplanerischer<br />

»Methodenbereitstellung« gar nicht möglich<br />

– sondern die Menschen müssen selbst auf die Idee<br />

kommen, zu gestalten. Wünsche lassen sich schlecht<br />

von anderen vorempfinden.<br />

Eskandari-Grünberg: Wir müssen Menschen über ihre<br />

Teilhabemöglichkeiten informieren und sie befähigen,<br />

mitzuentscheiden und mitzugestalten. Das verstehe ich<br />

unter Chancengleichheit.<br />

Kamerun: Und was sind mögliche Konzepte für eine solche<br />

Politik?<br />

Eskandari-Grünberg: Unser Integrationskonzept nennt<br />

dazu eine ganze Reihe von konkreten Ansätzen: Menschen<br />

sollen sich etwa schnell und wohnortnah über<br />

ihren Stadtteil informieren und sich an der Gestaltung<br />

ihres Umfelds beteiligen können. Dafür gilt es an<br />

geeigneten Orten Anlaufstellen zu schaffen, die gut<br />

erreichbar und angemessen ausgestattet sind. Wir<br />

müssen die Kompetenz im Umgang mit Vielfalt und das<br />

gemeinsame Verantwortungsbewusstsein der Be wohnerinnen<br />

und Bewohner stärken und der Wahrnehmung<br />

Kamerun: Wir verlängern das <strong>Schauspiel</strong>haus <strong>Frankfurt</strong><br />

auf den Willy-Brandt-Platz und öffnen es gleichzeitig<br />

dadurch. Verwandte Orte sind ja gerade von entscheivon<br />

Quartieren als »Problem-Stadtteilen« entgegenwirken.<br />

Kamerun: Sollte Politik dort eingreifen? Wenn ein Areal,<br />

weil Firmen ausziehen, leer steht – wer darf da was drin<br />

machen als nächstes? Ich wäre dafür, die Umliegenden<br />

mitzunehmen und zu befragen. Ich glaube, dass es Gegenden<br />

gibt, die um einen Bestand kämpfen. Sie wollen<br />

sich von alleine entwickeln und gar nicht schnell verändern.<br />

Rasante Entwicklungen sind fast immer ökonomisch<br />

gedacht.<br />

Eskandari-Grünberg: Es geht darum, sich klarzumachen,<br />

dass wir in einer sich ständig verändernden Welt leben.<br />

Inzwischen ist es zum Beispiel chic, im ehemaligen Arbeiterviertel<br />

Gallus zu leben. Da kommt eine neue Klientel,<br />

die das ursprüngliche Quartier massiv verändert. Das<br />

Gallus steht nun vor der Aufgabe, sich neu zu definieren.<br />

Hier muss Politik dafür sorgen, dass die unterschiedlichen<br />

Bedürfnisse aller berücksichtigt werden, damit<br />

ein neues WIR entstehen kann.<br />

Kamerun: Ist das eine deutsche Eigenart? Wenn man<br />

nach Berlin-Hellersdorf schaut: Da gibt es ein geschlossenes<br />

WIR, welches Zuzüge von Flüchtlingen verhindern<br />

will.<br />

Eskandari-Grünberg: Ich glaube, es geht genau darum,<br />

das auszusprechen: Dieses WIR ist immer vielfältig und<br />

nie homogen. Dieser Tatsache müssen wir uns in einer<br />

Demokratie stellen.<br />

Kamerun: Ist das überhaupt möglich, ein WIR-Empfinden<br />

zu fördern? Womit?<br />

Eskandari-Grünberg: Mit Teilhabe. Wir möchten eine<br />

integrative Stadtplanung fördern, die den Bürger meint.<br />

Dazu müssen unterschiedliche Akteure wie Stadtteilinitiativen,<br />

Vereine, Schulen und Kitas, Senioren- und<br />

Kultureinrichtungen oder Religionsgemeinschaften in<br />

den Prozess der Stadtplanung eingebunden werden.<br />

Wenn wir es nicht schaffen, sozusagen von oben diese<br />

Offenheit zu haben, dann schaffen wir es auch von<br />

unten nicht.<br />

Kamerun: Ich befürchte, weil diese Beweglichkeit nicht<br />

mehr glaubwürdig ist, erleben wir ein so starkes Comeback<br />

von direkter Demokratie. Dass die Leute keinen<br />

Bock mehr haben auf dieses Gefühl: Egal, wer da<br />

oben rumwurschtelt, es ist sowieso immer gleich. Wie<br />

fühlt man sich also ernst genommen? Ich muss spüren,<br />

dass sich da jemand wirklich interessiert und nicht nur<br />

innerhalb seiner Legislaturperiode. Das ist übrigens in<br />

der Liebe sehr ähnlich. Ich fühle mich nur dann ernst<br />

genommen und geliebt, wenn ich spüre, da ist jemand<br />

bei mir. Die Stadtplanung imitiert zum Teil auch die Liebe.<br />

Auch die Stadtplanung sagt: »Wir haben hier diese ›spannende‹,<br />

multikulturelle Gegend, die ist für alle lebenswert!«<br />

– und deswegen wird sie erfolgreich. Das ist<br />

schon ein bisschen betrügerisch. Ich glaube, man muss<br />

wirklich da sein. Und das ist auch wieder etwas, was<br />

wir dringend brauchen als Gegenmittel in unserer überkomplexen<br />

Zeit, in dieser »Entfremdung 2.0« im Medienzeitalter:<br />

Raus auf den Platz, zu den Anderen!<br />

Eskandari-Grünberg: Ja, man muss das Ernstnehmen<br />

wirklich meinen und in Taten umsetzen.<br />

Kamerun: Es geht nur mit Eigeninteresse. Wenn ich<br />

mich nicht interessiere, habe ich auch keine Lust. – Übrigens,<br />

die Leute ernst zu nehmen, das behauptet ja erst<br />

mal jeder Politiker. Man muss es dann halt beweisen.<br />

Auch als Politiker muss ich da sein.<br />

Eskandari-Grünberg: Im Grunde gehört genau diese<br />

ganze Diskussion, die wir hier gerade führen, in den<br />

öffentlichen Raum.<br />

Kamerun: Aber das ist Teil unserer Form. Wir werden da<br />

nicht nur mit <strong>Schauspiel</strong>ern auflaufen und vorher Menschen<br />

aus der Stadt befragt haben, die dann »nachgespielt«<br />

werden. Wir machen es komplett mit allen. Denn<br />

der Anwohner beschreibt seine Interessen am besten<br />

ganz selbst.<br />

Eskandari-Grünberg: Ich finde das sehr spannend, wir sollten<br />

über eine gemeinsame Veranstaltung nachdenken.


2013/14<br />

I D E O L O G I E G E M E I N S C H A F T W A N D E L<br />

07<br />

W<br />

ie wird aus einem Bauprojekt plötzlich ein<br />

Aufstand der Jugend oder aus einer noR malen<br />

FahR preiS erhöhung ein Massenprotest, der ein<br />

ganzes Land fast in den Bürgerkrieg treibt? Kleinigkeiten<br />

als Auslöser für eine kollektive<br />

Empörung, die von der Politik nicht vorheR Sehbar<br />

und in ihrer Vehemenz nicht zu kalkulieren<br />

ist. Der in Berlin lebende fran zö Sische Philosoph<br />

und Schriftsteller Guillaume Paoli h a t s i c h<br />

mit diesem neuen Phänomen des Widerstands<br />

auseinandergesetzt, und dabei vor allem mit der<br />

Passivität der Intellektuellen, die, ganz wie<br />

Gorkis »Kinder der Sonne«, ihren DiS Kurs lieber<br />

fernab der Realität der StraSSe führen.


08<br />

I D E O L O G I E I D E O L O G I E<br />

09<br />

G E M E I N S C H A F T W A N D E L<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T W A N D E L<br />

vor<br />

Feigheit<br />

dem<br />

Guillaume Paoli<br />

Volk<br />

Am allermeisten bin ich darüber erstaunt und<br />

erschrocken, dass die Revolution keinerlei<br />

Anzeichen einer geistigen Wiedergeburt<br />

des Menschen in sich birgt, die Menschen<br />

weder ehrlicher noch offenherziger macht,<br />

noch ihre Selbsteinschätzung und die<br />

moralische Bewertung ihrer Arbeit hebt.<br />

Maxim Gorki: »UnzeitgemäSSe Gedanken« 1917<br />

Eines Tages wird ihr<br />

Hass auch<br />

euch vernichten ...<br />

Kinder der Sonne von Maxim Gorki<br />

Premiere Januar 2014<br />

Die Utopie sind WIR – als Schar!<br />

<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous<br />

von Schorsch Kamerun Premiere Juni 2014<br />

Warum sickert in einer Kaffeemaschine das<br />

Wasser durch das ganze Kaffeepulver durch,<br />

anstatt bloß nach unten zu tröpfeln? Das Phänomen<br />

heißt Perkolation – auf Englisch nennt<br />

sich auch die Kaffeemaschine »percolator«.<br />

Generell beschreibt die Perkolationstheorie wie in einem<br />

gegebenen System Punkte, die voneinander getrennt<br />

sind, sich in zufallsbedingten Zusammenhängen untereinander<br />

verbinden, welche sich wiederum mit anderen<br />

Zusammenhängen vernetzen. Zieht sich der Prozess<br />

weiter durch, dann wird eine »Perkolationsschwelle« erreicht:<br />

Das System kippt von seinem ursprünglichen<br />

Zustand in einen neuen Zustand um (zum Beispiel wird<br />

der Kaffeesatz komplett durchnässt). Der belgische Anthropologe<br />

Paul Jorion meint: »Mit der Perkolation entstehen<br />

unzählige Wege, die ohne Unterbrechung durch<br />

das gesamte System führen und zwar ganz gleich, wo<br />

der Eingangspunkt lag.« Darum ist Perkolation, wenn<br />

nicht ein Modell, dann zumindest eine geeignete Metapher,<br />

um die Dynamik sozialer Bewegungen zu beschreiben.<br />

Sie ist auf jeden Fall passender als das Bild des<br />

»Virus«, das, immer wenn sich ein Aufstand ausbreitet,<br />

von einfallslosen Journalisten bemüht wird.<br />

Wir sind alle vereinzelte Punkte im System. Jeder mag<br />

sich über dies und jenes empören, jeder mag sich<br />

wünschen, dass sich endlich etwas dagegen tut,<br />

doch solange Gefühle und Wünsche nicht kommuniziert<br />

werden, bleibt die Ohnmacht intakt und mithin das System.<br />

Zwar formieren sich immer wieder politische Zusammenhänge<br />

und Protestcluster, doch meistens stoßen<br />

sie schnell an unüberbrückbare Grenzen. Das besetzte<br />

Feld wird von den Nachbarfeldern ignoriert. Doch ab<br />

und an findet das perkolative Moment statt. In letzter Zeit<br />

wurde das Phänomen u. a. in Tunesien, Ägypten, Spanien,<br />

Brasilien und der Türkei beobachtet. Tausende versammeln<br />

sich an einem Ort, und plötzlich sind es Zehntausende,<br />

die sich mit weiteren Zehntausenden verbinden,<br />

bis das ganze Gesellschaftsgewebe von zahllosen Kommunikationswegen<br />

durchdrungen ist. Die Summe der<br />

privaten Empörungen wird zur öffentlichen Rebellion, die<br />

individuelle Ohnmacht zur kollektiven Macht, die Angst<br />

verflüchtigt sich, und das System kippt um, zumindest für<br />

einen kurzen Augenblick.<br />

E<br />

ine solche Ausbreitung erfolgt so rasch und unvermittelt,<br />

dass sie den Teilnehmern wie ein Wunder<br />

erscheint. Niemand hätte sie für möglich gehalten,<br />

niemand kann wirklich erklären, wie sie zustande kam.<br />

Es gibt einen logisch-negativen Grund, weshalb die soziale<br />

Perkolation unvorhersehbar ist. Wäre es möglich,<br />

sie zu prognostizieren, dann könnten es auch Regierung<br />

und Polizei tun, also würden sie rechtzeitig handeln können,<br />

um sie zu verhindern. Die Vorhersagbarkeit des<br />

Ereignisses würde es zum Nicht-Ereignis machen. Ein<br />

weiterer Grund ist die topologische Unbestimmbarkeit.<br />

Der Eingangspunkt ist gleichgültig, Auslöser der Revolte<br />

kann alles sein, in São Paulo eine Fahrpreiserhöhung<br />

oder in Istanbul ein Bauvorhaben. Tagtäglich werden<br />

Preiserhöhungen und Bauprojekte beschlossen, ohne<br />

auf Widerstand zu treffen. Stillschweigend geduldet<br />

werden ja weitaus gravierendere Eingriffe in die Freiheit<br />

und den Wohlstand. Menschen nehmen zur Kenntnis,<br />

dass sie von Banken enteignet und von Geheimdiensten<br />

überwacht werden und gehen trotzdem nicht auf die<br />

Straße. Dann aber reicht ein relativ harmloser Zwischenfall,<br />

und hoch gehen die Barrikaden. Warum passiert es<br />

ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Weil vielfältige,<br />

heterogene Faktoren zufällig aufeinander getroffen sind.<br />

Die günstige Wetterlage mag ebenso dazu gehören wie<br />

im richtigen Augenblick die inspirierte Wortmeldung<br />

eines Einzelnen. Daher kann keine Strategie diesen<br />

Prozess steuern, Theorien gehören allenfalls zu den vielen<br />

Zufallsbedingungen.<br />

I<br />

st die Perkolation einmal im Gang, gibt es erprobte<br />

Gegenmaßnahmen, um sie zu stoppen. Gewöhnlich<br />

erfolgen diese in drei Stufen. Zunächst werden die<br />

Kommunikationswege physisch gesperrt. Die Gefahrenzone<br />

wird von einem Sicherheitsgürtel umzingelt.<br />

Das ist die Aufgabe der Polizei. Zweitens wird der<br />

entstehende Prozess argumentativ ausgesondert. Über<br />

die besonderen Probleme der protestierenden Gruppe<br />

wird ausführlich diskutiert, um besser über die allgemeinen<br />

Gründe zu schweigen, die zu einer weiteren<br />

Ausbreitung führen könnten. Das ist die Aufgabe der<br />

Medien. Schließlich werden die horizontalen Kommunikationswege<br />

nach oben umgeleitet und einseitig<br />

auf die Regierung gerichtet. So entsteht ein Trichter­<br />

Effekt: Mit der Regierung kann nicht jeder sprechen,<br />

also wird die Kommunikation an Experten delegiert,<br />

weil diese mit Vertretern der Macht eine gemeinsame<br />

Sprache teilen, die die meisten Menschen kaum beherrschen.<br />

D<br />

abei wären wir bei der alten Frage der Verbindung<br />

zwischen dem Intellektuellen und dem Volk. Laut<br />

Sartres Definition ist ein Intellektueller jemand, der<br />

sich um Sachen kümmert, die ihn nichts angehen. Die<br />

Frage ist aber, wie er das tut. In den letzten Jahrzehnten<br />

ist die Figur des engagierten Intellektuellen so gut wie<br />

verschwunden. Das zeigt die Verwandlung des Populismus-Begriffs<br />

besonders deutlich. Populisten, das<br />

waren im 19. Jahrhundert Sprösslinge der Elite, die<br />

Studium und Karriere hinschmissen, um mit den Bauern<br />

zu leben und zu agitieren. Das taten sie zum Teil aus<br />

Selbsterlösungsgedanken, doch vor allem aus der einfachen<br />

Überlegung: Wer sich für das Gemeinwohl engagieren<br />

will, muss die Massen auf seiner Seite haben.<br />

In den USA und Russland war der Populismus eine<br />

wichtige, erfolgreiche Bewegung. Als letzte Populisten<br />

können wir hierzulande jene maoistischen Studenten<br />

werten, die in den 1970er Jahren zu Fabrikarbeitern wurden.<br />

So verschroben ihre Ideologie war, in ihrem Handeln<br />

zumindest waren sie konsequent. Doch ist heute<br />

Populismus ein Schimpfwort geworden. Als Populist<br />

gilt jeder, der sich an die einfachen Menschen in deren<br />

Sprache wendet.<br />

A<br />

llein von »einfachen Menschen« zu sprechen, ist bereits<br />

höchst verdächtig. Besonders in Deutschland<br />

gelten die unteren Schichten als stumpfsinnig, unartikuliert<br />

und tendenziell völkisch. Wenn sie wider Erwarten<br />

einen Protest wagen, findet sich immer ein linker<br />

Schlaumeier, um ihnen »verkürzte Kapitalismuskritik«,<br />

»Neid«, wenn nicht »antisemitische Untertöne«, vorzuwerfen.<br />

Das mag wohl sein, aber die Menge, die 1789<br />

die Bastille stürmte, bestand auch nicht aus feinsinnigen<br />

Aufklärern. Wie Hegel meinte, das Bewusstsein ist<br />

wie die Eule der Minerva, sie fliegt erst in der Dämmerung<br />

aus (und oft genug ist es dann zu spät). Man hätte<br />

glauben können, dass es gerade die Aufgabe der Intellektuellen<br />

sei, sich unter die Menge zu mischen, um zu<br />

versuchen, gemeinsam Gedanken zu klären. Aber das<br />

wäre ja populistisch.<br />

Z<br />

ugegeben, der Verdacht ist nicht fehl am Platz. Der<br />

Rekurs zum »Volk« ist vielmals ein Instrument von<br />

Gleichschaltung und Diktatur gewesen. Andererseits<br />

ist der Volksbegriff für die politische Theorie unverzichtbar.<br />

Wen sonst vertreten die Vertreter? Von<br />

wem geht die Souveränität aus? Vor allem aber: Ist einmal<br />

das gemeine Volk weggezaubert, welches Subjekt<br />

bleibt dann gegenüber der Elite übrig? Wahrscheinlich<br />

ist das die sonderbarste Errungenschaft der Gegenwart:<br />

Die meisten Menschen sind unsichtbar gemacht<br />

worden. Sie kommen in der Öffentlichkeit einfach nicht<br />

mehr vor. Allein durch die Statistik erfahren wir, dass in<br />

Deutschland immer mehr Bürger am Rand des Existenzminimums<br />

leben. Doch eine wahrnehmbare, soziale<br />

Präsenz haben sie nicht. Sie sind weg vom Bildschirm.<br />

Eine räumliche Entsprechung ist das gentrifizierte Stadtzentrum,<br />

das einem den Eindruck vermittelt, die Bevölkerung<br />

ernähre sich nur noch von Kunstprojekten, Design<br />

und Apps.<br />

E<br />

s gibt Gegenentwürfe. Brechts Ratschlag folgend<br />

hat der Philosoph Antonio Negri das Volk aufgelöst,<br />

ein neues gewählt und es Multitude genannt. Auf den<br />

ersten Blick sieht die Multitude vorteilhafter aus, sie ist<br />

keine graue Masse mehr, sondern eine bunte Ansammlung<br />

von »Singularitäten«. Doch verbirgt diese scheinbare<br />

Vielfalt eine bedenkliche Homogenität. Zur Multitude<br />

zählen nicht etwa der zur Ausländerfeindlichkeit<br />

neigende Bauarbeiter oder die katholische Gegnerin<br />

der Homo-Ehe. Voraussetzung um dazuzugehören ist<br />

schon eine vage Grundgesinnung. Auch die verdrossene<br />

Supermarktkassiererin mit Grundschulabschluss<br />

wird sich schwer mit dem Jargon des »kognitiven Proletariats«<br />

anfreunden können. Die linksakademische<br />

Sprache will nicht verbinden, sondern absondern. So<br />

bleibt man schließlich unter sich.<br />

N<br />

euerdings wird jener Bruchteil der Bevölkerung, der<br />

zur Sichtbarkeit offiziell zugelassen wird, »Generation<br />

Y« genannt. Es sind gut ausgebildete, technologieaffine,<br />

optimistische und selbstbewusste Menschen<br />

unter 35. Glaubt man Wikipedia, ist das Musterbeispiel<br />

ihrer Organisationsform die Bewegung Occupy Wall<br />

Street (OWS). Wen wundert’s? Laut Publizist Thomas<br />

Frank war OWS »das meist beschriebene und überschätzte<br />

Ereignis aller Zeiten«. Bereits der Name täuscht:<br />

Nicht die Wall Street wurde besetzt, sondern ein Park<br />

nebenan, keine Banken, sondern Parkbänke. Das ist<br />

nicht weiter schlimm, bloß soll klargestellt werden, dass<br />

man sich im symbolischen Bereich bewegte. Auch das<br />

Ausmaß der Bewegung wurde massiv überschätzt. So<br />

werbetechnisch perfekt der von Antiwerbung-Aktivisten<br />

lancierte Slogan »Wir sind die 99%!« auch war, waren<br />

am Ende doch nur ein paar tausend Teilnehmer dabei,<br />

und das in einer 8-Millionen-Stadt. Zu diesem Zeitpunkt<br />

war in der gesamten US-Bevölkerung die Empörung<br />

gegen das Finanzsystem zwar riesig – entsprechend<br />

auch die anfängliche Sympathie für OWS –, und doch<br />

waren die Camper fast ausschließlich Studenten, Akademiker,<br />

Künstler und Netz-Aktivisten. Sie haben zusammen<br />

gekocht, getrommelt, geschlafen, Internetbotschaften<br />

in die Welt geschickt, tagelang antihierarchisch<br />

palavert und eine Menge Spaß gehabt. Da sie keine<br />

Forderung hatten, konnten sie nicht enttäuscht werden,<br />

als nach acht Wochen der Karneval zu Ende ging,<br />

ohne die soziale Lage im geringsten verändert zu<br />

haben. Weiterhin wurden arme Schlucker aus ihren Häusern<br />

rausgeschmissen, verloren ihren Job, rangen mit<br />

Überschuldung, während es den Bankern nach wie vor<br />

prächtig geht.<br />

S<br />

elbstverständlich war es richtig, etwas unternehmen<br />

zu wollen, und niemandem darf das Scheitern vorgeworfen<br />

werden. Bedenklich wird es aber, wenn das<br />

Scheitern hinterher als Riesenerfolg gefeiert wird, ja, als<br />

Beginn einer neuen Revolution. Der Zuccotti-Park wurde<br />

dem Tahrir-Platz gleichgestellt, aber in Ägypten fand<br />

tatsächlich ein perkolativer Volksaufstand statt, deswegen<br />

war dieser auch widersprüchlich, konfliktreich, in<br />

einem Wort: unrein. Stattdessen verlief die »gegenseitige<br />

Anteilnahme« im OWS-Themenpark reibungslos, weil<br />

dieser im geschlossenen Kreislauf von der Außenwelt<br />

durch die Firewall des akademischen Kauderwelschs<br />

geschützt war. So unergründlich die Wege der Perkolation<br />

auch sind, wir können getrost davon ausgehen,<br />

dass ein Aufstand in Lebensgröße, sollte er doch noch<br />

kommen, ganz anders aussehen wird.


10<br />

VERANTWORTUNG<br />

11<br />

GEMEINSCHAFT LÜGE<br />

VERANTWORTUNG<br />

spielzeit 2013/14<br />

GEMEINSCHAFT LÜGE<br />

W<br />

ären wir glücklicher, wenn in<br />

unserem Miteinander absolute<br />

Wahrhaftigkeit herrschte? Wären<br />

wir bessere Menschen und hätten wir<br />

Über<br />

Gemeinschaft<br />

eine intaktere Gemeinschaft, wenn wir<br />

und<br />

simone dietz<br />

lüge<br />

ohne Verstellung, Schummelei und<br />

Heuchelei, ohne Lüge gleich welcher Art<br />

auskommen würden? Simone Dietz , Professorin<br />

für Philosophie an der Uni veR -<br />

»Verberge, was du denkst!« Und wem das nicht gegeben,<br />

der führt in diesem Lande kein angenehmes Leben.<br />

Der Menschenfeind von Molière Premiere Oktober 2013<br />

sität Düsseldorf, schreibt anlässlich<br />

von Molières »Der Menschenfeind« über<br />

den Wert der Lüge, Wahrheit als Waffe<br />

und über eine Gemeinschaft verantwoRtungS<br />

voller Lügner.<br />

A<br />

uf den ersten Blick scheint es eine bessere Welt<br />

zu sein, in der wir sicher sein können, dass andere<br />

tatsächlich denken, was sie sagen. Zweifel und<br />

Unsicherheit, Misstrauen und Enttäuschung blieben<br />

uns erspart. Die Wahrheit würde uns eine<br />

unbestechliche Orientierung in unseren Beziehungen<br />

zu anderen bieten, wir wüssten jederzeit genau, woran<br />

wir sind. Auf den zweiten Blick aber stellt sich die Frage,<br />

wie viel diese Welt noch mit der unseren gemein hätte.<br />

Viel spricht dafür, dass Menschen, die nur mit wahrhaftigen<br />

Botschaften kommunizieren, vollkommen andere<br />

Wesen sein müssten als wir. Wenn Täuschungsmanöver<br />

und Ausflüchte, Doppelbödigkeit und Halbwahrheiten<br />

wegfielen, welche Form bliebe uns für Ambivalenz,<br />

Unsicherheit und Wankelmütigkeit, für die Gleichzeitigkeit<br />

der verschiedenen, manchmal sogar unvereinbaren<br />

Wünsche, Überzeugungen und Interessen? Wie könnte<br />

man sich gegen zudringliche Fragen schützen, gegen<br />

Rücksichtslosigkeit und Feindseligkeit? Wie rücksichtslos<br />

müssten wir selbst sein? Welchen Spielraum gäbe<br />

es für den Wechsel zwischen verschiedenen sozialen<br />

Rollen, wenn wir nicht mehr auswählen könnten, was wir<br />

preisgeben und was wir verbergen?<br />

I<br />

n der zugespitzten Form des Entweder-Oder stellt<br />

uns die Wahrhaftigkeitsfrage vor die Wahl zwischen<br />

der Seite des Menschenfeinds und der des Menschenfreunds:<br />

Der Menschenfeind fordert unbedingte<br />

Wahrhaftigkeit und verachtet die Menschen für ihre tatsächliche<br />

Verlogenheit, der Menschenfreund entschuldigt<br />

jede Lüge als unvermeidliche menschliche Schwäche.<br />

Weltfremdheit oder Gewissenlosigkeit – keines<br />

von beiden ist eine akzeptable Basis für das Leben in<br />

der Gemeinschaft. Zum Glück sind unsere Möglichkeiten<br />

mit dieser Alternative nicht ausgeschöpft. So gegensätzlich<br />

sie scheinen, beruhen doch beide Seiten<br />

auf derselben falschen Prämisse, dass das Lügen an<br />

sich unrecht sei. Nur unter dieser Prämisse müssen wir<br />

uns für die Alltäglichkeit des Lügens pauschal verachten<br />

oder alles verzeihen. Dass die Lüge in der Gemeinschaft<br />

viel facettenreicher ist, zeigt Molière in seiner<br />

Komödie »Der Menschenfeind«, die ein Panoptikon der<br />

Tricks und Winkelzüge im Umgang mit Lüge und Wahrheit<br />

vorführt. Im Theatersessel können wir die Illusion<br />

genießen, wir wären Unbeteiligte in diesem Spiel und<br />

unserer Empörung und wir könnten unserem Komplizentum<br />

erheitert auf die Schliche kommen.<br />

D<br />

ie einfache Regel »Wer die Wahrheit sagt, hat Recht«<br />

greift im Hinblick auf die Gemeinschaft zu kurz. Nur<br />

auf der Sachebene kann derjenige, der eine wahre<br />

Aussage macht, in jedem Fall beanspruchen, Recht zu<br />

haben. Auf der sozialen Ebene dagegen kann Wahrheit<br />

auch eine üble Waffe sein, die denjenigen, der sie<br />

einsetzt, noch längst nicht ins Recht setzt. Die moralische<br />

Beurteilung, ob jemand gegenüber anderen recht<br />

gehandelt hat, orientiert sich an seiner Grundeinstellung<br />

der gleichen Achtung und der Rücksichtnahme auf<br />

Schwäche. Nicht immer sind die Motive der Wahrheitsliebenden<br />

wohlwollender Art. Auch Missgunst und Rachsucht<br />

können sich der Wahrheit bedienen und sich mit<br />

ihr noch dazu wirkungsvoll ins Recht setzen: Hätte ich<br />

etwa lügen sollen? Auch das Schweigen ist oft keine<br />

neutrale Option, sondern wird zur vielsagenden Botschaft<br />

für andere, die mehr Schaden anrichten kann als<br />

eine Lüge.<br />

N<br />

icht jede Lüge ist Ausdruck hinterhältiger Ziele. Das<br />

Repertoire alltäglicher Lügen reicht von den geheuchelten<br />

Komplimenten und höflichen Floskeln des<br />

Bedauerns über die misstrauische Verstellung, die strategisch<br />

inszenierte Selbstdarstellung unter Auslassung von<br />

Selbstzweifeln, das spielerisch vorgetäuschte Desinteresse<br />

gegenüber dem Angebeteten bis zur Verleugnung<br />

aus Angst und den betrügerischen Falschbehauptungen<br />

zum eigenen Vorteil. Verdeckte Unwahrhaftigkeit gegenüber<br />

anderen dient unterschiedlichen Zwecken und Haltungen,<br />

die moralisch auch unterschiedlich zu beurteilen<br />

sind. Es gibt spielerische Lügen der Geselligkeit und<br />

Unterhaltung, Konventionslügen des Respekts und der<br />

Höflichkeit, Schutzlügen zur Verteidigung der Privatsphäre<br />

und zur Abwehr von Angriffen, wohlwollende Lügen aus<br />

Rücksicht auf die Schwäche der Belogenen. Aber es gibt<br />

auch Manipulationslügen, die Macht über andere verschaffen<br />

sollen, Nutzlügen, um sich ungerechte Vorteile<br />

zu erschleichen, Lügen aus Untreue, um eingegangene<br />

Verpflichtungen ohne Konfrontation zu unterlaufen.


2013/14<br />

VERANTWORTUNG GEMEINSCHAFT LÜGE<br />

13<br />

Nichts ist entweder<br />

wahr oder falsch:<br />

Mit unserer Larve<br />

sprachen wir beides.<br />

Wie die Larve ist<br />

auch die Wahrheit<br />

eines und beides; die<br />

Wahrheit liegt in<br />

dem, was wir werden.<br />

Bakchen von Euripides/ Schrott Premiere Januar 2014<br />

Die beste und sicherste<br />

Tarnung ist immer noch die<br />

blanke und nackte<br />

Wahrheit. Komischerweise.<br />

Die glaubt niemand.<br />

Biedermann und die Brandstifter<br />

von Max Frisch Premiere Februar 2014<br />

Die Wahrheit ist immer gefährlich.<br />

Ein Traumspiel von August Strindberg<br />

Premiere März 2014<br />

J<br />

ede Gemeinschaft bildet Kontexte konventioneller<br />

Lügen aus, in denen nicht Aufrichtigkeit erwartet<br />

wird, sondern die Einhaltung bestimmter Umgangsformen.<br />

Das Lügen als alltägliche Technik der Verbergung<br />

und Verstellung kann dem berechtigten Interesse<br />

folgen, sich den unfairen Absichten anderer nicht schutzlos<br />

auszuliefern. Lügen können verhindern, andere und<br />

sich selbst mit der Antwort auf unbedachte Fragen in<br />

ungewollt peinliche Situationen zu bringen, sie vermeiden<br />

unnötige Verletzungen und Brüskierungen. Manchmal<br />

ist es der beste Ausdruck von Respekt, den wir zu<br />

bieten haben, dass wir unsere tatsächlichen Gefühle<br />

verbergen und stattdessen die Einstellung zeigen, die<br />

von uns erwartet wird. Aufrichtigkeit als Prinzip ist das<br />

Ideal des Egozentrikers. Indem er die unverfälschte<br />

Selbstpräsentation zum Wert an sich erklärt, ist der<br />

Egozentriker jeder Rücksicht auf andere und jeder Relativierung<br />

seiner eigenen Gemütszustände enthoben.<br />

M<br />

it Verstellung und Lüge regulieren wir unauffällig das<br />

Verhältnis zu anderen Menschen unter dem Aspekt<br />

von Nähe und Distanz. Lügen schaffen oder verteidigen<br />

Distanz, sie können die anderen auf Abstand halten,<br />

wo die Privatsphäre in Gefahr ist oder wo Antworten eine<br />

größere Nähe herstellen würden, als dem Fragenden<br />

selbst lieb wäre. Der Menschenfeind, der bedingungslose<br />

Aufrichtigkeit fordert und jede Form von Verstellung und<br />

Lüge ablehnt, kennt keinen Unterschied zwischen Distanz<br />

und offener Ablehnung. Besondere Nähe zu einer<br />

Person kann er nur durch die Abkehr von allen anderen<br />

herstellen, denn das aufrichtige Bekenntnis, die Offenbarung<br />

des »tiefsten Grundes der Seele« gilt ihm ja unterschiedslos<br />

als Prinzip der Kommunikation. Dadurch<br />

wird Offenheit als Beweis eines besonderen Vertrauensverhältnisses<br />

entwertet. Wo jede Verstellung verpönt ist<br />

und jedes Wort von Herzen kommen muss, bleibt für das<br />

Leben in der Gemeinschaft nur die Wahl zwischen Kommunikation<br />

und ihrem Abbruch. Die vollkommen wahrhaftige<br />

Gemeinschaft wäre am Ende vermutlich eine sehr<br />

schweigsame Gemeinschaft.<br />

D<br />

ie bewusste Entscheidung zwischen Aufrichtigkeit<br />

und Verstellung, zwischen Offenbarung und Verbergung<br />

reguliert nicht nur die Nuancen der Distanz und<br />

Nähe im Verhältnis zu anderen, sie ist auch Bedingung für<br />

die Ausbildung persönlicher Identität. Wer in jeder Äußerung<br />

sein Herz auf der Zunge tragen muss, kann kein Gespür<br />

für die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen<br />

sich und anderen entwickeln. Manche Lügen schaffen<br />

allerdings nicht nur Distanz, sondern Einsamkeit. Sie machen<br />

den Lügner einsam, der sein Wissen nicht mit anderen<br />

teilen kann, aus Angst, seine Lügen preiszugeben<br />

und sich der Wut und Empörung der Belogenen auszusetzen.<br />

Sie machen den Belogenen einsam, der sich in<br />

einer nur für ihn konstruierten Welt des Scheins befindet,<br />

die er in Wahrheit nicht mit anderen teilt.<br />

D<br />

as Spiel von Aufrichtigkeit und Verstellung, Wahrhaftigkeit<br />

und Lüge, Ehrlichkeit und List, das unser<br />

Gemeinschaftsleben durchzieht, kann seine spielerischen<br />

Züge nur entfalten, wenn es in Bewegung<br />

bleibt, wenn die Rollen von Lügnern und Belogenen<br />

wechseln, wenn Lügen nicht nur aufgebaut, sondern<br />

auch wieder enthüllt werden. Befristete Lügen müssen<br />

sich am Ende der Kritik durch andere stellen und den<br />

Belogenen die Entscheidung überlassen, welchen Glaubwürdigkeitskredit<br />

sie dem Lügner in der nächsten Runde<br />

einräumen. Oft machen wir uns in alltäglicher Verlogenheit<br />

selbst etwas vor, halten uns für taktvoll, wo wir bloß<br />

feige sind, und für rücksichtsvoll, wo uns der andere<br />

nicht einmal ein offenes Wort wert ist. Auch die offene<br />

Empörung gegen Lügen und Lügner kann verlogen<br />

sein. Das Ideal der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, das<br />

auf wohlfeile Art hochgehalten wird, erspart den genauen<br />

Blick auf die Situation und auf die Motive, die hinter<br />

der Lüge stehen mögen. Absolute Wahrhaftigkeit ist<br />

dort erstrebenswert, wo sie sich nicht auf die Abschaffung<br />

von Verstellung und Lüge richtet, sondern auf die<br />

Gründe, mit denen wir uns der Verstellung und Lüge<br />

bedienen. Nur so kann es uns gelingen, eine Gemeinschaft<br />

verantwortungsvoller Lügner zu sein.


14<br />

w e l t w e l t<br />

15<br />

G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s<br />

Nach dem Verschwinden der Gemeinschaft<br />

gibt es nur noch eine Instanz, die dem<br />

Menschen Wert verleihen kann: das Du.<br />

Nicht eine bis dahin ungekannte Ich-<br />

Furchtbares<br />

DU!ICH!<br />

Bezogenheit beherrscht unser Zusammen leben,<br />

sondern das Problem einer ungekannten<br />

Du- bezogenheit. Damit haben wir es mit einer<br />

der unberechenbarsten, maSSlosesten und<br />

Stürzendes<br />

Sven Hillenkamp<br />

negativsten Mächte zu tun, denen der Mensch<br />

jemals ausgesetzt war. Diese These von Sven<br />

Hillenkamp wird im Beziehungsdrama »GefähR-<br />

liche Liebschaften« von Christopher Hampton z u<br />

untersuchen sein. Hillenkamp , studierter Politologe<br />

und Soziologe, war Redakteur bei der<br />

> ZEIT< und lebt jetzt als freier Autor in Berlin<br />

und Stockholm.<br />

A<br />

ls Übel unserer Zeit gilt der Narzissmus. Das in<br />

sich selbst abgeschlossene, nur an sich selbst<br />

interessierte Ich. Falls nach Ursachen verlangt<br />

wird, kommt noch der Kapitalismus hinzu. Wir<br />

stellen uns einen Menschen vor, der pausenlos<br />

sich selbst optimieren will, weil der Markt es verlangt –<br />

und der zu Beziehungen zu anderen Menschen demgemäß<br />

nicht mehr in der Lage ist.<br />

I<br />

n diesem Bild ist das Du – also der persönliche, individuelle<br />

andere – als vermisst gemeldet. Dabei, so die<br />

Vorstellung, würde es doch die Rettung bedeuten.<br />

Denn: Dem isolierten Ich geht es schlecht; doch wer ein<br />

Du hat – viele Dus –, der lebt, der hat es gut. Bei jeder<br />

sogenannten Seelenkrankheit lautet nun die Empfehlung:<br />

mehr Offenheit! Mehr Beziehung! Mehr Du! – Narzissmus<br />

und Kapitalismus sind die Krankheit, das Du<br />

ist die Kur.<br />

H<br />

ier soll behauptet werden: Wir haben nicht das Problem<br />

einer ungekannten Ich-Bezogenheit, sondern<br />

das Problem einer ungekannten Du-Bezogenheit.<br />

Es geht nicht um Egozentrik, sondern um Alterozentrik.<br />

In Wahrheit ist das Du die Angel, in der diese Welt<br />

schwingt, alles dreht sich um das Du. Es gilt als etwas<br />

Wunderbares, Heilsames; tatsächlich haben wir es mit<br />

einer der unberechenbarsten, maßlosesten und negativsten<br />

Mächte zu tun, denen der Mensch jemals ausgesetzt<br />

war.<br />

W<br />

ie wurde das Du zu solch einer Macht? Als Überlebender.<br />

Alle anderen Mächte, die den Menschen<br />

beherrschten, ihm Wert verliehen, eine soziale Position,<br />

gingen zugrunde; allein übrig blieb das Du.<br />

D<br />

as Du ist jetzt die einzige Instanz, die dem Menschen<br />

noch einen Wert verleihen kann. Alle anderen –<br />

überpersönlichen, gemeinschaftlichen – Strukturen<br />

sind verschwunden, haben zu Recht ihre Legitimation<br />

verloren. Es waren Strukturen, in denen vor allem Zugehörigkeit<br />

zählte, in denen Leistung, so sie gefordert war,<br />

kein persönliches, individuelles (originelles) Gesicht zu<br />

tragen hatte (dies gerade nicht durfte), sondern auf vorgezeichneten<br />

Bahnen, in vorgeschriebener Weise zu<br />

erbringen war. Solche Strukturen sind: die patriarchale<br />

Großfamilie (als Clan, Sippe); militärische, religiöse u. a.<br />

Männerbünde; überhaupt regionalistische, nationalistische<br />

und religiöse Gemeinschaften; soziale Kasten und<br />

Klassen; Gegenkulturen usw. In diesen Strukturen gab<br />

es weder Ich noch Du, insofern das Individuum Rollenträger<br />

und Repräsentant des Ganzen war. Das Besondere<br />

zählte nicht, sondern allein das Allgemeine. Es<br />

waren Strukturen, die die Herabwürdigung eines Mitglieds<br />

als Herabwürdigung des Ganzen betrachten<br />

mussten. Die Kränkung eines Einzelnen bedeutete die<br />

Kränkung aller.<br />

D<br />

ementsprechend wurde mit der Ehre des Einzelnen<br />

die Ehre aller verteidigt, wenn nötig (oder möglich)<br />

mit Gewalt (gegen den Einzelnen). Die Auflösung<br />

solcher Strukturen, in denen es keine individuelle Verantwortung<br />

gibt, wird bekanntlich als Befreiung erfahren<br />

und betrieben.<br />

D<br />

ie Durchsetzung der Moderne ist dadurch gekennzeichnet,<br />

dass der Einzelne es nun überall und immer<br />

mit Menschen im emphatischen Sinn zu tun bekommt,<br />

also nicht mit bloßen Rollenträgern und Reprä sentanten<br />

eines Ganzen, sondern mit persönlichen, individuellen<br />

anderen – mit Dus. (Gegenläufig zu Foucaults Verabschiedung<br />

des Menschen müsste hier – einer Phänomenologie<br />

der Erfahrung folgend – gerade die Geburt<br />

des Menschen verkündet werden.) Fortan fallen das<br />

Allgemeine und das Besondere auf merkwürdige Weise<br />

in eins. Die ungeheure Bedeutung, die Liebe und Sexualität<br />

einerseits, das Schöpferische andererseits in dieser<br />

Welt besitzen, besteht darin, dass es sich um Medien<br />

handelt, mit Hilfe derer ein Ich die Anerkennung eines<br />

(oder vieler) Dus zu erlangen erhofft.<br />

E<br />

s gibt mindestens sechs Eigenschaften, durch die<br />

das Du sich als Anerkennungsinstanz von überpersönlichen<br />

Strukturen unterscheidet. Die erste ist<br />

Punktualität, Augenblickshaftigkeit. Die Anerkennung,<br />

welche ein Du gewähren kann, durch eine Berührung,<br />

ein zärtliches Wort, ein Lob, durch die Tatsache, dass<br />

es uns überhaupt wahrnimmt und antwortet, anstatt uns<br />

(unsere E-Mail, eine SMS) zu ignorieren – diese Anerkennung<br />

ist kein sozialer Status, sondern bleibt performativ,<br />

also stets augenblickshaft; sie muss pausenlos<br />

erneuert werden.<br />

Z<br />

weitens: Opazität, Undurchsichtigkeit. Während es<br />

in kollektiven Strukturen allgemein bekannte, oft kodifizierte<br />

Kriterien der Anerkennung gibt (wie Gott<br />

seine Gebote veröffentlicht und damit sichtbar macht),<br />

ist die Anerkennung durch ein Du abhängig von dessen<br />

individueller Persönlichkeit, dessen Geschmack und Vorlieben,<br />

momentaner Lebenssituation und Gefühlslage.<br />

Deshalb ist das Du den Menschen, die ihm gegenüberstehen<br />

und von ihm abhängen, wie auch sich selbst<br />

undurchsichtig. Das Ich muss in einem endlichen Trialand-error-Spiel<br />

herausfinden, was das Du möchte und


16<br />

w e l t<br />

17<br />

G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s w e l t<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s<br />

Schubi-Du, Schubi-Du.<br />

Bald bin ich tot, juhu.<br />

Almut Block, 70, Kettenraucherin<br />

Der Zwerg reinigt den Kittel<br />

von Anita Augustin Premiere Mai 2014<br />

Liebe ist etwas, was<br />

man benutzt, nicht etwas,<br />

dem man verfällt.<br />

Gefährliche Liebschaften von Christopher Hampton Premiere Juni 2014<br />

ab, welche sich seiner Kontrolle a priori entziehen. Die<br />

gesamte Zivilisationsgeschichte ist eine Geschichte<br />

des Versuchs, die Macht der Natur und des Zufalls zu<br />

brechen, nicht auf Gedeih und Verderb abhängig zu<br />

sein von Wetter und Klima, nicht von Raubtieren zerrissen<br />

zu werden, von einer fremden Rotte überfallen und<br />

ausgeplündert zu werden – und am Ende der glorreichen<br />

Geschichte steht das Ich vor einem Du, das es<br />

sich nur gewogen machen kann mit Dingen, die sich<br />

ihm entziehen, gleich dem Wetter, den Raubtieren, den<br />

fremden Rotten. Hier sieht die moderne Psychologie<br />

ihre Geschäftsmöglichkeit. Sie ruft dem Ich zu: Mit meiner<br />

Hilfe wirst du kreativ und attraktiv. Mit meiner Hilfe<br />

lernst du lieben und begehren. Mit meiner Hilfe wirst du<br />

dem Du endlich genügen. Die Psychologie verspricht,<br />

das Unkontrollierbare zu kontrollieren, das Ich im Kampf<br />

mit seinem undurchsichtigen, unendlichen und widersinnigen<br />

Du zu rüsten, indem es das Ich selbst unendlich<br />

macht. Im übrigen teilt die Psychologie sich in zwei<br />

Lager. Die einen sehen die vielversprechendste Lösung<br />

in einer Unabhängigkeit des Ich vom Du. Ein durchaus<br />

verständlicher Impuls. Jeder, der besetzt ist von einer<br />

furchtbaren Macht, sehnt sich nach Unabhängigkeit.<br />

Diese Psychologen sagen: Das Ich kann lernen, sich<br />

selbst zu lieben. Es kann sich selbst anerkennen, indem<br />

es sich sagt, ich bin in Ordnung, ich bin ein wundervolles<br />

Wesen. Jeder gescheite Mensch weiß, dass das<br />

Unfug ist. Liebe, Anerkennung, Respekt sind Begriffe,<br />

die soziale Verhältnisse ausdrücken, etwas zwischen<br />

den Menschen. Die anderen Psychologen gehen in die<br />

entgegengesetzte Richtung. Sie empfehlen – wir erwähnten<br />

es – noch mehr Du. Sie sagen: Geht es dir<br />

schlecht in deiner Abhängigkeit von verschiedenen, jedoch<br />

gleich tyrannischen Dus, dann öffne dich noch<br />

mehr, vertiefe deine Beziehungen, lerne noch mehr Dus<br />

kennen, lass dich fallen. Man denke sich einen Steinzeitmenschen,<br />

der sich das Ende seines Horrors erhofft<br />

von noch mehr Stürmen und Dürreperioden, noch mehr<br />

menschenfressenden Raubtieren, noch mehr plündernden<br />

und mordenden Hominidenhorden. Während die<br />

Verhaltenstherapeuten den Weg in die Unabhängigkeit<br />

bevorzugen, halten es Analytiker und Systemiker mit der<br />

Beziehungsvertiefung. Doch auch die Verhaltenstherapeuten<br />

winken mit der letzteren. Sie sagen: Wenn man<br />

erst einmal ganz unabhängig geworden ist, niemanden<br />

mehr braucht, jahre- und jahrzehntelang allein leben<br />

und allein arbeiten kann, es aushält in totaler Isolation<br />

und sich dabei selbst lieben kann, dann wird man in der<br />

Lage sein, andere Menschen zu lieben und zu begehren.<br />

Allein das Ich, das sich vollständig lösen kann vom<br />

Du und dem es dabei blendend geht, ist liebesfähig.<br />

Psychoanalytiker teilen diese Ansicht. Auch sie wollen<br />

erst einmal die Selbst- und Objektrepräsentanzen im<br />

Inneren ihres Klienten in Ordnung bringen, das sogenannte<br />

Selbstwertgefühl von innen heraus zur Blüte<br />

bringen, um den dergestalt erwachsen gewordenen Klienten<br />

loszulassen auf das Du, das Du auf ihn. Wie gesagt,<br />

verständliche Impulse. Doch hilflos, bis schamlos.<br />

D<br />

ie Zeit des Nationalsozialismus war interessanterweise<br />

die erste, in welcher das Du sich als alleinige<br />

Anerkennungsinstanz durchsetzte. Im Nationalsozialismus<br />

gab es keine Institutionen mehr, die dem Menschen,<br />

gesetzt er hielt sich an die Regeln, einen sozialen<br />

Wert garantierten. Es gab gar keine funktionierenden<br />

Institutionen, verlässlichen Regeln mehr, ausschließlich<br />

persönliche und individuelle Dus, die undurchsichtig<br />

und unberechenbar waren, deren Forderungen unendlich<br />

waren, die immerzu wechselten, sich jederzeit abwenden<br />

konnten.<br />

I<br />

n<br />

der Hinsicht war der Totalitarismus »absolument moderne«.<br />

Heute erkennen wir uns wieder im permanenten<br />

Schreiben an mächtige und begehrenswerte Dus, in<br />

der pausenlosen Terminbettelei, dem unausgesetzten<br />

Vorsprechen und Sich-präsentieren, dem ununterbrochenen<br />

Sich-sichtbar-machen-wollen, der unerträglichen<br />

Werbung um das Du. Freilich, die Dus tragen nun andere<br />

Namen. Sie heißen nicht mehr Rottenführer oder<br />

Reichsverweser, sondern Redakteur, Intendant, Galerist<br />

oder Verleger, Leser und Zuschauer. Sie heißen<br />

Papa und Mama, Julia und Tom, und sie heißen schlicht<br />

und wahrheitsgetreu: Du.<br />

W<br />

ir leben in einem gesellschaftlichen System, das<br />

System und Struktur ist wie jedes andere vor ihm,<br />

jedoch – nun stimmt die Formulierung und zwar<br />

buchstäblich – ein System mit menschlichem Antlitz.<br />

Und dieses Antlitz ist kein neurotisches, narzisstisches,<br />

beziehungsunfähiges Ich, sondern ein undurchsichtiges,<br />

unendliches, paradoxes und negatives, immerfort<br />

neue Gesichter aufsetzendes Du, das als Gegenüber<br />

nichts anderes akzeptiert als ein gleichfalls individualisiertes,<br />

verpersönlichtes Ich, das sich in einem fort rüsten<br />

muss, um anerkannt zu werden (oder sich seinem<br />

Tyrannen zu entziehen versucht).<br />

W<br />

ir können uns keine Welt ohne Menschen mehr<br />

denken: eine Welt, die nicht um das Du kreist. Der<br />

Urstoff, aus dem alles besteht, scheinen nun die<br />

Beziehungen zu sein, die Bindungen, die Gefühle zwischen<br />

Ich und Du. Erfolg, Glück ist einzig denkbar als<br />

Erhebung eines Ichs aufgrund der Begeisterung eines<br />

Dus: Auftraggeber-Dus, Zuschauer-Dus, Gefährten-Dus<br />

usw. Liebe und Kunst (d. h. Kreativsein im weitesten<br />

Sinn) sind für jedermann überlebensnotwendig, da Zugehörigkeit<br />

zu einer Gemeinschaft als Grundlage für<br />

Anerkennung entfällt, das Emotionale und Performative<br />

zur einzigen Währung wird. Die Katastrophe der Wertlosigkeit<br />

entsteht aus der Unfähigkeit des Ich: Nichtfühlenkönnen<br />

und Nichtschaffenkönnen.<br />

Und Sie sind ihr alles?<br />

Anatol von Arthur Schnitzler Premiere November 2013<br />

schätzt, wobei es leider so viele Fehler machen kann,<br />

dass es entweder in Ungnade fällt oder in Erwartung derselben<br />

in die Starre der Depression oder Angststörung.<br />

D<br />

rittens: Infinität, Unendlichkeit. Während eine überpersönliche<br />

Struktur oder etwa Gott Endliches verlangt<br />

(bestimmte Dinge zu unterlassen, sich an die<br />

zehn Gebote zu halten), verlangt das Du Unendliches:<br />

Aufmerksamkeit, Verständnis, Liebe, Begehren, Kreativität.<br />

Das Ich kann niemals genug zuhören, verstehen,<br />

begehren, lieben und leisten; es steht ununterbrochen<br />

in der Schuld des Du, versagt vor dessen unendlichem<br />

Bedürfnis.<br />

V<br />

iertens: Paradoxität, Widersinnigkeit. Während in<br />

überpersönlichen Strukturen oft das Bemühen<br />

existiert, herrschende Forderungen widerspruchsfrei<br />

zu halten, steht das Du nicht unter diesem Druck.<br />

Es verlangt, das Ich solle schöpferisch sein, ein Künstler.<br />

Dann sagt es, das Ich trage keine Verantwortung,<br />

lebe das Leben eines Kindes. Ein Du sagt: Trainiere<br />

deinen Körper. Ein anderes: Dein (trainierter) Körper<br />

ist ja unnatürlich. Alle Dus sagen: Wir finden dich nur<br />

dann sympathisch, wenn du kein Vorspiegler bist,<br />

sondern Schwächen und Sünden, alles, was dich<br />

unsympathisch macht, vor uns selbstbewusst offenlegst<br />

usw.<br />

F<br />

ünftens: Negativität, Verneinendsein, was man hier<br />

u. a. mit Abwesenheit, Verschwinden, Verstummen<br />

übersetzen kann. Das Du – Auftraggeber-Du, Geliebten-Du<br />

– hat immer die Möglichkeit, nicht zu antworten,<br />

das Ich zu verlassen, die Verbindung, die Zusammenarbeit<br />

aufzukündigen, wortlos einschlafen zu lassen.<br />

S<br />

chließlich: Mobilität, Beweglichkeit. Es kommen immer<br />

neue Dus auf das Ich zu. Aufgrund von Ortswechseln<br />

(oder Orten, die selbst in Bewegung sind,<br />

durchströmt werden von Dus), aufgrund von beruflichen<br />

und privaten Veränderungen, neuen Versammlungsund<br />

Kommunikationsmöglichkeiten usw. reißt der Strom<br />

der Dus nie ab, damit auch nicht die Bedrohung, auf<br />

Ablehnung oder Desinteresse zu stoßen. Das Ich nimmt<br />

die Herausforderung vorweg, indem es sich rüstet.<br />

Sämtliche Optimierungsstrategien (Körper, Kleidung,<br />

Karriere, interessante Biografie usw.) machten keinen<br />

Sinn, wenn der Einzelne sich in einem stabilen, sich<br />

gleichbleibenden Umfeld befände – sie zielen vielmehr<br />

auf noch Unbekannte und auf die Bekannten nur insofern,<br />

als diese sich abwenden, fortbewegen könnten; es sind<br />

Sicherungsstrategien, welche verhindern sollen, dass man<br />

durchfällt bei Menschen, die (noch oder immer wieder)<br />

gewonnen werden müssen. Der Unterschied zwischen<br />

erster Moderne (bzw. Vormoderne) und zweiter, individualisierter<br />

Moderne besteht also nicht in der Differenz<br />

Zusammensein vs. Einsamsein, sondern in der Differenz<br />

Auf-immer-mit-den-Selben­sein vs. Wissen-dass-immer­<br />

Neue-kommen-werden-und-sich-rüsten. Der Narzissmus<br />

ist also nichts anderes als eine notwendige Sicherungstendenz.<br />

Die Egozentrik steht im Dienst des Du,<br />

ist Alterozentrik.<br />

M<br />

an sieht, welche ungeheuren Konsequenzen es hat,<br />

wenn der Mensch (das Du) des Menschen Wert<br />

bestimmt und nicht ein Übermenschliches, Überindividuelles.<br />

Es wird noch deutlicher, wenn man sich<br />

fragt, was das Du wertschätzt, für was es Wert verleiht.<br />

Da das Du kein bloßer Repräsentant ist, sondern eine<br />

einzigartige Persönlichkeit, verlangt es auch Einzigartiges,<br />

Persönliches. Und da das Du keine allgemeine Struktur<br />

ist, sondern eine menschliche Physis, verlangt es auch,<br />

physisch erregt zu werden. Es reicht dem Du also keineswegs,<br />

dass das Ich seinen Platz in der Gesellschaft<br />

einnimmt, sich an die Regeln hält, Verantwortung übernimmt,<br />

treu ist, ein Auskommen hat, irgendeine Funktion<br />

vorbildlich ausfüllt. Denn dann würde das Du sich ja<br />

nicht persönlich gespiegelt und gemeint fühlen. Was<br />

das Du will: Gefühle, Kreativität, sexuelle Attraktivität.<br />

Doch den Augenblicken, in denen das Ich viel (für ein<br />

Du) empfindet, in denen es schöpferisch ist (und sich<br />

auch als schöpferisch empfindet, was bekanntlich nicht<br />

dasselbe ist), in denen es sexuell attraktiv ist (und sich<br />

sexuell attraktiv fühlt, was wiederum nicht dasselbe ist),<br />

stehen naturgemäß lange Perioden gegenüber, in denen<br />

das Ich nichts (oder nicht ausreichend, siehe Unendlichkeit)<br />

fühlt, in denen es nicht schöpferisch sein kann,<br />

glaubt, unkreativ zu sein, in denen es unattraktiv ist, sich<br />

unattraktiv fühlt. Ein Ich, dessen Wert auf Fühlenkönnen,<br />

Kreativität, Attraktivität beruht, wird sich meist wertlos<br />

fühlen, meist, wie man sagt, depressiv sein, selten euphorisch,<br />

selten sich als das emotionale, liebende, kreative,<br />

erregende Geschöpf empfinden, das es immer<br />

sein müsste, um sozialen Status, einen stabilen sozialen<br />

Wert zu besitzen, nicht einer permanenten Abwertungsdynamik<br />

ausgesetzt zu sein, einem Sturz in Gefühllosigkeit,<br />

Hässlichkeit und in das Blockiertsein.<br />

G<br />

efühle, Kreativität und Attraktivität bzw. das momentane<br />

Attraktivitätsempfinden haben eins gemeinsam:<br />

Sie sind nicht Resultat eines Handelns, da sie keine<br />

äußeren Gegenstände oder Verhältnisse sind, sondern<br />

Innerlichkeiten; sie sind, mit einem Wort, nicht kontrollierbar.<br />

Der Wert des Individuums hängt also von Dingen<br />

Eines Königs Ehre ist der Stern,<br />

der alle seine Recken mit<br />

beleuchtet und mit verdunkelt!<br />

Die Nibelungen von Friedrich Hebbel<br />

Premiere September 2013<br />

Du hast mir eingeredet, dass ich dir etwas<br />

bedeute, dass das, was ich tue, wichtig<br />

ist. Du bist verdammt noch mal selber schuld,<br />

dass ich jetzt deinen Respekt einfordere.<br />

Dogville von Lars von Trier Premiere April 2014


18<br />

M I T T E M I T T E<br />

19<br />

G E M E I N S C H A F T E S K A L A T I O N<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T E S K A L A T I O N<br />

P<br />

olitik und Öffentlichkeit stilisieren die Gewaltverbrechen<br />

des NSU gerne zu einem Einzelphänomen.<br />

Wer sich den Taten deS NSU aus sozial wissen SchAF t-<br />

licher Sicht nähert, muss die Frage stellen, ob nicht<br />

vielmehr in der breiten Bevölkerung Tendenzen vorherrschen,<br />

die die Entwicklung DES NSU nachhal tig<br />

befördert haben. Der Bielefelder Sozio loge Professor<br />

Wilhelm Heitmeyer forscht seit 1982 zu den Themen<br />

RechtS extremismus und soziale Desintegration. In den<br />

nachfolgenden Ausführungen beschreibt er, warum<br />

die Eskalationslandschaft und also auch gängige<br />

Einstellungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft<br />

einen Nährboden für die Terrorzelle bilden.<br />

Er kritisiert die politischen und gesellschaftlichen<br />

Reflexe, die seit Jahren als wirksame Antworten im<br />

> Kampf gegen Rechts< propagiert werden, als ineffizient<br />

und fordert einen unverstellten Blick auf<br />

die eigentlichen Ursachen der Gewaltbereitschaft.<br />

Der<br />

National<br />

sozialistische<br />

und die<br />

D<br />

ie Eskalationslandschaft gleicht einem »Zwiebelmuster«.<br />

An der äußersten Schale sind die Einstellungsmuster<br />

der Mehrheitsgesellschaft angesiedelt,<br />

also unsere. Sie erzeugen unser Verhalten<br />

gegenüber schwachen Gruppen. An der Universität<br />

Bielefeld bezeichnen wir sie als gruppenbezogene<br />

Menschenfeindlichkeit – fördern sie doch unsere Abwertung<br />

und die Diskriminierung schwacher Gruppen<br />

zutage. Zu diesen gehören u. a. Migranten, Juden, Homosexuelle,<br />

Obdachlose, Muslime, Behinderte, Langzeitarbeitslose,<br />

Asylbewerber und Sinti/Roma.<br />

D<br />

arüber hat sich ein teils offener, teils aber auch unterschwelliger<br />

Alltagsrassismus in unserem Leben festgesetzt,<br />

der längst Eingang in unseren Wortschatz<br />

und unsere Gewohnheiten gefunden hat, und dessen<br />

kaum hinterfragte Einstellungsmuster den Humus für die<br />

weitere Entwicklung bilden. Wissenschaftlich gesprochen<br />

entsteht aus diesem Alltagsrassismus ein gesellschaftlicher<br />

Abwertungs- und Diskriminierungsvorrat, aus<br />

dem sich vorrangig die rechtspopulistischen Bewegungen<br />

– womit wir bei der zweiten Schale wären – bedienen.<br />

Insbesondere islamfeindliche Haltungen stehen hier<br />

im Zentrum. Wichtig in diesem Kontext ist, dass sich<br />

diese Form des Rechtspopulismus und Rassismus noch<br />

in weitgehend gewaltfreier Form manifestiert. Das Thema<br />

Gewalt kommt erst über die dritte Schale, über die systemfeindlichen<br />

radikalisierten Milieus wie u. a. die autonomen<br />

Nationalisten und auch die NPD ins Spiel.<br />

U<br />

nter dieser Schale kommt die nächste Eskalationsstufe<br />

zum Vorschein, sie bildet sich aus den sogenannten<br />

Unterstützungsnetzwerken. Dabei handelt<br />

es sich um höchst gewalttätige Milieus der »freien Kameradschaften«,<br />

die vorwiegend konspirativ und über massive<br />

Bedrohungen agieren. Sie bilden dann den fließenden<br />

Übergang zur rechtsextremistischen Zelle und damit zur<br />

innersten Schale unseres Zwiebelmodells.<br />

Untergrund<br />

Selbstentlastung<br />

gesellschaftliche<br />

Wilhelm Heitmeyer<br />

Hand aufs Herz: Seit wann wissen Sie,<br />

meine Herren, dass es Brandstifter sind?<br />

Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch Premiere Februar 2014<br />

Z<br />

usammenfassend können wir also von einem gesamtgesellschaftlichen<br />

Eskalationsprozess sprechen,<br />

in dem die eingangs erwähnten Einstellungsmuster<br />

in der Bevölkerung, und damit also auch WIR, einen<br />

nicht unwesentlichen Beitrag leisten.<br />

I<br />

rritierend ist das Agieren der Politik, das sich auf eine<br />

Verbotsstrategie insbesondere gegenüber der NPD<br />

konzentriert. Dies überrascht vor allem, weil die Partei<br />

an Mitgliedern verliert – Wähler laufen ihr davon, und<br />

finanziell ist sie pleite.<br />

D<br />

er parteipolitische Rechtsextremismus scheint weitgehend<br />

am Ende. Republikaner und DVU sind bereits<br />

verschwunden. Die neue Partei »Die Rechte«<br />

ist nahezu unbekannt. Eine ganz andere und weit größere<br />

Gefahr geht hingegen von den bewegungsorientierten<br />

rechtsextremistischen Gruppen aus. Sie agieren weitaus<br />

dynamischer, geschickter und verdeckter und sind<br />

deshalb sehr viel schwieriger zu bekämpfen. Man erkennt<br />

sie nur schwerlich am äußerlichen Stil. Sie sind vor allem<br />

verdeckt professionell im Netz unterwegs.<br />

W<br />

arum konzentrieren sich die politischen Initiativen<br />

von demokratischen Parteien ausschließlich auf Verbote,<br />

anstatt auf das eigentliche Gefahrenpotenzial<br />

adäquat zu reagieren? Wären die Verbote in der Vergangenheit<br />

tatsächlich von Erfolg gekrönt gewesen, dann<br />

dürfte es in unserer Gesellschaft heute solche rechtsextremistischen<br />

Probleme nicht mehr geben, schließlich<br />

wurden seit Anfang 1992 rund 30 Gruppen verboten. Die<br />

Negativbilanz offenbart, dass staatliche Repression immer<br />

auch rechtsextreme Innovation erzeugt.<br />

U<br />

ntersuchungen haben gezeigt, dass die Bevölkerung<br />

bzw. deren jeweilige Alters-, Geschlechts- und<br />

Einkommensgruppen, einen gesellschaftlichen Legitimationsvorrat<br />

für die genannten radikalisierten Milieus<br />

Der weisse Wolf<br />

Ausgehend von den Ereignissen rund um die Verbrechen des<br />

NSU und deren Aufdeckung unternimmt der Autor Lothar<br />

Kittstein mit seinem Auftragswerk eine Reise in die Untiefen<br />

der deutschen Gesellschaft. Uraufführung Februar 2014<br />

bereitstellt. Wir sprechen in diesem Zusammenhang<br />

von einer rohen Bürgerlichkeit, die sich zwar von Rechtsextremen<br />

distanziert, ihnen aber gleichzeitig Legitimationen<br />

liefert.<br />

D<br />

ie herrschende Politik neigt im gleichen Kontext jedoch<br />

dazu, die gesellschaftliche Realität mit einer<br />

die tatsächlichen Verhältnisse glättenden Schwarz-<br />

Weiß-Sicht zu sehr zu simplifizieren: hier die soziale,<br />

liberale und humane Gesellschaft, dort die rechtsextremistische<br />

Mörderbande.<br />

D<br />

as Ziel hinter dieser Vorgehensweise ist klar: Es ist<br />

der Versuch einer gesellschaftlichen Selbstentlastung,<br />

der uns aus der Verantwortung entlässt und<br />

uns von Mitschuld freispricht. Eng verknüpft mit dieser<br />

Handlungsweise ist die Installierung eines Kontrollparadigmas,<br />

d. h. die gesellschaftspolitischen rechtsextremistischen<br />

Gefahren werden zu einem juristischen und<br />

verfolgungstechnischen Problem umdefiniert. Nach dem<br />

Motto: Wenn die herrschende Politik den Staatsschutz<br />

und Verfassungsschutz entsprechend ausrüstet, werden<br />

alle Probleme gelöst.<br />

W<br />

ill sich die Politik aber wirklich ernsthaft mit einer<br />

Lösung der Problematik beschäftigen, ist der von<br />

jeglichem Populismus freie und unverstellte Blick<br />

auf die Ursachen notwendig. Dafür bedarf es vor allem<br />

der rigorosen Intensivierung von Selbstreflexion im Sinne<br />

des Entstehungs- und Radikalisierungsparadigmas.<br />

Zu diesem Radikalisierungsparadigma gehört die zunehmende<br />

Aggressivität der in rechtspopulistischen<br />

Denkmustern beheimateten Bevölkerungsteile. Diese<br />

Tatsachen länger zu ignorieren und nicht in den Mittelpunkt<br />

der Debatte zu rücken, zeugt von einem die Fakten<br />

missachtenden, vornehmlich sich in Selbsttäuschung<br />

ergehenden gesellschaftlichen Denken und Handeln:<br />

Selbstentlastung statt Selbstaufklärung.


2013/14<br />

Z W A N G G E M E I N S C H A F T I D E N T I T Ä T<br />

21<br />

I<br />

m Kontext von Hebbels »Nibelungen« denkt der FranKfurter<br />

Politologe Daniel Keil über das Thema »Mythen der<br />

Gemeinschaft« nach. Auch die Erzählung von Europa<br />

als fortschrittliche Gemeinschaft, die auf übernationalen<br />

gemeinsamen Werten gründet, entlarvt er dabei als<br />

Mythos. Ein Mythos, welcher der Legi timation autoritärer<br />

Politiken in Europa dient und die schleichende Wiederherstellung<br />

nationaler Ausgrenzungsmuster auSSer Acht<br />

lässt. Den Wunsch nach der »inneren Vereinheitlichung«<br />

Europas beschreibt Keil als eine maSSgeblich von Deutschland<br />

forcierte Politik, die sich vor dem Hintergrund<br />

der ökonomisch- politischen Entwicklungen vor allem um<br />

den Wert der »Leistung« gruppiert. Hierin erkennt er<br />

eine Form von Ausgrenzung, welche die Gesellschaft in<br />

pro Duktive und unproduktive Mitglieder innerhalb der<br />

Europäischen Gemeinschaft einteilt. Das »Andere« wird<br />

als »das Unproduktive« in Abgrenzung zum »pro Duktiven<br />

WIR« konstruiert. Daniel Keil forscht an der Goethe-Universität<br />

<strong>Frankfurt</strong> am Main über die Entwicklung nationaler<br />

Identität im SpannungS Feld der europäischen<br />

Integration in Deutschland.


22<br />

Z W A N G<br />

23<br />

G E M E I N S C H A F T I D E N T I T Ä T Z W A N G<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T I D E N T I T Ä T<br />

undMythos:<br />

Gemein<br />

schaft<br />

Der weisse Wolf<br />

Ausgehend von den Ereignissen rund um die Verbrechen des<br />

NSU und deren Aufdeckung unternimmt der Autor Lothar<br />

Kittstein mit seinem Auftragswerk eine Reise in die Untiefen<br />

der deutschen Gesellschaft. Uraufführung Februar 2014<br />

zum Verhältnis von<br />

europäischer<br />

nationaler<br />

Daniel Keil<br />

und<br />

Identität<br />

Wer kann und mag besitzen, wenn er nicht bewiesen<br />

hat, dass er mit Recht besitzt? Und wer erstickt<br />

das Murren um sich her, bevor er den Gewaltigsten,<br />

der lebt, zu Boden warf, und ihn mit FüSSen trat?<br />

Die Nibelungen von Friedrich Hebbel Premiere September 2013<br />

Europa als Versprechen gegen<br />

die Borniertheit nationaler Identität<br />

D<br />

ie Diskurse um nationale Identität in Deutschland<br />

sind seit 1990 nicht nur vielfältig und zahlreich,<br />

sie sind auch immer wieder mal verwoben mit<br />

dem Sprechen über europäische Identität, die zumeist<br />

als Versprechen gedeutet wird. Hierbei gibt<br />

es sicherlich Konjunkturen, die dem Zustand der Europäischen<br />

Union geschuldet sind, und größtenteils bleibt<br />

die Debatte eine akademische Angelegenheit. Gerade<br />

in den derzeitigen Krisenprozessen erscheinen Postulate<br />

eines bereits existierenden Kosmopolitismus in einer<br />

post-nationalen europäischen Gesellschaft zumindest<br />

stark verkürzt und mehr als normativer Wunsch denn<br />

fundiert in gesellschaftlichen Prozessen. Europäische<br />

Identität wird in diesen Formen als Versprechen gehandelt,<br />

die Borniertheit nationaler Identität aufheben zu<br />

können. Europa ist in solchem Kontext Teil einer Fortschrittsgeschichte,<br />

die auf mehr Freiheit und ein vernünftigeres<br />

Zusammenleben hinauslaufe. Habermas<br />

beispielsweise möchte die Europäische Union als »entscheidende[n]<br />

Schritt auf dem Weg zu einer politisch<br />

verfassten Weltgesellschaft begreifen« (»Die Verfassung<br />

Europas. Ein Essay«, 2011). Er sieht dabei Europa<br />

als Projekt, das transnationale Formen der Demokratisierung<br />

vorantreiben müsste. Ähnlich auch Ulrich Beck<br />

und Edgar Grande, die das Narrativ eines kosmopolitischen<br />

Europas erzeugen wollen, um Werte und Normen<br />

des neuen Europas als Antwort auf die Geschichte<br />

der »linken und rechten Terrorregime des 20. Jahrhunderts<br />

zu sehen« (»Das kosmopolitische Europa«, 2007).<br />

Die Suggestion eines Neustarts und die totalitarismustheoretische<br />

Abgrenzung verdecken dabei, dass die<br />

Geschichte Europas auch nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

nicht zielgerichtet, sondern in sich widersprüchlich und<br />

von kontingenten Ereignissen geprägt verlaufen ist. Zudem<br />

wird so das Bestehende als alternativlos, vernünftig<br />

und vollkommen abgekoppelt insbesondere vom Nationalsozialismus<br />

behauptet, womit die realen Kontinuitäten<br />

(vor allem in Deutschland) wie auch der Fortbestand<br />

der Bedingungen, die zum Nationalsozialismus führten,<br />

verdeckt werden. Auch wenn die Betonung des Projektcharakters<br />

ihren realen Ursprung in dem tatsächlich<br />

Projekthaften der Europäischen Union hat, ist dennoch<br />

nicht alles, was vielleicht danach aussehen könnte,<br />

ein Fortschritt zu mehr Freiheit. Die in diesen wissenschaftlichen<br />

Ansätzen implizit formulierte Gleichung,<br />

Europa ist gleich Zivilisierung und Fortschritt, kann als<br />

idealisierende Charakterisierung begriffen werden, die<br />

insbesondere die Rekonstitution der nationalen Ausgrenzungsmuster<br />

in und durch Europa hindurch außer<br />

Acht lässt.<br />

Krise und innere Vereinheitlichung<br />

»S<br />

o viel Europa war nie!« Mit diesen Worten beginnt<br />

Gauck im Februar 2013 seine Rede zu Europa,<br />

um, nach einem kurzen Schlenker darüber, dass derzeit<br />

Europa vor allem als Euro­ Krise wahrnehmbar ist,<br />

eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Eine Erfolgsgeschichte,<br />

die durch die gegenwärtige Krise ins Straucheln gekommen<br />

ist. Europa stehe jetzt an der Schwelle, die<br />

überschritten werden muss, um »sich als Global Player«<br />

zu »behaupten«. Hierfür will Gauck, dass innegehalten<br />

wird, »um uns gedanklich und emotional zu rüsten für<br />

den nächsten Schritt«. Die militärische Konnotation des<br />

Rüstens bietet dabei so etwas wie eine Klammer zur<br />

geforderten »weitere[n] innere[n] Vereinheitlichung«, die<br />

zuallererst eine vereinheitlichte »Außen-, Sicherheitsund<br />

Verteidigungspolitik« meine. Die Forderung nach<br />

innerer Vereinheitlichung verbindet Gauck mit einer Klage<br />

über das Fehlen einer identitätsstiftenden Erzählung,<br />

dem Fehlen eines europäischen Gründungsmythos. Er<br />

soll durch eine Art europäischen Verfassungspatriotismus<br />

– die »europäischen Werte« – ersetzt werden. Diese<br />

Klage lässt offen den Legitimierungscharakter zu Tage<br />

treten, der eben in der Rede von der freiheits- und wertebasierten<br />

Idee ›Europa‹, die sich quasi automatisch umsetze,<br />

wenn denn der Weg weiter beschritten werde,<br />

impliziert ist. Insbesondere geht es darum, die Stellung<br />

Deutschlands als Hegemonialmacht in Europa zu legitimieren<br />

und Europa ein deutsches Modell zu offerieren.<br />

Gauck sorgt sich darum, dass die maßgeblich von<br />

Deutschland forcierte Austeritätspolitik, die die Lebensgrundlage<br />

von unzähligen Menschen zerstört, als »Kaltherzigkeit«<br />

wahrgenommen werden könnte und nicht als<br />

»Sachrationalität«. Was in diesem Zusammenhang der<br />

Wunsch nach innerer Vereinheitlichung bedeutet, wird<br />

deutlich vor dem Hintergrund der ökonomisch-politischen<br />

Umwälzungen in Deutschland. Die massiven sozialen<br />

Einschnitte, beispielsweise die Deklassierung<br />

durch Hartz IV, wurden ebenfalls mit einer vermeintlichen<br />

»Sachrationalität« begründet und begleitet durch<br />

eine Neuformierung der nationalen Identität. Die nationalen<br />

Kampagnen (»Du bist Deutschland«) und der<br />

sogenannte Partypatriotismus der Fußball-WM waren<br />

dabei zentrale Elemente, die Einzelnen als Verkörperung<br />

der Nation zu konstituieren, die sich selbst als Deutschland<br />

zu begreifen haben und ihr Leben nur mehr nach<br />

den Maßgaben des nationalen Interesses zu organisieren<br />

hätten. Hierin lag und liegt eine Rekonstitution von<br />

Ausgrenzung, die sich vor allem um Leistung gruppiert<br />

und die sich danach auch in europäischem Zusammenhang<br />

artikuliert.<br />

Über den Zusammenhang von Nation<br />

und Kapitalismus<br />

A<br />

n dieser Stelle müssen, zum besseren Verständnis,<br />

ein paar grundsätzliche Worte zum Begriff der Nation<br />

gesagt werden, auch um besser einschätzen zu können,<br />

was die EU für ein Projekt und wie die Formulierung<br />

europäischer Identität einzuschätzen ist. Die Entstehung<br />

der modernen Nation ist konstitutiv verwoben mit der<br />

Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und<br />

damit mit moderner Staatlichkeit. Kapitalis tische Gesellschaften<br />

sind in ihrem Grund fundamental gespalten,<br />

und zwar in zweierlei Hinsicht: einmal durch die Trennung<br />

der Menschen von ihren Produktionsmitteln und<br />

zum anderen in Universalität und Partikularität. Kapitalistische<br />

Arbeitsteilung vereinzelt die Menschen zu freien,<br />

gleichen Vertragspartner Innen, die darüber mit allen anderen<br />

in ein Verhältnis gesetzt sind – als abstrakte<br />

Rechtssubjekte sind sie gleich und universell, als konkrete<br />

Individuen aber ungleich. In der kapitalistischen<br />

Produktionsweise ist ein Gewaltverhältnis impliziert, das<br />

in der Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln<br />

besteht und sie daher zwingt, als abstrakt Gleiche<br />

ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Diese Gewalt erscheint<br />

nicht unmittelbar, sondern als »stummer Zwang der Verhältnisse«<br />

(Marx) und im Widerspruch zwischen konkreter<br />

Ungleichheit und abstrakter Gleichheit. Die Gewalt,<br />

die notwendig ist zur Aufrechterhaltung der abstrakten<br />

Gleichheit in der konkreten Ungleichheit, erscheint als<br />

politische Herrschaft im Staat, der über ein bestimmtes<br />

Territorium verfügt. Die Einzelnen werden in diesem Territorium<br />

zu einem Kollektiv zusammengefasst und zur<br />

Nation homogenisiert. Dafür ist die Erfindung einer nationalen<br />

Geschichte von zentraler Bedeutung, die als<br />

nationaler Mythos einen gesellschaftlichen Naturzusammenhang<br />

herstellt. Konstruiert wird eine quasi-natürliche<br />

Verbundenheit Einzelner zu einem Kollektiv, das<br />

an den territorialen Boden gebunden ist. Der selbst produzierte<br />

gesellschaftliche Zusammenhang, der hinter<br />

ihrem Rücken prozessiert, erscheint so als »Naturalform«<br />

(Adorno), als außerhalb der Einzelnen existierender<br />

Naturzusammenhang. Die Homogenisierung zur<br />

Nation erfolgt logisch aus der Abgrenzung gegenüber<br />

anderem, zum einen über die Grenze nach außen, aber<br />

auch, damit verknüpft, in der Abgrenzung nach innen,<br />

als Formierung gegen diejenigen, die als »antinational«<br />

identifiziert werden. Rassistische und antisemitische<br />

Denk- und Praxisformen sind hierbei zentraler Ausdruck<br />

dieser Abgrenzungen.<br />

Europa und »das Andere«<br />

Vor diesem Hintergrund stellt sich die EU tatsächlich<br />

als ein neuartiges Projekt dar. Es ist mit den Institutionen<br />

der EU eine Form transnationaler Staatlichkeit<br />

entstanden, die komplex verwoben ist mit den<br />

nationalen Staaten, die dadurch aber keineswegs aufgelöst<br />

werden. Vielmehr ist eine europäische Bezugsebene<br />

in räumlicher Hinsicht entstanden, die vor allem<br />

mit der Errichtung einer gemeinsamen Außengrenze<br />

Ausgrenzungsmuster neu konfiguriert. Dies geht einher<br />

mit Versuchen, eine europäische Vergangenheit zu<br />

konstruieren, in der der Nationalsozialismus und insbesondere<br />

Auschwitz als vager Begriff des Schreckens<br />

als negativer Gründungsmythos diskutiert wird.<br />

Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden wird in solcher<br />

Vagheit zu einer europäischen Erzählung, die<br />

ganz Europa – inklusive Deutschland – als Opfer der<br />

unkonkret bleibenden National sozialisten deutet und<br />

so zum Identifikationsangebot. Das absolut Sinnlose<br />

des industriellen Massenmordes wird zum sinnstiftenden<br />

Ereignis einer europäischen Identität wie auch der<br />

nationalen Identität der Deutschen, so dass vor diesem<br />

Hintergrund mit den europäischen Werten gegenwärtige<br />

Gewalt legitimiert werden kann.<br />

D<br />

ies zeigt sich insbesondere vor dem Hintergrund der<br />

Fragmentierung innerhalb der EU in der Krise und der<br />

damit einhergehenden Autoritarisierung der Politik,<br />

die darin besteht, Entscheidungen auf die Exekutive zu<br />

verschieben, demokratische Verfahren zu unterminieren<br />

oder gleich technokratische »Expertenregierungen« in<br />

Krisenländern einzusetzen, die gewaltsam die nicht zuletzt<br />

von Deutschland forcierte Austeritätspolitik durchsetzen.<br />

Diese autoritäre Form wird begleitet von der<br />

Konstruktion des »Anderen«, die einerseits an den<br />

Grenzen Europas ganz materiell jeden Tag unzählige<br />

Tote fordert, andererseits nach innen diskursiv die Rationalisierung<br />

solcher rassistischer (institutioneller) Gewalt<br />

darstellt. Hierin verschmilzt die europäische Ebene mit<br />

der nationalen bzw. konstruiert sich das Nationale durch<br />

das Europäische hindurch. In Deutschland konnte diese<br />

Konstruktion am Beispiel der Sarrazin-Debatte betrachtet<br />

werden. Sarrazin erhielt viel Unterstützung für biologistisch-rassistische<br />

Äußerungen über Migrant Innen,<br />

insbesondere muslimische, die aufgrund von »genetischen<br />

Belastungen« kein besonderes intellektuelles Potenzial<br />

hätten (FAZ 26.08.2010). Dies verknüpfte er mit einer<br />

Einteilung der Gesellschaft in produktive und unproduktive<br />

Mitglieder und ging so weit, dass der unproduktive<br />

Teil – die als genetisch minderwertig begriffenen<br />

MigrantInnen – sich »auswachsen« müsse (lettre international<br />

09). Das Amalgam alter rassistischer Motive mit<br />

der Vorstellung eines produktiven Volkskörpers wiederholte<br />

sich in der Debatte um die Krise in Griechenland,<br />

die im Kern darin bestand, das Bild des »faulen Südländers«<br />

in Form »des Griechen« zu aktualisieren. Auch hier<br />

wurde das Andere durch den Leistungsfetischismus hindurch<br />

als unproduktiv konstruiert.<br />

Jenseits des Zwangs zur Identität<br />

D<br />

ie Forderung nach »innerer Vereinheitlichung« ist daher<br />

als Aufforderung zu verstehen, sich selbst zu<br />

produktivieren und sich dem Diktat des scheinbaren<br />

Sachzwanges zu unterwerfen. Darin inhäriert ist die gewaltsame<br />

Konstruktion des »Anderen«, die ebenfalls<br />

gewaltsame Festschreibung der Ungleichheit. Die Erzählung<br />

von den europäischen Werten dient dabei zur<br />

Legitimation autoritärer Politiken Europas, die offensichtlich<br />

jenseits des Proklamierten liegen. Kollektive<br />

Identität unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen<br />

bedeutet daher eben keinen Fortschritt im Sinne der<br />

Freiheit, sondern fortschreitende Irrationalität. Es ginge<br />

aber vielmehr darum, eine Welt einzurichten, in der Differenz<br />

gewaltlos gelebt werden kann, ohne den Zwang zur<br />

Identität. Es ginge um eine Welt, in der man, wie Adorno<br />

einmal bemerkte, »ohne Angst verschieden sein« kann.


2013/14<br />

E T H I K G E M E I N S C H A F T R E G E L N<br />

25<br />

Der Philosoph Jörg Splett hält die Religion<br />

in unserer Gesellschaft für lebenswichtig.<br />

Nicht, um ethisch korrekt zu handeln,<br />

sondern um die Menschenwürde bis ins Letzte<br />

verteidigen zu können. Dostojewskis »Idiot«<br />

beschreibt eine Gemeinschaft von Egoisten als<br />

die Ursache allen Übels. Was hingegen einer<br />

Gemeinschaft freier Menschen vor allem Not<br />

tue – so Splett –, sei GewiS SenS treue und<br />

unbe Dingter Respekt vor dem Anderen. Bis zu<br />

seiner Emeritierung lehrte Jörg Splett Philosophische<br />

Anthropologie und Religionsphilosophie<br />

an der Philosophisch- theo logischen<br />

Hochschule Sankt Georgen, <strong>Frankfurt</strong> am Main.


26<br />

E T H I K E T H I K<br />

27<br />

G E M E I N S C H A F T R E G E L N<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T R E G E L N<br />

Über<br />

Welche Rolle spielt Religion für das Menschsein?<br />

Jörg Splett: Zunächst: Es gibt keine anerkannte Definition<br />

von »Religion«. Je umfassender ein Begriff ist, desto<br />

leerer wird er. Je mehr er bezeichnet, desto weniger bedeutet<br />

er. Will man nichts ausschließen, was »religiös«<br />

heißen könnte, wird eine »Hochreligion« sich darin kaum<br />

noch wiederfinden. Wählt man anderseits eine religiöse<br />

Hochform, stellt sich die Frage, welche, und ob dann<br />

nicht zu viel ausfalle.<br />

Als Katholik entscheide ich mich für die Bestimmung<br />

des Thomas von Aquin, die lautet »Ordo ad Deum« und<br />

definiert sich über den Gottesbezug. Dabei meint<br />

»Gott« – ohne Artikel – ein personales Absolut-Wesen,<br />

Schöpfer der Welt, am besten wohl durch Anselm von<br />

Canterbury bestimmt als jene Wirklichkeit, über die<br />

hinaus sich nichts Größeres denken lässt. Das ist nicht<br />

dasselbe wie »das Höchstdenkbare«, es übersteigt<br />

vielmehr unser Begreifen: Es meint ein heiliges Geheimnis,<br />

das mitnichten »unter unserem Niveau« als<br />

Bewusstseins- und Freiheits-Wesen sein kann – also<br />

bloße Masse, Energie oder Gesetzlichkeit. Dabei sind<br />

nicht bloß es selbst und unser Begriff von ihm zu unterscheiden,<br />

sondern auch dieser Begriff und unsere damit<br />

verknüpften bildhaften Vorstellungen.<br />

Von dorther nun meine Antwort: Den Menschen charakterisiert,<br />

dass er von den Dingen und Bedingungen<br />

seiner Umwelt aus auf »das Ganze« hin fragt, nach seinem<br />

Sein und Sinn, seinem Woher und Wozu. Das<br />

muss ihn jedoch nicht zur Religion führen. Er kann sich<br />

für Skepsis und Agnostizismus entscheiden. Er mag<br />

die Überzeugung gewinnen, dass man sich um den/die<br />

Menschen kümmern sollte, statt um ein uns entzogenes<br />

Absolutes. Es mag ihn bis dahin führen, Religion<br />

als lebenswidrige Fehlhaltung zu betrachten, auch wo<br />

Religionund<br />

Gemeinschaft<br />

Ein Gespräch mit dem <strong>Frankfurt</strong>er<br />

Religionsphilosophen Jörg Splett<br />

sie nicht bewusst zur Unterdrückung missbraucht wird.<br />

Im Übrigen lässt sich alles missbrauchen – selbst<br />

Humanismen. An einer solchen Haltung stört mich,<br />

dass sie meist »Religionskritik« heißt – als wären religiöse<br />

Geister unkritisch. Schließlich geht es Kunst- und<br />

Filmkritikern ja auch nicht um die Abschaffung von<br />

Kunst und Kino.<br />

Wir leben in einem säkularisierten Rechtsstaat. Ist<br />

Religion Privatsache oder gehört sie in den öffentlichen<br />

Raum und wenn ja, inwiefern?<br />

Religionsfreiheit ist zwar als Menschenrecht zunächst<br />

ein Recht von Personen. Diese aber haben zugleich das<br />

Recht, ihrer Überzeugung auch in Zusammenschlüssen<br />

und öffentlich Ausdruck zu geben. Und wenn der<br />

Mensch ein Gemeinwesen ist, warum sollte Religion auf<br />

das Privat-Intime beschränkt werden? Die nähere Ausgestaltung<br />

ist dann Sache des Rechts in den verschiedenen<br />

Gesellschaften. Denken Sie an Prozesse über<br />

frühes Glockenläuten, Auseinandersetzungen über die<br />

Anzahl religiöser Feiertage oder grundsätzlich an das<br />

unterschiedliche Verhältnis der Religionsgemeinschaften<br />

zum Staat in den USA, dem laizistischen Frankreich<br />

und hierzulande.<br />

Dostojewski schreibt »Ohne Gott ist alles erlaubt« –<br />

ist eine Ethik, die nicht in der Religion verankert ist,<br />

keine? Braucht es Religion, um ethisch zu sein?<br />

So sehr ich Dostojewski achte und liebe: Widerspruch!<br />

Ich bin nicht bereit, Agnostiker und Atheisten aus ihrer<br />

Gewissenspflicht zu entlassen. Der »kategorische Imperativ«<br />

von Kant – »Handle nach Grundsätzen, die Allgemeingesetz<br />

werden könnten!« – oder die »goldene<br />

Regel« – »Was du nicht willst, dass man dir tu …« (in der<br />

Bibel positiv formuliert: »Alles, was ihr von anderen erwartet,<br />

…«) – sind nicht religiös. Es geht um ethisch-sittliche<br />

Erfahrung. Sie leuchtet einfach hinein und begründet<br />

sich selbst. Seit Platon wird sie darum als »Licht«­<br />

Erfahrung beschrieben. Die Frage »Why to be moral?«<br />

verdient eigentlich nur die Antwort: »So fragt kein anständiger<br />

Mensch.« Denn wer das sittlich Richtige nur<br />

täte, weil es ihm Vorteile bringt oder das Nichttun Nachteile,<br />

handelt bloß »legal« – und wird es lassen, sobald<br />

niemand herschaut.<br />

Taugen die zehn Gebote als Grundlage für eine moderne,<br />

normative Ethik?<br />

Durchaus, wenn man sie aus ihrem konkreten »Sitz im<br />

Leben« jener alten fremden Kultur ins Grundsätzliche<br />

»übersetzt«; doch ebenso die sieben Noachidischen<br />

Gebote oder anderes.<br />

Sind die zehn Gebote eine bessere Entscheidungshilfe als<br />

das eigene Gefühl für richtiges und falsches Handeln,<br />

weltliche Gesetze, Philosophie?<br />

Als das eigene Gefühl: gewiss. Neid, Eifersucht, Rachsucht<br />

werden zu verzerrten Entscheidungen führen. Als<br />

Gesetze: unter Umständen. Die Nürnberger Rassengesetze,<br />

mit welchen die Nazis ihre antisemitische Ideologie<br />

institutionalisierten, dürften ein gutes Gegenbeispiel<br />

sein. »Philosophie« aber bitte ich Sie, durch »die Philosophen«<br />

zu ersetzen – womit die Antwort sich von<br />

selbst ergibt.<br />

Braucht es die Religion bzw. die Verpflichtung auf eine<br />

absolute letzte Instanz deswegen, weil sich sonst solche<br />

ethischen Richtlinien wie die zehn Gebote relativieren<br />

lassen und unbrauchbar werden als Entscheidungshilfen?<br />

Zum Beispiel die Diskussion um die Sterbehilfe. Die Befürworter<br />

halten ein Verbot der Sterbehilfe für inhuman.<br />

Wäre dann nicht auch das Gebot »Du sollst nicht töten«<br />

als inhuman zu bezeichnen?<br />

Es »braucht« die Religion nicht, um die Ethik zu begründen.<br />

Ich würde umgekehrt aus der »Selbst-Verständlichkeit«<br />

und inneren Autorität des kategorischen Imperativs<br />

sogar ein Gottesargument machen. Mit Kant also statt von<br />

der Religion zur Ethik von der Ethik zur Religion gehen.<br />

Was die Diskussion um die Sterbehilfe betrifft, so kann<br />

ich als Katholik auf das zweite Vatikanische Konzil verweisen.<br />

Nach »Gaudium et Spes« können Christen besten<br />

Wissens und Gewissens in wesentlichen Dingen zu<br />

verschiedenen Ansichten kommen, ohne dass man einen<br />

Gewissensirrtum annehmen müsste. Und gerade zum<br />

Suizid muss man fairerweise sagen, dass aus der Bibel<br />

nicht so deutlich hervorgeht, dass er stets verboten sei.<br />

Die Philosophen waren ohnehin uneinig. Die Stoa, die ja<br />

erheblich auf die christliche Ethik eingewirkt hat, bestand<br />

auf der Freiheit zum Tod; Plato erklärte: »Wo die Götter<br />

uns hinstellen, dürfen wir nicht weglaufen.« Und sein<br />

größter Schüler Aristoteles vertrat: »Ich gehöre nicht nur<br />

mir selbst, sondern auch meiner Gemeinschaft.« Diese<br />

Sicht hat sich dann auch im Christentum durchgesetzt.<br />

Doch liest man heute auch in katholischen Werken, es<br />

gebe zwar kein Recht auf Selbsttötung, es sei aber auch<br />

nicht einfach klar, dass sie sich verbiete. Gott ist der Herr<br />

über Leben und Tod? Ja. Aber auch über Gesundheit<br />

und Krankheit – und den Arzt darf man rufen.<br />

Auf der anderen Seite: Wenn ich mich selbst in einer<br />

bestimmten Situation töten darf, dann gilt das, ethisch<br />

gedacht, für jeden. Wer nun in eine Situation kommt,<br />

beispielsweise sehr krank zu sein, wird sich von anderen<br />

Leuten fragen lassen müssen: Warum hängst du so<br />

am Leben und gehst uns auf das Gemüt und den Geldbeutel?<br />

Ich aber darf keinen Menschen in die Situation<br />

bringen, sein Leben rechtfertigen zu müssen. Das kann<br />

nämlich keiner. Niemand kann behaupten, gar beweisen,<br />

dass die Welt durch sein Dasein besser dran sei.<br />

Gewahrt bleibt seine Würde nur, wenn er statt »Ich will<br />

nicht« sagen kann: »Ich darf nicht.«<br />

In Amerika, einem den christlichen Werten verpflichteten<br />

Land, kann zum Beispiel das Gebot »Du sollst nicht<br />

töten« selber töten, wenn ein Mörder der Todesstrafe<br />

zugeführt wird. All das sorgt doch eher für eine Desorientierung<br />

als für eine Orientierung bei zu treffen Den<br />

Entscheidungen ...<br />

Was die Todesstrafe betrifft, so müsste man bei dem<br />

Gebot »Du sollst nicht töten« das hebräische »razach«<br />

korrekt übersetzen: als »eigenmächtig totschlagen«, »morden«<br />

wäre zu eng. Das Töten durch Soldaten oder Scharfrichter<br />

ist damit nicht gemeint, dafür gibt es eigene Wörter.<br />

Die »Todesstrafe« ist heute, außer-religiös, nur als Hilfsnotwehr<br />

begründbar. Aus Rom kommt dazu das oft irritierende<br />

Doppel-Wort: Grundsätzlich ist sie als äußerstes<br />

Mittel des Staates erlaubt. Die USA-Praxis aber ist ungerechtfertigt;<br />

denn keiner der Staaten versänke ohne<br />

sie im Chaos.<br />

Brauchen wir Religion zur Organisation von Gemeinschaft?<br />

Nein. Nach Immanuel Kant müsste sogar ein Staat von<br />

Teufeln funktionieren. Zur Frage der Funktion aber<br />

grundsätzlich: Für viele trifft sie den Haupt- und Kernpunkt,<br />

gerade im Blick auf Religion, und dies bei Außenstehenden<br />

wie Kirchenangehörigen. Klassisch aber<br />

gehört Religion ins ethische Feld: Wenn Gott ist/lebt,<br />

dann gebührt ihm Respekt. Schon Menschen sollten<br />

wir nicht bloß ihrer Brauchbarkeit wegen schonend behandeln,<br />

sondern sollen sie ob ihrer Würde achten.<br />

Dass Religion nicht mehr die frühere Macht hat, finde<br />

ich gut; ist doch Macht zwar nicht böse, aber eine<br />

mächtige Versuchung, besonders geistliche Macht.<br />

Um der Wahrheit wie der Menschen willen wünschte<br />

ich ihr gleichwohl mehr an Stimme und Gehör. Was<br />

uns vor allem Not tut, ist Gewissenstreue. Welche<br />

»Theorie« nun – ob in Außen- oder Innensicht – erklärt<br />

das Gewissen samt seinem Anspruch auf unbedingten<br />

Respekt? Evolution, Sozialisation sowie kluges Selbstinteresse<br />

allein begründen diesen Anspruch – nicht<br />

bloß beim Kriegsdienstverweigerer – nicht! Außer dass<br />

ich dem kategorischen Imperativ einfach zu folgen<br />

habe, will ich als Philosoph fragen: Wo kommt das her,<br />

dass ein bedingt begrenzter Mensch hier derart unbedingt<br />

verpflichtet wird? Das ist für mich der Zugang zur<br />

Religion. Denn wenn ich der ethischen Erfahrung nicht<br />

nur folgen, sondern sie auch verstehen will, dann ist<br />

die einzige Erklärung die religiös-theistische. Kant<br />

meint, ohne Hoffnung auf ein Wesen, das das Gute<br />

auch durchsetzt, sei der Mensch nicht fähig, dem Imperativ<br />

zu folgen. Das ist für mich zu spät. Schon um zu<br />

verstehen, woher dieses so einsichtige wie unbedingte<br />

»Du sollst« mich trifft, komme ich nicht ohne eine absolute<br />

Wirklichkeit personalen Ranges aus. So heißt für<br />

mich der philosophische Name für Gott (statt »causa<br />

sui«) »Woher des Unbedingt-Gut-Sein-Sollens«. Wobei<br />

dieses Sollen, so unangenehm es sein mag, ein Geschenk<br />

ist. Gründet in diesem Anspruch doch unsere<br />

Würde als Mensch. Denn was wären wir ohne Gewissen?<br />

Ein Tier auf zwei Beinen. Emanuel Levinas sagt<br />

dazu: »Er überhäuft mich nicht mit Gütern, sondern<br />

drängt mich zur Güte, besser als alle Güter, die wir<br />

erhalten können.«<br />

Brauchen wir einen Gottesbezug in unserer Verfassung?<br />

Reicht für eine Ethik nicht die Forderung »Die Würde des<br />

Menschen ist unantastbar«?<br />

Der Würde-Begriff »Person« hat seinen Rang historisch<br />

erst durch christologische Diskussionen gewonnen.<br />

Natürlich gab es schon in der Stoa Ansätze. Aber<br />

wie ein so begrenztes und bedingtes Wesen wie der<br />

Mensch unbedingten Respekt fordern können soll,<br />

nicht bloß als Subjekt mit Vernunft und Willen, sondern<br />

als Person mit Letztwert, wofür Kant dann zum<br />

Begriff der Würde greift, das kann ich eigentlich nur<br />

aus diesem unbedingten Gewollt-Sein von Gott her<br />

Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere<br />

glaubt so sehr, dass er noch beim Morden betet.<br />

Der Idiot von Fjodor Dostojewski Premiere November 2013<br />

begründen. Und wenn dieser Bezug wegfällt, ist auch<br />

zu erwarten, dass der Begriff der Person sich auflöst.<br />

Und sind wir dazu heute nicht schon, »nachchristlich«,<br />

auf dem Wege? Die Mehrheit interpretiert »Person« ja<br />

bereits von John Locke und David Hume her: Eine<br />

Person ist nur, wer weiß, dass er eine Person ist. Das<br />

aber würde altersdemente, komatöse, schwerstbehinderte<br />

oder ungeborene Menschen ausschließen. Der<br />

britische Philosoph Derek Parfit schließt ja sogar<br />

schlafende Menschen aus. Er hält es für reine Konvention,<br />

dass wir Schlafende nicht umbringen, da wir<br />

in der Regel beim Einschlafen den Wunsch haben,<br />

wieder aufzuwachen. Aber an sich ist der Mensch<br />

nach dieser Auffassung ohne Bewusstsein zwar biologisch<br />

ein Mensch, doch noch kein personales Würdewesen<br />

– oder keines mehr. Gegen dieses Argument<br />

und die Trennung zwischen »Mensch« und »Person« –<br />

ich sage darum lieber mit Robert Spaemann: »Jemand«<br />

– tut man sich ohne Religionsbezug enorm<br />

schwer. Und gerade wenn ich über die Menschenwürde<br />

von Schwerstbehinderten zu sprechen habe,<br />

komme ich eigentlich nicht umhin, von der Schöpfung<br />

zu sprechen, und damit vom Gewollt-Sein jedes einzelnen<br />

Menschen.<br />

Denkt man im Sinne einer Weltgemeinschaft oder einer<br />

multireligiösen Stadtgemeinschaft, ist dann nicht<br />

Religion ein Hindernis, das einer solchen Gemeinschaft<br />

im Wege steht? Ist Religion, gerade weil sie den Menschen<br />

auf eine absolute letzte Instanz bezieht, in ihren<br />

unterschiedlichen Ausformungen nicht ein Problem,<br />

das Gemeinschaften spaltet, weil der Glaube nicht<br />

verhandelbar ist?<br />

Unbestreitbar steckt hier Konfliktpotenzial. Doch abgesehen<br />

davon, dass die Unterdrückung von Religion<br />

die Menschen kaum friedlicher machen dürfte, sind die<br />

eigentlichen Konfliktherde wohl nicht eben religiöser,<br />

sondern wirtschaftlicher und machtpolitischer Natur.<br />

Instrumentalisiert wird dabei Religion allerdings nach<br />

wie vor.<br />

Würden Sie gegenwärtig eher eine Tendenz hin oder weg<br />

von der Religion feststellen?<br />

Friedrich Nietzsche schreibt, er beobachte, dass der<br />

Sinn für Religion wachse; doch in Absage an Gott. Das<br />

scheint mir auch heute zu gelten. Denken Sie an die<br />

Inflation von »Spiritualität«.<br />

Welche Auswirkungen hat das auf unser Zusammenleben?<br />

Ich erlaube mir zu sagen: Zunahme an hektischem »pursuit<br />

of happiness«, man ist besorgt, zu kurz zu kommen,<br />

weil sich alle Erwartung auf das Hiesige sammelt.<br />

Menschliches Miteinander indes bedarf der Selbstrücknahme,<br />

vor allem der Vergebung.<br />

Erfordert Religion Demut?<br />

Ja, wie Menschsein und Menschlichkeit überhaupt.<br />

Du sollst neben mir keine<br />

anderen Götter haben!<br />

Dekalog – Die zehn Gebote von Kies´ lowski/<br />

Piesiewicz Premiere Dezember 2013


28<br />

K R I E G K R I E G<br />

29<br />

G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />

Viele Deutsche haben im Zweiten Weltkrieg<br />

trau matische Erfahrungen gemacht. Der<br />

Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder<br />

der Adenauer -Ära bestätigten sie darin, dass<br />

der Blick in die Zukunft mehr Erfolg verspricht<br />

als die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.<br />

Die Traumata und die mit dem VerdrängungSprozess<br />

einhergehenden Sublimierungsstrategien<br />

haben aber ihre tiefen Spuren hinterlassen –<br />

auch bei den Kindern und Kindeskindern. Jürgen<br />

Kruses Inszenierung von »Draussen vor der Tür«<br />

versinnbildlicht diesen Zustand aufs Deutlichste.<br />

Elmar Brähler ist emeritierter Professor und Leiter<br />

der Abteilung für Medizi nische Psychologie und<br />

Medizinische Soziologie der Universität Leipzig.<br />

Mit seiner Koautorin Maggie Thieme publiziert er<br />

u. a. zur Posttraumatischen Belastungsstörung.<br />

Kriegs<br />

I<br />

n Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« kann der<br />

ehemalige Wehrmachtsangehörige Beckmann den<br />

Sinn des Lebens nicht mehr finden, kann sich nicht<br />

integrieren, kann seine Verantwortung nicht zurückgeben,<br />

kann sich nicht entnazifizieren, kann<br />

nicht mehr lieben und kann nicht sterben. Beckmann<br />

bleibt gefangen zwischen Baum und Borke. Der Spätheimkehrer<br />

bleibt vor der Tür. Die Gemeinschaft, die<br />

sich hinter der Tür aus alten Beständen neu formt, will<br />

ihre Ex-Soldaten nicht mehr. Will keine Trauer, will keinen<br />

Schmerz. Will ein Wunder. Und das Wunder, das<br />

Wirtschaftswunder kommt und vertreibt Kummer und<br />

Zerstörung.<br />

D<br />

och nicht ganz. Der Teppich, unter den die Nachkriegszeit<br />

allzu schnell gekehrt wurde, weist Unebenheiten<br />

auf. Man stolpert über Fragen. Warum war<br />

der Zweite Weltkrieg für einige das Wahnsinnsabenteuer,<br />

für andere das Signal zum Schweigen? Warum sprachen<br />

nur die Ewiggestrigen über Gräuel und Elend des<br />

Erlebten? Warum schwieg die Mehrheit? Warum war<br />

da kein Raum für Trauer und Diskussionen?<br />

S<br />

icher hat jeder den Krieg und seine Folgen anders<br />

erlebt und verarbeitet. Danach befragt, berichtet<br />

dennoch die Hälfte der heute noch Lebenden der<br />

deutschen Kriegsgeneration von traumatischen Erfahrungen.<br />

Darüber sprach man nicht, stattdessen tat man<br />

sich mit Heldentaten groß oder verstummte. Doch<br />

schnell schrumpfte die Heldenrolle. Vor der Familie und<br />

der Gesellschaft kam es zu einer Abspaltung. Die<br />

Kriegsgeneration blieb mit dem Erlebten vor der Tür.<br />

Scham, Schuld, Verdrängung der nationalsozialistischen<br />

heim<br />

nur die direkt betroffene Kriegsgeneration litt<br />

unter den Folgen der Traumatisierung. Wie man<br />

heute weiß, hatten die Leidens- und Verdrängungs­<br />

Kinder Kriegsenkel<br />

kriegs<br />

Maggie Thieme und Elmar Brähler<br />

kehrer<br />

Gedanken und Taten verhinderten eine öffentliche Auseinandersetzung.<br />

Erst in den letzten Jahren unter der Anerkennung<br />

der Unvergleichlichkeit des Holo causts öffnen<br />

sich langsam lange verschlossene Türen. Die Tragweite<br />

des damals Erlebten zeigt sich noch heute, fast 70 Jahre<br />

nach Kriegsende, in psychischen und körperlichen Erkrankungen<br />

der Betroffenen.<br />

D<br />

ie Belastungen der Kriegsereignisse mit ihrem traumatisierenden<br />

Potenzial waren multiple. Kriegshandlungen<br />

und Vergewaltigungen, Bombardierung,<br />

Evakuierung, Tod und Trennung von Familienangehörigen,<br />

Flucht und Verlust der Existenzgrundlage wirkten<br />

oft gemeinsam. Jahre später sorgten sie bei vielen<br />

Menschen für eine verminderte gesundheitsbezogene<br />

Lebensqualität, Angstattacken, Einschränkungen der<br />

phy sischen Gesundheit und der Alltagsbewältigung,<br />

mentale Müdigkeit, psychische Probleme wie depressive<br />

Stimmungen, Symptome sozialer Phobie oder gesteigertem<br />

Misstrauen bis hin zur Posttraumatischen<br />

Belastungsstörung (PTBS).<br />

O<br />

ft treten diese psychischen und psychosomatischen<br />

Symptome erst im hohen Alter auf. Während eine multiple<br />

Traumatisierung die Entwicklung einer Traumafolgestörung<br />

erhöht, verstärken sich die vorhandenen<br />

Symp tome oft über die Jahre. Dazu kommen die Auswirkungen<br />

des Alters. Die Anforderungen von außen nehmen<br />

ab und werfen den Menschen auf sich selbst zurück.<br />

Das Gefühl des Ausgeliefertseins im Alter kann an ein früheres<br />

Ausgeliefertsein erinnern, ebenso wie ein im Alter<br />

erlebter Verlust eine mögliche Reaktivierung traumatischer<br />

Inhalte auslösen kann. Vielleicht spüren manche<br />

Ältere auch einen unbewussten Druck, sich dem Unbewältigten<br />

stellen zu müssen oder zu wollen.<br />

E<br />

s kann ein Fernsehfilm wie »Die Flucht«, ein aktueller<br />

Einschnitt wie der Verlust des Ehepartners oder der<br />

Umzug ins Altenheim oder der Kontrollverlust in der<br />

Demenz sein, der zu einer Re-Traumatisierung führt. Die<br />

Auswirkungen auf Lebensqualität und Befindlichkeit sind<br />

hoch, Ängste werden häufig begleitet von Depressionen<br />

und Suchterkrankungen. Das traumatische Ereignis<br />

überschattet so oft andere, positive Erinnerungen und<br />

verhindert eine ausgeglichene Lebensbilanz.<br />

A<br />

ber auch der Einfluss traumatischer Erfahrungen auf<br />

das Auftreten körperlicher Erkrankungen ist nicht zu<br />

leugnen. Nur wenige Betroffene sehen einen Zusammenhang<br />

mit ihren traumatischen Erlebnissen oder<br />

verschweigen ihn aus Schuld oder Scham.<br />

D<br />

ie Forschung zu den Kriegsfolgen hat erst Jahrzehnte<br />

nach Kriegsende begonnen, doch alle Studien<br />

zeigen, dass die Erlebnisse nicht verarbeitet wurden.<br />

So gaben die meisten der während und nach dem<br />

Krieg vergewaltigten Frauen in einer Befragung an, dass<br />

sie die Geschehnisse verdrängten. Erst als zweite Strategie<br />

wurde das darüber Sprechen und nur von wenigen<br />

wurde ein dritter Weg, eine aktive Form der Aufarbeitung,<br />

z. B. eine Psychotherapie oder das Niederschreiben<br />

der Ereignisse, gewählt.<br />

N<br />

icht


30<br />

K R I E G G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />

spielzeit<br />

Werden Sie erstmal wieder ein Mensch!<br />

DrauSSen vor der Tür von Wolfgang Borchert Premiere September 2013<br />

Ich Unglücklicher mich lagernd, aufgerieben stets von<br />

Plagen, in der schlimmen Erwartung, dass ich doch<br />

noch hinunter muss zu dem grausigen, unsichtbaren Hades.<br />

Ajax von Sophokles Premiere Dezember 2013<br />

prozesse dieser Zeit auch auf die nachfolgenden Generationen<br />

Auswirkungen.<br />

Zunächst einmal waren es die Kriegs- und Nachkriegskinder,<br />

die von den generationsübergreifenden<br />

Einflüssen geprägt wurden. Kinder, die im Krieg geboren<br />

wurden, Kinder, die durch Vergewaltigung gezeugt<br />

wurden oder deren Väter Besatzungssoldaten waren.<br />

Die Lebensbedingungen dieser Kinder beeinträchtigten<br />

ihr Verhalten und ihre Lebensqualität außerordentlich.<br />

Eine große Rolle spielten die durch traumatische Störungen<br />

belasteten Eltern oder überforderten alleinerziehenden<br />

Mütter, aber auch ökonomische Not, Ausgrenzung<br />

und Diskriminierung.<br />

D<br />

ie belastenden Erfahrungen der Kriegskindergeneration<br />

waren fast immer von extrem ungünstigen<br />

Kontextfaktoren begleitet. Diese kumulativen Traumatisierungen<br />

führten einerseits zu einer starken Ambivalenz<br />

aufgrund einer unauflösbaren Doppelwertigkeit<br />

von Erfahrungen und Handlungsanforderungen, aber<br />

oft auch zu einer Überangepasstheit. So verweisen biografische<br />

Berichte und psychotherapeutische Fallstudien<br />

auf ein charakteristisches Autonomiestreben der Kriegskinder,<br />

verbunden mit der Sehnsucht nach einer heilen<br />

Welt. Das Bedürfnis, stets sparsam und bescheiden zu<br />

sein, wie auch allzeit zu funktionieren, führte zu einem<br />

Idealbild, das einen freundlichen und angepassten<br />

Menschen zeigt. Ein Selbstbild, das als psychische Abwehr<br />

gedeutet werden kann, das, indem es Trauer, Scham,<br />

Wut und Enttäuschung über die eigenen Eltern unterdrückt,<br />

zu einer »übernormalen Normalität« führen kann.<br />

Auch der Einfluss von Eltern, die nationalsozialistische<br />

Täter waren, führte zu einer schwierigen Identitätsfindung<br />

der Nachkommen. Tabuisierung und Loyalitätskonflikte<br />

waren die Regel.<br />

D<br />

er<br />

transgenerationale Einfluss der Traumatisierung<br />

zeigt sich bis in die Enkelgeneration. Denn diese erlebte<br />

oft Eltern, die mit den emotionalen und psychischen<br />

Problemen ihrer Kinder nicht umgehen konnten, da sie<br />

ihrerseits keine positiven Erfahrungen machen konnten.<br />

O<br />

bwohl die Übertragungswege und -inhalte der Beeinflussung<br />

durch Traumatisierung und ihre Verdrängung<br />

auf die nachfolgenden Generationen noch<br />

nicht vollständig geklärt sind, sind sie unbestritten.<br />

Ablesbar ist dieses Phänomen auch an der erhöhten<br />

Empfänglichkeit für psychische Erkrankungen und einer<br />

herabgesetzten Stress- und Krisenbewältigung der Nachfolgegenerationen.<br />

D<br />

er ungebrochene Aufbruchswille der Nachkriegsjahre,<br />

der die Verdrängung und Tabuisierung von<br />

Leid und Schmerz der Kriegszeit überdeckte, hat<br />

Spuren bei den nachfolgenden Generationen hinterlassen.<br />

Viele Lebensgeschichten sind nur vor dem Hintergrund<br />

des Krieges verständlich. Ob es sich um die in<br />

Politik oder Wirtschaft erfolgreichen Söhne handelt, die<br />

ihre im Krieg verlorenen Väter besonders gut ersetzen<br />

wollen oder diejenigen, die als Ersatzhandlung für ihr<br />

Erstarrtsein in Konsumismus verfielen. Vielen ermöglichte<br />

die Verdrängung des Erlebten Bilderbuchkarrieren<br />

in den Aufbaujahren des bundesdeutschen Wirtschaftswunders<br />

oder beim Aufbau des Sozialismus in der DDR.<br />

Der Aufbau als ideale Bewältigungsstrategie zur Vermeidung<br />

von Trauer und Verlustgefühlen.<br />

A<br />

uch die anhaltende Verbreitung von rechtsextremem<br />

Gedankengut kann unter anderem dem Phänomen<br />

des Wirtschaftswunders in Westdeutschland zugeschrieben<br />

werden. Der sich in den 50ern rasch verbreitende<br />

Wohlstand in der BRD habe Scham und Schuld<br />

verdrängt und wie in Form einer »narzisstischen Plombe«<br />

die Vergangenheit zugeschlossen. Auf das gleiche<br />

Phänomen wurde auch nach der Wende gehofft. Als es<br />

ausblieb, reagierten die Ostdeutschen mit Politikverdrossenheit.<br />

»Immer wenn der Wohlstand als Plombe<br />

bröckelt, steigen aus dem Hohlraum wieder antidemokratische<br />

Traditionen auf.« (Decker, 2008)<br />

Was können die Nachgeborenen tun, um das Schweigen<br />

zu brechen? Vielleicht sollte man die Menschen,<br />

die sich ein Leben lang gegen eine Auseinandersetzung<br />

mit der Vergangenheit gesträubt haben, nicht<br />

dazu zwingen. Vielleicht aber ist die Auseinandersetzung<br />

auf anderen Ebenen hilfreich.<br />

W<br />

ie man im Rückblick an der Heterogenität der<br />

zeitgenössischen Rezeptionen des <strong>Schauspiel</strong>s<br />

»Draußen vor der Tür« sehen kann, so erkannte<br />

man in dem Porträt des Kriegsheimkehrers wahlweise<br />

eine humanistische, eine expressionistische oder psychoanalytische<br />

Annäherung an das Thema. Beckmann<br />

war der Antiheld, das Opfer, Jedermann und der, der<br />

sich reinwaschen wollte. Letztlich einer für alle. Eine<br />

Provokation. Der Anstoß für eine Auseinandersetzung,<br />

die manche vielleicht gern vor der Tür gelassen<br />

hätten.<br />

O<br />

b es sinnvoll ist, der <strong>Schauspiel</strong>rezeption auch eine<br />

psychosoziale Ebene hinzuzufügen, sei dahingestellt.<br />

In der Nachkriegszeit hätte man Beckmann nicht als<br />

möglichen Traumatisierten gesehen. Mit Schuld behaftet,<br />

aber eben auch traumatisiert – so weit war man<br />

noch nicht. Aber man erkannte ebenso wenig die Fortsetzung<br />

einer Gesellschaft, die sich erneut über den<br />

Ausschluss einiger ihrer Mitglieder definierte.<br />

D<br />

as Theater als Spiegel und Platz direkter Auseinandersetzung<br />

mit gesellschaftlichen Phänomenen verbessert<br />

die Menschen moralisch nicht, aber es lüftet<br />

den Teppich und macht Türen auf, die andere nicht öffnen<br />

wollen oder können. Fragen können gestellt werden,<br />

Begrifflichkeiten neu definiert. Wollen wir beispielsweise<br />

immer noch, wie Patti Smith es sang, »Out side of<br />

Society« sein oder, wie der Bürgermeister von Riace in<br />

Kalabrien, Flüchtlinge in unserem Dorf willkommen<br />

heißen? Was wollen wir von und in einer Gemeinschaft?<br />

Vielleicht hätte Kafka auch notieren können: Im Theater<br />

gewesen. Nachgedacht.


2013/14<br />

K R I E G G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />

33<br />

W<br />

ir leben in einer postheroischen Gesellschaft, der<br />

Blick auf den Soldaten hat sich verändert. Zudem<br />

ist die Öffentlichkeit weit weg vom Krieg, schlecht<br />

informiert oder durch Fehlhandlungen in der Armee<br />

scho ckiert. Soldaten definieren sich als Repräsentanten<br />

einer staatsbürgeR lichen Gemeinschaft, deren Werte<br />

sie schützen und verteidigen. Doch was ist, wenn besagte<br />

Gemeinschaft davon nichts hält? Was ist, wenn so -<br />

wohl Politik als auch Gesellschaft uneins sind über den<br />

eigentlichen militärischen Auftrag und der Begriff<br />

vom »humani tären Auslandseinsatz« fragwürdig wird?<br />

Karl-Heinz Biesold , emeritierter leitender Arzt der Abteilung<br />

Neuro logie, Psy chiatrie und Psychotherapie am Bun DeSwehR<br />

KRAnken haus in Hamburg, behandelte regelmäSSig<br />

Soldaten, die nach einem Einsatz an einer PosttraumAtischen<br />

BelAS tungS Störung leiden und hat selbst an vier<br />

AuslanDS ein Sätzen teilgenommen. In diesem Interview<br />

beschreibt er das Dilemma der Bundeswehrsoldaten heute.


34<br />

K R I E G K R I E G<br />

35<br />

G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />

Du sollst nicht töten!<br />

Dekalog – Die zehn Gebote von Kies´ lowski/<br />

Piesiewicz Premiere Dezember 2013<br />

AJAX<br />

AFGHANISTAN<br />

IN<br />

Ein Gespräch mit dem<br />

Militärarzt Karl-Heinz Biesold<br />

Wäre Achilles noch am Leben<br />

und wollte selbst entscheiden,<br />

wer seiner Waffen würdig<br />

sei kraft seines Heldentums,<br />

dann hätte niemand andrer<br />

sie erlangt als ich. Jetzt<br />

aber haben die Atriden sie dem<br />

abgefeimten Fuchs verschachert<br />

und dieses Mannes Wert<br />

verschmäht!<br />

Ajax von Sophokles Premiere Dezember 2013<br />

A<br />

jax, der Protagonist in Sophokles’ gleichnamiger<br />

Tragödie, kehrt als Held aus dem Krieg gegen<br />

Troja zurück und wird darüber wahnsinnig, dass<br />

er nicht die Waffen seines gefallenen Kampfgefährten<br />

Achill zugesprochen bekommt. Ajax’ moralische<br />

Existenz stützte sich bislang auf eine Reihe von<br />

unerschütterlichen Werten, Prinzipien und Ehrbegriffen.<br />

Als er herausfindet, dass er betrogen wird von einer<br />

Gesellschaft, die er im Krieg noch mit seinem Leben<br />

verteidigt hat, stürzt er in eine Krise.<br />

Wäre diese Krise heutzutage als Posttraumatische Belastungsstörung<br />

1 zu diagnostizieren?<br />

Karl-Heinz Biesold: Wir wissen nicht, was Ajax im Krieg<br />

gegen Troja erlebt hat, ob er durch die Kriegshandlungen<br />

traumatisiert wurde. Was ein psychisches Trauma ist, ist<br />

definiert. Es handelt sich um extrem belastende Lebensereignisse,<br />

die den bisherigen Erfahrungshorizont der<br />

betroffenen Personen übersteigen, damit die Verarbeitungsfähigkeit<br />

des Gehirns überfordern und mit dem<br />

Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergehen.<br />

Kriegserfahrungen gehören natürlich zu dem Spektrum<br />

möglicher traumatisierender Ereignisse, die man erleben<br />

kann. Um diese verarbeiten zu können und nicht daran zu<br />

erkranken, bedarf es unter anderem einer guten sozialen<br />

Unterstützung, zum Beispiel durch die Familie, durch Kameraden<br />

oder durch die Gesellschaft. Dazu gehört auch,<br />

dass der Soldat das Gefühl haben muss, dass der militärische<br />

Einsatz, an dem er teilgenommen hat, sinnvoll ist<br />

und Unterstützung in der Gesellschaft findet. Kommt es<br />

hinterher jedoch zu Beschuldigungen oder Vorwürfen<br />

oder es wird deutlich, dass für ein Unrechtssystem gekämpft<br />

wurde, so stellt sich ein Gefühl von Verrat ein, das<br />

die Verarbeitung des Erlebten erschweren oder gar verhindern<br />

kann. Einen solchen Verrat erlebt Ajax dadurch,<br />

dass ihm der versprochene Lohn vorenthalten wird, und<br />

er kommt dadurch in eine schwere Wertekrise.<br />

Welchen »Ehrbegriff« haben Menschen, die sich für eine<br />

militärische Laufbahn entscheiden und dann möglicherweise<br />

in Afghanistan zum Einsatz kommen, heute?<br />

Welchen Schwierigkeiten sehen sie sich dabei ausgesetzt?<br />

Wie hoch ist der öffentliche Druck, sich bloSS nichts<br />

zuschulden kommen zu lassen, und wie hoch der eigene?<br />

Bei unseren Soldaten wird der Begriff »Ehre« in diesem<br />

Kontext nicht mehr verwendet. Er scheint zu antiquiert<br />

und ist für manche vielleicht auch historisch belastet.<br />

Ich halte es für angebrachter von ethischen und moralischen<br />

Grundregeln zu sprechen, die die Soldaten für<br />

sich definieren. Dazu gehört auch die Diskussion darüber,<br />

wann und unter welchen Umständen das Töten von<br />

Menschen notwendig und gerechtfertigt sein kann. Bei<br />

der Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt es<br />

wertvolle Unterstützung durch die Militärseelsorge und<br />

entsprechende Diskurse an den militärischen Ausbildungseinrichtungen.<br />

In den Auslandseinsätzen gibt es<br />

kein gesondertes Kriegsrecht.<br />

In welchem Konflikt stehen dabei die Informationspolitik<br />

der Bundeswehr, die Gesellschaft, die Medien und nicht<br />

zuletzt die Identität des Soldaten zueinander?<br />

Wir benötigen natürlich eine grundsätzliche Legitimierung<br />

eines Auslandseinsatzes nach dem Völkerrecht.<br />

Darüber hinaus wünschen die Soldaten sich die Zustimmung<br />

zu einem Einsatz nicht nur im Parlament, sondern<br />

auch in der Bevölkerung, was bisher nicht immer<br />

der Fall war. Auch die Unterstützung durch die Medien<br />

spielt dabei eine wesentliche Rolle. Soldaten definieren<br />

sich als »Staatsbürger in Uniform«, die im Auftrag der<br />

Bundesrepublik Deutschland in einen militärischen Einsatz<br />

gehen, dort ihre Gesundheit und eventuell sogar ihr<br />

Leben riskieren. Die Motivation zu einem solchen Tun<br />

ergibt sich natürlich auch aus der Sinnhaftigkeit des<br />

Einsatzes. Die Verarbeitung des Erlebten wird deutlich<br />

dadurch gefördert, dass der Soldat das Gefühl hat,<br />

dass der Preis, den er für seinen Einsatz gezahlt hat, es<br />

auch wert war.<br />

Heute hat also der Soldat per se schon mal eine andere<br />

Stellung in der Gesellschaft. Gewalt wird tabuisiert,<br />

der Krieg an sich in Frage gestellt – wie schwer haben es<br />

die Soldaten damit? Und welche Rolle spielen dabei posttraumatische<br />

Belastungsstörungen?<br />

Wir leben in einer sogenannten postheroischen Gesellschaft,<br />

in der das Militär nicht mehr den Stellenwert hat,<br />

den es in früherer Zeit hatte. Nach Beendigung des<br />

Zweiten Weltkrieges hat sich in Deutschland verständlicherweise<br />

eine pazifistische Grundhaltung entwickelt,<br />

die von dem Gedanken getragen war, dass von deutschem<br />

Boden nie mehr wieder ein Krieg ausgehen dürfe.<br />

Dies prägt natürlich die grundsätzliche Einstellung zur<br />

Bundeswehr und zu ihren Einsätzen. Alt-Bundespräsident<br />

Köhler hat es einmal so ausgedrückt, dass an der<br />

Bundeswehr und den Auslandseinsätzen in der Bevölkerung<br />

ein »wohlwollendes Desinteresse« besteht. Der<br />

Soldat wünscht sich natürlich Respekt und Anerkennung<br />

dafür, was er für die Bundesrepublik Deutschland<br />

im Auftrag des Parlamentes leistet. Dazu gehört auch<br />

der Versorgungsaspekt für die Hinterbliebenen von<br />

Gefallenen und die körperlich und seelisch Verletzten.<br />

Soldaten drücken dies so aus: »Wenn ich schon meine<br />

Gesundheit oder mein Leben für unseren Staat riskiere,<br />

erwarte ich dann, wenn ich Schaden erleide, nicht nur<br />

materielle, sondern auch moralische Unterstützung, um<br />

das Erlittene überwinden zu können.« Insbesondere bei<br />

der Verarbeitung psychischer Traumatisierung spielt die<br />

Qualität der nachfolgenden psycho-sozialen Unterstützung<br />

eine bedeutsame Rolle.<br />

Welchen Problemfeldern sehen Sie sich gegenüber, wenn<br />

sich ein Soldat ob seiner Belastungen schämt? Wie kann<br />

ihm geholfen werden?<br />

Im Bereich der Wehrpsychiatrie wurde im letzten Jahrzehnt<br />

nicht nur das diagnostische und therapeutische<br />

Angebot deutlich verbessert, sondern auch viel dafür<br />

getan, die Stigmatisierung, die durch eine Posttraumatische<br />

Belastungsstörung entstehen kann, zu verringern.<br />

Dazu gehört in erster Linie, dass über das mögliche<br />

Auftreten von Traumafolgestörungen gesprochen wird<br />

und diese nicht als Ausdruck persönlichen Versagens<br />

oder persönlicher Schwäche der Soldaten angesehen<br />

werden, sondern als eine »angemessene Reak tion einer<br />

normalen Person auf eine unnormale (pathologische)<br />

Situation«. Das soll bedeuten, dass man nicht einen<br />

»psychischen Vorschaden« haben muss, um an dem Erleben<br />

von Extremsituationen zu erkranken. Die »Kriegszitterer«<br />

des Ersten Weltkrieges mussten sich noch den<br />

Vorwurf gefallen lassen, schon vor dem Krieg an einer<br />

»seelischen Minderwertigkeit« gelitten zu haben bzw.<br />

ihre Symptome zu simulieren.<br />

Erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist<br />

es also, dass die Soldaten überhaupt bereit sind, über<br />

ihre Symptome zu sprechen. Immer noch ist eine große<br />

Zahl Betroffener verschämt und sucht erst nach langem<br />

Leiden Hilfe. Allerdings ist durch den offenen Umgang<br />

mit diesem Thema im Militär die Bereitschaft, sich mit<br />

seinen Problemen zu öffnen und in Behandlung zu begeben,<br />

in den letzten Jahren größer geworden.<br />

Wie schwierig ist die Informationspolitik der Bundeswehr<br />

über ihre Truppen, und welche Überlegungen werden<br />

dabei gewichtet?<br />

Ich denke, dass die Informationspolitik der Bundeswehr<br />

über ihre Auslandseinsätze zunächst natürlich so<br />

ausgerichtet sein muss, dass die Soldaten nicht durch<br />

zu viel Transparenz, was taktische und strategische<br />

Belange angeht, gefährdet werden. Dennoch haben<br />

die Soldaten selbst das Gefühl, dass von den Auslandseinsätzen<br />

in der Presse nur Kenntnis genommen<br />

wird, wenn sich Schwierigkeiten ergeben oder Probleme<br />

auftauchen, wenn also etwas nicht gut funktioniert.<br />

Es gibt prinzipiell auch viele positive Dinge, die aus<br />

den Auslandseinsätzen zu berichten wären und die<br />

man leider im Wesent lichen nur in bundeswehrinternen<br />

oder -nahen Publikatio nen, in Schriften sicherheitspolitischer<br />

Arbeitskreise und weniger in der allgemeinen<br />

Tages- oder Wochenpresse findet. Dies hat aber wohl<br />

etwas mit der allgemeinen Grundhaltung zum Militär<br />

und dem bereits oben zitierten »wohlwollenden Desinteresse«<br />

in der Bevölkerung zu tun.<br />

Insgesamt kann ich aber aus meiner ganz persönlichen<br />

Sicht feststellen, dass sich das Ansehen der Bundeswehr<br />

und damit auch das der Soldaten von den Zeiten<br />

des »Kalten Krieges« bis zu den internationalen militärischen<br />

Einsätzen heute deutlich verbessert hat. Allerdings<br />

bestehen immer noch erhebliche Unterschiede zu<br />

anderen vergleichbaren europäischen Nationen wie den<br />

Briten, den Niederlanden, aber auch den skandinavischen<br />

Ländern, die schon viel länger als wir an internationalen<br />

Missionen teilnehmen.<br />

In »Ajax« nennt der Chor Artemis, die Göttin der Jagd,<br />

und Ares, den Kriegsgott, als mögliche Auslöser für<br />

Ajax’ Verwirrungen. Welche Bilder benutzen Soldaten in<br />

der Therapie, wenn sie über ihre Belastungsstörungen<br />

berichten?<br />

Die Soldaten erleben sich im Auslandseinsatz »wie in<br />

einer andern Welt«. Sie kommen aus der seit langer Zeit<br />

befriedeten, in Wohlstand lebenden Bundesrepublik<br />

Deutschland und erleben in den Auslandseinsätzen die<br />

Auswirkungen von Krieg und Gewalt, Chaos, Zerstörung,<br />

Not und Elend. Sie sind konfrontiert mit für sie<br />

manchmal undurchschaubaren politischen Situationen<br />

und Konfliktlagen, einer fremden Kultur und terroristischen<br />

Feindseligkeiten. Sie kommen mit dem Wunsch,<br />

zu helfen und werden in terroristische Aktivitäten und<br />

militärische Auseinandersetzungen hineingezogen, in<br />

denen sie ihr Leben riskieren müssen. Oft und nicht zuletzt<br />

besteht die Belastung in dem Gefühl totaler Hilflosigkeit<br />

gegenüber Not und Elend im Einsatzland.<br />

Gesellschaftlicher Auftrag (humanitärer Einsatz) und<br />

persönliche Motivation (helfen wollen) stehen mitunter<br />

in deutlichem Gegensatz zu Einstellung und Haltung<br />

der Bevölkerung in den Hilfsgebieten. Manchmal werden<br />

die Soldaten als Besatzer gesehen oder geraten<br />

zwischen die Fronten rivalisierender Gruppen. Sie setzen<br />

ihr eigenes Leben oder ihre Gesundheit aufs Spiel,<br />

ohne positive Auswirkungen ihres Einsatzes erleben zu<br />

können. Nicht selten schlagen ihnen Ablehnung und<br />

Hass entgegen, und vereinzelt werden sie Opfer terroristischer<br />

Angriffe.<br />

1 Eine PTBS ist in der Medizin ein klar umschriebenes Krankheitsbild, das als<br />

Folge einer seelischen Verwundung durch das Erleben eines Ereignisses von außergewöhnlicher<br />

Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß entstehen kann.<br />

Als Beispiele werden z. B. das Erleben von körperlicher und sexualisierter Gewalt,<br />

auch in der Kindheit (sexueller Missbrauch), Vergewaltigung, gewalttätige Angriffe<br />

auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Krieg, Kriegsgefangenschaft,<br />

politische Haft, Folterung, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager,<br />

Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen, Unfälle oder<br />

die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit, die an der eigenen Person,<br />

aber auch an fremden Personen erlebt werden können, genannt.<br />

Der Symptomkomplex der PTBS besteht aus drei Gruppen: 1. den anhaltenden<br />

Erinnerungen oder dem intrusiven Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden<br />

Erinnerungen (Flashbacks oder Albträumen), die stets mit heftigen<br />

Gefühlen und Körperreaktionen verbunden sind, als wäre die traumatische Situation<br />

nicht vorbei. 2. dem Vermeiden von Umständen, die der Belastung ähneln,<br />

wobei nicht selten eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit besteht, sich an<br />

einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern. 3. einer anhaltenden<br />

psychischen Sensitivität und Erregung, verbunden mit Konzentrationsstörungen,<br />

Schlafstörungen, erhöhter Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Wutausbrüchen.


36<br />

GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

37<br />

spielzeit 2013/14<br />

NATUR GEMEINSCHAFT<br />

NATUR GEMEINSCHAFT<br />

Wir sind an den Gedanken gewöhnt,<br />

dass Gemeinschaft etwas an sich Gutes<br />

ist. Tatsächlich aber liegt es in der<br />

»Natur« der Gemeinschaft, von tragischen<br />

WideR Sprüchen durchzogen zu sein. Der promovierte<br />

Philo Soph Dirk Setton lehrt an<br />

der Goethe- universität <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />

und schreibt in dem vorliegenden Essay auSgehend<br />

von »Dogville« und »Bakchen« über<br />

AlBder<br />

Dirk Setton<br />

träume<br />

Gemein schaft<br />

einige Paradoxien des Zusammen lebens, ihre<br />

Gewaltpotenziale und über den Schein<br />

einer unendlichen Gemeinschaft im Theater.<br />

Ambivalenzen der Gemeinschaft<br />

»D<br />

ie schönste Form der Existenz ist für uns diejenige,<br />

die in Beziehungen und im Miteinander<br />

besteht; unser wahres Ich liegt nicht in uns<br />

allein.« (Jean-Jacques Rousseau) Dieser common<br />

sense über die notwendige Gemeinschaftlichkeit<br />

sinnvollen Daseins birgt ein Problem. Es liegt<br />

nicht darin, dass er schlicht falsch wäre; es liegt vielmehr<br />

in seiner Einseitigkeit – und in dem, was seine Einseitigkeit<br />

vergessen macht: die tragische Einsicht in die<br />

unauflösbare Ambivalenz von Gemeinschaft.<br />

I<br />

m Folgenden soll es um den Versuch gehen, diese Ambivalenz<br />

in einer kleinen Serie von »tragischen Widersprüchen«<br />

zu skizzieren. Drei Spannungen werden<br />

dabei im Zentrum stehen: erstens der Widerstreit zwischen<br />

einem »Naturzustand« und einem »Gesellschaftszustand«<br />

der Gemeinschaft; zweitens die Spannung<br />

zwischen der Verbindlichkeit, die das soziale Band einer<br />

Gemeinschaft stiftet, und den Formen, in denen sich eine<br />

Gemeinschaft gegen die exzessiven Tendenzen immunisieren<br />

muss, die in jener Verbindlichkeit stecken; sowie<br />

drittens der Widerstreit zwischen der Selbstidentifikation<br />

eines Kollektivs, durch die das Gemeinsame in einem bestimmten<br />

Merkmal repräsentiert wird, und dem dadurch<br />

verdrängten »Seinsgrund« der Gemeinschaft, der sich<br />

jeder Identifikation oder Repräsentation entzieht.<br />

D<br />

ass<br />

Gemeinschaften von diesen Spannungen durchzogen<br />

werden, können wir nur durch eine Form der<br />

Darstellung erfahren, die auf exemplarische Weise<br />

diese Spannungen vorführt, und zwar im Zuge einer<br />

Durcharbeitung von besonderen Vorstellungen, die das<br />

Verständnis von Gemeinschaft bestimmen. Zu einer solchen<br />

Darstellung ist allein die Kunst fähig: Theater, Literatur<br />

oder Film. Und vielleicht sind dazu insbesondere<br />

solche Beispiele aus der Geschichte der erzählenden<br />

Kunst imstande, die uns den inneren Widerstreit der Gemeinschaft<br />

drastisch – weil tragisch – vor Augen führen.<br />

A<br />

us diesem Grund wird sich diese kleine Skizze an<br />

zwei Beispielen orientieren: den »Bakchen« von<br />

Euripides und »Dogville« von Lars von Trier. Drei<br />

Merkmale sind beiden Stücken gemeinsam: In ihrem<br />

dramatischen Zentrum steht erstens die folgenreiche<br />

Begegnung zwischen einer bestehenden Gemeinschaft<br />

(der griechischen Polis Theben, dem kleinen Dorf Dogville<br />

in den Rocky Mountains) und einem oder einer<br />

Fremden – dem Gott Dionysos und seinem Gefolge,<br />

der in Theben einen neuen Kult einführen will, sowie<br />

Grace, die in Dogville Zuflucht vor ihren Verfolgern<br />

sucht. Zweitens endet diese Begegnung in beiden Fällen<br />

mit der unverhältnismäßig grausamen Auslöschung<br />

der Gemeinschaft – der Ermordung, Verbannung und<br />

Verfluchung des ganzen Herrschergeschlechts von<br />

Theben unter der Regie des listigen Dionysos sowie mit<br />

der Erschießung aller Bewohner von Dogville durch den<br />

Befehl von Grace. Und drittens sind beide Stücke von<br />

einer auffälligen Figurensprache des Natürlichen und<br />

insbesondere einer Tiermetaphorik gezeichnet. Dadurch<br />

tritt bei Euripides das beteiligte Personal in eine<br />

Art Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mensch und<br />

Tier, während bei Lars von Trier gleich die Gemeinschaft<br />

als Ganze einen tierisch-bestialischen Zug erhält.<br />

Es sind diese drei Aspekte, die uns helfen sollen,<br />

eine erste Idee von den tragischen Spannungen im<br />

Begriff der Gemeinschaft zu bekommen.<br />

Die Gemeinschaft ohne<br />

Eigenschaften: Grace in Dogville<br />

D<br />

ie Pointe der Begegnung der Bewohner von Dogville<br />

mit der flüchtenden Grace liegt zunächst darin, dass<br />

sie die Frage nach der Gemeinschaft auf eine neue<br />

Weise aufwirft. Grace ist eine Fremde in Dogville, doch<br />

ihre Fremdheit besteht nicht darin, dass sie einer anderen<br />

Gemeinschaft angehört; sie besteht vielmehr darin,<br />

dass sie ohne Gemeinschaft ist: allein, mittellos, auf der<br />

Flucht und in ihrer Verletzbarkeit exponiert. Die Frage,<br />

die deren Begegnung aufwirft, lässt sich dabei nicht<br />

bloß auf die Frage der Bewohner von Dogville reduzieren,<br />

»ob sie Grace Asyl gewähren oder nicht«; genau<br />

genommen geht es um die Frage nach Gemeinschaft<br />

und ihrem Status selbst – d. h. mit welchem Verständnis,<br />

welchen Vorstellungen von »Gemeinschaft« haben<br />

wir es zu tun und in welchem Verhältnis stehen diese<br />

zueinander?<br />

A<br />

m Anfang von »Dogville« erfahren wir von einem der<br />

Bewohner, dass das Dorf »verrottet« sei; und der<br />

»Dorfintellektuelle« Tom sieht die Gemeinschaft von<br />

Dogville von einem tiefen Mangel gezeichnet – ihr fehlt<br />

etwas, um eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne zu<br />

sein. Der Mangel liegt nicht im Fehlen eines stabilen Kriteriums<br />

der Zugehörigkeit, sondern, Tom zufolge, vielmehr


38<br />

GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

39<br />

spielzeit 2013/14<br />

NATUR GEMEINSCHAFT<br />

NATUR GEMEINSCHAFT<br />

in der Fähigkeit, eine »Gabe« und eine damit einhergehende<br />

moralische Verpflichtung zu »akzeptieren«. Diese<br />

»Gabe« nun ist Grace selbst, d. h. ihre Fremdheit und<br />

Nichtzugehörigkeit, die dem Dorf demnach das vermittelt,<br />

was ihm fehlt, um eine wirkliche Gemeinschaft zu sein.<br />

Wir rühren hier an eine Verschiebung im Verständnis<br />

von Gemeinschaft, die der italienische Philosoph<br />

Roberto Esposito in seinem Buch »Communitas«<br />

jüngst vorgeschlagen hat: Das »Gemeine«, das eine<br />

Gemeinschaft vereint, entspricht keinem »Eigenen« (keinem<br />

Eigentum, keiner Identität, keinem Interesse, keinem<br />

Wertekonsens), das alle Mitglieder insofern teilen, als<br />

sie sich mit ihm identifizieren (ihr »wahres Ich« darin<br />

wiedererkennen); das »Gemeine« der Gemeinschaft<br />

besteht vielmehr in einer geteilten Pflicht, einer gemeinsamen<br />

Schuldigkeit oder Verantwortung, die ihren<br />

Grund wiederum nicht in der Identität oder den Eigenschaften<br />

ihrer Mitglieder hat, sondern in der bloßen und<br />

nicht weiter zu qualifizierenden Tatsache eines gemeinsamen<br />

Erscheinens 1 der Beteiligten. Was hier erscheint,<br />

ist gewissermaßen ein »Zwischenraum«, der sich zwischen<br />

einer Vielheit von Personen auftut, der niemandem<br />

gehört und mit dem sich niemand identifizieren<br />

kann, der aber dennoch die Vielen aufeinander bezieht<br />

und diese insofern vereint, als sie gerade gemeinsam in<br />

einer stets noch zu bestimmenden Weise auf diese<br />

geteilte Sphäre verpflichtet werden. Damit wird jede<br />

Begrenzung von Gemeinschaft, jedes Ein- und Ausschlusskriterium<br />

und damit die gängige Vorstellung von<br />

»Gemeinschaft als kollektive Identität« unterlaufen.<br />

Das animalische Gemeinwesen<br />

Vor diesem Hintergrund können wir mit Blick auf »Dogville«<br />

sagen, dass es exakt diese Verschiebung im<br />

Gemeinschaftsbegriff ist, die durch die Ankunft von<br />

Grace in Szene gesetzt wird – eine Verschiebung von<br />

der »in sich geschlossenen Dorfgemeinschaft« hin zur<br />

Erfahrung jenes »Zwischenraums des gemeinsamen Erscheinens«,<br />

der Grace und die Bewohner von Dogville<br />

in einer noch zu bestimmenden Verpflichtung vereint.<br />

Diese Verpflichtung entfaltet sich zunächst innerhalb<br />

eines instabilen Spiels von Gabe und Gegen-Gabe,<br />

von Hilfeleistung und Dankbarkeit, das dem Miteinander<br />

im Dorf spürbar neues Leben gibt: Dogville gewährt der<br />

flüchtenden Grace sícheren Unterschlupf, während<br />

Grace den Dorfbewohnern als Gegenleistung verschiedene<br />

Dienste anbietet. Dass im Verlauf des Dramas dieses<br />

Spiel langsam eine desaströse Wendung bekommt,<br />

liegt an dem beinahe notwendigen Selbstmissverständnis<br />

der Gemeinschaft, das die Bewohner von Dogville unbeirrt<br />

fortsetzen. Dieses Selbstmissverständnis besteht<br />

darin, dass ihre Gemeinschaft eben eine Art »kollektives<br />

Individuum« darstellt und über ein kollektives Eigentum<br />

verfügt, an dem jedes rechtmäßige Mitglied teilhat<br />

(was dieses wiederum in die Lage setzt, sich mit der<br />

Gemeinschaft zu identifizieren). Aus dieser Perspektive<br />

verschwindet aber jene Sphäre des »gemeinsamen Erscheinens«,<br />

und das Verhältnis zwischen Dogville und<br />

dem Flüchtling verwandelt sich in ein bloßes Tauschgeschäft.<br />

Folglich muss es für die Bewohner darum gehen,<br />

sich jene »Gabe« anzueignen, die die Vitalität ihres gemeinschaftlichen<br />

Lebens durch ihre Nichtzugehörigkeit<br />

bedingt. Und weil Grace nicht nur in den Austausch<br />

zwischen Gabe und Gegen-Gabe eingebunden ist,<br />

sondern zugleich auch (als »Gabe« an die Gemeinschaft)<br />

den Grund verkörpert, der diesen Austausch<br />

ermöglicht und jene Sphäre des gemeinsamen Erscheinens<br />

und der geteilten Pflicht eröffnet, läuft der Versuch<br />

der Aneignung, der Verwandlung des Grunds (oder der<br />

»Gabe«) in das »Eigentum« eines Kollektivs, notwendig<br />

auf eine Misshandlung hinaus.<br />

E<br />

s ist klar, dass diese Dynamik in ihrer drastischen<br />

Zuspitzung eine Übertreibung enthält. Aber diese<br />

Übertreibung ist notwendig, um jenen Widerstreit<br />

überhaupt als solchen sehen zu können, der zwischen<br />

der »Gemeinschaft als kollektiver Identität« und der<br />

»Gemeinschaft des gemeinsamen Erscheinens« besteht.<br />

»Dogville« schildert die beiden Pole dieses Widerstreits<br />

in den grellen Farben einer wechselseitigen Vernichtung<br />

(Dogville misshandelt Grace, Grace vernichtet Dogville),<br />

um die Tatsache zu betonen, dass wir es hier mit<br />

zwei heterogenen Prinzipien der Gemeinschaft zu tun<br />

haben – und dass dieser Gegensatz zu ihrer »Natur«<br />

gehört. Diese zentrale Pointe von »Dogville« können wir<br />

auch in der Begründung erkennen, die Grace dafür anführt,<br />

weshalb sie die Misshandlungen der Bewohner<br />

akzeptiert: denn sie »folgen nur ihrer Natur«. Worum es<br />

also geht, ist eine Art Perspektivenwechsel bezüglich<br />

der »Natur« einer Gemeinschaft, die eben keine »per se<br />

gute« ist, sondern im Gegenteil eine hochambivalente:<br />

Sie basiert auf jenem »natürlichen« Selbstmissverständnis,<br />

das dazu führt, dass die Gemeinschaft ihren eigenen<br />

Grund verzehrt.<br />

Der wiederholte Naturzustand:<br />

Dionysos in Theben<br />

Eine naheliegende Weise, das Desaster von »Dogville«<br />

zu vermeiden, besteht darin, Institutionen zu schaffen,<br />

die die Gemeinschaft vor ihrer »Natur« schützen. Der<br />

Eindruck, dass das Problem von Dog ville auch daher<br />

rührt, dass wir es mit einer Gemeinschaft fern von<br />

rechtlichen und staatlichen Institutionen zu tun haben,<br />

unterstreicht diese Diagnose. Doch mit der Einsicht,<br />

So verlieren sich Worte in unserem Fleisch und Blut; wie vieles auch,<br />

widersprechen sich Gesetz und Natur.<br />

Bakchen von Euripides/ Schrott Premiere Januar 2014<br />

dass eine gerechte Gemeinschaft »naturwüchsige«<br />

Bindungen auflösen und sich eine »künst liche« (rechtliche<br />

und staatliche) Verfassung geben muss, um ihre<br />

Mitglieder gegen die Gewaltpotenziale zu schützen, die<br />

in den diffusen Inklusions- und Exklusionsverhältnissen<br />

solcher »naturwüchsiger« Assoziationen liegen, betreten<br />

wir in der Tat die Bühne eines neuen Widerstreits der<br />

Gemeinschaft: des Widerstreits zwischen dem »Naturzustand«<br />

und dem »Gesellschaftszustand« eines Gemeinwesens.<br />

2 Denn wenn eine rechtliche und staatliche<br />

Konstitution die Gemeinschaft vor sich selbst »immunisiert«,<br />

indem alle Mitglieder ihr Recht auf Gewalt anwendung<br />

an einen Souverän abtreten, unter dessen<br />

Schutz sie sich fortan stellen, dann bedeutet das zugleich,<br />

jede von sich aus potenziell konfliktträchtige<br />

oder gewalthafte Beziehung unter den Mitgliedern auf<br />

eine neue Basis zu stellen. Und damit wird zugleich der<br />

soziale Zusammenhalt unter ihren Mitgliedern notwendig<br />

geschwächt, insofern letzterer gerade auf »ersten«<br />

Identifikationen beruht, mit denen die rechtliche und<br />

staatliche Ordnung in gewisser Weise Schluss machen<br />

muss, um deren Gewaltpotenzial zu unterminieren.<br />

E<br />

uripides’ »Bakchen« können wir als ein Stück lesen,<br />

das die Tragödie dieses Widerstreits entfaltet: Es erzählt<br />

von der Wiederkehr des »Naturzustands« unter<br />

den Vorzeichen des »Gesellschaftszustands« sowie von<br />

der besonderen Gestalt, die diese Wiederkehr besitzt.<br />

Zu Beginn des Stücks haben wir es mit einer Situation<br />

zu tun, die derjenigen von »Dogville« analog ist: Die Ankunft<br />

von Dionysos in Theben markiert den Einbruch<br />

eines Fremden in ein (nun durch staatliche Herrschaft<br />

organisiertes) Gemeinwesen, das eine neue Form der<br />

Gemeinschaft einführt – allerdings mit der expliziten,<br />

wenn auch umstrittenen Behauptung, dass Dionysos<br />

eigentlich aus Theben stammt. Auch hier beginnt also<br />

alles mit der Frage nach einer Gemeinschaft derer, zwischen<br />

denen keine Gemeinschaft besteht oder anerkannt<br />

wird. Wir müssen also die beiden gegensätzlichen<br />

Auffassungen – dass Dionysos dazugehört und nicht<br />

dazugehört – zusammennehmen, um jene Gemeinschaft<br />

in den Blick zu bekommen, die Euripides ins Zentrum<br />

der Tragödie gestellt hat. Und insofern Dionysos ein Gott<br />

ist, der wie ein Regisseur die Geschicke der Handlung<br />

lenkt, sollten wir ihn als Verkörperung des Prinzips derjenigen<br />

Gemeinschaft verstehen, welche die Stadt und<br />

ihr Außen von innen her vereint.<br />

Die unbegrenzte Gemeinschaft<br />

Wofür also steht der Name »Dionysos«? Es wäre vielleicht<br />

zu einfach, in dieser Figur bloß eine Einsicht<br />

in die »irrationale« Dimension gemeinschaftlicher<br />

Existenz zu sehen, der zufolge es gerade Erfahrungen<br />

Sie hätte ihre Verletzlichkeit<br />

verbergen können, aber<br />

stattdessen hatte sie<br />

entschieden, sich blindlings<br />

auszuliefern.<br />

Dogville von Lars von Trier Premiere April 2014<br />

kollektiver Berauschung und geteilter exzessiver Freude<br />

sind, die einen tieferen Sinn für das Gemeinsame stiften.<br />

Eine solche psychologische Deutung verfehlt jedoch<br />

den Grund dessen, was in den dionysischen Kostümierungen,<br />

Tänzen, Gesängen und Trinkgelagen zur Darstellung<br />

kommt. Ganz am Anfang der »Bakchen« erinnert<br />

der Seher Teiresias an diesen Grund. Zwei Prinzipien,<br />

so ließen sich die Verse 274–285 interpretieren, bestimmen<br />

die menschliche Gemeinschaft: ein Prinzip (für das<br />

die Göttin Demeter steht), das die Belange endlicher<br />

Koexistenz regelt und ihre Gefahren bannt, und ein Prinzip<br />

(für das Dionysos steht), das die Ansprüche auf Unendlichkeit<br />

beantwortet, die sich im Leiden an der Endlichkeit<br />

Ausdruck verschafft. Wie können wir dies verstehen?<br />

Eine soziale Ordnung beinhaltet (staatliche, rechtliche,<br />

ökonomische etc.) Institutionen, die das Überleben ihrer<br />

Mitglieder absichert, ihre Bedürfnisbefriedigung reguliert<br />

und ihre sozialen Unterschiede so schützt, dass die<br />

darin liegenden Konfliktpotenziale nicht ausbrechen.<br />

Das Problem dieser Ordnung, die den »Gesellschaftszustand«<br />

des Gemeinwesens konstituiert, besteht jedoch<br />

darin, dass sie aufgrund ihrer Immunfunktion nur auf die<br />

Bedingungen der Endlichkeit gerichtet ist – und mithin<br />

der Gemeinschaft allein die Beschäftigung mit den endlosen<br />

Mängeln endlichen Lebens übrig lässt. Dionysos<br />

hingegen, so Teiresias, »tröstet« die »mühbeladenen<br />

Sterblichen«. Wie macht er das? Dadurch, dass er eine<br />

andere Orientierung einführt – die am Unendlichen als<br />

»göttlicher Gabe« –, aus deren Perspektive alles Endliche,<br />

jede Grenze und jede Beschränkung nichts mehr<br />

zählt. Im dionysischen Fest hören Identitätsmerkmale<br />

(sozialer Stand, Herkunft, Alter, Geschlecht, Vermögen<br />

etc.) auf, signifikant zu sein, so dass eine Gemeinschaft<br />

Da ich nun einmal da war, wollte ich<br />

in diese Gemeinschaft gehören, auch<br />

wenn es sich um die scheuSSlichste und<br />

entsetzlichste Gemeinschaft handelte,<br />

die sich denken läSSt.<br />

Wille zur Wahrheit von Thomas Bernhard Premiere November 2013<br />

derer entsteht, die alle besonderen Eigenschaften hinter<br />

sich gelassen haben – und gerade diese Tatsache<br />

feiern. Eine solche »unendliche Gemeinschaft« wird dabei<br />

als eine Rückkehr in den »Naturzustand« ausagiert, der<br />

freilich nur ein Schein sein kann, denn auf der Basis einer<br />

»künstlichen« Gemeinschaft gibt es nur einen künstlichen<br />

Naturzustand: Dionysos führt seine Gemeinde<br />

aus der Stadt und in die Wildnis, lässt alle Besonderheit<br />

unter einem Kleid naturalistischer Symbolik verschwinden<br />

und macht die Künstlichkeit der Veranstaltung<br />

durch Rauschmittel vergessen.<br />

D<br />

och der Kater danach, den die Tragödie als Katastrophe<br />

in Szene setzt, macht einerseits deutlich, dass mit<br />

der Negation des »Gesellschaftszustands« auch die<br />

Gewaltpotenziale wieder freigesetzt werden. Er zeigt<br />

aber auch andererseits, dass in einem auf Endlichkeit fixierten<br />

»Gesellschaftszustand« die unendliche Gemeinschaft<br />

nur als vorübergehender Rausch, Betäubung oder<br />

Fest aufblitzen kann. Warum es sie aber überhaupt unter<br />

diesen Bedingungen gibt, deutet die intime Nähe an, die<br />

in den »Bakchen« zwischen Dionysos und Pentheus, dem<br />

Herrscher über den »Gesellschaftszustand« von Theben,<br />

vorgeführt wird. Pentheus hegt, seinen militärischen Strafmaßnahmen<br />

zum Trotz, eine tiefe Faszination für Dionysos<br />

und seinen Kult. Diese Faszination basiert auf dem Erlebnis<br />

der Betrachtung des künstlich erzeugten Naturschönen:<br />

Das dionysische Spektakel lässt etwas Unendliches<br />

im Endlichen aufscheinen. Und auch wenn dieser Sinn für<br />

das künstliche Naturschöne Pentheus zum Verhängnis<br />

wird, so enthält es dennoch einen Hinweis auf das<br />

Schicksal jenes Scheins einer »unendlichen« Gemeinschaft,<br />

das über das Ende der Tragödie hinausweist.<br />

E<br />

s ist oft gesagt worden, dass man die historische Bedeutung<br />

antiker Tragödien so interpretieren kann,<br />

dass sie im Zuge einer Arbeit am Mythos die Entstehung<br />

– d. h. den Sinn – kultischer Einrichtungen in der<br />

Polis erzählen. Wenn es also in Euripides’ »Bakchen«<br />

um eine Deutung der Einführung der dionysischen Mysterienspiele<br />

in Griechenland geht, aus denen sich dann<br />

später die Kunstform der Tragödie selbst entwickelt hat,<br />

dann ließe sich vielleicht behaupten, dass der Schein<br />

der »unendlichen Gemeinschaft« zur Domäne des Theaters<br />

geworden ist. Die Albträume der Gemeinschaft,<br />

die auf die Bühne gebracht werden, hätten dann die<br />

Pointe, gerade durch die grelle Inszenierung der tragischen<br />

Spannungen, die in der Struktur der Gemeinschaft<br />

liegen, jenen Schein einer »unendlichen Gemeinschaft«<br />

zu behaupten – und zwar als einen solchen, der den<br />

sich entziehenden Grund politischer Gemeinschaft nach<br />

wie vor bildet.<br />

1 Vgl. Jean-Luc Nancy: »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des<br />

›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹«, in: Gemeinschaften. Positionen<br />

zu einer Philosophie des Politischen, hrsg. v. Joseph Vogl, <strong>Frankfurt</strong> am<br />

Main 1994.<br />

2 Zu diesem Widerstreit vgl. Joseph Vogl: »Einleitung«, in: Gemeinschaften, a.a.O.


40<br />

Anwesenheit<br />

41<br />

GEMEINSCHAFT Abwesenheit<br />

Anwesenheit<br />

spielzeit 2013/14<br />

GEMEINSCHAFT Abwesenheit<br />

T<br />

homas<br />

Bernhard war einer der herausragenden<br />

Autoren des 20. Jahrhunderts. Wie kaum ein<br />

anderer Schriftsteller vor ihm hat er sein Leben<br />

und seine Biografie zum Thema seines Schaffens<br />

gemacht. Fünf Bände umfasst allein seine Autobiografie,<br />

in der sich Bernhard brillant als<br />

AuSSenseiter in einer ihm von Anfang an feindlich<br />

gesinnten Umwelt inszeniert. Zu Beginn von<br />

Bernhards biografischer Katastrophe steht für<br />

Thomas<br />

Bernhard<br />

Tilman Allert<br />

die<br />

biografischen<br />

Fiktionalisierung<br />

Erfahrung<br />

einer<br />

Tilman Allert , Professor für Soziologie und Sozialpsychologie<br />

an der Goethe-Universität <strong>Frankfurt</strong><br />

am Main, die Erfahrung des jungen Bernhard<br />

nicht nur in der Familie, sondern auch in der<br />

Gemeinschaft > anwesend abwesend< zu sein.<br />

Künstlerische Kreativität greift auf lebensgeschichtliche<br />

Erfahrungen zurück. Sie stellen das Material<br />

bereit für eine Sensibilität, die im handwerklich<br />

virtuos gehandhabten ästhetischen Medium artikulierbar<br />

wird. Derart übersetzt werden sie jenseits<br />

der Selbstentblößung für den Rezipienten verfügbar.<br />

In dieser Anstrengung der Verfeinerung entsteht die<br />

Sache ›Kunst‹: das Verschwinden alles Subjektiven in<br />

der Form. Eine Ausdrucksmöglichkeit, die es ermöglicht,<br />

beispielsweise das Singuläre eines Schreis oder<br />

einer frühen Verletzung in den Status allgemeiner, universaler<br />

Empfindungen zu rücken.<br />

T<br />

homas Bernhard, der in seinem Werk sich dem Cantus<br />

firmus einer lebenslangen »Ursachenforschung«,<br />

der Suche nach der Herkunft, verschrieben hat,<br />

überfällt das Publikum in seinen Stücken und seiner<br />

kunstvollen Prosa mit einem einzigen Schrei, durch die<br />

deklamatorisch eindrucksvolle Klage eines Menschen,<br />

dessen Lebensschicksal durch eine Sequenz von Tilgung<br />

und Nichtwahrnehmung bestimmt ist. Von der<br />

seelischen Disposition her ein Waisenkind, aber eines,<br />

das sich im Unterschied zur Waisen mit der definitiven<br />

Abwesenheit der Eltern und Nächsten nicht arrangieren<br />

kann, vielmehr eine Waise, der gleichsam das<br />

Recht auf das strukturelle Verlassensein genommen<br />

wird. Die Mutter, die Großeltern gerieren sich in der<br />

Sozialisationsgeschichte des jungen Bernhard als fragile<br />

Stützen eines Weltkontakts und werden aufgrund<br />

ihrer nur situativen Zuneigung schnell Objekte einer<br />

Obsession, im Erlittenen die Gesten eines gelingenden<br />

Lebens zu entdecken.<br />

D<br />

ie Personen aus der Frühzeit seines Lebens, eingeschlossen<br />

der Großvater, sind auf eine für das Kind<br />

erstickende Weise mit sich selbst beschäftigt. Die<br />

Kälte, die Bernhards autobiografische Texte ausstrahlen,<br />

ist unterlegt von einer autosuggestiven Gewissheit,<br />

in der Welt aufgenommen zu sein – gegen alle Evidenz,<br />

die von Bernhard lautstark und in faszinierend<br />

anschaulichen Paraphrasen in Erinnerung gerufen<br />

wird. Eine Gewissheit, die in nichts ausdrucksstärker<br />

ins Bild gesetzt wird als in der Moses-Fantasie, ein<br />

Schlüssel zu Biografie wie zur Werkgestalt. Eine Fantasie,<br />

die sehr früh in den beiden seelischen Dimensionen<br />

die Funktion einer seelischen Stütze übernimmt,<br />

eine Art Halteseil:<br />

»Ich soll ein fröhliches Kind gewesen sein. Ein Jahr<br />

lang getraute sich meine Mutter nicht, meinen Großeltern<br />

in Wien meine Geburt zu melden. Was sie fürchtete,<br />

weiß ich nicht. Der Vater als Romanschreiber und<br />

Philosoph durfte in seiner Arbeit nicht gestört werden,<br />

ich glaube fest, das war der Grund, warum mich meine<br />

Mutter so lange verschwieg. Mein Vater hat mich niemals<br />

anerkannt. Die Möglichkeit, mich in dem Kloster<br />

bei Heerlen 1 in Holland zu lassen, dem Fluchtort ihrer<br />

Schande, war nur kurz gewesen, meine Mutter musste<br />

mich abholen, in einem von ihrer Freundin geliehenen<br />

kleinen Wäschekorb reiste sie mit mir nach Rotterdam<br />

zurück. Da sie nicht ihren Lebensunterhalt verdienen<br />

und gleichzeitig bei mir sein konnte, musste sie sich<br />

von mir trennen. Die Lösung war ein im Hafen von Rotterdam<br />

liegender Fischkutter, auf welchem die Frau<br />

des Fischers Pflegekinder in Hängematten unter Deck<br />

hatte ... Aber meine Mutter hatte keine andere Wahl.<br />

Immerhin kann ich sagen, dass ich mein erstes Lebensjahr<br />

ausschließlich auf dem Meer verbracht habe,<br />

nicht am Meer, sondern auf dem Meer … Im Grunde<br />

bin ich ein Meermensch, erst, wenn ich am Meerwasser<br />

bin, kann ich richtig atmen, von meinen Denkmöglichkeiten<br />

ganz zu schweigen. Nicht ohne Stolz denke<br />

ich oft, ich bin ein Kind des Meeres, nicht der Berge.«<br />

Thomas Bernhard: »Ein Kind«<br />

A<br />

ußeralltäglich begabt, also mit einer Mission geboren<br />

zu sein, darin liegt die unmittelbar nachvollziehbare<br />

Seite dieses seelischen Konstrukts. Der Korb,<br />

eine verzweifelte Geste der Sorge und Behausung –<br />

immerhin in die Welt gesetzt aus dem Wunsch heraus,<br />

sich eines Tages wiederzusehen, also das den Lebensumständen<br />

geopferte Band zur Mutter nicht abreißen zu<br />

lassen –, dieses Element der Moses-Fantasie wird leicht<br />

übersehen. Die Fantasie – sie taucht in den autobiografischen<br />

Texten auf – entsteht als eine Übersteigerung der<br />

ersten dramatischen Kränkung, die der junge Thomas<br />

Bernhard durch die Mutter erfährt.<br />

G<br />

eht man der Frage nach, wie das Leben, das in seiner<br />

Ausweglosigkeit an die Befunde von René Spitz 2<br />

über die traumatisierenden Erfahrungen von Kindern<br />

in totalen Institutionen erinnert, den Weg aus der Verzweiflung<br />

in die literarische Sublimation findet, so stößt<br />

man bei Thomas Bernhard auf eine Reihe von Milieueigentümlichkeiten<br />

und ›Nebenmenschen‹ (Sigmund Freud),<br />

eine Konstellation, die das hervorbringt, was einem angesichts<br />

der Kaskade von Entbehrungen wie ein Wunder<br />

vorkommt und doch stimmig auf die frühe Zeit seines<br />

Lebens zurückzuführen ist. Nicht die Armut, nicht die<br />

gebrochenen Familienbeziehungen und auch nicht eine<br />

Steigerung dieser Ausgangsbedingungen lassen die<br />

kindliche Verzweiflung entstehen. Vielmehr ist es die<br />

Resonanzlosigkeit, die Erfahrung, anwesend abwesend<br />

zu sein, die am Anfang der biografischen Katastrophe<br />

steht. Traumatisierungen, die sich bei Bernhard dem<br />

Umstand verdanken, dass er für seine Mutter die leibhaftige<br />

Präsenz einer Liebesaffäre verkörpert, die sie<br />

einzig Bernhards Vater zurechnet. Die Familiengründung,<br />

die mit der Geburt eines Kindes hätte erfolgen können,<br />

war weder von der Mutter noch von Bernhards Vater<br />

erwünscht. Ein Kind kommt zur Welt, ein Irrtum, schamvoll<br />

zugestanden, aber nun als eine Herausforderung für


2013/14<br />

Anwesenheit GEMEINSCHAFT Abwesenheit<br />

43<br />

Ich hatte überhaupt nichts<br />

werden und natürlich niemals<br />

ein Beruf werden wollen,<br />

ich hatte immer nur ich werden<br />

wollen.<br />

Wille zur Wahrheit von Thomas Bernhard<br />

Premiere November 2013<br />

Die Idee ist gewesen, der<br />

Existenz auf die Spur zu kommen,<br />

der eigenen wie den andern.<br />

Wille zur Wahrheit von Thomas Bernhard Premiere November 2013<br />

den eigenen Lebensentwurf, der im Fall der Mutter von<br />

Thomas Bernhard eine eigene weibliche Selbstständigkeit<br />

nicht vorsieht: Bernhards Mutter lebt in einer engen<br />

Bindung an ihren eigenen Vater, dessen angestrengt<br />

schriftstellerischen Aspirationen sie eine grenzenlose<br />

Bewunderung entgegenbringt.<br />

Während in den Würdigungen des literarischen Werks<br />

von Thomas Bernhard die in affektiver wie intellektueller<br />

Hinsicht umsichtige Präsenz des Großvaters<br />

Johannes Freumbichler zu Recht angeführt wird,<br />

wenn es darum geht, den Weg Bernhards in die literarische<br />

Sublimierung, die eindrucksvoll bittere Sprachgewalt<br />

einer Weltklage, biografisch zu bestimmen, bleibt<br />

die intime gegen alle Verzweiflung beständige Zuneigung<br />

zur Mutter übersehen. Bernhard, der auf der Ebene<br />

der trivialen Alltagserfahrung sich Vorwürfe anhören<br />

muss, die in ihrer Verachtung nicht drastischer ausfallen<br />

konnten, gelingt es, zu seiner Mutter eine Bindung<br />

aufrechtzuerhalten, so als nehme er sie gegen ihre eigenen<br />

Irrtümer, gegen die Brutalität ihrer Ablehnung des<br />

ungeliebten Sohnes, in einer grandiosen Geste des<br />

Verzeihens in Schutz, als würde er im Unterton ihrer<br />

scharfen Distanz eine Zuneigung erkennen, die unsichtbar<br />

und doch wirkungsvoll bleibt, ja, die zwischen Mutter<br />

und Sohn von dem Geheimnis eines gegen die Welt<br />

gerichteten Überlebenswillens getragen ist. Es ist eine<br />

gegen alle Wahrscheinlichkeit extrem aufopferungsvolle<br />

Liebe. Bernhard, der tagtäglich nach Evidenzen der Zuneigung<br />

vergeblich gesucht hat, führt in einer Art Autosuggestion<br />

ein Zwiegespräch mit der Mutter als ein<br />

gegen alle Kränkungen immer wieder anspruchsvoll und<br />

zuweilen usurpatorisch auftretendes Insistieren auf Einzig<br />

artigkeit. Dieser kaum offen artikulierten Liebe entstammt<br />

das kontinuierliche Sprechen, das im Werk und<br />

seinem fantastischen monologisierenden Stakkato seinen<br />

literarischen Ausdruck findet. Dieser Liebe entstammt<br />

die Moses-Fantasie, wie auch der in seinen<br />

Selbst äußerungen zu einem Heiligen verklärte Großvater.<br />

Dieser schenkt seinem Enkel zwar rührende Aufmerksamkeit,<br />

gleichzeitig verlangt er jedoch im Verfol gen<br />

seiner eigenen literarischen Selbstmission seinen Mitmenschen<br />

eine bis zur Groteske gesteigerte Fügsamkeit<br />

ab. Trotzdem wird er vom jungen Bernhard so<br />

geliebt, als wolle er auch hierbei der Mutter und deren<br />

abwegiger Liebe zu ihrem eigenen Vater folgen:<br />

»Ich beobachtete mit Liebe, wie er schrieb und wie ihm<br />

meine Großmutter dabei aus dem Weg ging, behutsam<br />

lud sie zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Nachtmahl,<br />

wir hatten die Behutsamkeit meinem Großvater<br />

gegenüber zu unserer Hauptdisziplin gemacht, solange<br />

er lebte, war die Behutsamkeit oberstes Gebot. Alles<br />

musste leise gesprochen sein, wir mussten leise gehen,<br />

wir mussten uns ununterbrochen leise verhalten. Der<br />

Kopf ist zerbrechlich wie ein Ei, so mein Großvater, das<br />

leuchtete mir ein, erschütterte mich gleichzeitig.«<br />

Thomas Bernhard: »Ein Kind«<br />

D<br />

ie enge Bindung an den Großvater erscheint somit<br />

nicht als endliche Ankunft eines früh traumatisierten<br />

Menschen, sondern als Fortsetzung der<br />

psychosozialen Obdachlosigkeit im Schatten einer<br />

grandiosen großväterlichen Verkennung. Bernhard gerät<br />

in die bedrückende Delegation, das vergebliche<br />

Bemühen um die Anerkennung als Schriftsteller nun<br />

stellvertretend zu übernehmen. So betrachtet rückt<br />

auch und gerade der Großvater in die Abfolge von<br />

Verkennungen ein:<br />

»Der Mensch lechzt von Natur aus nach Liebe, von Anfang<br />

an. Nach Zuwendung, Zuneigung, die die Welt zu<br />

vergeben hat. Wenn einem das entzogen wird, kann<br />

man hundertmal sagen, man sei kalt und sehe und höre<br />

das nicht. Es trifft einen mit aller Härte. Aber das gehört<br />

eben dazu, dem kann man nicht ausweichen.«<br />

»Von einer Katastrophe in die andere«, Thomas Bernhard im Gespräch<br />

mit Asta Scheib<br />

D<br />

as besondere einer Kränkung der Art, wie sie Thomas<br />

Bernhard erfahren hat, tritt darin zu Tage: Noch<br />

in der Entfernung, die die Mutter ihm tagtäglich demonstriert,<br />

in der sternenweiten Einsamkeit, die ihn umgibt,<br />

kreiert er sie sich als seine Verbündete. Er fantasiert<br />

sich in ihre Welt hinein und zieht selbst aus ihrer<br />

Einsamkeit als einer Frau, die sich der Mutterschaft zu<br />

verweigern sucht, die Kraft für die eigene Lebenszuversicht.<br />

Die Mutter, die sich entzieht, erscheint für das<br />

heranwachsende Kind paradoxerweise in der Unerreichbarkeit<br />

als eine einzige Vollkommenheit.<br />

»K<br />

unstwerke folgen ihrem Formgesetz, indem sie<br />

ihre Genesis verzehren« (Th. W. Adorno) – daran<br />

ist angesichts der brennenden Suggestivität der<br />

bernhardschen autobiografischen Texte zu erinnern.<br />

Die sozialisatorischen Erfahrungen eines desaströs aufgeschichteten<br />

Lebens in der Verkennung der Realität<br />

mögen als solche eindrucksvoll sein. Zieht man aber<br />

den sozialgeschichtlichen Hintergrund, die bäuerliche<br />

Herkunft, die politische Situation eines begeistert die<br />

nationalsozialistische Okkupation feiernden Österreichs,<br />

die zerbrochenen Familienbeziehungen von Menschen,<br />

die sich aus der Enge ihrer Lebensumgebung<br />

überstürzt zu befreien versuchen, zieht man all dies hinzu,<br />

so verliert die Drastik des biografischen Exposés<br />

von Thomas Bernhard allerdings ihre Singularität. Sie<br />

wird eben nichts anderes als eine Vorlage. Aber Vorlage<br />

für was? Was hier in die Sache der Kunst übersetzt wird<br />

und fern von einem Erschauern angesichts der Idiosynkrasie<br />

eines Lebens berührt, was in diesem Sinne auch<br />

das künstlerische Darstellungsmotiv übersteigt und von<br />

den biografischen Ausgangsbedingungen unabhängig<br />

geworden ist, ist ein Gebilde, das der Erfahrung der<br />

Resonanzlosigkeit und Obdachlosigkeit eine Sprache<br />

verleiht. Es handelt sich nicht um eine mystifizierte Einsamkeit<br />

des Ich, vielmehr um eine kommunikative Situation,<br />

die die Gabe des Sprechens verweigert und somit<br />

dem Menschen die Möglichkeit einer Weltverortung<br />

nimmt. In dieser Bedrohung, in der vitalen Geselligkeit<br />

mit anderen, den »Lebensmenschen«, unter deren Zuspruch<br />

man sich anerkannt weiß, von der Abwesenheit<br />

überfallen zu werden, hierin mag die zeitübergreifende<br />

Schönheit der Texte liegen. Noch in der stilisierten<br />

Penetranz ihrer Wiederholung, in den Klagen, die die<br />

Provokation aller Institutionen des sozialen Lebens –<br />

inklusive des Staates – einschließt, erinnern sie an den<br />

Anspruch des Menschen auf die Würde des Sprechens,<br />

auf die elementare Geste der Antwort.<br />

1 Thomas Bernhards Geburtsort.<br />

2 René A. Spitz war ein österreichisch-amerikanischer Psychoanalytiker und<br />

Wegbereiter von Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie.


44<br />

T H E A T E R T H E A T E R<br />

45<br />

G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />

spielzeit 2013/14<br />

G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />

E<br />

in wichtiger Impuls des modernen<br />

politischen Theaters in der Nachfolge<br />

von Brecht war es, die Zuschauer in<br />

aktive Teilnehmer und das Publikum in<br />

eine Gemeinschaft von aktiv Urteilenden<br />

zu veR wandeln. Juliane Rebentisch , ProfeSsorin<br />

für Philosophie und Ästhetik an der<br />

Hoch Schule für Gestaltung in Offenbach,<br />

Emanzipierte<br />

spekulativeschauer<br />

und<br />

zu<br />

Kollektivitäten<br />

Juliane Rebentisch<br />

fragt in dem vorliegenden Artikel danach,<br />

ob » Gemeinschaft« heutzutage eine an gemessene<br />

Ant wort auf die neo liberale DeSintegRA<br />

tion der Gesellschaft ist und<br />

welche Formen des GegenwartS theA ters<br />

eine kritische Wahrnehmung sozialer<br />

Bedingungen ermöglichen.<br />

D<br />

as Theater ist das genaue Gegenteil einer lebendigen<br />

Gemeinschaft. Jedenfalls dann, wenn man der<br />

traditionellen Kritik am Theater glaubt, der zufolge<br />

das Theater seine Zuschauer nicht nur passiviert,<br />

sondern auch voneinander isoliert. Vielleicht erklärt<br />

dies, warum »Gemeinschaft« im Theaterkontext ein<br />

solcher Fetisch ist – man will das, was man nicht haben<br />

kann. Das Unmögliche möglich zu machen, also Theater<br />

und Gemeinschaft zu versöhnen, war indes bereits ein<br />

wichtiger Impuls des modernen Theaters. Ob man nun<br />

an Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit« denkt<br />

oder an Bertolt Brechts »episches Theater« – beide Theaterästhetiken<br />

sind von der Annahme geprägt, dass die<br />

Position des Zuschauers durch soziale Isolation, konsumistische<br />

Passivität und voyeuristische Distanz vom Geschehen<br />

gekennzeichnet ist und also überwunden werden<br />

muss. Während Artaud die Isolation, Passivität und<br />

Distanz des Zuschauers durch dessen lebendige, gleichsam<br />

viszerale Beteiligung am Geschehen überwinden<br />

wollte, ging es Brecht darum, die Distanz des passiv konsumierenden<br />

Publikums in eine analytische Distanz zu<br />

transformieren und dieses damit in eine Gemeinschaft<br />

von aktiv Urteilenden. Der Impuls zu einer im Zeichen<br />

der Gemeinschaft stehenden Selbstüberwindung des<br />

Theaters übergreift nicht nur die ansonsten natürlich<br />

weitreichenden Differenzen zwischen diesen beiden<br />

Theaterästhetiken, er macht sich auch in einer Vielzahl<br />

von partizipatorischen Projekten der Gegenwart geltend.<br />

O<br />

bwohl<br />

man sich heute kaum mehr zu der politischen<br />

Frage verhält, welche konkrete politische Form die<br />

Gemeinschaft eigentlich wünschenswerterweise anzunehmen<br />

hätte, ist man sich doch sicher, dass es politisch<br />

geboten ist, die Zuschauer in aktive Teilnehmer zu<br />

verwandeln und das Publikum in eine – irgendeine – Gemeinschaft.<br />

Man kann nun aber fragen, ob die Kulturkritik,<br />

die diese Gewissheit stützt, eigentlich noch zeitgemäß<br />

ist. So sind die hier einschlägigen Ansätze (z. B. Guy<br />

Debords Manifest gegen die »Gesellschaft des Spektakels«,<br />

aber auch die Kritik an der Kulturindustrie von<br />

Adorno und Horkheimer) von der Annahme getragen,<br />

dass die Passivierung und kommunikative Isolation des<br />

Kulturkonsumenten in einem internen Zusammenhang<br />

mit seiner Disziplinierung im Arbeitsleben zu sehen sind:<br />

Nur derjenige, der sich in seiner Freizeit von schematischen<br />

Selbst- und Weltdeutungen überwältigen und auf<br />

diese Weise zugleich sozial verarmen lässt, wird seine<br />

Arbeitskraft den Anforderungen gemäß einsetzen.<br />

H<br />

eute liegen die Dinge jedoch anders: In den Bereichen<br />

der westlichen Gesellschaften, für die von einem<br />

Übergang von der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft<br />

gesprochen werden kann, sind Eigeninitiative<br />

und Konnektivität zu entscheidenden Forderungen geworden.<br />

Der Einzelne kann unter diesen Bedingungen<br />

nur dann am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess<br />

teilnehmen, wenn er permanent vernetzt, aktiv und autonom<br />

agiert. Im Rahmen einer solchen Gesellschaftsformation<br />

können Aktivierung und Partizipation nicht mehr<br />

unmittelbar als Widerlager identifiziert werden, im Gegenteil:<br />

Wir haben es hier mit einer so grundsätzlich neuen<br />

Konstellation von Kultur und Arbeit zu tun, dass der Partizipationsimperativ<br />

in der Kunst und im Theater zugleich<br />

als Effekt wie als Modell jenes neuen Anforderungsprofils<br />

diskutiert werden muss. Eine genauere Auseinandersetzung<br />

verdiente in dieser Hinsicht auch der Umstand,<br />

dass das Soziale, das von den entsprechenden<br />

künstlerischen Projekten produziert wird, zumeist flüchtigen<br />

und unbestimmten Charakters ist. Die Klage über<br />

die passivierenden und isolierenden Effekte der »Gesellschaft<br />

des Spektakels« (Guy Debord) läuft angesichts<br />

dieser Situation jedenfalls tendenziell ins Leere:<br />

»Für den heutigen, aktiven Konsumenten, den Zwangsvernetzten,<br />

der dauernd aktiv präsent ist, beurteilt, einstuft,<br />

antwortet und als networkender Soft-Skills-Virtuose in<br />

der heutigen Freizeit-, Service- und Kulturarbeitswelt<br />

einem Terror der surrogat-demokra tischen Partizipation<br />

ausgesetzt ist, wäre«, schreibt Diedrich Diederichsen,<br />

»ein neuer Begriff überfällig: Partizipation ist das neue<br />

Spektakel.«<br />

N<br />

un könnte man den partizipatorischen Projekten jedoch<br />

zugute halten, dass sie auf eine unmittelbare<br />

Erfahrung sozialer Beziehungen (oder sozialer »Resonanz«,<br />

wie Hartmut Rosa jüngst formuliert) zielen.<br />

Diese soll sich auch noch der Verdinglichung und Kommerzialisierung<br />

sozialer Verhältnisse unter den Bedingungen<br />

des soeben skizzierten »neuen Geists des<br />

Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello) entgegenstellen.<br />

Hier scheint die Sehnsucht nach Gemeinschaft ihren<br />

zeitgenössischen Ort zu haben. Doch muss man fragen,<br />

ob »Gemeinschaft« die angemessene Antwort auf die<br />

neoliberale Desintegration der Gesellschaft sein kann –<br />

oder ob es nicht, zumal im Horizont der sogenannten<br />

Globalisierung, vielmehr darum gehen müsste, die<br />

Möglichkeit einer Solidarität jenseits der Gemeinschaft


46<br />

T H E A T E R G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />

spielzeit<br />

zu denken. Schließlich hat die gegenwärtige Kunstwelt<br />

selbst inzwischen einen inter-, ja, transnationalen Charakter<br />

angenommen. Sie ist, wie Peter Osborne in seiner<br />

Philosophie der zeitgenössischen Kunst ausführt,<br />

sogar »exemplarisch« für die »Durchdringung aller sozialen<br />

Formen durch Tauschbeziehungen«, die ihnen<br />

neue Formen der Verbindung und Abhängigkeit aufzwinge,<br />

in deren Horizont Begriffe wie Gemeinschaft,<br />

Kultur, Nation sich zunehmend als »inadäquat« erwiesen.<br />

In diesem Horizont zeichneten sich jedoch, so<br />

Osborne weiter, »neue spekulative Kollektivitäten« ab,<br />

auf deren politische Möglichkeit sich eine tatsächlich<br />

zeitgenössische künstlerische Praxis beziehen müsse,<br />

die ihre eigenen historischen Bedingungen im Blick behält.<br />

Statt sich regressiv am Ideal der Gemeinschaft<br />

auszurichten (und die Probleme zu verdrängen, die mit<br />

der Einheit und Geschlossenheit dieser sozialen Form<br />

schon immer einhergingen), gilt es dann im Gegenteil,<br />

die begrifflichen und politischen Grenzen der Gemeinschaft<br />

ebenso hinter sich zu lassen wie den Zustand<br />

der sozialen Desintegration.<br />

E<br />

s kann also politisch einiges gegen die undialektische<br />

Partizipations- und Gemeinschaftseuphorie<br />

eingewendet werden, die in einigen Teilen der zeitgenössischen<br />

Theater- und Kunstwelt herrscht. Damit<br />

ist jedoch noch nicht das Problem mit dem Theater<br />

abgeräumt, das den Hang zu Partizipation und Gemeinschaft<br />

ursprünglich motivierte. Denn wenn die<br />

Kritik Recht damit hätte, dass das Theater sein Publikum<br />

sediert, so bliebe dies ja ein Problem – unabhängig<br />

von der Frage, ob Partizipation eine befriedigende<br />

Antwort darauf sein kann. Was also ist von dieser Kritik<br />

zu halten? Was wäre, wenn die diesem Impuls unterliegende<br />

Theaterkritik selbst zu kritisieren wäre, weil<br />

sie ein verzerrtes Bild des Theaters und seiner Erfahrung<br />

vermittelt?<br />

J<br />

acques Rancière hat in seinem Aufsatz »Der emanzipierte<br />

Zuschauer« einen viel beachteten Einwand<br />

gegen die dieser Kritik vorausgesetzte Gleichsetzung<br />

von Zuschauen und Passivität vorgebracht. Jedoch<br />

speist sich seine Argumentation interessanterweise<br />

nicht aus dem Ideenreservoir der Ästhetik, sondern<br />

aus dem der Pädagogik: Die von Brecht und Artaud<br />

geteilte Vorstellung eines passiven Publikums, das es<br />

zu aktivieren gilt, ähnele traditionellen Vorstellungen von<br />

Pädagogik, denen zufolge es die Aufgabe des Lehrers<br />

sein soll, den Abstand zwischen seinem eigenen Wissen<br />

und dem Unwissen der Schüler aufzuheben. Doch<br />

setze diese Vorstellung erst den Abstand, dessen<br />

Überwindung sie anzustreben vorgibt. De facto nämlich<br />

gebe es keine Position reiner Unwissenheit, weil jeder<br />

immer schon »einen Haufen Dinge weiß, die er selbst<br />

gelernt hat«. Eine dem Ziel der intellektuellen Emanzipation<br />

verschriebene pädagogische Praxis könne sich<br />

deshalb gerade nicht als asymmetrische Belehrung<br />

verstehen, sondern müsse sich als ein Prozess der Übersetzung<br />

begreifen, in dem der Lehrende dem Lernenden<br />

dabei hilft, das noch nicht Gewusste zum bereits<br />

Gewussten in ein Verhältnis zu bringen. Das Verhältnis<br />

zwischen Lehrer und Schüler sei hier keines von asymmetrischen<br />

Positionen, sondern verlaufe über ein Drittes,<br />

»ein Buch oder irgendein Stück Schrift«, auf das<br />

sich beide beziehen können, »um gemeinsam zu verifizieren,<br />

was der Schüler gesehen hat, was er darüber<br />

sagt und was er davon denkt«.<br />

A<br />

nalog argumentiert Rancière nun für die Theaterpraxis.<br />

Die moderne Theaterästhetik leite ihren<br />

quasi-pädagogischen Aktivierungsauftrag aus der<br />

Annahme ab, dass der Zuschauer den Bildern schlicht<br />

erliegt, die ihm vorgesetzt werden. Der Zuschauer sei<br />

jedoch, so wendet Rancière ein, nie rein passiv, vielmehr<br />

müsse man das Zuschauen selbst als Aktivität<br />

begreifen: »Auch der Zuschauer handelt, wie der<br />

Schüler oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt<br />

aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das,<br />

was er sieht, mit vielen anderen Dingen, die er gesehen<br />

hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten<br />

von Orten.« Statt davon auszugehen, dass man das<br />

Publikum aktivieren muss, indem man ihm eine Rezeptionsweise<br />

vorschreibt, müsse eine emanzipative Theaterpraxis<br />

mit der Anerkennung des Publikums als einer<br />

Zusammenhäufung von freien Interpreten beginnen.<br />

Jeder Zuschauer mache sich nämlich vor dem Hintergrund<br />

seiner eigenen Biografie interpretierend eine<br />

eigene Version des Theaters, das er sieht, und sei also<br />

immer schon aktiv.<br />

J<br />

edoch ist dieses Argument, das zweifellos zu<br />

Recht die Freiheit des Interpreten hervorhebt, eigentümlich<br />

indifferent gegenüber der ästhetischen<br />

Differenz, die eine Theateraufführung von einem theoretischen<br />

Text oder einem politischen Ereignis unterscheidet.<br />

Tatsächlich rückt Rancière die Theateraufführung<br />

neben alle möglichen anderen Gegenstände,<br />

denen wir nun einmal aus unterschiedlichen Perspektiven<br />

begegnen: »In einem Theater, vor einer Performance,<br />

ebenso in einem Museum, einer Schule oder<br />

auf einer Straße, gibt es immer nur Individuen, die ihren<br />

eigenen Weg durch den Wald der Dinge, Handlungen<br />

und Zeichen gehen.« Wie Brecht bestimmt<br />

auch Rancière das Theater damit aber letztlich als einen<br />

Ort des Lernens und Urteilens – mit dem Unterschied<br />

seiner Annahme, dass es hier statt einer vom<br />

Theatermacher intendierten Wahrheit viele individuelle<br />

Wahrheiten zu erkennen gibt. Die entsprechende<br />

Heterogenität kann (und sollte) Rancière zufolge freilich<br />

nie in der Geschlossenheit einer Gemeinschaft<br />

aufgehoben, sondern in einem Prozess der Übersetzung<br />

produktiv gemacht werden, in dem die vielfältigen<br />

Interpretationen und Urteile zueinander ins Verhältnis<br />

gebracht werden können.<br />

D<br />

ie Frage aber ist, ob wir akzeptieren sollten, dass<br />

das Theater als ein (weiterer) Ort des Lernens und<br />

Urteilens verstanden werden muss. Das entscheidende<br />

Problem ist dabei nicht, ob der Zuschauer mental<br />

aktiv ist oder nicht, sondern wie man seine mentale<br />

Aktivität genau verstehen sollte. Dafür empfiehlt sich<br />

ein Blick aufs Theater, und zwar durchaus das der Gegenwart.<br />

Denn nicht alles Gegenwartstheater zielt darauf,<br />

den Zuschauer in einen Teilnehmer zu verwandeln<br />

und das Publikum in Gemeinschaft, vielmehr geht es<br />

häufig auch darum, die Position des Zuschauens, die<br />

Aktivität des Interpretierens und Urteilens sowie das<br />

dieser Aktivität vorausgesetzte Soziale zum Gegenstand<br />

einer reflexiven Auseinandersetzung zu machen.<br />

Das zeigt sich sogar auf besonders markante Weise<br />

an Formen, die die Gegensätze von Fiktion und Wirklichkeit,<br />

Bühne und Zuschauerraum gezielt destabilisieren.<br />

Für den Zuschauer wird hier nämlich fraglich,<br />

ob er es (noch) mit einer Inszenierung zu tun hat, die er<br />

als Zuschauer beobachten kann, oder aber (schon) mit<br />

Wirklichkeit, in die es handelnd zu intervenieren gilt.<br />

Durch die Spannung zwischen diesen beiden Einstellungen<br />

aber wird sich der Zuschauer selbst thematisch<br />

werden – und zwar nicht nur im Blick auf die (von<br />

der modernen Theaterkritik hervorgehobene) Passivität,<br />

durch die sich die Position des Zuschauens ja tatsächlich<br />

dann auszeichnet, wenn man sie am Maßstab<br />

der praktischen Intervention misst, sondern auch im<br />

Blick auf die (von Rancière betonte) Aktivität des Interpretierens.<br />

Weil auch denjenigen Arbeiten, die ein Reales<br />

mit hervorkehren, zugleich immer ein Moment des<br />

Scheins, des Als-ob, anhaftet, wird der an ihnen Teilnehmende<br />

nicht nur auf seine jeweilige Situationswahrnehmung,<br />

sondern auch auf die ihnen zugrunde<br />

liegenden sozialen Deutungsschemata zurückgestoßen<br />

werden. Wir werden dadurch nicht nur gegenüber<br />

dem Gegenstand unserer Wahrnehmung in einer Distanz<br />

gehalten, die spezifisch für ästhetische Gegenstände<br />

ist, sondern auch reflexiv auf die evaluativen<br />

Kategorien verwiesen, vor deren Hintergrund wir die<br />

Welt (immer schon interpretierend) wahrnehmen. Eine<br />

solche Erfahrung unterbricht mit anderen Worten auch<br />

noch die Selbstverständlichkeit, mit der wir das, was<br />

wir aktuell wahrnehmen, mit dem in Verbindung bringen,<br />

was wir bereits kennen.<br />

Wenn hier zugleich auch die Dimension des Sozialen<br />

adressiert wird, so überhaupt nicht mehr im Blick<br />

auf das konkrete und zufällige Publikum (egal, ob<br />

man es sich in seinem Potenzial zur Gemeinschaftsbildung<br />

oder im Gegenteil als heterogene Multitude vorstellt);<br />

reflexiv thematisch wird vielmehr, für jede und<br />

jeden einzeln, jenes Soziale, von dem wir bereits Teil<br />

sind und das uns bis in unsere individuellen Wahrnehmungen<br />

hinein beeinflusst. Dies geschieht indes genau<br />

in dem Maße, wie die Automatismen unserer interpretierenden<br />

Wahrnehmung ausgesetzt, die Kategorien unseres<br />

evaluativen Weltbezugs problematisch werden.<br />

Indem sie solche Erfahrungen ermöglichen, demonstrieren<br />

die interessantesten zeitgenössischen Theaterund<br />

Performancepraktiken nicht nur ihre Differenz, ihre<br />

Autonomie, gegenüber den Bereichen der Handlung<br />

und des Urteilens. Sie assoziieren sich zugleich auch,<br />

und zwar durch diese Autonomie, den politischen Diskussionen<br />

um die Möglichkeit neuer »spekulativer Kollektivitäten«<br />

(Osborne): Denn in diesem Rahmen wird<br />

eine Übersetzungsarbeit notwendig, die nicht nur die<br />

individuellen Perspektiven auf die Gegenstände unserer<br />

Wahrnehmung zu betreffen hätte, sondern auch<br />

noch die sozialen Voraussetzungen, von denen diese<br />

geprägt sind.<br />

impressum Herausgeber: <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> Intendant: Oliver Reese Redaktion: Dramaturgie, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Künstlerisches Betriebsbüro Redaktionsleitung: Sibylle Baschung,<br />

Veronika Breuning Konzept und Gestaltung: Double Standards, Berlin, www.doublestandards.net Illustrationen: Paul Davis, London, www.copyrightdavis.com Druck: Bechtle Druck & Service,<br />

Zeppelinstraße 116, 73730 Esslingen Redaktionsschluss: 5.11.2013 Spielzeit: 2013/14<br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> ist eine Sparte der Städtische Bühnen <strong>Frankfurt</strong> am Main GmbH Geschäftsführer: Bernd Fülle, Bernd Loebe, Oliver Reese Aufsichtsratvorsitzender: Prof. Dr. Felix Semmelroth HRB 52240, <strong>Frankfurt</strong> am Main Steuernummer: 047 250 38165


Die Nibelungen<br />

Friedrich Hebbel<br />

Regie: Jorinde Dröse<br />

Premiere 13. September 2013<br />

Der Menschenfeind<br />

Molière<br />

Regie: Günter Krämer<br />

Premiere 11. Oktober 2013<br />

Der Idiot<br />

Fjodor Dostojewski<br />

Regie: Stephan Kimmig<br />

Premiere 8. November 2013<br />

Wille zur Wahrheit<br />

Bestandsaufnahme von mir<br />

Thomas Bernhard<br />

Regie: Oliver Reese<br />

Uraufführung 17. November 2013<br />

Kinder der Sonne<br />

Maxim Gorki<br />

Regie: Andrea Moses<br />

Premiere 18. Januar 2014<br />

biedermann und die brandstifter<br />

Max Frisch<br />

Regie: Robert Schuster<br />

Premiere 14. Februar 2014<br />

SCHAUSPIEL HAUS<br />

dogville<br />

Lars von Trier<br />

Regie: Karin Henkel<br />

Premiere 11. April 2014<br />

NORA<br />

Henrik Ibsen<br />

Regie: Michael Thalheimer<br />

Premiere 9. Mai 2014<br />

Gefährliche liebschaften<br />

Christopher Hampton<br />

Regie: Amélie Niermeyer<br />

Premiere 14. Juni 2014<br />

KAMMER<br />

SPIELE<br />

DrauSSen vor der Tür<br />

Wolfgang Borchert<br />

Regie: Jürgen Kruse<br />

Premiere 14. September 2013<br />

Das Versprechen<br />

Friedrich Dürrenmatt<br />

Regie: Markus Bothe<br />

Premiere 1. Oktober 2013<br />

Anatol<br />

Arthur Schnitzler<br />

Regie: Florian Fiedler<br />

Premiere 22. November 2013<br />

Dekalog – Die zehn Gebote<br />

Krzysztof Kieślowski /<br />

Krzysztof Piesiewicz<br />

Regie: Christopher Rüping<br />

Premiere 13. Dezember 2013<br />

Bakchen<br />

Euripides / Raoul Schrott<br />

Regie: Felix Rothenhäusler<br />

Premiere 17. Januar 2014<br />

Der weiSSe Wolf<br />

Lothar Kittstein<br />

Regie: Christoph Mehler<br />

Uraufführung 7. Februar 2014<br />

Ein Traumspiel<br />

August Strindberg<br />

Regie: Philipp Preuss<br />

Premiere 28. März 2014<br />

Der Zwerg reinigt den Kittel<br />

Anita Augustin<br />

Regie: Bettina Bruinier<br />

Uraufführung Mai 2014<br />

Andere spielorte<br />

Ich bin Nijinsky.<br />

Ich bin der Tod.<br />

Vaslav Nijinsky / Oliver Reese<br />

Regie: Oliver Reese<br />

Uraufführung 16. September 2013<br />

Mozartsaal, Alte Oper<br />

Der Zeuge<br />

Vivienne Franzmann<br />

Regie: Leonie Kubigsteltig<br />

Deutschsprachige Erstaufführung<br />

April 2014<br />

Museum für Moderne Kunst<br />

<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous<br />

Musikalische Vollversammlung<br />

auf dem Willy-Brandt-Platz<br />

Text und Regie: Schorsch Kamerun<br />

Uraufführung Juni 2014<br />

vom Ende einer Geschichte<br />

Julian Barnes<br />

Regie: Lily Sykes<br />

Uraufführung Juni 2014<br />

PREMIEREN<br />

Ajax<br />

Sophokles<br />

Regie: Thibaud Delpeut<br />

Premiere 1. Dezember 2013<br />

Je t’adorno<br />

Text und Regie: René Pollesch<br />

Uraufführung 8. März 2014<br />

BOckenheimer<br />

depot<br />

Wälsungenblut<br />

Thomas Mann<br />

Regie: Alexander Eisenach<br />

Uraufführung 15. September 2013<br />

Die Geierwally<br />

Wilhelmine von Hillern<br />

Regie: Johanna Wehner<br />

Premiere 22. Oktober 2013<br />

2. Sinfonie – Rausch<br />

Projekt von Ersan Mondtag<br />

Regie: Ersan Mondtag<br />

Uraufführung 10. November 2013<br />

FAUSER<br />

nach dem Roman »Der Schneemann«<br />

von Jörg Fauser<br />

Regie: Alexander Eisenach<br />

Uraufführung Januar 2014<br />

BOX<br />

Junges<br />

schau<br />

FAMILIE : SCHROFFENSTEIN<br />

Projekt mit Jugendlichen nach<br />

Heinrich von Kleist<br />

Regie: Sébastien Jacobi<br />

Premiere 19. Oktober 2013<br />

Kammerspiele<br />

Ronja Räubertochter<br />

Astrid Lindgren<br />

Regie: Matthias Schönfeldt<br />

Wiederaufnahme 24. November 2013<br />

<strong>Schauspiel</strong>haus<br />

all inclusive<br />

Projekt von Martina Droste und<br />

Chris Weinheimer<br />

Premiere 8. Dezember 2013<br />

Jugendclub / Bockenheimer Depot<br />

Punk Rock<br />

Simon Stephens<br />

Regie: Fabian Gerhardt<br />

Premiere 21. März 2014<br />

Bockenheimer Depot<br />

spiel<br />

Das Schloss<br />

nach Franz Kafka<br />

Regie: Ersan Mondtag<br />

Premiere März 2014<br />

schauspiel frankfurt spielzeit 2013/ 14

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