zeitungzur - Schauspiel Frankfurt
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Die<br />
<strong>zeitungzur</strong><br />
Spielzeit 2013/ 14<br />
GEMEIN<br />
Mit Beiträgen von<br />
Schorsch Kamerun<br />
Nargess Eskandari-Grünberg<br />
Guillaume Paoli<br />
Simone Dietz<br />
Sven Hillenkamp<br />
Wilhelm Heitmeyer<br />
Daniel Keil<br />
Jörg Splett<br />
Maggie Thieme / Elmar Brähler<br />
Karl-Heinz Biesold<br />
Dirk Setton<br />
Tilman Allert<br />
Juliane Rebentisch<br />
SCHAFT
02<br />
e d i t o r i a l S T A D T<br />
03<br />
u n d i n h a l t<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />
EDIT<br />
ORIAL<br />
Fehlt es in unserer Gesellschaft an gemeinsamen Werten oder überhaupt an Gemeinschaft?<br />
Ist »Gemeinschaft« heutzutage eine angemessene Antwort auf die<br />
neoliberale Desintegration der Gesellschaft oder können wir gut und gerne darauf<br />
verzichten? Wie viel Differenz ist unerlässlich für ein lebendiges soziales Gebilde,<br />
für dessen Kritik, seine Veränderung? Wie viel Einigkeit ist produktiv für ein friedliches<br />
Zusammenleben, wann beginnt der Zwang zur Vereinheitlichung, die Gewalt?<br />
Gemeinschaft, Individualitätsstreben und Außenseitertum sind Begriffe, die das Feld<br />
abstecken, auf welchem sich die Spielzeit 13/14 des <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> bewegt. Wir<br />
haben Künstler, Politiker und Wissenschaftler eingeladen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.<br />
Die einen tun es auf der Bühne im Theater, den anderen möchten<br />
wir mit dieser Publikation eine gedankliche Bühne eröffnen.<br />
S<br />
chorsch Kamerun, Sänger und Regisseur, unterhält sich anlässlich seines Stadtprojektes<br />
»<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous« mit der <strong>Frankfurt</strong>er Dezernentin für Integration,<br />
Nargess Eskandari-Grünberg, über Möglichkeiten und Grenzen gezielter Förderung<br />
von Gemeinschaft. Nach dem Verschwinden von »Gemeinschaft«, d. h. von überpersönlichen<br />
Strukturen und Institutionen, ist das »Du« – so die These des Soziologen<br />
Sven Hillenkamp – die einzige Instanz, die dem Menschen noch einen Wert verleihen<br />
kann. In welche Nöte uns diese Abhängigkeit von der Liebe bzw. Wertschätzung eines<br />
Einzelnen und die Abwesenheit von gesellschaftlichen Institutionen bringt, umkreisen u. a.<br />
Stücke wie Lars von Triers »Dogville« oder »Gefährliche Liebschaften« von Christopher<br />
Hampton. Auf der anderen Seite spielt Florian Fiedlers humoreske Inszenierung von<br />
Schnitzlers »Anatol« damit, wie viel Spaß und Lustgewinn man aus dieser Situation<br />
auch ziehen kann. Im Zusammenhang mit Molières »Menschenfeind« denkt die Philosophin<br />
Simone Dietz über den Wert der Lüge für ein vitales Gemeinschaftsleben nach,<br />
während Jörg Splett Gewissenstreue und unbedingten Respekt vor dem anderen für<br />
eine Gemeinschaft freier Menschen als unerlässlich erachtet und religionsphilosophisch<br />
begründet. In der künstlerischen Auseinandersetzung des polnischen Filmemachers<br />
und Autors Krzysztof Kieślowski mit den zehn Geboten wird deutlich, dass in einer<br />
weltlichen Gesellschaft oder in dem sogenannten »postmetaphysischen Zeitalter« allgemeinverbindliche<br />
Werte keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Wie kann<br />
Wahrheit ein absoluter Wert sein, wenn eine Notlüge Menschenleben rettet? Vielleicht<br />
brauchen moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften zu ihrer Integration auch nicht<br />
unbedingt einen unerschütterlichen Wertekanon als integrative Maßnahme. Sind andere<br />
Strategien möglicherweise besser geeignet, integrativ zu wirken, z. B. die Verfahren<br />
demokratischer Meinungs- und Willensbildung? Eine Frage, die in Christopher<br />
Rüpings Inszenierung von »Dekalog – Die zehn Gebote« eine Rolle spielt.<br />
D<br />
er Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer forscht seit über dreißig Jahren zu den<br />
Themen Rechtsextremismus und soziale Desintegration. In seinem Text beschreibt<br />
er, warum es eine Fehleinschätzung wäre, die Gewaltverbrechen des NSU als Einzelphänomen<br />
zu stilisieren. Die Ereignisse rund um den NSU nahm der Dramatiker<br />
Lothar Kittstein zum Anlass für sein Stück »Der weiße Wolf«. Mit den Folgen des inneren<br />
und äußeren Krieges und den Wiedereingliederungsschwierigkeiten der Heimkehrer<br />
beschäftigen sich aus aktuellem Anlass die beiden Stücke »Draußen vor der Tür« von<br />
Wolfgang Borchert und »Ajax« von Sophokles. Der niederländische Regisseur Thibaud<br />
Delpeut liest die antike Tragödie vor dem Hintergrund der Afghanistan-Heimkehrer.<br />
Karl-Heinz Biesold, emeritierter leitender Arzt der Abteilung Neurologie und Psychotherapie<br />
am Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg, beschreibt das gegenwärtige Dilemma<br />
der Bundeswehrsoldaten, während der Arzt und Psychologe Elmar Brähler von der<br />
Universität Leipzig über die psychischen Folgen der Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg<br />
bis hin zu den Auswirkungen auf die Enkelgeneration forscht.<br />
I<br />
m Kontext von Jorinde Dröses Nibelungen-Inszenierung macht sich der <strong>Frankfurt</strong>er<br />
Politologe Daniel Keil Gedanken zum Mythos der Europäischen Gemeinschaft. Den<br />
Wunsch nach innerer Vereinheitlichung entlarvt Keil als eine maßgeblich von<br />
Deutschland forcierte Politik, die sich v. a. um den Wert der »Leistung« gruppiert. Das<br />
»Andere« wird dabei als »das Unproduktive« in Abgrenzung zum »produktiven WIR«<br />
konstruiert. Offen bleibt die Frage, ob und wie sich eine Gemeinschaft wie die europäische<br />
ohne den Zwang zur Identität gestalten lässt. Dass es in der »Natur von<br />
Gemeinschaft« liegt, nicht per se »gut«, sondern von tragischen Widersprüchen durchzogen<br />
zu sein, erläutert der <strong>Frankfurt</strong>er Philosoph Dirk Setton anhand von Lars von<br />
Triers »Dogville« und den »Bakchen« von Euripides. Ausgehend von Maxim Gorkis<br />
»Kinder der Sonne« widmet sich der in Berlin lebende französische Philosoph und<br />
Schriftsteller Guillaume Paoli dem Thema des kollektiven Widerstands und der Rolle<br />
der Intellektuellen. Als intellektueller Unruhestifter, als Außenseiter, dessen Aufgabe<br />
es ist, seine Autonomie gegenüber Staat und Gesellschaft zu bewahren, um sie kritisieren<br />
zu können, verstand sich Zeit seines Lebens der österreichische Autor Thomas<br />
Bernhard. Mit »Wille zur Wahrheit« dramatisiert und inszeniert Intendant Oliver Reese<br />
zum ersten Mal Thomas Bernhards fünfbändige Autobiografie. Der <strong>Frankfurt</strong>er Soziologe<br />
Tilman Allert schildert in dem vorliegenden Essay die Erfahrung des jungen<br />
Bernhard, in der kleinsten gemeinschaftlichen Zelle, der Familie, immer schon »anwesend<br />
abwesend« gewesen zu sein.<br />
Zum Schluss macht Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an<br />
der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, das Verhältnis von Theater und Gemeinschaft<br />
zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Ein wichtiger Impuls des modernen<br />
politischen Theaters in der Nachfolge von Brecht war es, die Zuschauer von angeblich<br />
passiven Konsumenten in eine Gemeinschaft von aktiv Urteilenden zu verwandeln.<br />
Rebentisch zieht in Zweifel, dass in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, in welcher<br />
Eigeninitiative und Vernetzung zu den entscheidenden Forderungen geworden sind,<br />
»Aktivierung« und »Teilhabe« per se die zeitgenössischen künstlerischen Gegenstrategien<br />
sind. Statt das Publikum in eine Gemeinschaft zu verwandeln, könnte es in einer<br />
zeitgenössischen kritischen Theaterpraxis vielmehr darum gehen, die Position des<br />
Zuschauens, die Aktivität des Interpretierens und Urteilens sowie das dabei vorausgesetzte<br />
Soziale zum Gegenstand einer reflexiven Auseinandersetzung zu machen.<br />
Wir haben den Illustrator Paul Davis gebeten, zu den aufgeworfenen Themen Stellung<br />
zu beziehen. Davis lebt in London und zeichnet u. a. für »The Guardian« und<br />
»The New York Times«. Mit einer lakonischen Leichtigkeit und Ironie entlarven<br />
seine Illustrationen die Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens. Sie bringen<br />
zum Ausdruck, dass unsere persönlichen, kleinen und alltäglichen Utopien, aber auch<br />
die großen politischen Versprechen der Gegenwart, schnell zur Groteske verrutschen,<br />
wenn man sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft.<br />
wem gehört die stadt? 03<br />
Schorsch Kamerun im Gespräch mit Nargess Eskandari-Grünberg<br />
Feigheit vor dem Volk 07<br />
Guillaume Paoli<br />
Über Gemeinschaft und Lüge 10<br />
Simone Dietz<br />
Furchtbares DU! Stürzendes ICH! 14<br />
Sven Hillenkamp<br />
Der Nationalsozialistische Untergrund und 18<br />
die gesellschaftliche Selbstentlastung<br />
Wilhelm Heitmeyer<br />
Gemeinschaft und Mythos: zum Verhältnis von nationaler und 21<br />
europäischer Identität<br />
Daniel Keil<br />
Über Religion und Gemeinschaft 25<br />
Ein Gespräch mit dem <strong>Frankfurt</strong>er Religionsphilosophen Jörg Splett<br />
Kriegsheimkehrer, Kriegskinder, Kriegsenkel 28<br />
Maggie Thieme und Elmar Brähler<br />
Ajax in Afghanistan 33<br />
Ein Gespräch mit dem Militärarzt Karl-Heinz Biesold<br />
Albträume der Gemeinschaft 36<br />
Dirk Setton<br />
Thomas Bernhard – die Fiktionalisierung einer biografischen Erfahrung 40<br />
Tilman Allert<br />
Emanzipierte Zuschauer und spekulative Kollektivitäten 44<br />
Juliane Rebentisch<br />
S<br />
chorsch<br />
Kamerun ist Sänger der<br />
Hamburger Band »Die goldenen<br />
Zitronen« und TheateR Regisseur<br />
begehbarer Konzertinstallationen.<br />
Mit Dr. Nargess Eskandari-Grünberg ,<br />
Dezernentin für Integration in<br />
FranK Furt, spricht er über ein<br />
Theater für alle, die Möglichkeiten<br />
und Grenzen gezielter Förderung<br />
von Gemeinschaft und die Imitation<br />
der Liebe durch die Stadt planung.
04<br />
S T A D T S T A D T<br />
05<br />
G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />
Erstmal raus auf<br />
d e n P l a t z ,<br />
zu den Andern!<br />
<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous<br />
von Schorsch Kamerun Uraufführung Juni 2014<br />
die<br />
Wemgehört<br />
Stadt?<br />
Schorsch Kamerun im Gespräch mit<br />
Nargess Eskandari-Grünberg<br />
Kamerun: Gerade geht es in meinen Projekten um die<br />
Frage: Gibt es ein neues WIR? Ich glaube, wir erleben<br />
derzeit die Renaissance einer kollektiven physischen<br />
Begegnung. Das Stadtprojekt »<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous«<br />
wird im Juni 2014 auf dem Willy-Brandt-Platz<br />
den Versuch unternehmen, die unterschiedlichen kulturellen<br />
Milieus <strong>Frankfurt</strong>s komprimiert in einer Art<br />
Modell- und Stimmenpark sicht- und hörbar zu machen.<br />
Was passiert, wenn die Menschen <strong>Frankfurt</strong>s<br />
vor der Euro-Skulptur künstlich und distanzlos gemischt<br />
werden?<br />
Eskandari-Grünberg: Wir sagen ja immer, die Stadt ist<br />
der Ort der Begegnung, wo Menschen sich treffen. In<br />
<strong>Frankfurt</strong> leben wir in einer der multikulturellsten, vielfältigsten<br />
Städte der Welt, mit über 170 Nationen und sehr<br />
vielen Subkulturen. Mit unserem Kulturangebot erreichen<br />
wir jedoch nur einen Teil der Menschen. Jetzt könnte<br />
man sagen, der andere Teil interessiert sich nicht für<br />
Hochkultur. Oder wir stellen die Frage, was wir ändern<br />
müssen, damit das Publikum in den Kultureinrichtungen<br />
die Vielfalt unserer Stadt widerspiegelt. Deswegen bin<br />
ich gespannt darauf, wie Sie es mit Ihrem Stadtprojekt<br />
schaffen, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Biografie<br />
in einen Dialog zu bringen.<br />
dender Aktualität. Wie zum Beispiel der Tahrir-Platz in<br />
Kairo oder der Taksim-Platz in Istanbul. Nur, wie entsteht<br />
eigentlich dieses Zusammenkommen? Und das wäre<br />
auch die Frage an Sie: Lässt es sich lenken, wie integriert<br />
wird, oder kann das nur eigenständig passieren?<br />
Eskandari-Grünberg: Ich denke, vor Ort zu gehen, ist<br />
ein guter Ansatz, um Kultureinrichtungen zu öffnen. Als<br />
Integrationsdezernentin kümmere ich mich um eine<br />
Stadt, die vielfältig ist. Integration bedeutet, die Stadt<br />
gemeinsam zu gestalten. Wir müssen Wege schaffen,<br />
dass die Menschen sagen: Ich partizipiere, ich interessiere<br />
mich und entscheide mit.<br />
Kamerun: Die zentrale Frage ist doch, wie schafft es die<br />
Stadtregierung, diese Möglichkeiten von Begegnung<br />
»von oben« und gleichzeitig »unautoritär« herzustellen?<br />
Das ist ja auch ein Anliegen bei unserem Projekt, dass<br />
es nicht als »geführt« aufgefasst wird.<br />
Eskandari-Grünberg: Es geht darum, Partizipation gezielt<br />
zu fördern. Vielfalt kann sich im öffentlichen Raum durch<br />
Kunst, durch die Benennung von Straßen und Plätzen<br />
oder durch eine einladende Gestaltung von Gebäuden<br />
ausdrücken. Straßen, Plätze, Grünanlagen und öffentliche<br />
Gebäude sind identitätsstiftende Symbole und<br />
können Begegnung und Selbstdarstellung unterschiedlicher<br />
Gruppen fördern und ausdrücken. Integration<br />
heißt kreativ sein.<br />
Kamerun: Aber wer ist hier eigentlich kreativ? Muss<br />
nicht eigentlich erst mal derjenige, der dort lebt, Kreativität<br />
hervorbringen? Das ist doch das Problem von<br />
Stadtplanung, würde ich sagen, vielleicht auch von Integration:<br />
Gegenden müssen wachsen, von sich aus, damit<br />
sie authentisch sind. Vielleicht ist diese Art von stadtplanerischer<br />
»Methodenbereitstellung« gar nicht möglich<br />
– sondern die Menschen müssen selbst auf die Idee<br />
kommen, zu gestalten. Wünsche lassen sich schlecht<br />
von anderen vorempfinden.<br />
Eskandari-Grünberg: Wir müssen Menschen über ihre<br />
Teilhabemöglichkeiten informieren und sie befähigen,<br />
mitzuentscheiden und mitzugestalten. Das verstehe ich<br />
unter Chancengleichheit.<br />
Kamerun: Und was sind mögliche Konzepte für eine solche<br />
Politik?<br />
Eskandari-Grünberg: Unser Integrationskonzept nennt<br />
dazu eine ganze Reihe von konkreten Ansätzen: Menschen<br />
sollen sich etwa schnell und wohnortnah über<br />
ihren Stadtteil informieren und sich an der Gestaltung<br />
ihres Umfelds beteiligen können. Dafür gilt es an<br />
geeigneten Orten Anlaufstellen zu schaffen, die gut<br />
erreichbar und angemessen ausgestattet sind. Wir<br />
müssen die Kompetenz im Umgang mit Vielfalt und das<br />
gemeinsame Verantwortungsbewusstsein der Be wohnerinnen<br />
und Bewohner stärken und der Wahrnehmung<br />
Kamerun: Wir verlängern das <strong>Schauspiel</strong>haus <strong>Frankfurt</strong><br />
auf den Willy-Brandt-Platz und öffnen es gleichzeitig<br />
dadurch. Verwandte Orte sind ja gerade von entscheivon<br />
Quartieren als »Problem-Stadtteilen« entgegenwirken.<br />
Kamerun: Sollte Politik dort eingreifen? Wenn ein Areal,<br />
weil Firmen ausziehen, leer steht – wer darf da was drin<br />
machen als nächstes? Ich wäre dafür, die Umliegenden<br />
mitzunehmen und zu befragen. Ich glaube, dass es Gegenden<br />
gibt, die um einen Bestand kämpfen. Sie wollen<br />
sich von alleine entwickeln und gar nicht schnell verändern.<br />
Rasante Entwicklungen sind fast immer ökonomisch<br />
gedacht.<br />
Eskandari-Grünberg: Es geht darum, sich klarzumachen,<br />
dass wir in einer sich ständig verändernden Welt leben.<br />
Inzwischen ist es zum Beispiel chic, im ehemaligen Arbeiterviertel<br />
Gallus zu leben. Da kommt eine neue Klientel,<br />
die das ursprüngliche Quartier massiv verändert. Das<br />
Gallus steht nun vor der Aufgabe, sich neu zu definieren.<br />
Hier muss Politik dafür sorgen, dass die unterschiedlichen<br />
Bedürfnisse aller berücksichtigt werden, damit<br />
ein neues WIR entstehen kann.<br />
Kamerun: Ist das eine deutsche Eigenart? Wenn man<br />
nach Berlin-Hellersdorf schaut: Da gibt es ein geschlossenes<br />
WIR, welches Zuzüge von Flüchtlingen verhindern<br />
will.<br />
Eskandari-Grünberg: Ich glaube, es geht genau darum,<br />
das auszusprechen: Dieses WIR ist immer vielfältig und<br />
nie homogen. Dieser Tatsache müssen wir uns in einer<br />
Demokratie stellen.<br />
Kamerun: Ist das überhaupt möglich, ein WIR-Empfinden<br />
zu fördern? Womit?<br />
Eskandari-Grünberg: Mit Teilhabe. Wir möchten eine<br />
integrative Stadtplanung fördern, die den Bürger meint.<br />
Dazu müssen unterschiedliche Akteure wie Stadtteilinitiativen,<br />
Vereine, Schulen und Kitas, Senioren- und<br />
Kultureinrichtungen oder Religionsgemeinschaften in<br />
den Prozess der Stadtplanung eingebunden werden.<br />
Wenn wir es nicht schaffen, sozusagen von oben diese<br />
Offenheit zu haben, dann schaffen wir es auch von<br />
unten nicht.<br />
Kamerun: Ich befürchte, weil diese Beweglichkeit nicht<br />
mehr glaubwürdig ist, erleben wir ein so starkes Comeback<br />
von direkter Demokratie. Dass die Leute keinen<br />
Bock mehr haben auf dieses Gefühl: Egal, wer da<br />
oben rumwurschtelt, es ist sowieso immer gleich. Wie<br />
fühlt man sich also ernst genommen? Ich muss spüren,<br />
dass sich da jemand wirklich interessiert und nicht nur<br />
innerhalb seiner Legislaturperiode. Das ist übrigens in<br />
der Liebe sehr ähnlich. Ich fühle mich nur dann ernst<br />
genommen und geliebt, wenn ich spüre, da ist jemand<br />
bei mir. Die Stadtplanung imitiert zum Teil auch die Liebe.<br />
Auch die Stadtplanung sagt: »Wir haben hier diese ›spannende‹,<br />
multikulturelle Gegend, die ist für alle lebenswert!«<br />
– und deswegen wird sie erfolgreich. Das ist<br />
schon ein bisschen betrügerisch. Ich glaube, man muss<br />
wirklich da sein. Und das ist auch wieder etwas, was<br />
wir dringend brauchen als Gegenmittel in unserer überkomplexen<br />
Zeit, in dieser »Entfremdung 2.0« im Medienzeitalter:<br />
Raus auf den Platz, zu den Anderen!<br />
Eskandari-Grünberg: Ja, man muss das Ernstnehmen<br />
wirklich meinen und in Taten umsetzen.<br />
Kamerun: Es geht nur mit Eigeninteresse. Wenn ich<br />
mich nicht interessiere, habe ich auch keine Lust. – Übrigens,<br />
die Leute ernst zu nehmen, das behauptet ja erst<br />
mal jeder Politiker. Man muss es dann halt beweisen.<br />
Auch als Politiker muss ich da sein.<br />
Eskandari-Grünberg: Im Grunde gehört genau diese<br />
ganze Diskussion, die wir hier gerade führen, in den<br />
öffentlichen Raum.<br />
Kamerun: Aber das ist Teil unserer Form. Wir werden da<br />
nicht nur mit <strong>Schauspiel</strong>ern auflaufen und vorher Menschen<br />
aus der Stadt befragt haben, die dann »nachgespielt«<br />
werden. Wir machen es komplett mit allen. Denn<br />
der Anwohner beschreibt seine Interessen am besten<br />
ganz selbst.<br />
Eskandari-Grünberg: Ich finde das sehr spannend, wir sollten<br />
über eine gemeinsame Veranstaltung nachdenken.
2013/14<br />
I D E O L O G I E G E M E I N S C H A F T W A N D E L<br />
07<br />
W<br />
ie wird aus einem Bauprojekt plötzlich ein<br />
Aufstand der Jugend oder aus einer noR malen<br />
FahR preiS erhöhung ein Massenprotest, der ein<br />
ganzes Land fast in den Bürgerkrieg treibt? Kleinigkeiten<br />
als Auslöser für eine kollektive<br />
Empörung, die von der Politik nicht vorheR Sehbar<br />
und in ihrer Vehemenz nicht zu kalkulieren<br />
ist. Der in Berlin lebende fran zö Sische Philosoph<br />
und Schriftsteller Guillaume Paoli h a t s i c h<br />
mit diesem neuen Phänomen des Widerstands<br />
auseinandergesetzt, und dabei vor allem mit der<br />
Passivität der Intellektuellen, die, ganz wie<br />
Gorkis »Kinder der Sonne«, ihren DiS Kurs lieber<br />
fernab der Realität der StraSSe führen.
08<br />
I D E O L O G I E I D E O L O G I E<br />
09<br />
G E M E I N S C H A F T W A N D E L<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T W A N D E L<br />
vor<br />
Feigheit<br />
dem<br />
Guillaume Paoli<br />
Volk<br />
Am allermeisten bin ich darüber erstaunt und<br />
erschrocken, dass die Revolution keinerlei<br />
Anzeichen einer geistigen Wiedergeburt<br />
des Menschen in sich birgt, die Menschen<br />
weder ehrlicher noch offenherziger macht,<br />
noch ihre Selbsteinschätzung und die<br />
moralische Bewertung ihrer Arbeit hebt.<br />
Maxim Gorki: »UnzeitgemäSSe Gedanken« 1917<br />
Eines Tages wird ihr<br />
Hass auch<br />
euch vernichten ...<br />
Kinder der Sonne von Maxim Gorki<br />
Premiere Januar 2014<br />
Die Utopie sind WIR – als Schar!<br />
<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous<br />
von Schorsch Kamerun Premiere Juni 2014<br />
Warum sickert in einer Kaffeemaschine das<br />
Wasser durch das ganze Kaffeepulver durch,<br />
anstatt bloß nach unten zu tröpfeln? Das Phänomen<br />
heißt Perkolation – auf Englisch nennt<br />
sich auch die Kaffeemaschine »percolator«.<br />
Generell beschreibt die Perkolationstheorie wie in einem<br />
gegebenen System Punkte, die voneinander getrennt<br />
sind, sich in zufallsbedingten Zusammenhängen untereinander<br />
verbinden, welche sich wiederum mit anderen<br />
Zusammenhängen vernetzen. Zieht sich der Prozess<br />
weiter durch, dann wird eine »Perkolationsschwelle« erreicht:<br />
Das System kippt von seinem ursprünglichen<br />
Zustand in einen neuen Zustand um (zum Beispiel wird<br />
der Kaffeesatz komplett durchnässt). Der belgische Anthropologe<br />
Paul Jorion meint: »Mit der Perkolation entstehen<br />
unzählige Wege, die ohne Unterbrechung durch<br />
das gesamte System führen und zwar ganz gleich, wo<br />
der Eingangspunkt lag.« Darum ist Perkolation, wenn<br />
nicht ein Modell, dann zumindest eine geeignete Metapher,<br />
um die Dynamik sozialer Bewegungen zu beschreiben.<br />
Sie ist auf jeden Fall passender als das Bild des<br />
»Virus«, das, immer wenn sich ein Aufstand ausbreitet,<br />
von einfallslosen Journalisten bemüht wird.<br />
Wir sind alle vereinzelte Punkte im System. Jeder mag<br />
sich über dies und jenes empören, jeder mag sich<br />
wünschen, dass sich endlich etwas dagegen tut,<br />
doch solange Gefühle und Wünsche nicht kommuniziert<br />
werden, bleibt die Ohnmacht intakt und mithin das System.<br />
Zwar formieren sich immer wieder politische Zusammenhänge<br />
und Protestcluster, doch meistens stoßen<br />
sie schnell an unüberbrückbare Grenzen. Das besetzte<br />
Feld wird von den Nachbarfeldern ignoriert. Doch ab<br />
und an findet das perkolative Moment statt. In letzter Zeit<br />
wurde das Phänomen u. a. in Tunesien, Ägypten, Spanien,<br />
Brasilien und der Türkei beobachtet. Tausende versammeln<br />
sich an einem Ort, und plötzlich sind es Zehntausende,<br />
die sich mit weiteren Zehntausenden verbinden,<br />
bis das ganze Gesellschaftsgewebe von zahllosen Kommunikationswegen<br />
durchdrungen ist. Die Summe der<br />
privaten Empörungen wird zur öffentlichen Rebellion, die<br />
individuelle Ohnmacht zur kollektiven Macht, die Angst<br />
verflüchtigt sich, und das System kippt um, zumindest für<br />
einen kurzen Augenblick.<br />
E<br />
ine solche Ausbreitung erfolgt so rasch und unvermittelt,<br />
dass sie den Teilnehmern wie ein Wunder<br />
erscheint. Niemand hätte sie für möglich gehalten,<br />
niemand kann wirklich erklären, wie sie zustande kam.<br />
Es gibt einen logisch-negativen Grund, weshalb die soziale<br />
Perkolation unvorhersehbar ist. Wäre es möglich,<br />
sie zu prognostizieren, dann könnten es auch Regierung<br />
und Polizei tun, also würden sie rechtzeitig handeln können,<br />
um sie zu verhindern. Die Vorhersagbarkeit des<br />
Ereignisses würde es zum Nicht-Ereignis machen. Ein<br />
weiterer Grund ist die topologische Unbestimmbarkeit.<br />
Der Eingangspunkt ist gleichgültig, Auslöser der Revolte<br />
kann alles sein, in São Paulo eine Fahrpreiserhöhung<br />
oder in Istanbul ein Bauvorhaben. Tagtäglich werden<br />
Preiserhöhungen und Bauprojekte beschlossen, ohne<br />
auf Widerstand zu treffen. Stillschweigend geduldet<br />
werden ja weitaus gravierendere Eingriffe in die Freiheit<br />
und den Wohlstand. Menschen nehmen zur Kenntnis,<br />
dass sie von Banken enteignet und von Geheimdiensten<br />
überwacht werden und gehen trotzdem nicht auf die<br />
Straße. Dann aber reicht ein relativ harmloser Zwischenfall,<br />
und hoch gehen die Barrikaden. Warum passiert es<br />
ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Weil vielfältige,<br />
heterogene Faktoren zufällig aufeinander getroffen sind.<br />
Die günstige Wetterlage mag ebenso dazu gehören wie<br />
im richtigen Augenblick die inspirierte Wortmeldung<br />
eines Einzelnen. Daher kann keine Strategie diesen<br />
Prozess steuern, Theorien gehören allenfalls zu den vielen<br />
Zufallsbedingungen.<br />
I<br />
st die Perkolation einmal im Gang, gibt es erprobte<br />
Gegenmaßnahmen, um sie zu stoppen. Gewöhnlich<br />
erfolgen diese in drei Stufen. Zunächst werden die<br />
Kommunikationswege physisch gesperrt. Die Gefahrenzone<br />
wird von einem Sicherheitsgürtel umzingelt.<br />
Das ist die Aufgabe der Polizei. Zweitens wird der<br />
entstehende Prozess argumentativ ausgesondert. Über<br />
die besonderen Probleme der protestierenden Gruppe<br />
wird ausführlich diskutiert, um besser über die allgemeinen<br />
Gründe zu schweigen, die zu einer weiteren<br />
Ausbreitung führen könnten. Das ist die Aufgabe der<br />
Medien. Schließlich werden die horizontalen Kommunikationswege<br />
nach oben umgeleitet und einseitig<br />
auf die Regierung gerichtet. So entsteht ein Trichter<br />
Effekt: Mit der Regierung kann nicht jeder sprechen,<br />
also wird die Kommunikation an Experten delegiert,<br />
weil diese mit Vertretern der Macht eine gemeinsame<br />
Sprache teilen, die die meisten Menschen kaum beherrschen.<br />
D<br />
abei wären wir bei der alten Frage der Verbindung<br />
zwischen dem Intellektuellen und dem Volk. Laut<br />
Sartres Definition ist ein Intellektueller jemand, der<br />
sich um Sachen kümmert, die ihn nichts angehen. Die<br />
Frage ist aber, wie er das tut. In den letzten Jahrzehnten<br />
ist die Figur des engagierten Intellektuellen so gut wie<br />
verschwunden. Das zeigt die Verwandlung des Populismus-Begriffs<br />
besonders deutlich. Populisten, das<br />
waren im 19. Jahrhundert Sprösslinge der Elite, die<br />
Studium und Karriere hinschmissen, um mit den Bauern<br />
zu leben und zu agitieren. Das taten sie zum Teil aus<br />
Selbsterlösungsgedanken, doch vor allem aus der einfachen<br />
Überlegung: Wer sich für das Gemeinwohl engagieren<br />
will, muss die Massen auf seiner Seite haben.<br />
In den USA und Russland war der Populismus eine<br />
wichtige, erfolgreiche Bewegung. Als letzte Populisten<br />
können wir hierzulande jene maoistischen Studenten<br />
werten, die in den 1970er Jahren zu Fabrikarbeitern wurden.<br />
So verschroben ihre Ideologie war, in ihrem Handeln<br />
zumindest waren sie konsequent. Doch ist heute<br />
Populismus ein Schimpfwort geworden. Als Populist<br />
gilt jeder, der sich an die einfachen Menschen in deren<br />
Sprache wendet.<br />
A<br />
llein von »einfachen Menschen« zu sprechen, ist bereits<br />
höchst verdächtig. Besonders in Deutschland<br />
gelten die unteren Schichten als stumpfsinnig, unartikuliert<br />
und tendenziell völkisch. Wenn sie wider Erwarten<br />
einen Protest wagen, findet sich immer ein linker<br />
Schlaumeier, um ihnen »verkürzte Kapitalismuskritik«,<br />
»Neid«, wenn nicht »antisemitische Untertöne«, vorzuwerfen.<br />
Das mag wohl sein, aber die Menge, die 1789<br />
die Bastille stürmte, bestand auch nicht aus feinsinnigen<br />
Aufklärern. Wie Hegel meinte, das Bewusstsein ist<br />
wie die Eule der Minerva, sie fliegt erst in der Dämmerung<br />
aus (und oft genug ist es dann zu spät). Man hätte<br />
glauben können, dass es gerade die Aufgabe der Intellektuellen<br />
sei, sich unter die Menge zu mischen, um zu<br />
versuchen, gemeinsam Gedanken zu klären. Aber das<br />
wäre ja populistisch.<br />
Z<br />
ugegeben, der Verdacht ist nicht fehl am Platz. Der<br />
Rekurs zum »Volk« ist vielmals ein Instrument von<br />
Gleichschaltung und Diktatur gewesen. Andererseits<br />
ist der Volksbegriff für die politische Theorie unverzichtbar.<br />
Wen sonst vertreten die Vertreter? Von<br />
wem geht die Souveränität aus? Vor allem aber: Ist einmal<br />
das gemeine Volk weggezaubert, welches Subjekt<br />
bleibt dann gegenüber der Elite übrig? Wahrscheinlich<br />
ist das die sonderbarste Errungenschaft der Gegenwart:<br />
Die meisten Menschen sind unsichtbar gemacht<br />
worden. Sie kommen in der Öffentlichkeit einfach nicht<br />
mehr vor. Allein durch die Statistik erfahren wir, dass in<br />
Deutschland immer mehr Bürger am Rand des Existenzminimums<br />
leben. Doch eine wahrnehmbare, soziale<br />
Präsenz haben sie nicht. Sie sind weg vom Bildschirm.<br />
Eine räumliche Entsprechung ist das gentrifizierte Stadtzentrum,<br />
das einem den Eindruck vermittelt, die Bevölkerung<br />
ernähre sich nur noch von Kunstprojekten, Design<br />
und Apps.<br />
E<br />
s gibt Gegenentwürfe. Brechts Ratschlag folgend<br />
hat der Philosoph Antonio Negri das Volk aufgelöst,<br />
ein neues gewählt und es Multitude genannt. Auf den<br />
ersten Blick sieht die Multitude vorteilhafter aus, sie ist<br />
keine graue Masse mehr, sondern eine bunte Ansammlung<br />
von »Singularitäten«. Doch verbirgt diese scheinbare<br />
Vielfalt eine bedenkliche Homogenität. Zur Multitude<br />
zählen nicht etwa der zur Ausländerfeindlichkeit<br />
neigende Bauarbeiter oder die katholische Gegnerin<br />
der Homo-Ehe. Voraussetzung um dazuzugehören ist<br />
schon eine vage Grundgesinnung. Auch die verdrossene<br />
Supermarktkassiererin mit Grundschulabschluss<br />
wird sich schwer mit dem Jargon des »kognitiven Proletariats«<br />
anfreunden können. Die linksakademische<br />
Sprache will nicht verbinden, sondern absondern. So<br />
bleibt man schließlich unter sich.<br />
N<br />
euerdings wird jener Bruchteil der Bevölkerung, der<br />
zur Sichtbarkeit offiziell zugelassen wird, »Generation<br />
Y« genannt. Es sind gut ausgebildete, technologieaffine,<br />
optimistische und selbstbewusste Menschen<br />
unter 35. Glaubt man Wikipedia, ist das Musterbeispiel<br />
ihrer Organisationsform die Bewegung Occupy Wall<br />
Street (OWS). Wen wundert’s? Laut Publizist Thomas<br />
Frank war OWS »das meist beschriebene und überschätzte<br />
Ereignis aller Zeiten«. Bereits der Name täuscht:<br />
Nicht die Wall Street wurde besetzt, sondern ein Park<br />
nebenan, keine Banken, sondern Parkbänke. Das ist<br />
nicht weiter schlimm, bloß soll klargestellt werden, dass<br />
man sich im symbolischen Bereich bewegte. Auch das<br />
Ausmaß der Bewegung wurde massiv überschätzt. So<br />
werbetechnisch perfekt der von Antiwerbung-Aktivisten<br />
lancierte Slogan »Wir sind die 99%!« auch war, waren<br />
am Ende doch nur ein paar tausend Teilnehmer dabei,<br />
und das in einer 8-Millionen-Stadt. Zu diesem Zeitpunkt<br />
war in der gesamten US-Bevölkerung die Empörung<br />
gegen das Finanzsystem zwar riesig – entsprechend<br />
auch die anfängliche Sympathie für OWS –, und doch<br />
waren die Camper fast ausschließlich Studenten, Akademiker,<br />
Künstler und Netz-Aktivisten. Sie haben zusammen<br />
gekocht, getrommelt, geschlafen, Internetbotschaften<br />
in die Welt geschickt, tagelang antihierarchisch<br />
palavert und eine Menge Spaß gehabt. Da sie keine<br />
Forderung hatten, konnten sie nicht enttäuscht werden,<br />
als nach acht Wochen der Karneval zu Ende ging,<br />
ohne die soziale Lage im geringsten verändert zu<br />
haben. Weiterhin wurden arme Schlucker aus ihren Häusern<br />
rausgeschmissen, verloren ihren Job, rangen mit<br />
Überschuldung, während es den Bankern nach wie vor<br />
prächtig geht.<br />
S<br />
elbstverständlich war es richtig, etwas unternehmen<br />
zu wollen, und niemandem darf das Scheitern vorgeworfen<br />
werden. Bedenklich wird es aber, wenn das<br />
Scheitern hinterher als Riesenerfolg gefeiert wird, ja, als<br />
Beginn einer neuen Revolution. Der Zuccotti-Park wurde<br />
dem Tahrir-Platz gleichgestellt, aber in Ägypten fand<br />
tatsächlich ein perkolativer Volksaufstand statt, deswegen<br />
war dieser auch widersprüchlich, konfliktreich, in<br />
einem Wort: unrein. Stattdessen verlief die »gegenseitige<br />
Anteilnahme« im OWS-Themenpark reibungslos, weil<br />
dieser im geschlossenen Kreislauf von der Außenwelt<br />
durch die Firewall des akademischen Kauderwelschs<br />
geschützt war. So unergründlich die Wege der Perkolation<br />
auch sind, wir können getrost davon ausgehen,<br />
dass ein Aufstand in Lebensgröße, sollte er doch noch<br />
kommen, ganz anders aussehen wird.
10<br />
VERANTWORTUNG<br />
11<br />
GEMEINSCHAFT LÜGE<br />
VERANTWORTUNG<br />
spielzeit 2013/14<br />
GEMEINSCHAFT LÜGE<br />
W<br />
ären wir glücklicher, wenn in<br />
unserem Miteinander absolute<br />
Wahrhaftigkeit herrschte? Wären<br />
wir bessere Menschen und hätten wir<br />
Über<br />
Gemeinschaft<br />
eine intaktere Gemeinschaft, wenn wir<br />
und<br />
simone dietz<br />
lüge<br />
ohne Verstellung, Schummelei und<br />
Heuchelei, ohne Lüge gleich welcher Art<br />
auskommen würden? Simone Dietz , Professorin<br />
für Philosophie an der Uni veR -<br />
»Verberge, was du denkst!« Und wem das nicht gegeben,<br />
der führt in diesem Lande kein angenehmes Leben.<br />
Der Menschenfeind von Molière Premiere Oktober 2013<br />
sität Düsseldorf, schreibt anlässlich<br />
von Molières »Der Menschenfeind« über<br />
den Wert der Lüge, Wahrheit als Waffe<br />
und über eine Gemeinschaft verantwoRtungS<br />
voller Lügner.<br />
A<br />
uf den ersten Blick scheint es eine bessere Welt<br />
zu sein, in der wir sicher sein können, dass andere<br />
tatsächlich denken, was sie sagen. Zweifel und<br />
Unsicherheit, Misstrauen und Enttäuschung blieben<br />
uns erspart. Die Wahrheit würde uns eine<br />
unbestechliche Orientierung in unseren Beziehungen<br />
zu anderen bieten, wir wüssten jederzeit genau, woran<br />
wir sind. Auf den zweiten Blick aber stellt sich die Frage,<br />
wie viel diese Welt noch mit der unseren gemein hätte.<br />
Viel spricht dafür, dass Menschen, die nur mit wahrhaftigen<br />
Botschaften kommunizieren, vollkommen andere<br />
Wesen sein müssten als wir. Wenn Täuschungsmanöver<br />
und Ausflüchte, Doppelbödigkeit und Halbwahrheiten<br />
wegfielen, welche Form bliebe uns für Ambivalenz,<br />
Unsicherheit und Wankelmütigkeit, für die Gleichzeitigkeit<br />
der verschiedenen, manchmal sogar unvereinbaren<br />
Wünsche, Überzeugungen und Interessen? Wie könnte<br />
man sich gegen zudringliche Fragen schützen, gegen<br />
Rücksichtslosigkeit und Feindseligkeit? Wie rücksichtslos<br />
müssten wir selbst sein? Welchen Spielraum gäbe<br />
es für den Wechsel zwischen verschiedenen sozialen<br />
Rollen, wenn wir nicht mehr auswählen könnten, was wir<br />
preisgeben und was wir verbergen?<br />
I<br />
n der zugespitzten Form des Entweder-Oder stellt<br />
uns die Wahrhaftigkeitsfrage vor die Wahl zwischen<br />
der Seite des Menschenfeinds und der des Menschenfreunds:<br />
Der Menschenfeind fordert unbedingte<br />
Wahrhaftigkeit und verachtet die Menschen für ihre tatsächliche<br />
Verlogenheit, der Menschenfreund entschuldigt<br />
jede Lüge als unvermeidliche menschliche Schwäche.<br />
Weltfremdheit oder Gewissenlosigkeit – keines<br />
von beiden ist eine akzeptable Basis für das Leben in<br />
der Gemeinschaft. Zum Glück sind unsere Möglichkeiten<br />
mit dieser Alternative nicht ausgeschöpft. So gegensätzlich<br />
sie scheinen, beruhen doch beide Seiten<br />
auf derselben falschen Prämisse, dass das Lügen an<br />
sich unrecht sei. Nur unter dieser Prämisse müssen wir<br />
uns für die Alltäglichkeit des Lügens pauschal verachten<br />
oder alles verzeihen. Dass die Lüge in der Gemeinschaft<br />
viel facettenreicher ist, zeigt Molière in seiner<br />
Komödie »Der Menschenfeind«, die ein Panoptikon der<br />
Tricks und Winkelzüge im Umgang mit Lüge und Wahrheit<br />
vorführt. Im Theatersessel können wir die Illusion<br />
genießen, wir wären Unbeteiligte in diesem Spiel und<br />
unserer Empörung und wir könnten unserem Komplizentum<br />
erheitert auf die Schliche kommen.<br />
D<br />
ie einfache Regel »Wer die Wahrheit sagt, hat Recht«<br />
greift im Hinblick auf die Gemeinschaft zu kurz. Nur<br />
auf der Sachebene kann derjenige, der eine wahre<br />
Aussage macht, in jedem Fall beanspruchen, Recht zu<br />
haben. Auf der sozialen Ebene dagegen kann Wahrheit<br />
auch eine üble Waffe sein, die denjenigen, der sie<br />
einsetzt, noch längst nicht ins Recht setzt. Die moralische<br />
Beurteilung, ob jemand gegenüber anderen recht<br />
gehandelt hat, orientiert sich an seiner Grundeinstellung<br />
der gleichen Achtung und der Rücksichtnahme auf<br />
Schwäche. Nicht immer sind die Motive der Wahrheitsliebenden<br />
wohlwollender Art. Auch Missgunst und Rachsucht<br />
können sich der Wahrheit bedienen und sich mit<br />
ihr noch dazu wirkungsvoll ins Recht setzen: Hätte ich<br />
etwa lügen sollen? Auch das Schweigen ist oft keine<br />
neutrale Option, sondern wird zur vielsagenden Botschaft<br />
für andere, die mehr Schaden anrichten kann als<br />
eine Lüge.<br />
N<br />
icht jede Lüge ist Ausdruck hinterhältiger Ziele. Das<br />
Repertoire alltäglicher Lügen reicht von den geheuchelten<br />
Komplimenten und höflichen Floskeln des<br />
Bedauerns über die misstrauische Verstellung, die strategisch<br />
inszenierte Selbstdarstellung unter Auslassung von<br />
Selbstzweifeln, das spielerisch vorgetäuschte Desinteresse<br />
gegenüber dem Angebeteten bis zur Verleugnung<br />
aus Angst und den betrügerischen Falschbehauptungen<br />
zum eigenen Vorteil. Verdeckte Unwahrhaftigkeit gegenüber<br />
anderen dient unterschiedlichen Zwecken und Haltungen,<br />
die moralisch auch unterschiedlich zu beurteilen<br />
sind. Es gibt spielerische Lügen der Geselligkeit und<br />
Unterhaltung, Konventionslügen des Respekts und der<br />
Höflichkeit, Schutzlügen zur Verteidigung der Privatsphäre<br />
und zur Abwehr von Angriffen, wohlwollende Lügen aus<br />
Rücksicht auf die Schwäche der Belogenen. Aber es gibt<br />
auch Manipulationslügen, die Macht über andere verschaffen<br />
sollen, Nutzlügen, um sich ungerechte Vorteile<br />
zu erschleichen, Lügen aus Untreue, um eingegangene<br />
Verpflichtungen ohne Konfrontation zu unterlaufen.
2013/14<br />
VERANTWORTUNG GEMEINSCHAFT LÜGE<br />
13<br />
Nichts ist entweder<br />
wahr oder falsch:<br />
Mit unserer Larve<br />
sprachen wir beides.<br />
Wie die Larve ist<br />
auch die Wahrheit<br />
eines und beides; die<br />
Wahrheit liegt in<br />
dem, was wir werden.<br />
Bakchen von Euripides/ Schrott Premiere Januar 2014<br />
Die beste und sicherste<br />
Tarnung ist immer noch die<br />
blanke und nackte<br />
Wahrheit. Komischerweise.<br />
Die glaubt niemand.<br />
Biedermann und die Brandstifter<br />
von Max Frisch Premiere Februar 2014<br />
Die Wahrheit ist immer gefährlich.<br />
Ein Traumspiel von August Strindberg<br />
Premiere März 2014<br />
J<br />
ede Gemeinschaft bildet Kontexte konventioneller<br />
Lügen aus, in denen nicht Aufrichtigkeit erwartet<br />
wird, sondern die Einhaltung bestimmter Umgangsformen.<br />
Das Lügen als alltägliche Technik der Verbergung<br />
und Verstellung kann dem berechtigten Interesse<br />
folgen, sich den unfairen Absichten anderer nicht schutzlos<br />
auszuliefern. Lügen können verhindern, andere und<br />
sich selbst mit der Antwort auf unbedachte Fragen in<br />
ungewollt peinliche Situationen zu bringen, sie vermeiden<br />
unnötige Verletzungen und Brüskierungen. Manchmal<br />
ist es der beste Ausdruck von Respekt, den wir zu<br />
bieten haben, dass wir unsere tatsächlichen Gefühle<br />
verbergen und stattdessen die Einstellung zeigen, die<br />
von uns erwartet wird. Aufrichtigkeit als Prinzip ist das<br />
Ideal des Egozentrikers. Indem er die unverfälschte<br />
Selbstpräsentation zum Wert an sich erklärt, ist der<br />
Egozentriker jeder Rücksicht auf andere und jeder Relativierung<br />
seiner eigenen Gemütszustände enthoben.<br />
M<br />
it Verstellung und Lüge regulieren wir unauffällig das<br />
Verhältnis zu anderen Menschen unter dem Aspekt<br />
von Nähe und Distanz. Lügen schaffen oder verteidigen<br />
Distanz, sie können die anderen auf Abstand halten,<br />
wo die Privatsphäre in Gefahr ist oder wo Antworten eine<br />
größere Nähe herstellen würden, als dem Fragenden<br />
selbst lieb wäre. Der Menschenfeind, der bedingungslose<br />
Aufrichtigkeit fordert und jede Form von Verstellung und<br />
Lüge ablehnt, kennt keinen Unterschied zwischen Distanz<br />
und offener Ablehnung. Besondere Nähe zu einer<br />
Person kann er nur durch die Abkehr von allen anderen<br />
herstellen, denn das aufrichtige Bekenntnis, die Offenbarung<br />
des »tiefsten Grundes der Seele« gilt ihm ja unterschiedslos<br />
als Prinzip der Kommunikation. Dadurch<br />
wird Offenheit als Beweis eines besonderen Vertrauensverhältnisses<br />
entwertet. Wo jede Verstellung verpönt ist<br />
und jedes Wort von Herzen kommen muss, bleibt für das<br />
Leben in der Gemeinschaft nur die Wahl zwischen Kommunikation<br />
und ihrem Abbruch. Die vollkommen wahrhaftige<br />
Gemeinschaft wäre am Ende vermutlich eine sehr<br />
schweigsame Gemeinschaft.<br />
D<br />
ie bewusste Entscheidung zwischen Aufrichtigkeit<br />
und Verstellung, zwischen Offenbarung und Verbergung<br />
reguliert nicht nur die Nuancen der Distanz und<br />
Nähe im Verhältnis zu anderen, sie ist auch Bedingung für<br />
die Ausbildung persönlicher Identität. Wer in jeder Äußerung<br />
sein Herz auf der Zunge tragen muss, kann kein Gespür<br />
für die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen<br />
sich und anderen entwickeln. Manche Lügen schaffen<br />
allerdings nicht nur Distanz, sondern Einsamkeit. Sie machen<br />
den Lügner einsam, der sein Wissen nicht mit anderen<br />
teilen kann, aus Angst, seine Lügen preiszugeben<br />
und sich der Wut und Empörung der Belogenen auszusetzen.<br />
Sie machen den Belogenen einsam, der sich in<br />
einer nur für ihn konstruierten Welt des Scheins befindet,<br />
die er in Wahrheit nicht mit anderen teilt.<br />
D<br />
as Spiel von Aufrichtigkeit und Verstellung, Wahrhaftigkeit<br />
und Lüge, Ehrlichkeit und List, das unser<br />
Gemeinschaftsleben durchzieht, kann seine spielerischen<br />
Züge nur entfalten, wenn es in Bewegung<br />
bleibt, wenn die Rollen von Lügnern und Belogenen<br />
wechseln, wenn Lügen nicht nur aufgebaut, sondern<br />
auch wieder enthüllt werden. Befristete Lügen müssen<br />
sich am Ende der Kritik durch andere stellen und den<br />
Belogenen die Entscheidung überlassen, welchen Glaubwürdigkeitskredit<br />
sie dem Lügner in der nächsten Runde<br />
einräumen. Oft machen wir uns in alltäglicher Verlogenheit<br />
selbst etwas vor, halten uns für taktvoll, wo wir bloß<br />
feige sind, und für rücksichtsvoll, wo uns der andere<br />
nicht einmal ein offenes Wort wert ist. Auch die offene<br />
Empörung gegen Lügen und Lügner kann verlogen<br />
sein. Das Ideal der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, das<br />
auf wohlfeile Art hochgehalten wird, erspart den genauen<br />
Blick auf die Situation und auf die Motive, die hinter<br />
der Lüge stehen mögen. Absolute Wahrhaftigkeit ist<br />
dort erstrebenswert, wo sie sich nicht auf die Abschaffung<br />
von Verstellung und Lüge richtet, sondern auf die<br />
Gründe, mit denen wir uns der Verstellung und Lüge<br />
bedienen. Nur so kann es uns gelingen, eine Gemeinschaft<br />
verantwortungsvoller Lügner zu sein.
14<br />
w e l t w e l t<br />
15<br />
G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s<br />
Nach dem Verschwinden der Gemeinschaft<br />
gibt es nur noch eine Instanz, die dem<br />
Menschen Wert verleihen kann: das Du.<br />
Nicht eine bis dahin ungekannte Ich-<br />
Furchtbares<br />
DU!ICH!<br />
Bezogenheit beherrscht unser Zusammen leben,<br />
sondern das Problem einer ungekannten<br />
Du- bezogenheit. Damit haben wir es mit einer<br />
der unberechenbarsten, maSSlosesten und<br />
Stürzendes<br />
Sven Hillenkamp<br />
negativsten Mächte zu tun, denen der Mensch<br />
jemals ausgesetzt war. Diese These von Sven<br />
Hillenkamp wird im Beziehungsdrama »GefähR-<br />
liche Liebschaften« von Christopher Hampton z u<br />
untersuchen sein. Hillenkamp , studierter Politologe<br />
und Soziologe, war Redakteur bei der<br />
> ZEIT< und lebt jetzt als freier Autor in Berlin<br />
und Stockholm.<br />
A<br />
ls Übel unserer Zeit gilt der Narzissmus. Das in<br />
sich selbst abgeschlossene, nur an sich selbst<br />
interessierte Ich. Falls nach Ursachen verlangt<br />
wird, kommt noch der Kapitalismus hinzu. Wir<br />
stellen uns einen Menschen vor, der pausenlos<br />
sich selbst optimieren will, weil der Markt es verlangt –<br />
und der zu Beziehungen zu anderen Menschen demgemäß<br />
nicht mehr in der Lage ist.<br />
I<br />
n diesem Bild ist das Du – also der persönliche, individuelle<br />
andere – als vermisst gemeldet. Dabei, so die<br />
Vorstellung, würde es doch die Rettung bedeuten.<br />
Denn: Dem isolierten Ich geht es schlecht; doch wer ein<br />
Du hat – viele Dus –, der lebt, der hat es gut. Bei jeder<br />
sogenannten Seelenkrankheit lautet nun die Empfehlung:<br />
mehr Offenheit! Mehr Beziehung! Mehr Du! – Narzissmus<br />
und Kapitalismus sind die Krankheit, das Du<br />
ist die Kur.<br />
H<br />
ier soll behauptet werden: Wir haben nicht das Problem<br />
einer ungekannten Ich-Bezogenheit, sondern<br />
das Problem einer ungekannten Du-Bezogenheit.<br />
Es geht nicht um Egozentrik, sondern um Alterozentrik.<br />
In Wahrheit ist das Du die Angel, in der diese Welt<br />
schwingt, alles dreht sich um das Du. Es gilt als etwas<br />
Wunderbares, Heilsames; tatsächlich haben wir es mit<br />
einer der unberechenbarsten, maßlosesten und negativsten<br />
Mächte zu tun, denen der Mensch jemals ausgesetzt<br />
war.<br />
W<br />
ie wurde das Du zu solch einer Macht? Als Überlebender.<br />
Alle anderen Mächte, die den Menschen<br />
beherrschten, ihm Wert verliehen, eine soziale Position,<br />
gingen zugrunde; allein übrig blieb das Du.<br />
D<br />
as Du ist jetzt die einzige Instanz, die dem Menschen<br />
noch einen Wert verleihen kann. Alle anderen –<br />
überpersönlichen, gemeinschaftlichen – Strukturen<br />
sind verschwunden, haben zu Recht ihre Legitimation<br />
verloren. Es waren Strukturen, in denen vor allem Zugehörigkeit<br />
zählte, in denen Leistung, so sie gefordert war,<br />
kein persönliches, individuelles (originelles) Gesicht zu<br />
tragen hatte (dies gerade nicht durfte), sondern auf vorgezeichneten<br />
Bahnen, in vorgeschriebener Weise zu<br />
erbringen war. Solche Strukturen sind: die patriarchale<br />
Großfamilie (als Clan, Sippe); militärische, religiöse u. a.<br />
Männerbünde; überhaupt regionalistische, nationalistische<br />
und religiöse Gemeinschaften; soziale Kasten und<br />
Klassen; Gegenkulturen usw. In diesen Strukturen gab<br />
es weder Ich noch Du, insofern das Individuum Rollenträger<br />
und Repräsentant des Ganzen war. Das Besondere<br />
zählte nicht, sondern allein das Allgemeine. Es<br />
waren Strukturen, die die Herabwürdigung eines Mitglieds<br />
als Herabwürdigung des Ganzen betrachten<br />
mussten. Die Kränkung eines Einzelnen bedeutete die<br />
Kränkung aller.<br />
D<br />
ementsprechend wurde mit der Ehre des Einzelnen<br />
die Ehre aller verteidigt, wenn nötig (oder möglich)<br />
mit Gewalt (gegen den Einzelnen). Die Auflösung<br />
solcher Strukturen, in denen es keine individuelle Verantwortung<br />
gibt, wird bekanntlich als Befreiung erfahren<br />
und betrieben.<br />
D<br />
ie Durchsetzung der Moderne ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass der Einzelne es nun überall und immer<br />
mit Menschen im emphatischen Sinn zu tun bekommt,<br />
also nicht mit bloßen Rollenträgern und Reprä sentanten<br />
eines Ganzen, sondern mit persönlichen, individuellen<br />
anderen – mit Dus. (Gegenläufig zu Foucaults Verabschiedung<br />
des Menschen müsste hier – einer Phänomenologie<br />
der Erfahrung folgend – gerade die Geburt<br />
des Menschen verkündet werden.) Fortan fallen das<br />
Allgemeine und das Besondere auf merkwürdige Weise<br />
in eins. Die ungeheure Bedeutung, die Liebe und Sexualität<br />
einerseits, das Schöpferische andererseits in dieser<br />
Welt besitzen, besteht darin, dass es sich um Medien<br />
handelt, mit Hilfe derer ein Ich die Anerkennung eines<br />
(oder vieler) Dus zu erlangen erhofft.<br />
E<br />
s gibt mindestens sechs Eigenschaften, durch die<br />
das Du sich als Anerkennungsinstanz von überpersönlichen<br />
Strukturen unterscheidet. Die erste ist<br />
Punktualität, Augenblickshaftigkeit. Die Anerkennung,<br />
welche ein Du gewähren kann, durch eine Berührung,<br />
ein zärtliches Wort, ein Lob, durch die Tatsache, dass<br />
es uns überhaupt wahrnimmt und antwortet, anstatt uns<br />
(unsere E-Mail, eine SMS) zu ignorieren – diese Anerkennung<br />
ist kein sozialer Status, sondern bleibt performativ,<br />
also stets augenblickshaft; sie muss pausenlos<br />
erneuert werden.<br />
Z<br />
weitens: Opazität, Undurchsichtigkeit. Während es<br />
in kollektiven Strukturen allgemein bekannte, oft kodifizierte<br />
Kriterien der Anerkennung gibt (wie Gott<br />
seine Gebote veröffentlicht und damit sichtbar macht),<br />
ist die Anerkennung durch ein Du abhängig von dessen<br />
individueller Persönlichkeit, dessen Geschmack und Vorlieben,<br />
momentaner Lebenssituation und Gefühlslage.<br />
Deshalb ist das Du den Menschen, die ihm gegenüberstehen<br />
und von ihm abhängen, wie auch sich selbst<br />
undurchsichtig. Das Ich muss in einem endlichen Trialand-error-Spiel<br />
herausfinden, was das Du möchte und
16<br />
w e l t<br />
17<br />
G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s w e l t<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T n a r z i s s m u s<br />
Schubi-Du, Schubi-Du.<br />
Bald bin ich tot, juhu.<br />
Almut Block, 70, Kettenraucherin<br />
Der Zwerg reinigt den Kittel<br />
von Anita Augustin Premiere Mai 2014<br />
Liebe ist etwas, was<br />
man benutzt, nicht etwas,<br />
dem man verfällt.<br />
Gefährliche Liebschaften von Christopher Hampton Premiere Juni 2014<br />
ab, welche sich seiner Kontrolle a priori entziehen. Die<br />
gesamte Zivilisationsgeschichte ist eine Geschichte<br />
des Versuchs, die Macht der Natur und des Zufalls zu<br />
brechen, nicht auf Gedeih und Verderb abhängig zu<br />
sein von Wetter und Klima, nicht von Raubtieren zerrissen<br />
zu werden, von einer fremden Rotte überfallen und<br />
ausgeplündert zu werden – und am Ende der glorreichen<br />
Geschichte steht das Ich vor einem Du, das es<br />
sich nur gewogen machen kann mit Dingen, die sich<br />
ihm entziehen, gleich dem Wetter, den Raubtieren, den<br />
fremden Rotten. Hier sieht die moderne Psychologie<br />
ihre Geschäftsmöglichkeit. Sie ruft dem Ich zu: Mit meiner<br />
Hilfe wirst du kreativ und attraktiv. Mit meiner Hilfe<br />
lernst du lieben und begehren. Mit meiner Hilfe wirst du<br />
dem Du endlich genügen. Die Psychologie verspricht,<br />
das Unkontrollierbare zu kontrollieren, das Ich im Kampf<br />
mit seinem undurchsichtigen, unendlichen und widersinnigen<br />
Du zu rüsten, indem es das Ich selbst unendlich<br />
macht. Im übrigen teilt die Psychologie sich in zwei<br />
Lager. Die einen sehen die vielversprechendste Lösung<br />
in einer Unabhängigkeit des Ich vom Du. Ein durchaus<br />
verständlicher Impuls. Jeder, der besetzt ist von einer<br />
furchtbaren Macht, sehnt sich nach Unabhängigkeit.<br />
Diese Psychologen sagen: Das Ich kann lernen, sich<br />
selbst zu lieben. Es kann sich selbst anerkennen, indem<br />
es sich sagt, ich bin in Ordnung, ich bin ein wundervolles<br />
Wesen. Jeder gescheite Mensch weiß, dass das<br />
Unfug ist. Liebe, Anerkennung, Respekt sind Begriffe,<br />
die soziale Verhältnisse ausdrücken, etwas zwischen<br />
den Menschen. Die anderen Psychologen gehen in die<br />
entgegengesetzte Richtung. Sie empfehlen – wir erwähnten<br />
es – noch mehr Du. Sie sagen: Geht es dir<br />
schlecht in deiner Abhängigkeit von verschiedenen, jedoch<br />
gleich tyrannischen Dus, dann öffne dich noch<br />
mehr, vertiefe deine Beziehungen, lerne noch mehr Dus<br />
kennen, lass dich fallen. Man denke sich einen Steinzeitmenschen,<br />
der sich das Ende seines Horrors erhofft<br />
von noch mehr Stürmen und Dürreperioden, noch mehr<br />
menschenfressenden Raubtieren, noch mehr plündernden<br />
und mordenden Hominidenhorden. Während die<br />
Verhaltenstherapeuten den Weg in die Unabhängigkeit<br />
bevorzugen, halten es Analytiker und Systemiker mit der<br />
Beziehungsvertiefung. Doch auch die Verhaltenstherapeuten<br />
winken mit der letzteren. Sie sagen: Wenn man<br />
erst einmal ganz unabhängig geworden ist, niemanden<br />
mehr braucht, jahre- und jahrzehntelang allein leben<br />
und allein arbeiten kann, es aushält in totaler Isolation<br />
und sich dabei selbst lieben kann, dann wird man in der<br />
Lage sein, andere Menschen zu lieben und zu begehren.<br />
Allein das Ich, das sich vollständig lösen kann vom<br />
Du und dem es dabei blendend geht, ist liebesfähig.<br />
Psychoanalytiker teilen diese Ansicht. Auch sie wollen<br />
erst einmal die Selbst- und Objektrepräsentanzen im<br />
Inneren ihres Klienten in Ordnung bringen, das sogenannte<br />
Selbstwertgefühl von innen heraus zur Blüte<br />
bringen, um den dergestalt erwachsen gewordenen Klienten<br />
loszulassen auf das Du, das Du auf ihn. Wie gesagt,<br />
verständliche Impulse. Doch hilflos, bis schamlos.<br />
D<br />
ie Zeit des Nationalsozialismus war interessanterweise<br />
die erste, in welcher das Du sich als alleinige<br />
Anerkennungsinstanz durchsetzte. Im Nationalsozialismus<br />
gab es keine Institutionen mehr, die dem Menschen,<br />
gesetzt er hielt sich an die Regeln, einen sozialen<br />
Wert garantierten. Es gab gar keine funktionierenden<br />
Institutionen, verlässlichen Regeln mehr, ausschließlich<br />
persönliche und individuelle Dus, die undurchsichtig<br />
und unberechenbar waren, deren Forderungen unendlich<br />
waren, die immerzu wechselten, sich jederzeit abwenden<br />
konnten.<br />
I<br />
n<br />
der Hinsicht war der Totalitarismus »absolument moderne«.<br />
Heute erkennen wir uns wieder im permanenten<br />
Schreiben an mächtige und begehrenswerte Dus, in<br />
der pausenlosen Terminbettelei, dem unausgesetzten<br />
Vorsprechen und Sich-präsentieren, dem ununterbrochenen<br />
Sich-sichtbar-machen-wollen, der unerträglichen<br />
Werbung um das Du. Freilich, die Dus tragen nun andere<br />
Namen. Sie heißen nicht mehr Rottenführer oder<br />
Reichsverweser, sondern Redakteur, Intendant, Galerist<br />
oder Verleger, Leser und Zuschauer. Sie heißen<br />
Papa und Mama, Julia und Tom, und sie heißen schlicht<br />
und wahrheitsgetreu: Du.<br />
W<br />
ir leben in einem gesellschaftlichen System, das<br />
System und Struktur ist wie jedes andere vor ihm,<br />
jedoch – nun stimmt die Formulierung und zwar<br />
buchstäblich – ein System mit menschlichem Antlitz.<br />
Und dieses Antlitz ist kein neurotisches, narzisstisches,<br />
beziehungsunfähiges Ich, sondern ein undurchsichtiges,<br />
unendliches, paradoxes und negatives, immerfort<br />
neue Gesichter aufsetzendes Du, das als Gegenüber<br />
nichts anderes akzeptiert als ein gleichfalls individualisiertes,<br />
verpersönlichtes Ich, das sich in einem fort rüsten<br />
muss, um anerkannt zu werden (oder sich seinem<br />
Tyrannen zu entziehen versucht).<br />
W<br />
ir können uns keine Welt ohne Menschen mehr<br />
denken: eine Welt, die nicht um das Du kreist. Der<br />
Urstoff, aus dem alles besteht, scheinen nun die<br />
Beziehungen zu sein, die Bindungen, die Gefühle zwischen<br />
Ich und Du. Erfolg, Glück ist einzig denkbar als<br />
Erhebung eines Ichs aufgrund der Begeisterung eines<br />
Dus: Auftraggeber-Dus, Zuschauer-Dus, Gefährten-Dus<br />
usw. Liebe und Kunst (d. h. Kreativsein im weitesten<br />
Sinn) sind für jedermann überlebensnotwendig, da Zugehörigkeit<br />
zu einer Gemeinschaft als Grundlage für<br />
Anerkennung entfällt, das Emotionale und Performative<br />
zur einzigen Währung wird. Die Katastrophe der Wertlosigkeit<br />
entsteht aus der Unfähigkeit des Ich: Nichtfühlenkönnen<br />
und Nichtschaffenkönnen.<br />
Und Sie sind ihr alles?<br />
Anatol von Arthur Schnitzler Premiere November 2013<br />
schätzt, wobei es leider so viele Fehler machen kann,<br />
dass es entweder in Ungnade fällt oder in Erwartung derselben<br />
in die Starre der Depression oder Angststörung.<br />
D<br />
rittens: Infinität, Unendlichkeit. Während eine überpersönliche<br />
Struktur oder etwa Gott Endliches verlangt<br />
(bestimmte Dinge zu unterlassen, sich an die<br />
zehn Gebote zu halten), verlangt das Du Unendliches:<br />
Aufmerksamkeit, Verständnis, Liebe, Begehren, Kreativität.<br />
Das Ich kann niemals genug zuhören, verstehen,<br />
begehren, lieben und leisten; es steht ununterbrochen<br />
in der Schuld des Du, versagt vor dessen unendlichem<br />
Bedürfnis.<br />
V<br />
iertens: Paradoxität, Widersinnigkeit. Während in<br />
überpersönlichen Strukturen oft das Bemühen<br />
existiert, herrschende Forderungen widerspruchsfrei<br />
zu halten, steht das Du nicht unter diesem Druck.<br />
Es verlangt, das Ich solle schöpferisch sein, ein Künstler.<br />
Dann sagt es, das Ich trage keine Verantwortung,<br />
lebe das Leben eines Kindes. Ein Du sagt: Trainiere<br />
deinen Körper. Ein anderes: Dein (trainierter) Körper<br />
ist ja unnatürlich. Alle Dus sagen: Wir finden dich nur<br />
dann sympathisch, wenn du kein Vorspiegler bist,<br />
sondern Schwächen und Sünden, alles, was dich<br />
unsympathisch macht, vor uns selbstbewusst offenlegst<br />
usw.<br />
F<br />
ünftens: Negativität, Verneinendsein, was man hier<br />
u. a. mit Abwesenheit, Verschwinden, Verstummen<br />
übersetzen kann. Das Du – Auftraggeber-Du, Geliebten-Du<br />
– hat immer die Möglichkeit, nicht zu antworten,<br />
das Ich zu verlassen, die Verbindung, die Zusammenarbeit<br />
aufzukündigen, wortlos einschlafen zu lassen.<br />
S<br />
chließlich: Mobilität, Beweglichkeit. Es kommen immer<br />
neue Dus auf das Ich zu. Aufgrund von Ortswechseln<br />
(oder Orten, die selbst in Bewegung sind,<br />
durchströmt werden von Dus), aufgrund von beruflichen<br />
und privaten Veränderungen, neuen Versammlungsund<br />
Kommunikationsmöglichkeiten usw. reißt der Strom<br />
der Dus nie ab, damit auch nicht die Bedrohung, auf<br />
Ablehnung oder Desinteresse zu stoßen. Das Ich nimmt<br />
die Herausforderung vorweg, indem es sich rüstet.<br />
Sämtliche Optimierungsstrategien (Körper, Kleidung,<br />
Karriere, interessante Biografie usw.) machten keinen<br />
Sinn, wenn der Einzelne sich in einem stabilen, sich<br />
gleichbleibenden Umfeld befände – sie zielen vielmehr<br />
auf noch Unbekannte und auf die Bekannten nur insofern,<br />
als diese sich abwenden, fortbewegen könnten; es sind<br />
Sicherungsstrategien, welche verhindern sollen, dass man<br />
durchfällt bei Menschen, die (noch oder immer wieder)<br />
gewonnen werden müssen. Der Unterschied zwischen<br />
erster Moderne (bzw. Vormoderne) und zweiter, individualisierter<br />
Moderne besteht also nicht in der Differenz<br />
Zusammensein vs. Einsamsein, sondern in der Differenz<br />
Auf-immer-mit-den-Selbensein vs. Wissen-dass-immer<br />
Neue-kommen-werden-und-sich-rüsten. Der Narzissmus<br />
ist also nichts anderes als eine notwendige Sicherungstendenz.<br />
Die Egozentrik steht im Dienst des Du,<br />
ist Alterozentrik.<br />
M<br />
an sieht, welche ungeheuren Konsequenzen es hat,<br />
wenn der Mensch (das Du) des Menschen Wert<br />
bestimmt und nicht ein Übermenschliches, Überindividuelles.<br />
Es wird noch deutlicher, wenn man sich<br />
fragt, was das Du wertschätzt, für was es Wert verleiht.<br />
Da das Du kein bloßer Repräsentant ist, sondern eine<br />
einzigartige Persönlichkeit, verlangt es auch Einzigartiges,<br />
Persönliches. Und da das Du keine allgemeine Struktur<br />
ist, sondern eine menschliche Physis, verlangt es auch,<br />
physisch erregt zu werden. Es reicht dem Du also keineswegs,<br />
dass das Ich seinen Platz in der Gesellschaft<br />
einnimmt, sich an die Regeln hält, Verantwortung übernimmt,<br />
treu ist, ein Auskommen hat, irgendeine Funktion<br />
vorbildlich ausfüllt. Denn dann würde das Du sich ja<br />
nicht persönlich gespiegelt und gemeint fühlen. Was<br />
das Du will: Gefühle, Kreativität, sexuelle Attraktivität.<br />
Doch den Augenblicken, in denen das Ich viel (für ein<br />
Du) empfindet, in denen es schöpferisch ist (und sich<br />
auch als schöpferisch empfindet, was bekanntlich nicht<br />
dasselbe ist), in denen es sexuell attraktiv ist (und sich<br />
sexuell attraktiv fühlt, was wiederum nicht dasselbe ist),<br />
stehen naturgemäß lange Perioden gegenüber, in denen<br />
das Ich nichts (oder nicht ausreichend, siehe Unendlichkeit)<br />
fühlt, in denen es nicht schöpferisch sein kann,<br />
glaubt, unkreativ zu sein, in denen es unattraktiv ist, sich<br />
unattraktiv fühlt. Ein Ich, dessen Wert auf Fühlenkönnen,<br />
Kreativität, Attraktivität beruht, wird sich meist wertlos<br />
fühlen, meist, wie man sagt, depressiv sein, selten euphorisch,<br />
selten sich als das emotionale, liebende, kreative,<br />
erregende Geschöpf empfinden, das es immer<br />
sein müsste, um sozialen Status, einen stabilen sozialen<br />
Wert zu besitzen, nicht einer permanenten Abwertungsdynamik<br />
ausgesetzt zu sein, einem Sturz in Gefühllosigkeit,<br />
Hässlichkeit und in das Blockiertsein.<br />
G<br />
efühle, Kreativität und Attraktivität bzw. das momentane<br />
Attraktivitätsempfinden haben eins gemeinsam:<br />
Sie sind nicht Resultat eines Handelns, da sie keine<br />
äußeren Gegenstände oder Verhältnisse sind, sondern<br />
Innerlichkeiten; sie sind, mit einem Wort, nicht kontrollierbar.<br />
Der Wert des Individuums hängt also von Dingen<br />
Eines Königs Ehre ist der Stern,<br />
der alle seine Recken mit<br />
beleuchtet und mit verdunkelt!<br />
Die Nibelungen von Friedrich Hebbel<br />
Premiere September 2013<br />
Du hast mir eingeredet, dass ich dir etwas<br />
bedeute, dass das, was ich tue, wichtig<br />
ist. Du bist verdammt noch mal selber schuld,<br />
dass ich jetzt deinen Respekt einfordere.<br />
Dogville von Lars von Trier Premiere April 2014
18<br />
M I T T E M I T T E<br />
19<br />
G E M E I N S C H A F T E S K A L A T I O N<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T E S K A L A T I O N<br />
P<br />
olitik und Öffentlichkeit stilisieren die Gewaltverbrechen<br />
des NSU gerne zu einem Einzelphänomen.<br />
Wer sich den Taten deS NSU aus sozial wissen SchAF t-<br />
licher Sicht nähert, muss die Frage stellen, ob nicht<br />
vielmehr in der breiten Bevölkerung Tendenzen vorherrschen,<br />
die die Entwicklung DES NSU nachhal tig<br />
befördert haben. Der Bielefelder Sozio loge Professor<br />
Wilhelm Heitmeyer forscht seit 1982 zu den Themen<br />
RechtS extremismus und soziale Desintegration. In den<br />
nachfolgenden Ausführungen beschreibt er, warum<br />
die Eskalationslandschaft und also auch gängige<br />
Einstellungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft<br />
einen Nährboden für die Terrorzelle bilden.<br />
Er kritisiert die politischen und gesellschaftlichen<br />
Reflexe, die seit Jahren als wirksame Antworten im<br />
> Kampf gegen Rechts< propagiert werden, als ineffizient<br />
und fordert einen unverstellten Blick auf<br />
die eigentlichen Ursachen der Gewaltbereitschaft.<br />
Der<br />
National<br />
sozialistische<br />
und die<br />
D<br />
ie Eskalationslandschaft gleicht einem »Zwiebelmuster«.<br />
An der äußersten Schale sind die Einstellungsmuster<br />
der Mehrheitsgesellschaft angesiedelt,<br />
also unsere. Sie erzeugen unser Verhalten<br />
gegenüber schwachen Gruppen. An der Universität<br />
Bielefeld bezeichnen wir sie als gruppenbezogene<br />
Menschenfeindlichkeit – fördern sie doch unsere Abwertung<br />
und die Diskriminierung schwacher Gruppen<br />
zutage. Zu diesen gehören u. a. Migranten, Juden, Homosexuelle,<br />
Obdachlose, Muslime, Behinderte, Langzeitarbeitslose,<br />
Asylbewerber und Sinti/Roma.<br />
D<br />
arüber hat sich ein teils offener, teils aber auch unterschwelliger<br />
Alltagsrassismus in unserem Leben festgesetzt,<br />
der längst Eingang in unseren Wortschatz<br />
und unsere Gewohnheiten gefunden hat, und dessen<br />
kaum hinterfragte Einstellungsmuster den Humus für die<br />
weitere Entwicklung bilden. Wissenschaftlich gesprochen<br />
entsteht aus diesem Alltagsrassismus ein gesellschaftlicher<br />
Abwertungs- und Diskriminierungsvorrat, aus<br />
dem sich vorrangig die rechtspopulistischen Bewegungen<br />
– womit wir bei der zweiten Schale wären – bedienen.<br />
Insbesondere islamfeindliche Haltungen stehen hier<br />
im Zentrum. Wichtig in diesem Kontext ist, dass sich<br />
diese Form des Rechtspopulismus und Rassismus noch<br />
in weitgehend gewaltfreier Form manifestiert. Das Thema<br />
Gewalt kommt erst über die dritte Schale, über die systemfeindlichen<br />
radikalisierten Milieus wie u. a. die autonomen<br />
Nationalisten und auch die NPD ins Spiel.<br />
U<br />
nter dieser Schale kommt die nächste Eskalationsstufe<br />
zum Vorschein, sie bildet sich aus den sogenannten<br />
Unterstützungsnetzwerken. Dabei handelt<br />
es sich um höchst gewalttätige Milieus der »freien Kameradschaften«,<br />
die vorwiegend konspirativ und über massive<br />
Bedrohungen agieren. Sie bilden dann den fließenden<br />
Übergang zur rechtsextremistischen Zelle und damit zur<br />
innersten Schale unseres Zwiebelmodells.<br />
Untergrund<br />
Selbstentlastung<br />
gesellschaftliche<br />
Wilhelm Heitmeyer<br />
Hand aufs Herz: Seit wann wissen Sie,<br />
meine Herren, dass es Brandstifter sind?<br />
Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch Premiere Februar 2014<br />
Z<br />
usammenfassend können wir also von einem gesamtgesellschaftlichen<br />
Eskalationsprozess sprechen,<br />
in dem die eingangs erwähnten Einstellungsmuster<br />
in der Bevölkerung, und damit also auch WIR, einen<br />
nicht unwesentlichen Beitrag leisten.<br />
I<br />
rritierend ist das Agieren der Politik, das sich auf eine<br />
Verbotsstrategie insbesondere gegenüber der NPD<br />
konzentriert. Dies überrascht vor allem, weil die Partei<br />
an Mitgliedern verliert – Wähler laufen ihr davon, und<br />
finanziell ist sie pleite.<br />
D<br />
er parteipolitische Rechtsextremismus scheint weitgehend<br />
am Ende. Republikaner und DVU sind bereits<br />
verschwunden. Die neue Partei »Die Rechte«<br />
ist nahezu unbekannt. Eine ganz andere und weit größere<br />
Gefahr geht hingegen von den bewegungsorientierten<br />
rechtsextremistischen Gruppen aus. Sie agieren weitaus<br />
dynamischer, geschickter und verdeckter und sind<br />
deshalb sehr viel schwieriger zu bekämpfen. Man erkennt<br />
sie nur schwerlich am äußerlichen Stil. Sie sind vor allem<br />
verdeckt professionell im Netz unterwegs.<br />
W<br />
arum konzentrieren sich die politischen Initiativen<br />
von demokratischen Parteien ausschließlich auf Verbote,<br />
anstatt auf das eigentliche Gefahrenpotenzial<br />
adäquat zu reagieren? Wären die Verbote in der Vergangenheit<br />
tatsächlich von Erfolg gekrönt gewesen, dann<br />
dürfte es in unserer Gesellschaft heute solche rechtsextremistischen<br />
Probleme nicht mehr geben, schließlich<br />
wurden seit Anfang 1992 rund 30 Gruppen verboten. Die<br />
Negativbilanz offenbart, dass staatliche Repression immer<br />
auch rechtsextreme Innovation erzeugt.<br />
U<br />
ntersuchungen haben gezeigt, dass die Bevölkerung<br />
bzw. deren jeweilige Alters-, Geschlechts- und<br />
Einkommensgruppen, einen gesellschaftlichen Legitimationsvorrat<br />
für die genannten radikalisierten Milieus<br />
Der weisse Wolf<br />
Ausgehend von den Ereignissen rund um die Verbrechen des<br />
NSU und deren Aufdeckung unternimmt der Autor Lothar<br />
Kittstein mit seinem Auftragswerk eine Reise in die Untiefen<br />
der deutschen Gesellschaft. Uraufführung Februar 2014<br />
bereitstellt. Wir sprechen in diesem Zusammenhang<br />
von einer rohen Bürgerlichkeit, die sich zwar von Rechtsextremen<br />
distanziert, ihnen aber gleichzeitig Legitimationen<br />
liefert.<br />
D<br />
ie herrschende Politik neigt im gleichen Kontext jedoch<br />
dazu, die gesellschaftliche Realität mit einer<br />
die tatsächlichen Verhältnisse glättenden Schwarz-<br />
Weiß-Sicht zu sehr zu simplifizieren: hier die soziale,<br />
liberale und humane Gesellschaft, dort die rechtsextremistische<br />
Mörderbande.<br />
D<br />
as Ziel hinter dieser Vorgehensweise ist klar: Es ist<br />
der Versuch einer gesellschaftlichen Selbstentlastung,<br />
der uns aus der Verantwortung entlässt und<br />
uns von Mitschuld freispricht. Eng verknüpft mit dieser<br />
Handlungsweise ist die Installierung eines Kontrollparadigmas,<br />
d. h. die gesellschaftspolitischen rechtsextremistischen<br />
Gefahren werden zu einem juristischen und<br />
verfolgungstechnischen Problem umdefiniert. Nach dem<br />
Motto: Wenn die herrschende Politik den Staatsschutz<br />
und Verfassungsschutz entsprechend ausrüstet, werden<br />
alle Probleme gelöst.<br />
W<br />
ill sich die Politik aber wirklich ernsthaft mit einer<br />
Lösung der Problematik beschäftigen, ist der von<br />
jeglichem Populismus freie und unverstellte Blick<br />
auf die Ursachen notwendig. Dafür bedarf es vor allem<br />
der rigorosen Intensivierung von Selbstreflexion im Sinne<br />
des Entstehungs- und Radikalisierungsparadigmas.<br />
Zu diesem Radikalisierungsparadigma gehört die zunehmende<br />
Aggressivität der in rechtspopulistischen<br />
Denkmustern beheimateten Bevölkerungsteile. Diese<br />
Tatsachen länger zu ignorieren und nicht in den Mittelpunkt<br />
der Debatte zu rücken, zeugt von einem die Fakten<br />
missachtenden, vornehmlich sich in Selbsttäuschung<br />
ergehenden gesellschaftlichen Denken und Handeln:<br />
Selbstentlastung statt Selbstaufklärung.
2013/14<br />
Z W A N G G E M E I N S C H A F T I D E N T I T Ä T<br />
21<br />
I<br />
m Kontext von Hebbels »Nibelungen« denkt der FranKfurter<br />
Politologe Daniel Keil über das Thema »Mythen der<br />
Gemeinschaft« nach. Auch die Erzählung von Europa<br />
als fortschrittliche Gemeinschaft, die auf übernationalen<br />
gemeinsamen Werten gründet, entlarvt er dabei als<br />
Mythos. Ein Mythos, welcher der Legi timation autoritärer<br />
Politiken in Europa dient und die schleichende Wiederherstellung<br />
nationaler Ausgrenzungsmuster auSSer Acht<br />
lässt. Den Wunsch nach der »inneren Vereinheitlichung«<br />
Europas beschreibt Keil als eine maSSgeblich von Deutschland<br />
forcierte Politik, die sich vor dem Hintergrund<br />
der ökonomisch- politischen Entwicklungen vor allem um<br />
den Wert der »Leistung« gruppiert. Hierin erkennt er<br />
eine Form von Ausgrenzung, welche die Gesellschaft in<br />
pro Duktive und unproduktive Mitglieder innerhalb der<br />
Europäischen Gemeinschaft einteilt. Das »Andere« wird<br />
als »das Unproduktive« in Abgrenzung zum »pro Duktiven<br />
WIR« konstruiert. Daniel Keil forscht an der Goethe-Universität<br />
<strong>Frankfurt</strong> am Main über die Entwicklung nationaler<br />
Identität im SpannungS Feld der europäischen<br />
Integration in Deutschland.
22<br />
Z W A N G<br />
23<br />
G E M E I N S C H A F T I D E N T I T Ä T Z W A N G<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T I D E N T I T Ä T<br />
undMythos:<br />
Gemein<br />
schaft<br />
Der weisse Wolf<br />
Ausgehend von den Ereignissen rund um die Verbrechen des<br />
NSU und deren Aufdeckung unternimmt der Autor Lothar<br />
Kittstein mit seinem Auftragswerk eine Reise in die Untiefen<br />
der deutschen Gesellschaft. Uraufführung Februar 2014<br />
zum Verhältnis von<br />
europäischer<br />
nationaler<br />
Daniel Keil<br />
und<br />
Identität<br />
Wer kann und mag besitzen, wenn er nicht bewiesen<br />
hat, dass er mit Recht besitzt? Und wer erstickt<br />
das Murren um sich her, bevor er den Gewaltigsten,<br />
der lebt, zu Boden warf, und ihn mit FüSSen trat?<br />
Die Nibelungen von Friedrich Hebbel Premiere September 2013<br />
Europa als Versprechen gegen<br />
die Borniertheit nationaler Identität<br />
D<br />
ie Diskurse um nationale Identität in Deutschland<br />
sind seit 1990 nicht nur vielfältig und zahlreich,<br />
sie sind auch immer wieder mal verwoben mit<br />
dem Sprechen über europäische Identität, die zumeist<br />
als Versprechen gedeutet wird. Hierbei gibt<br />
es sicherlich Konjunkturen, die dem Zustand der Europäischen<br />
Union geschuldet sind, und größtenteils bleibt<br />
die Debatte eine akademische Angelegenheit. Gerade<br />
in den derzeitigen Krisenprozessen erscheinen Postulate<br />
eines bereits existierenden Kosmopolitismus in einer<br />
post-nationalen europäischen Gesellschaft zumindest<br />
stark verkürzt und mehr als normativer Wunsch denn<br />
fundiert in gesellschaftlichen Prozessen. Europäische<br />
Identität wird in diesen Formen als Versprechen gehandelt,<br />
die Borniertheit nationaler Identität aufheben zu<br />
können. Europa ist in solchem Kontext Teil einer Fortschrittsgeschichte,<br />
die auf mehr Freiheit und ein vernünftigeres<br />
Zusammenleben hinauslaufe. Habermas<br />
beispielsweise möchte die Europäische Union als »entscheidende[n]<br />
Schritt auf dem Weg zu einer politisch<br />
verfassten Weltgesellschaft begreifen« (»Die Verfassung<br />
Europas. Ein Essay«, 2011). Er sieht dabei Europa<br />
als Projekt, das transnationale Formen der Demokratisierung<br />
vorantreiben müsste. Ähnlich auch Ulrich Beck<br />
und Edgar Grande, die das Narrativ eines kosmopolitischen<br />
Europas erzeugen wollen, um Werte und Normen<br />
des neuen Europas als Antwort auf die Geschichte<br />
der »linken und rechten Terrorregime des 20. Jahrhunderts<br />
zu sehen« (»Das kosmopolitische Europa«, 2007).<br />
Die Suggestion eines Neustarts und die totalitarismustheoretische<br />
Abgrenzung verdecken dabei, dass die<br />
Geschichte Europas auch nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
nicht zielgerichtet, sondern in sich widersprüchlich und<br />
von kontingenten Ereignissen geprägt verlaufen ist. Zudem<br />
wird so das Bestehende als alternativlos, vernünftig<br />
und vollkommen abgekoppelt insbesondere vom Nationalsozialismus<br />
behauptet, womit die realen Kontinuitäten<br />
(vor allem in Deutschland) wie auch der Fortbestand<br />
der Bedingungen, die zum Nationalsozialismus führten,<br />
verdeckt werden. Auch wenn die Betonung des Projektcharakters<br />
ihren realen Ursprung in dem tatsächlich<br />
Projekthaften der Europäischen Union hat, ist dennoch<br />
nicht alles, was vielleicht danach aussehen könnte,<br />
ein Fortschritt zu mehr Freiheit. Die in diesen wissenschaftlichen<br />
Ansätzen implizit formulierte Gleichung,<br />
Europa ist gleich Zivilisierung und Fortschritt, kann als<br />
idealisierende Charakterisierung begriffen werden, die<br />
insbesondere die Rekonstitution der nationalen Ausgrenzungsmuster<br />
in und durch Europa hindurch außer<br />
Acht lässt.<br />
Krise und innere Vereinheitlichung<br />
»S<br />
o viel Europa war nie!« Mit diesen Worten beginnt<br />
Gauck im Februar 2013 seine Rede zu Europa,<br />
um, nach einem kurzen Schlenker darüber, dass derzeit<br />
Europa vor allem als Euro Krise wahrnehmbar ist,<br />
eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Eine Erfolgsgeschichte,<br />
die durch die gegenwärtige Krise ins Straucheln gekommen<br />
ist. Europa stehe jetzt an der Schwelle, die<br />
überschritten werden muss, um »sich als Global Player«<br />
zu »behaupten«. Hierfür will Gauck, dass innegehalten<br />
wird, »um uns gedanklich und emotional zu rüsten für<br />
den nächsten Schritt«. Die militärische Konnotation des<br />
Rüstens bietet dabei so etwas wie eine Klammer zur<br />
geforderten »weitere[n] innere[n] Vereinheitlichung«, die<br />
zuallererst eine vereinheitlichte »Außen-, Sicherheitsund<br />
Verteidigungspolitik« meine. Die Forderung nach<br />
innerer Vereinheitlichung verbindet Gauck mit einer Klage<br />
über das Fehlen einer identitätsstiftenden Erzählung,<br />
dem Fehlen eines europäischen Gründungsmythos. Er<br />
soll durch eine Art europäischen Verfassungspatriotismus<br />
– die »europäischen Werte« – ersetzt werden. Diese<br />
Klage lässt offen den Legitimierungscharakter zu Tage<br />
treten, der eben in der Rede von der freiheits- und wertebasierten<br />
Idee ›Europa‹, die sich quasi automatisch umsetze,<br />
wenn denn der Weg weiter beschritten werde,<br />
impliziert ist. Insbesondere geht es darum, die Stellung<br />
Deutschlands als Hegemonialmacht in Europa zu legitimieren<br />
und Europa ein deutsches Modell zu offerieren.<br />
Gauck sorgt sich darum, dass die maßgeblich von<br />
Deutschland forcierte Austeritätspolitik, die die Lebensgrundlage<br />
von unzähligen Menschen zerstört, als »Kaltherzigkeit«<br />
wahrgenommen werden könnte und nicht als<br />
»Sachrationalität«. Was in diesem Zusammenhang der<br />
Wunsch nach innerer Vereinheitlichung bedeutet, wird<br />
deutlich vor dem Hintergrund der ökonomisch-politischen<br />
Umwälzungen in Deutschland. Die massiven sozialen<br />
Einschnitte, beispielsweise die Deklassierung<br />
durch Hartz IV, wurden ebenfalls mit einer vermeintlichen<br />
»Sachrationalität« begründet und begleitet durch<br />
eine Neuformierung der nationalen Identität. Die nationalen<br />
Kampagnen (»Du bist Deutschland«) und der<br />
sogenannte Partypatriotismus der Fußball-WM waren<br />
dabei zentrale Elemente, die Einzelnen als Verkörperung<br />
der Nation zu konstituieren, die sich selbst als Deutschland<br />
zu begreifen haben und ihr Leben nur mehr nach<br />
den Maßgaben des nationalen Interesses zu organisieren<br />
hätten. Hierin lag und liegt eine Rekonstitution von<br />
Ausgrenzung, die sich vor allem um Leistung gruppiert<br />
und die sich danach auch in europäischem Zusammenhang<br />
artikuliert.<br />
Über den Zusammenhang von Nation<br />
und Kapitalismus<br />
A<br />
n dieser Stelle müssen, zum besseren Verständnis,<br />
ein paar grundsätzliche Worte zum Begriff der Nation<br />
gesagt werden, auch um besser einschätzen zu können,<br />
was die EU für ein Projekt und wie die Formulierung<br />
europäischer Identität einzuschätzen ist. Die Entstehung<br />
der modernen Nation ist konstitutiv verwoben mit der<br />
Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und<br />
damit mit moderner Staatlichkeit. Kapitalis tische Gesellschaften<br />
sind in ihrem Grund fundamental gespalten,<br />
und zwar in zweierlei Hinsicht: einmal durch die Trennung<br />
der Menschen von ihren Produktionsmitteln und<br />
zum anderen in Universalität und Partikularität. Kapitalistische<br />
Arbeitsteilung vereinzelt die Menschen zu freien,<br />
gleichen Vertragspartner Innen, die darüber mit allen anderen<br />
in ein Verhältnis gesetzt sind – als abstrakte<br />
Rechtssubjekte sind sie gleich und universell, als konkrete<br />
Individuen aber ungleich. In der kapitalistischen<br />
Produktionsweise ist ein Gewaltverhältnis impliziert, das<br />
in der Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln<br />
besteht und sie daher zwingt, als abstrakt Gleiche<br />
ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Diese Gewalt erscheint<br />
nicht unmittelbar, sondern als »stummer Zwang der Verhältnisse«<br />
(Marx) und im Widerspruch zwischen konkreter<br />
Ungleichheit und abstrakter Gleichheit. Die Gewalt,<br />
die notwendig ist zur Aufrechterhaltung der abstrakten<br />
Gleichheit in der konkreten Ungleichheit, erscheint als<br />
politische Herrschaft im Staat, der über ein bestimmtes<br />
Territorium verfügt. Die Einzelnen werden in diesem Territorium<br />
zu einem Kollektiv zusammengefasst und zur<br />
Nation homogenisiert. Dafür ist die Erfindung einer nationalen<br />
Geschichte von zentraler Bedeutung, die als<br />
nationaler Mythos einen gesellschaftlichen Naturzusammenhang<br />
herstellt. Konstruiert wird eine quasi-natürliche<br />
Verbundenheit Einzelner zu einem Kollektiv, das<br />
an den territorialen Boden gebunden ist. Der selbst produzierte<br />
gesellschaftliche Zusammenhang, der hinter<br />
ihrem Rücken prozessiert, erscheint so als »Naturalform«<br />
(Adorno), als außerhalb der Einzelnen existierender<br />
Naturzusammenhang. Die Homogenisierung zur<br />
Nation erfolgt logisch aus der Abgrenzung gegenüber<br />
anderem, zum einen über die Grenze nach außen, aber<br />
auch, damit verknüpft, in der Abgrenzung nach innen,<br />
als Formierung gegen diejenigen, die als »antinational«<br />
identifiziert werden. Rassistische und antisemitische<br />
Denk- und Praxisformen sind hierbei zentraler Ausdruck<br />
dieser Abgrenzungen.<br />
Europa und »das Andere«<br />
Vor diesem Hintergrund stellt sich die EU tatsächlich<br />
als ein neuartiges Projekt dar. Es ist mit den Institutionen<br />
der EU eine Form transnationaler Staatlichkeit<br />
entstanden, die komplex verwoben ist mit den<br />
nationalen Staaten, die dadurch aber keineswegs aufgelöst<br />
werden. Vielmehr ist eine europäische Bezugsebene<br />
in räumlicher Hinsicht entstanden, die vor allem<br />
mit der Errichtung einer gemeinsamen Außengrenze<br />
Ausgrenzungsmuster neu konfiguriert. Dies geht einher<br />
mit Versuchen, eine europäische Vergangenheit zu<br />
konstruieren, in der der Nationalsozialismus und insbesondere<br />
Auschwitz als vager Begriff des Schreckens<br />
als negativer Gründungsmythos diskutiert wird.<br />
Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden wird in solcher<br />
Vagheit zu einer europäischen Erzählung, die<br />
ganz Europa – inklusive Deutschland – als Opfer der<br />
unkonkret bleibenden National sozialisten deutet und<br />
so zum Identifikationsangebot. Das absolut Sinnlose<br />
des industriellen Massenmordes wird zum sinnstiftenden<br />
Ereignis einer europäischen Identität wie auch der<br />
nationalen Identität der Deutschen, so dass vor diesem<br />
Hintergrund mit den europäischen Werten gegenwärtige<br />
Gewalt legitimiert werden kann.<br />
D<br />
ies zeigt sich insbesondere vor dem Hintergrund der<br />
Fragmentierung innerhalb der EU in der Krise und der<br />
damit einhergehenden Autoritarisierung der Politik,<br />
die darin besteht, Entscheidungen auf die Exekutive zu<br />
verschieben, demokratische Verfahren zu unterminieren<br />
oder gleich technokratische »Expertenregierungen« in<br />
Krisenländern einzusetzen, die gewaltsam die nicht zuletzt<br />
von Deutschland forcierte Austeritätspolitik durchsetzen.<br />
Diese autoritäre Form wird begleitet von der<br />
Konstruktion des »Anderen«, die einerseits an den<br />
Grenzen Europas ganz materiell jeden Tag unzählige<br />
Tote fordert, andererseits nach innen diskursiv die Rationalisierung<br />
solcher rassistischer (institutioneller) Gewalt<br />
darstellt. Hierin verschmilzt die europäische Ebene mit<br />
der nationalen bzw. konstruiert sich das Nationale durch<br />
das Europäische hindurch. In Deutschland konnte diese<br />
Konstruktion am Beispiel der Sarrazin-Debatte betrachtet<br />
werden. Sarrazin erhielt viel Unterstützung für biologistisch-rassistische<br />
Äußerungen über Migrant Innen,<br />
insbesondere muslimische, die aufgrund von »genetischen<br />
Belastungen« kein besonderes intellektuelles Potenzial<br />
hätten (FAZ 26.08.2010). Dies verknüpfte er mit einer<br />
Einteilung der Gesellschaft in produktive und unproduktive<br />
Mitglieder und ging so weit, dass der unproduktive<br />
Teil – die als genetisch minderwertig begriffenen<br />
MigrantInnen – sich »auswachsen« müsse (lettre international<br />
09). Das Amalgam alter rassistischer Motive mit<br />
der Vorstellung eines produktiven Volkskörpers wiederholte<br />
sich in der Debatte um die Krise in Griechenland,<br />
die im Kern darin bestand, das Bild des »faulen Südländers«<br />
in Form »des Griechen« zu aktualisieren. Auch hier<br />
wurde das Andere durch den Leistungsfetischismus hindurch<br />
als unproduktiv konstruiert.<br />
Jenseits des Zwangs zur Identität<br />
D<br />
ie Forderung nach »innerer Vereinheitlichung« ist daher<br />
als Aufforderung zu verstehen, sich selbst zu<br />
produktivieren und sich dem Diktat des scheinbaren<br />
Sachzwanges zu unterwerfen. Darin inhäriert ist die gewaltsame<br />
Konstruktion des »Anderen«, die ebenfalls<br />
gewaltsame Festschreibung der Ungleichheit. Die Erzählung<br />
von den europäischen Werten dient dabei zur<br />
Legitimation autoritärer Politiken Europas, die offensichtlich<br />
jenseits des Proklamierten liegen. Kollektive<br />
Identität unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen<br />
bedeutet daher eben keinen Fortschritt im Sinne der<br />
Freiheit, sondern fortschreitende Irrationalität. Es ginge<br />
aber vielmehr darum, eine Welt einzurichten, in der Differenz<br />
gewaltlos gelebt werden kann, ohne den Zwang zur<br />
Identität. Es ginge um eine Welt, in der man, wie Adorno<br />
einmal bemerkte, »ohne Angst verschieden sein« kann.
2013/14<br />
E T H I K G E M E I N S C H A F T R E G E L N<br />
25<br />
Der Philosoph Jörg Splett hält die Religion<br />
in unserer Gesellschaft für lebenswichtig.<br />
Nicht, um ethisch korrekt zu handeln,<br />
sondern um die Menschenwürde bis ins Letzte<br />
verteidigen zu können. Dostojewskis »Idiot«<br />
beschreibt eine Gemeinschaft von Egoisten als<br />
die Ursache allen Übels. Was hingegen einer<br />
Gemeinschaft freier Menschen vor allem Not<br />
tue – so Splett –, sei GewiS SenS treue und<br />
unbe Dingter Respekt vor dem Anderen. Bis zu<br />
seiner Emeritierung lehrte Jörg Splett Philosophische<br />
Anthropologie und Religionsphilosophie<br />
an der Philosophisch- theo logischen<br />
Hochschule Sankt Georgen, <strong>Frankfurt</strong> am Main.
26<br />
E T H I K E T H I K<br />
27<br />
G E M E I N S C H A F T R E G E L N<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T R E G E L N<br />
Über<br />
Welche Rolle spielt Religion für das Menschsein?<br />
Jörg Splett: Zunächst: Es gibt keine anerkannte Definition<br />
von »Religion«. Je umfassender ein Begriff ist, desto<br />
leerer wird er. Je mehr er bezeichnet, desto weniger bedeutet<br />
er. Will man nichts ausschließen, was »religiös«<br />
heißen könnte, wird eine »Hochreligion« sich darin kaum<br />
noch wiederfinden. Wählt man anderseits eine religiöse<br />
Hochform, stellt sich die Frage, welche, und ob dann<br />
nicht zu viel ausfalle.<br />
Als Katholik entscheide ich mich für die Bestimmung<br />
des Thomas von Aquin, die lautet »Ordo ad Deum« und<br />
definiert sich über den Gottesbezug. Dabei meint<br />
»Gott« – ohne Artikel – ein personales Absolut-Wesen,<br />
Schöpfer der Welt, am besten wohl durch Anselm von<br />
Canterbury bestimmt als jene Wirklichkeit, über die<br />
hinaus sich nichts Größeres denken lässt. Das ist nicht<br />
dasselbe wie »das Höchstdenkbare«, es übersteigt<br />
vielmehr unser Begreifen: Es meint ein heiliges Geheimnis,<br />
das mitnichten »unter unserem Niveau« als<br />
Bewusstseins- und Freiheits-Wesen sein kann – also<br />
bloße Masse, Energie oder Gesetzlichkeit. Dabei sind<br />
nicht bloß es selbst und unser Begriff von ihm zu unterscheiden,<br />
sondern auch dieser Begriff und unsere damit<br />
verknüpften bildhaften Vorstellungen.<br />
Von dorther nun meine Antwort: Den Menschen charakterisiert,<br />
dass er von den Dingen und Bedingungen<br />
seiner Umwelt aus auf »das Ganze« hin fragt, nach seinem<br />
Sein und Sinn, seinem Woher und Wozu. Das<br />
muss ihn jedoch nicht zur Religion führen. Er kann sich<br />
für Skepsis und Agnostizismus entscheiden. Er mag<br />
die Überzeugung gewinnen, dass man sich um den/die<br />
Menschen kümmern sollte, statt um ein uns entzogenes<br />
Absolutes. Es mag ihn bis dahin führen, Religion<br />
als lebenswidrige Fehlhaltung zu betrachten, auch wo<br />
Religionund<br />
Gemeinschaft<br />
Ein Gespräch mit dem <strong>Frankfurt</strong>er<br />
Religionsphilosophen Jörg Splett<br />
sie nicht bewusst zur Unterdrückung missbraucht wird.<br />
Im Übrigen lässt sich alles missbrauchen – selbst<br />
Humanismen. An einer solchen Haltung stört mich,<br />
dass sie meist »Religionskritik« heißt – als wären religiöse<br />
Geister unkritisch. Schließlich geht es Kunst- und<br />
Filmkritikern ja auch nicht um die Abschaffung von<br />
Kunst und Kino.<br />
Wir leben in einem säkularisierten Rechtsstaat. Ist<br />
Religion Privatsache oder gehört sie in den öffentlichen<br />
Raum und wenn ja, inwiefern?<br />
Religionsfreiheit ist zwar als Menschenrecht zunächst<br />
ein Recht von Personen. Diese aber haben zugleich das<br />
Recht, ihrer Überzeugung auch in Zusammenschlüssen<br />
und öffentlich Ausdruck zu geben. Und wenn der<br />
Mensch ein Gemeinwesen ist, warum sollte Religion auf<br />
das Privat-Intime beschränkt werden? Die nähere Ausgestaltung<br />
ist dann Sache des Rechts in den verschiedenen<br />
Gesellschaften. Denken Sie an Prozesse über<br />
frühes Glockenläuten, Auseinandersetzungen über die<br />
Anzahl religiöser Feiertage oder grundsätzlich an das<br />
unterschiedliche Verhältnis der Religionsgemeinschaften<br />
zum Staat in den USA, dem laizistischen Frankreich<br />
und hierzulande.<br />
Dostojewski schreibt »Ohne Gott ist alles erlaubt« –<br />
ist eine Ethik, die nicht in der Religion verankert ist,<br />
keine? Braucht es Religion, um ethisch zu sein?<br />
So sehr ich Dostojewski achte und liebe: Widerspruch!<br />
Ich bin nicht bereit, Agnostiker und Atheisten aus ihrer<br />
Gewissenspflicht zu entlassen. Der »kategorische Imperativ«<br />
von Kant – »Handle nach Grundsätzen, die Allgemeingesetz<br />
werden könnten!« – oder die »goldene<br />
Regel« – »Was du nicht willst, dass man dir tu …« (in der<br />
Bibel positiv formuliert: »Alles, was ihr von anderen erwartet,<br />
…«) – sind nicht religiös. Es geht um ethisch-sittliche<br />
Erfahrung. Sie leuchtet einfach hinein und begründet<br />
sich selbst. Seit Platon wird sie darum als »Licht«<br />
Erfahrung beschrieben. Die Frage »Why to be moral?«<br />
verdient eigentlich nur die Antwort: »So fragt kein anständiger<br />
Mensch.« Denn wer das sittlich Richtige nur<br />
täte, weil es ihm Vorteile bringt oder das Nichttun Nachteile,<br />
handelt bloß »legal« – und wird es lassen, sobald<br />
niemand herschaut.<br />
Taugen die zehn Gebote als Grundlage für eine moderne,<br />
normative Ethik?<br />
Durchaus, wenn man sie aus ihrem konkreten »Sitz im<br />
Leben« jener alten fremden Kultur ins Grundsätzliche<br />
»übersetzt«; doch ebenso die sieben Noachidischen<br />
Gebote oder anderes.<br />
Sind die zehn Gebote eine bessere Entscheidungshilfe als<br />
das eigene Gefühl für richtiges und falsches Handeln,<br />
weltliche Gesetze, Philosophie?<br />
Als das eigene Gefühl: gewiss. Neid, Eifersucht, Rachsucht<br />
werden zu verzerrten Entscheidungen führen. Als<br />
Gesetze: unter Umständen. Die Nürnberger Rassengesetze,<br />
mit welchen die Nazis ihre antisemitische Ideologie<br />
institutionalisierten, dürften ein gutes Gegenbeispiel<br />
sein. »Philosophie« aber bitte ich Sie, durch »die Philosophen«<br />
zu ersetzen – womit die Antwort sich von<br />
selbst ergibt.<br />
Braucht es die Religion bzw. die Verpflichtung auf eine<br />
absolute letzte Instanz deswegen, weil sich sonst solche<br />
ethischen Richtlinien wie die zehn Gebote relativieren<br />
lassen und unbrauchbar werden als Entscheidungshilfen?<br />
Zum Beispiel die Diskussion um die Sterbehilfe. Die Befürworter<br />
halten ein Verbot der Sterbehilfe für inhuman.<br />
Wäre dann nicht auch das Gebot »Du sollst nicht töten«<br />
als inhuman zu bezeichnen?<br />
Es »braucht« die Religion nicht, um die Ethik zu begründen.<br />
Ich würde umgekehrt aus der »Selbst-Verständlichkeit«<br />
und inneren Autorität des kategorischen Imperativs<br />
sogar ein Gottesargument machen. Mit Kant also statt von<br />
der Religion zur Ethik von der Ethik zur Religion gehen.<br />
Was die Diskussion um die Sterbehilfe betrifft, so kann<br />
ich als Katholik auf das zweite Vatikanische Konzil verweisen.<br />
Nach »Gaudium et Spes« können Christen besten<br />
Wissens und Gewissens in wesentlichen Dingen zu<br />
verschiedenen Ansichten kommen, ohne dass man einen<br />
Gewissensirrtum annehmen müsste. Und gerade zum<br />
Suizid muss man fairerweise sagen, dass aus der Bibel<br />
nicht so deutlich hervorgeht, dass er stets verboten sei.<br />
Die Philosophen waren ohnehin uneinig. Die Stoa, die ja<br />
erheblich auf die christliche Ethik eingewirkt hat, bestand<br />
auf der Freiheit zum Tod; Plato erklärte: »Wo die Götter<br />
uns hinstellen, dürfen wir nicht weglaufen.« Und sein<br />
größter Schüler Aristoteles vertrat: »Ich gehöre nicht nur<br />
mir selbst, sondern auch meiner Gemeinschaft.« Diese<br />
Sicht hat sich dann auch im Christentum durchgesetzt.<br />
Doch liest man heute auch in katholischen Werken, es<br />
gebe zwar kein Recht auf Selbsttötung, es sei aber auch<br />
nicht einfach klar, dass sie sich verbiete. Gott ist der Herr<br />
über Leben und Tod? Ja. Aber auch über Gesundheit<br />
und Krankheit – und den Arzt darf man rufen.<br />
Auf der anderen Seite: Wenn ich mich selbst in einer<br />
bestimmten Situation töten darf, dann gilt das, ethisch<br />
gedacht, für jeden. Wer nun in eine Situation kommt,<br />
beispielsweise sehr krank zu sein, wird sich von anderen<br />
Leuten fragen lassen müssen: Warum hängst du so<br />
am Leben und gehst uns auf das Gemüt und den Geldbeutel?<br />
Ich aber darf keinen Menschen in die Situation<br />
bringen, sein Leben rechtfertigen zu müssen. Das kann<br />
nämlich keiner. Niemand kann behaupten, gar beweisen,<br />
dass die Welt durch sein Dasein besser dran sei.<br />
Gewahrt bleibt seine Würde nur, wenn er statt »Ich will<br />
nicht« sagen kann: »Ich darf nicht.«<br />
In Amerika, einem den christlichen Werten verpflichteten<br />
Land, kann zum Beispiel das Gebot »Du sollst nicht<br />
töten« selber töten, wenn ein Mörder der Todesstrafe<br />
zugeführt wird. All das sorgt doch eher für eine Desorientierung<br />
als für eine Orientierung bei zu treffen Den<br />
Entscheidungen ...<br />
Was die Todesstrafe betrifft, so müsste man bei dem<br />
Gebot »Du sollst nicht töten« das hebräische »razach«<br />
korrekt übersetzen: als »eigenmächtig totschlagen«, »morden«<br />
wäre zu eng. Das Töten durch Soldaten oder Scharfrichter<br />
ist damit nicht gemeint, dafür gibt es eigene Wörter.<br />
Die »Todesstrafe« ist heute, außer-religiös, nur als Hilfsnotwehr<br />
begründbar. Aus Rom kommt dazu das oft irritierende<br />
Doppel-Wort: Grundsätzlich ist sie als äußerstes<br />
Mittel des Staates erlaubt. Die USA-Praxis aber ist ungerechtfertigt;<br />
denn keiner der Staaten versänke ohne<br />
sie im Chaos.<br />
Brauchen wir Religion zur Organisation von Gemeinschaft?<br />
Nein. Nach Immanuel Kant müsste sogar ein Staat von<br />
Teufeln funktionieren. Zur Frage der Funktion aber<br />
grundsätzlich: Für viele trifft sie den Haupt- und Kernpunkt,<br />
gerade im Blick auf Religion, und dies bei Außenstehenden<br />
wie Kirchenangehörigen. Klassisch aber<br />
gehört Religion ins ethische Feld: Wenn Gott ist/lebt,<br />
dann gebührt ihm Respekt. Schon Menschen sollten<br />
wir nicht bloß ihrer Brauchbarkeit wegen schonend behandeln,<br />
sondern sollen sie ob ihrer Würde achten.<br />
Dass Religion nicht mehr die frühere Macht hat, finde<br />
ich gut; ist doch Macht zwar nicht böse, aber eine<br />
mächtige Versuchung, besonders geistliche Macht.<br />
Um der Wahrheit wie der Menschen willen wünschte<br />
ich ihr gleichwohl mehr an Stimme und Gehör. Was<br />
uns vor allem Not tut, ist Gewissenstreue. Welche<br />
»Theorie« nun – ob in Außen- oder Innensicht – erklärt<br />
das Gewissen samt seinem Anspruch auf unbedingten<br />
Respekt? Evolution, Sozialisation sowie kluges Selbstinteresse<br />
allein begründen diesen Anspruch – nicht<br />
bloß beim Kriegsdienstverweigerer – nicht! Außer dass<br />
ich dem kategorischen Imperativ einfach zu folgen<br />
habe, will ich als Philosoph fragen: Wo kommt das her,<br />
dass ein bedingt begrenzter Mensch hier derart unbedingt<br />
verpflichtet wird? Das ist für mich der Zugang zur<br />
Religion. Denn wenn ich der ethischen Erfahrung nicht<br />
nur folgen, sondern sie auch verstehen will, dann ist<br />
die einzige Erklärung die religiös-theistische. Kant<br />
meint, ohne Hoffnung auf ein Wesen, das das Gute<br />
auch durchsetzt, sei der Mensch nicht fähig, dem Imperativ<br />
zu folgen. Das ist für mich zu spät. Schon um zu<br />
verstehen, woher dieses so einsichtige wie unbedingte<br />
»Du sollst« mich trifft, komme ich nicht ohne eine absolute<br />
Wirklichkeit personalen Ranges aus. So heißt für<br />
mich der philosophische Name für Gott (statt »causa<br />
sui«) »Woher des Unbedingt-Gut-Sein-Sollens«. Wobei<br />
dieses Sollen, so unangenehm es sein mag, ein Geschenk<br />
ist. Gründet in diesem Anspruch doch unsere<br />
Würde als Mensch. Denn was wären wir ohne Gewissen?<br />
Ein Tier auf zwei Beinen. Emanuel Levinas sagt<br />
dazu: »Er überhäuft mich nicht mit Gütern, sondern<br />
drängt mich zur Güte, besser als alle Güter, die wir<br />
erhalten können.«<br />
Brauchen wir einen Gottesbezug in unserer Verfassung?<br />
Reicht für eine Ethik nicht die Forderung »Die Würde des<br />
Menschen ist unantastbar«?<br />
Der Würde-Begriff »Person« hat seinen Rang historisch<br />
erst durch christologische Diskussionen gewonnen.<br />
Natürlich gab es schon in der Stoa Ansätze. Aber<br />
wie ein so begrenztes und bedingtes Wesen wie der<br />
Mensch unbedingten Respekt fordern können soll,<br />
nicht bloß als Subjekt mit Vernunft und Willen, sondern<br />
als Person mit Letztwert, wofür Kant dann zum<br />
Begriff der Würde greift, das kann ich eigentlich nur<br />
aus diesem unbedingten Gewollt-Sein von Gott her<br />
Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere<br />
glaubt so sehr, dass er noch beim Morden betet.<br />
Der Idiot von Fjodor Dostojewski Premiere November 2013<br />
begründen. Und wenn dieser Bezug wegfällt, ist auch<br />
zu erwarten, dass der Begriff der Person sich auflöst.<br />
Und sind wir dazu heute nicht schon, »nachchristlich«,<br />
auf dem Wege? Die Mehrheit interpretiert »Person« ja<br />
bereits von John Locke und David Hume her: Eine<br />
Person ist nur, wer weiß, dass er eine Person ist. Das<br />
aber würde altersdemente, komatöse, schwerstbehinderte<br />
oder ungeborene Menschen ausschließen. Der<br />
britische Philosoph Derek Parfit schließt ja sogar<br />
schlafende Menschen aus. Er hält es für reine Konvention,<br />
dass wir Schlafende nicht umbringen, da wir<br />
in der Regel beim Einschlafen den Wunsch haben,<br />
wieder aufzuwachen. Aber an sich ist der Mensch<br />
nach dieser Auffassung ohne Bewusstsein zwar biologisch<br />
ein Mensch, doch noch kein personales Würdewesen<br />
– oder keines mehr. Gegen dieses Argument<br />
und die Trennung zwischen »Mensch« und »Person« –<br />
ich sage darum lieber mit Robert Spaemann: »Jemand«<br />
– tut man sich ohne Religionsbezug enorm<br />
schwer. Und gerade wenn ich über die Menschenwürde<br />
von Schwerstbehinderten zu sprechen habe,<br />
komme ich eigentlich nicht umhin, von der Schöpfung<br />
zu sprechen, und damit vom Gewollt-Sein jedes einzelnen<br />
Menschen.<br />
Denkt man im Sinne einer Weltgemeinschaft oder einer<br />
multireligiösen Stadtgemeinschaft, ist dann nicht<br />
Religion ein Hindernis, das einer solchen Gemeinschaft<br />
im Wege steht? Ist Religion, gerade weil sie den Menschen<br />
auf eine absolute letzte Instanz bezieht, in ihren<br />
unterschiedlichen Ausformungen nicht ein Problem,<br />
das Gemeinschaften spaltet, weil der Glaube nicht<br />
verhandelbar ist?<br />
Unbestreitbar steckt hier Konfliktpotenzial. Doch abgesehen<br />
davon, dass die Unterdrückung von Religion<br />
die Menschen kaum friedlicher machen dürfte, sind die<br />
eigentlichen Konfliktherde wohl nicht eben religiöser,<br />
sondern wirtschaftlicher und machtpolitischer Natur.<br />
Instrumentalisiert wird dabei Religion allerdings nach<br />
wie vor.<br />
Würden Sie gegenwärtig eher eine Tendenz hin oder weg<br />
von der Religion feststellen?<br />
Friedrich Nietzsche schreibt, er beobachte, dass der<br />
Sinn für Religion wachse; doch in Absage an Gott. Das<br />
scheint mir auch heute zu gelten. Denken Sie an die<br />
Inflation von »Spiritualität«.<br />
Welche Auswirkungen hat das auf unser Zusammenleben?<br />
Ich erlaube mir zu sagen: Zunahme an hektischem »pursuit<br />
of happiness«, man ist besorgt, zu kurz zu kommen,<br />
weil sich alle Erwartung auf das Hiesige sammelt.<br />
Menschliches Miteinander indes bedarf der Selbstrücknahme,<br />
vor allem der Vergebung.<br />
Erfordert Religion Demut?<br />
Ja, wie Menschsein und Menschlichkeit überhaupt.<br />
Du sollst neben mir keine<br />
anderen Götter haben!<br />
Dekalog – Die zehn Gebote von Kies´ lowski/<br />
Piesiewicz Premiere Dezember 2013
28<br />
K R I E G K R I E G<br />
29<br />
G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />
Viele Deutsche haben im Zweiten Weltkrieg<br />
trau matische Erfahrungen gemacht. Der<br />
Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder<br />
der Adenauer -Ära bestätigten sie darin, dass<br />
der Blick in die Zukunft mehr Erfolg verspricht<br />
als die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.<br />
Die Traumata und die mit dem VerdrängungSprozess<br />
einhergehenden Sublimierungsstrategien<br />
haben aber ihre tiefen Spuren hinterlassen –<br />
auch bei den Kindern und Kindeskindern. Jürgen<br />
Kruses Inszenierung von »Draussen vor der Tür«<br />
versinnbildlicht diesen Zustand aufs Deutlichste.<br />
Elmar Brähler ist emeritierter Professor und Leiter<br />
der Abteilung für Medizi nische Psychologie und<br />
Medizinische Soziologie der Universität Leipzig.<br />
Mit seiner Koautorin Maggie Thieme publiziert er<br />
u. a. zur Posttraumatischen Belastungsstörung.<br />
Kriegs<br />
I<br />
n Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« kann der<br />
ehemalige Wehrmachtsangehörige Beckmann den<br />
Sinn des Lebens nicht mehr finden, kann sich nicht<br />
integrieren, kann seine Verantwortung nicht zurückgeben,<br />
kann sich nicht entnazifizieren, kann<br />
nicht mehr lieben und kann nicht sterben. Beckmann<br />
bleibt gefangen zwischen Baum und Borke. Der Spätheimkehrer<br />
bleibt vor der Tür. Die Gemeinschaft, die<br />
sich hinter der Tür aus alten Beständen neu formt, will<br />
ihre Ex-Soldaten nicht mehr. Will keine Trauer, will keinen<br />
Schmerz. Will ein Wunder. Und das Wunder, das<br />
Wirtschaftswunder kommt und vertreibt Kummer und<br />
Zerstörung.<br />
D<br />
och nicht ganz. Der Teppich, unter den die Nachkriegszeit<br />
allzu schnell gekehrt wurde, weist Unebenheiten<br />
auf. Man stolpert über Fragen. Warum war<br />
der Zweite Weltkrieg für einige das Wahnsinnsabenteuer,<br />
für andere das Signal zum Schweigen? Warum sprachen<br />
nur die Ewiggestrigen über Gräuel und Elend des<br />
Erlebten? Warum schwieg die Mehrheit? Warum war<br />
da kein Raum für Trauer und Diskussionen?<br />
S<br />
icher hat jeder den Krieg und seine Folgen anders<br />
erlebt und verarbeitet. Danach befragt, berichtet<br />
dennoch die Hälfte der heute noch Lebenden der<br />
deutschen Kriegsgeneration von traumatischen Erfahrungen.<br />
Darüber sprach man nicht, stattdessen tat man<br />
sich mit Heldentaten groß oder verstummte. Doch<br />
schnell schrumpfte die Heldenrolle. Vor der Familie und<br />
der Gesellschaft kam es zu einer Abspaltung. Die<br />
Kriegsgeneration blieb mit dem Erlebten vor der Tür.<br />
Scham, Schuld, Verdrängung der nationalsozialistischen<br />
heim<br />
nur die direkt betroffene Kriegsgeneration litt<br />
unter den Folgen der Traumatisierung. Wie man<br />
heute weiß, hatten die Leidens- und Verdrängungs<br />
Kinder Kriegsenkel<br />
kriegs<br />
Maggie Thieme und Elmar Brähler<br />
kehrer<br />
Gedanken und Taten verhinderten eine öffentliche Auseinandersetzung.<br />
Erst in den letzten Jahren unter der Anerkennung<br />
der Unvergleichlichkeit des Holo causts öffnen<br />
sich langsam lange verschlossene Türen. Die Tragweite<br />
des damals Erlebten zeigt sich noch heute, fast 70 Jahre<br />
nach Kriegsende, in psychischen und körperlichen Erkrankungen<br />
der Betroffenen.<br />
D<br />
ie Belastungen der Kriegsereignisse mit ihrem traumatisierenden<br />
Potenzial waren multiple. Kriegshandlungen<br />
und Vergewaltigungen, Bombardierung,<br />
Evakuierung, Tod und Trennung von Familienangehörigen,<br />
Flucht und Verlust der Existenzgrundlage wirkten<br />
oft gemeinsam. Jahre später sorgten sie bei vielen<br />
Menschen für eine verminderte gesundheitsbezogene<br />
Lebensqualität, Angstattacken, Einschränkungen der<br />
phy sischen Gesundheit und der Alltagsbewältigung,<br />
mentale Müdigkeit, psychische Probleme wie depressive<br />
Stimmungen, Symptome sozialer Phobie oder gesteigertem<br />
Misstrauen bis hin zur Posttraumatischen<br />
Belastungsstörung (PTBS).<br />
O<br />
ft treten diese psychischen und psychosomatischen<br />
Symptome erst im hohen Alter auf. Während eine multiple<br />
Traumatisierung die Entwicklung einer Traumafolgestörung<br />
erhöht, verstärken sich die vorhandenen<br />
Symp tome oft über die Jahre. Dazu kommen die Auswirkungen<br />
des Alters. Die Anforderungen von außen nehmen<br />
ab und werfen den Menschen auf sich selbst zurück.<br />
Das Gefühl des Ausgeliefertseins im Alter kann an ein früheres<br />
Ausgeliefertsein erinnern, ebenso wie ein im Alter<br />
erlebter Verlust eine mögliche Reaktivierung traumatischer<br />
Inhalte auslösen kann. Vielleicht spüren manche<br />
Ältere auch einen unbewussten Druck, sich dem Unbewältigten<br />
stellen zu müssen oder zu wollen.<br />
E<br />
s kann ein Fernsehfilm wie »Die Flucht«, ein aktueller<br />
Einschnitt wie der Verlust des Ehepartners oder der<br />
Umzug ins Altenheim oder der Kontrollverlust in der<br />
Demenz sein, der zu einer Re-Traumatisierung führt. Die<br />
Auswirkungen auf Lebensqualität und Befindlichkeit sind<br />
hoch, Ängste werden häufig begleitet von Depressionen<br />
und Suchterkrankungen. Das traumatische Ereignis<br />
überschattet so oft andere, positive Erinnerungen und<br />
verhindert eine ausgeglichene Lebensbilanz.<br />
A<br />
ber auch der Einfluss traumatischer Erfahrungen auf<br />
das Auftreten körperlicher Erkrankungen ist nicht zu<br />
leugnen. Nur wenige Betroffene sehen einen Zusammenhang<br />
mit ihren traumatischen Erlebnissen oder<br />
verschweigen ihn aus Schuld oder Scham.<br />
D<br />
ie Forschung zu den Kriegsfolgen hat erst Jahrzehnte<br />
nach Kriegsende begonnen, doch alle Studien<br />
zeigen, dass die Erlebnisse nicht verarbeitet wurden.<br />
So gaben die meisten der während und nach dem<br />
Krieg vergewaltigten Frauen in einer Befragung an, dass<br />
sie die Geschehnisse verdrängten. Erst als zweite Strategie<br />
wurde das darüber Sprechen und nur von wenigen<br />
wurde ein dritter Weg, eine aktive Form der Aufarbeitung,<br />
z. B. eine Psychotherapie oder das Niederschreiben<br />
der Ereignisse, gewählt.<br />
N<br />
icht
30<br />
K R I E G G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />
spielzeit<br />
Werden Sie erstmal wieder ein Mensch!<br />
DrauSSen vor der Tür von Wolfgang Borchert Premiere September 2013<br />
Ich Unglücklicher mich lagernd, aufgerieben stets von<br />
Plagen, in der schlimmen Erwartung, dass ich doch<br />
noch hinunter muss zu dem grausigen, unsichtbaren Hades.<br />
Ajax von Sophokles Premiere Dezember 2013<br />
prozesse dieser Zeit auch auf die nachfolgenden Generationen<br />
Auswirkungen.<br />
Zunächst einmal waren es die Kriegs- und Nachkriegskinder,<br />
die von den generationsübergreifenden<br />
Einflüssen geprägt wurden. Kinder, die im Krieg geboren<br />
wurden, Kinder, die durch Vergewaltigung gezeugt<br />
wurden oder deren Väter Besatzungssoldaten waren.<br />
Die Lebensbedingungen dieser Kinder beeinträchtigten<br />
ihr Verhalten und ihre Lebensqualität außerordentlich.<br />
Eine große Rolle spielten die durch traumatische Störungen<br />
belasteten Eltern oder überforderten alleinerziehenden<br />
Mütter, aber auch ökonomische Not, Ausgrenzung<br />
und Diskriminierung.<br />
D<br />
ie belastenden Erfahrungen der Kriegskindergeneration<br />
waren fast immer von extrem ungünstigen<br />
Kontextfaktoren begleitet. Diese kumulativen Traumatisierungen<br />
führten einerseits zu einer starken Ambivalenz<br />
aufgrund einer unauflösbaren Doppelwertigkeit<br />
von Erfahrungen und Handlungsanforderungen, aber<br />
oft auch zu einer Überangepasstheit. So verweisen biografische<br />
Berichte und psychotherapeutische Fallstudien<br />
auf ein charakteristisches Autonomiestreben der Kriegskinder,<br />
verbunden mit der Sehnsucht nach einer heilen<br />
Welt. Das Bedürfnis, stets sparsam und bescheiden zu<br />
sein, wie auch allzeit zu funktionieren, führte zu einem<br />
Idealbild, das einen freundlichen und angepassten<br />
Menschen zeigt. Ein Selbstbild, das als psychische Abwehr<br />
gedeutet werden kann, das, indem es Trauer, Scham,<br />
Wut und Enttäuschung über die eigenen Eltern unterdrückt,<br />
zu einer »übernormalen Normalität« führen kann.<br />
Auch der Einfluss von Eltern, die nationalsozialistische<br />
Täter waren, führte zu einer schwierigen Identitätsfindung<br />
der Nachkommen. Tabuisierung und Loyalitätskonflikte<br />
waren die Regel.<br />
D<br />
er<br />
transgenerationale Einfluss der Traumatisierung<br />
zeigt sich bis in die Enkelgeneration. Denn diese erlebte<br />
oft Eltern, die mit den emotionalen und psychischen<br />
Problemen ihrer Kinder nicht umgehen konnten, da sie<br />
ihrerseits keine positiven Erfahrungen machen konnten.<br />
O<br />
bwohl die Übertragungswege und -inhalte der Beeinflussung<br />
durch Traumatisierung und ihre Verdrängung<br />
auf die nachfolgenden Generationen noch<br />
nicht vollständig geklärt sind, sind sie unbestritten.<br />
Ablesbar ist dieses Phänomen auch an der erhöhten<br />
Empfänglichkeit für psychische Erkrankungen und einer<br />
herabgesetzten Stress- und Krisenbewältigung der Nachfolgegenerationen.<br />
D<br />
er ungebrochene Aufbruchswille der Nachkriegsjahre,<br />
der die Verdrängung und Tabuisierung von<br />
Leid und Schmerz der Kriegszeit überdeckte, hat<br />
Spuren bei den nachfolgenden Generationen hinterlassen.<br />
Viele Lebensgeschichten sind nur vor dem Hintergrund<br />
des Krieges verständlich. Ob es sich um die in<br />
Politik oder Wirtschaft erfolgreichen Söhne handelt, die<br />
ihre im Krieg verlorenen Väter besonders gut ersetzen<br />
wollen oder diejenigen, die als Ersatzhandlung für ihr<br />
Erstarrtsein in Konsumismus verfielen. Vielen ermöglichte<br />
die Verdrängung des Erlebten Bilderbuchkarrieren<br />
in den Aufbaujahren des bundesdeutschen Wirtschaftswunders<br />
oder beim Aufbau des Sozialismus in der DDR.<br />
Der Aufbau als ideale Bewältigungsstrategie zur Vermeidung<br />
von Trauer und Verlustgefühlen.<br />
A<br />
uch die anhaltende Verbreitung von rechtsextremem<br />
Gedankengut kann unter anderem dem Phänomen<br />
des Wirtschaftswunders in Westdeutschland zugeschrieben<br />
werden. Der sich in den 50ern rasch verbreitende<br />
Wohlstand in der BRD habe Scham und Schuld<br />
verdrängt und wie in Form einer »narzisstischen Plombe«<br />
die Vergangenheit zugeschlossen. Auf das gleiche<br />
Phänomen wurde auch nach der Wende gehofft. Als es<br />
ausblieb, reagierten die Ostdeutschen mit Politikverdrossenheit.<br />
»Immer wenn der Wohlstand als Plombe<br />
bröckelt, steigen aus dem Hohlraum wieder antidemokratische<br />
Traditionen auf.« (Decker, 2008)<br />
Was können die Nachgeborenen tun, um das Schweigen<br />
zu brechen? Vielleicht sollte man die Menschen,<br />
die sich ein Leben lang gegen eine Auseinandersetzung<br />
mit der Vergangenheit gesträubt haben, nicht<br />
dazu zwingen. Vielleicht aber ist die Auseinandersetzung<br />
auf anderen Ebenen hilfreich.<br />
W<br />
ie man im Rückblick an der Heterogenität der<br />
zeitgenössischen Rezeptionen des <strong>Schauspiel</strong>s<br />
»Draußen vor der Tür« sehen kann, so erkannte<br />
man in dem Porträt des Kriegsheimkehrers wahlweise<br />
eine humanistische, eine expressionistische oder psychoanalytische<br />
Annäherung an das Thema. Beckmann<br />
war der Antiheld, das Opfer, Jedermann und der, der<br />
sich reinwaschen wollte. Letztlich einer für alle. Eine<br />
Provokation. Der Anstoß für eine Auseinandersetzung,<br />
die manche vielleicht gern vor der Tür gelassen<br />
hätten.<br />
O<br />
b es sinnvoll ist, der <strong>Schauspiel</strong>rezeption auch eine<br />
psychosoziale Ebene hinzuzufügen, sei dahingestellt.<br />
In der Nachkriegszeit hätte man Beckmann nicht als<br />
möglichen Traumatisierten gesehen. Mit Schuld behaftet,<br />
aber eben auch traumatisiert – so weit war man<br />
noch nicht. Aber man erkannte ebenso wenig die Fortsetzung<br />
einer Gesellschaft, die sich erneut über den<br />
Ausschluss einiger ihrer Mitglieder definierte.<br />
D<br />
as Theater als Spiegel und Platz direkter Auseinandersetzung<br />
mit gesellschaftlichen Phänomenen verbessert<br />
die Menschen moralisch nicht, aber es lüftet<br />
den Teppich und macht Türen auf, die andere nicht öffnen<br />
wollen oder können. Fragen können gestellt werden,<br />
Begrifflichkeiten neu definiert. Wollen wir beispielsweise<br />
immer noch, wie Patti Smith es sang, »Out side of<br />
Society« sein oder, wie der Bürgermeister von Riace in<br />
Kalabrien, Flüchtlinge in unserem Dorf willkommen<br />
heißen? Was wollen wir von und in einer Gemeinschaft?<br />
Vielleicht hätte Kafka auch notieren können: Im Theater<br />
gewesen. Nachgedacht.
2013/14<br />
K R I E G G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />
33<br />
W<br />
ir leben in einer postheroischen Gesellschaft, der<br />
Blick auf den Soldaten hat sich verändert. Zudem<br />
ist die Öffentlichkeit weit weg vom Krieg, schlecht<br />
informiert oder durch Fehlhandlungen in der Armee<br />
scho ckiert. Soldaten definieren sich als Repräsentanten<br />
einer staatsbürgeR lichen Gemeinschaft, deren Werte<br />
sie schützen und verteidigen. Doch was ist, wenn besagte<br />
Gemeinschaft davon nichts hält? Was ist, wenn so -<br />
wohl Politik als auch Gesellschaft uneins sind über den<br />
eigentlichen militärischen Auftrag und der Begriff<br />
vom »humani tären Auslandseinsatz« fragwürdig wird?<br />
Karl-Heinz Biesold , emeritierter leitender Arzt der Abteilung<br />
Neuro logie, Psy chiatrie und Psychotherapie am Bun DeSwehR<br />
KRAnken haus in Hamburg, behandelte regelmäSSig<br />
Soldaten, die nach einem Einsatz an einer PosttraumAtischen<br />
BelAS tungS Störung leiden und hat selbst an vier<br />
AuslanDS ein Sätzen teilgenommen. In diesem Interview<br />
beschreibt er das Dilemma der Bundeswehrsoldaten heute.
34<br />
K R I E G K R I E G<br />
35<br />
G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T T R A U M A<br />
Du sollst nicht töten!<br />
Dekalog – Die zehn Gebote von Kies´ lowski/<br />
Piesiewicz Premiere Dezember 2013<br />
AJAX<br />
AFGHANISTAN<br />
IN<br />
Ein Gespräch mit dem<br />
Militärarzt Karl-Heinz Biesold<br />
Wäre Achilles noch am Leben<br />
und wollte selbst entscheiden,<br />
wer seiner Waffen würdig<br />
sei kraft seines Heldentums,<br />
dann hätte niemand andrer<br />
sie erlangt als ich. Jetzt<br />
aber haben die Atriden sie dem<br />
abgefeimten Fuchs verschachert<br />
und dieses Mannes Wert<br />
verschmäht!<br />
Ajax von Sophokles Premiere Dezember 2013<br />
A<br />
jax, der Protagonist in Sophokles’ gleichnamiger<br />
Tragödie, kehrt als Held aus dem Krieg gegen<br />
Troja zurück und wird darüber wahnsinnig, dass<br />
er nicht die Waffen seines gefallenen Kampfgefährten<br />
Achill zugesprochen bekommt. Ajax’ moralische<br />
Existenz stützte sich bislang auf eine Reihe von<br />
unerschütterlichen Werten, Prinzipien und Ehrbegriffen.<br />
Als er herausfindet, dass er betrogen wird von einer<br />
Gesellschaft, die er im Krieg noch mit seinem Leben<br />
verteidigt hat, stürzt er in eine Krise.<br />
Wäre diese Krise heutzutage als Posttraumatische Belastungsstörung<br />
1 zu diagnostizieren?<br />
Karl-Heinz Biesold: Wir wissen nicht, was Ajax im Krieg<br />
gegen Troja erlebt hat, ob er durch die Kriegshandlungen<br />
traumatisiert wurde. Was ein psychisches Trauma ist, ist<br />
definiert. Es handelt sich um extrem belastende Lebensereignisse,<br />
die den bisherigen Erfahrungshorizont der<br />
betroffenen Personen übersteigen, damit die Verarbeitungsfähigkeit<br />
des Gehirns überfordern und mit dem<br />
Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergehen.<br />
Kriegserfahrungen gehören natürlich zu dem Spektrum<br />
möglicher traumatisierender Ereignisse, die man erleben<br />
kann. Um diese verarbeiten zu können und nicht daran zu<br />
erkranken, bedarf es unter anderem einer guten sozialen<br />
Unterstützung, zum Beispiel durch die Familie, durch Kameraden<br />
oder durch die Gesellschaft. Dazu gehört auch,<br />
dass der Soldat das Gefühl haben muss, dass der militärische<br />
Einsatz, an dem er teilgenommen hat, sinnvoll ist<br />
und Unterstützung in der Gesellschaft findet. Kommt es<br />
hinterher jedoch zu Beschuldigungen oder Vorwürfen<br />
oder es wird deutlich, dass für ein Unrechtssystem gekämpft<br />
wurde, so stellt sich ein Gefühl von Verrat ein, das<br />
die Verarbeitung des Erlebten erschweren oder gar verhindern<br />
kann. Einen solchen Verrat erlebt Ajax dadurch,<br />
dass ihm der versprochene Lohn vorenthalten wird, und<br />
er kommt dadurch in eine schwere Wertekrise.<br />
Welchen »Ehrbegriff« haben Menschen, die sich für eine<br />
militärische Laufbahn entscheiden und dann möglicherweise<br />
in Afghanistan zum Einsatz kommen, heute?<br />
Welchen Schwierigkeiten sehen sie sich dabei ausgesetzt?<br />
Wie hoch ist der öffentliche Druck, sich bloSS nichts<br />
zuschulden kommen zu lassen, und wie hoch der eigene?<br />
Bei unseren Soldaten wird der Begriff »Ehre« in diesem<br />
Kontext nicht mehr verwendet. Er scheint zu antiquiert<br />
und ist für manche vielleicht auch historisch belastet.<br />
Ich halte es für angebrachter von ethischen und moralischen<br />
Grundregeln zu sprechen, die die Soldaten für<br />
sich definieren. Dazu gehört auch die Diskussion darüber,<br />
wann und unter welchen Umständen das Töten von<br />
Menschen notwendig und gerechtfertigt sein kann. Bei<br />
der Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt es<br />
wertvolle Unterstützung durch die Militärseelsorge und<br />
entsprechende Diskurse an den militärischen Ausbildungseinrichtungen.<br />
In den Auslandseinsätzen gibt es<br />
kein gesondertes Kriegsrecht.<br />
In welchem Konflikt stehen dabei die Informationspolitik<br />
der Bundeswehr, die Gesellschaft, die Medien und nicht<br />
zuletzt die Identität des Soldaten zueinander?<br />
Wir benötigen natürlich eine grundsätzliche Legitimierung<br />
eines Auslandseinsatzes nach dem Völkerrecht.<br />
Darüber hinaus wünschen die Soldaten sich die Zustimmung<br />
zu einem Einsatz nicht nur im Parlament, sondern<br />
auch in der Bevölkerung, was bisher nicht immer<br />
der Fall war. Auch die Unterstützung durch die Medien<br />
spielt dabei eine wesentliche Rolle. Soldaten definieren<br />
sich als »Staatsbürger in Uniform«, die im Auftrag der<br />
Bundesrepublik Deutschland in einen militärischen Einsatz<br />
gehen, dort ihre Gesundheit und eventuell sogar ihr<br />
Leben riskieren. Die Motivation zu einem solchen Tun<br />
ergibt sich natürlich auch aus der Sinnhaftigkeit des<br />
Einsatzes. Die Verarbeitung des Erlebten wird deutlich<br />
dadurch gefördert, dass der Soldat das Gefühl hat,<br />
dass der Preis, den er für seinen Einsatz gezahlt hat, es<br />
auch wert war.<br />
Heute hat also der Soldat per se schon mal eine andere<br />
Stellung in der Gesellschaft. Gewalt wird tabuisiert,<br />
der Krieg an sich in Frage gestellt – wie schwer haben es<br />
die Soldaten damit? Und welche Rolle spielen dabei posttraumatische<br />
Belastungsstörungen?<br />
Wir leben in einer sogenannten postheroischen Gesellschaft,<br />
in der das Militär nicht mehr den Stellenwert hat,<br />
den es in früherer Zeit hatte. Nach Beendigung des<br />
Zweiten Weltkrieges hat sich in Deutschland verständlicherweise<br />
eine pazifistische Grundhaltung entwickelt,<br />
die von dem Gedanken getragen war, dass von deutschem<br />
Boden nie mehr wieder ein Krieg ausgehen dürfe.<br />
Dies prägt natürlich die grundsätzliche Einstellung zur<br />
Bundeswehr und zu ihren Einsätzen. Alt-Bundespräsident<br />
Köhler hat es einmal so ausgedrückt, dass an der<br />
Bundeswehr und den Auslandseinsätzen in der Bevölkerung<br />
ein »wohlwollendes Desinteresse« besteht. Der<br />
Soldat wünscht sich natürlich Respekt und Anerkennung<br />
dafür, was er für die Bundesrepublik Deutschland<br />
im Auftrag des Parlamentes leistet. Dazu gehört auch<br />
der Versorgungsaspekt für die Hinterbliebenen von<br />
Gefallenen und die körperlich und seelisch Verletzten.<br />
Soldaten drücken dies so aus: »Wenn ich schon meine<br />
Gesundheit oder mein Leben für unseren Staat riskiere,<br />
erwarte ich dann, wenn ich Schaden erleide, nicht nur<br />
materielle, sondern auch moralische Unterstützung, um<br />
das Erlittene überwinden zu können.« Insbesondere bei<br />
der Verarbeitung psychischer Traumatisierung spielt die<br />
Qualität der nachfolgenden psycho-sozialen Unterstützung<br />
eine bedeutsame Rolle.<br />
Welchen Problemfeldern sehen Sie sich gegenüber, wenn<br />
sich ein Soldat ob seiner Belastungen schämt? Wie kann<br />
ihm geholfen werden?<br />
Im Bereich der Wehrpsychiatrie wurde im letzten Jahrzehnt<br />
nicht nur das diagnostische und therapeutische<br />
Angebot deutlich verbessert, sondern auch viel dafür<br />
getan, die Stigmatisierung, die durch eine Posttraumatische<br />
Belastungsstörung entstehen kann, zu verringern.<br />
Dazu gehört in erster Linie, dass über das mögliche<br />
Auftreten von Traumafolgestörungen gesprochen wird<br />
und diese nicht als Ausdruck persönlichen Versagens<br />
oder persönlicher Schwäche der Soldaten angesehen<br />
werden, sondern als eine »angemessene Reak tion einer<br />
normalen Person auf eine unnormale (pathologische)<br />
Situation«. Das soll bedeuten, dass man nicht einen<br />
»psychischen Vorschaden« haben muss, um an dem Erleben<br />
von Extremsituationen zu erkranken. Die »Kriegszitterer«<br />
des Ersten Weltkrieges mussten sich noch den<br />
Vorwurf gefallen lassen, schon vor dem Krieg an einer<br />
»seelischen Minderwertigkeit« gelitten zu haben bzw.<br />
ihre Symptome zu simulieren.<br />
Erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist<br />
es also, dass die Soldaten überhaupt bereit sind, über<br />
ihre Symptome zu sprechen. Immer noch ist eine große<br />
Zahl Betroffener verschämt und sucht erst nach langem<br />
Leiden Hilfe. Allerdings ist durch den offenen Umgang<br />
mit diesem Thema im Militär die Bereitschaft, sich mit<br />
seinen Problemen zu öffnen und in Behandlung zu begeben,<br />
in den letzten Jahren größer geworden.<br />
Wie schwierig ist die Informationspolitik der Bundeswehr<br />
über ihre Truppen, und welche Überlegungen werden<br />
dabei gewichtet?<br />
Ich denke, dass die Informationspolitik der Bundeswehr<br />
über ihre Auslandseinsätze zunächst natürlich so<br />
ausgerichtet sein muss, dass die Soldaten nicht durch<br />
zu viel Transparenz, was taktische und strategische<br />
Belange angeht, gefährdet werden. Dennoch haben<br />
die Soldaten selbst das Gefühl, dass von den Auslandseinsätzen<br />
in der Presse nur Kenntnis genommen<br />
wird, wenn sich Schwierigkeiten ergeben oder Probleme<br />
auftauchen, wenn also etwas nicht gut funktioniert.<br />
Es gibt prinzipiell auch viele positive Dinge, die aus<br />
den Auslandseinsätzen zu berichten wären und die<br />
man leider im Wesent lichen nur in bundeswehrinternen<br />
oder -nahen Publikatio nen, in Schriften sicherheitspolitischer<br />
Arbeitskreise und weniger in der allgemeinen<br />
Tages- oder Wochenpresse findet. Dies hat aber wohl<br />
etwas mit der allgemeinen Grundhaltung zum Militär<br />
und dem bereits oben zitierten »wohlwollenden Desinteresse«<br />
in der Bevölkerung zu tun.<br />
Insgesamt kann ich aber aus meiner ganz persönlichen<br />
Sicht feststellen, dass sich das Ansehen der Bundeswehr<br />
und damit auch das der Soldaten von den Zeiten<br />
des »Kalten Krieges« bis zu den internationalen militärischen<br />
Einsätzen heute deutlich verbessert hat. Allerdings<br />
bestehen immer noch erhebliche Unterschiede zu<br />
anderen vergleichbaren europäischen Nationen wie den<br />
Briten, den Niederlanden, aber auch den skandinavischen<br />
Ländern, die schon viel länger als wir an internationalen<br />
Missionen teilnehmen.<br />
In »Ajax« nennt der Chor Artemis, die Göttin der Jagd,<br />
und Ares, den Kriegsgott, als mögliche Auslöser für<br />
Ajax’ Verwirrungen. Welche Bilder benutzen Soldaten in<br />
der Therapie, wenn sie über ihre Belastungsstörungen<br />
berichten?<br />
Die Soldaten erleben sich im Auslandseinsatz »wie in<br />
einer andern Welt«. Sie kommen aus der seit langer Zeit<br />
befriedeten, in Wohlstand lebenden Bundesrepublik<br />
Deutschland und erleben in den Auslandseinsätzen die<br />
Auswirkungen von Krieg und Gewalt, Chaos, Zerstörung,<br />
Not und Elend. Sie sind konfrontiert mit für sie<br />
manchmal undurchschaubaren politischen Situationen<br />
und Konfliktlagen, einer fremden Kultur und terroristischen<br />
Feindseligkeiten. Sie kommen mit dem Wunsch,<br />
zu helfen und werden in terroristische Aktivitäten und<br />
militärische Auseinandersetzungen hineingezogen, in<br />
denen sie ihr Leben riskieren müssen. Oft und nicht zuletzt<br />
besteht die Belastung in dem Gefühl totaler Hilflosigkeit<br />
gegenüber Not und Elend im Einsatzland.<br />
Gesellschaftlicher Auftrag (humanitärer Einsatz) und<br />
persönliche Motivation (helfen wollen) stehen mitunter<br />
in deutlichem Gegensatz zu Einstellung und Haltung<br />
der Bevölkerung in den Hilfsgebieten. Manchmal werden<br />
die Soldaten als Besatzer gesehen oder geraten<br />
zwischen die Fronten rivalisierender Gruppen. Sie setzen<br />
ihr eigenes Leben oder ihre Gesundheit aufs Spiel,<br />
ohne positive Auswirkungen ihres Einsatzes erleben zu<br />
können. Nicht selten schlagen ihnen Ablehnung und<br />
Hass entgegen, und vereinzelt werden sie Opfer terroristischer<br />
Angriffe.<br />
1 Eine PTBS ist in der Medizin ein klar umschriebenes Krankheitsbild, das als<br />
Folge einer seelischen Verwundung durch das Erleben eines Ereignisses von außergewöhnlicher<br />
Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß entstehen kann.<br />
Als Beispiele werden z. B. das Erleben von körperlicher und sexualisierter Gewalt,<br />
auch in der Kindheit (sexueller Missbrauch), Vergewaltigung, gewalttätige Angriffe<br />
auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Krieg, Kriegsgefangenschaft,<br />
politische Haft, Folterung, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager,<br />
Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen, Unfälle oder<br />
die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit, die an der eigenen Person,<br />
aber auch an fremden Personen erlebt werden können, genannt.<br />
Der Symptomkomplex der PTBS besteht aus drei Gruppen: 1. den anhaltenden<br />
Erinnerungen oder dem intrusiven Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden<br />
Erinnerungen (Flashbacks oder Albträumen), die stets mit heftigen<br />
Gefühlen und Körperreaktionen verbunden sind, als wäre die traumatische Situation<br />
nicht vorbei. 2. dem Vermeiden von Umständen, die der Belastung ähneln,<br />
wobei nicht selten eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit besteht, sich an<br />
einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern. 3. einer anhaltenden<br />
psychischen Sensitivität und Erregung, verbunden mit Konzentrationsstörungen,<br />
Schlafstörungen, erhöhter Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Wutausbrüchen.
36<br />
GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
37<br />
spielzeit 2013/14<br />
NATUR GEMEINSCHAFT<br />
NATUR GEMEINSCHAFT<br />
Wir sind an den Gedanken gewöhnt,<br />
dass Gemeinschaft etwas an sich Gutes<br />
ist. Tatsächlich aber liegt es in der<br />
»Natur« der Gemeinschaft, von tragischen<br />
WideR Sprüchen durchzogen zu sein. Der promovierte<br />
Philo Soph Dirk Setton lehrt an<br />
der Goethe- universität <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />
und schreibt in dem vorliegenden Essay auSgehend<br />
von »Dogville« und »Bakchen« über<br />
AlBder<br />
Dirk Setton<br />
träume<br />
Gemein schaft<br />
einige Paradoxien des Zusammen lebens, ihre<br />
Gewaltpotenziale und über den Schein<br />
einer unendlichen Gemeinschaft im Theater.<br />
Ambivalenzen der Gemeinschaft<br />
»D<br />
ie schönste Form der Existenz ist für uns diejenige,<br />
die in Beziehungen und im Miteinander<br />
besteht; unser wahres Ich liegt nicht in uns<br />
allein.« (Jean-Jacques Rousseau) Dieser common<br />
sense über die notwendige Gemeinschaftlichkeit<br />
sinnvollen Daseins birgt ein Problem. Es liegt<br />
nicht darin, dass er schlicht falsch wäre; es liegt vielmehr<br />
in seiner Einseitigkeit – und in dem, was seine Einseitigkeit<br />
vergessen macht: die tragische Einsicht in die<br />
unauflösbare Ambivalenz von Gemeinschaft.<br />
I<br />
m Folgenden soll es um den Versuch gehen, diese Ambivalenz<br />
in einer kleinen Serie von »tragischen Widersprüchen«<br />
zu skizzieren. Drei Spannungen werden<br />
dabei im Zentrum stehen: erstens der Widerstreit zwischen<br />
einem »Naturzustand« und einem »Gesellschaftszustand«<br />
der Gemeinschaft; zweitens die Spannung<br />
zwischen der Verbindlichkeit, die das soziale Band einer<br />
Gemeinschaft stiftet, und den Formen, in denen sich eine<br />
Gemeinschaft gegen die exzessiven Tendenzen immunisieren<br />
muss, die in jener Verbindlichkeit stecken; sowie<br />
drittens der Widerstreit zwischen der Selbstidentifikation<br />
eines Kollektivs, durch die das Gemeinsame in einem bestimmten<br />
Merkmal repräsentiert wird, und dem dadurch<br />
verdrängten »Seinsgrund« der Gemeinschaft, der sich<br />
jeder Identifikation oder Repräsentation entzieht.<br />
D<br />
ass<br />
Gemeinschaften von diesen Spannungen durchzogen<br />
werden, können wir nur durch eine Form der<br />
Darstellung erfahren, die auf exemplarische Weise<br />
diese Spannungen vorführt, und zwar im Zuge einer<br />
Durcharbeitung von besonderen Vorstellungen, die das<br />
Verständnis von Gemeinschaft bestimmen. Zu einer solchen<br />
Darstellung ist allein die Kunst fähig: Theater, Literatur<br />
oder Film. Und vielleicht sind dazu insbesondere<br />
solche Beispiele aus der Geschichte der erzählenden<br />
Kunst imstande, die uns den inneren Widerstreit der Gemeinschaft<br />
drastisch – weil tragisch – vor Augen führen.<br />
A<br />
us diesem Grund wird sich diese kleine Skizze an<br />
zwei Beispielen orientieren: den »Bakchen« von<br />
Euripides und »Dogville« von Lars von Trier. Drei<br />
Merkmale sind beiden Stücken gemeinsam: In ihrem<br />
dramatischen Zentrum steht erstens die folgenreiche<br />
Begegnung zwischen einer bestehenden Gemeinschaft<br />
(der griechischen Polis Theben, dem kleinen Dorf Dogville<br />
in den Rocky Mountains) und einem oder einer<br />
Fremden – dem Gott Dionysos und seinem Gefolge,<br />
der in Theben einen neuen Kult einführen will, sowie<br />
Grace, die in Dogville Zuflucht vor ihren Verfolgern<br />
sucht. Zweitens endet diese Begegnung in beiden Fällen<br />
mit der unverhältnismäßig grausamen Auslöschung<br />
der Gemeinschaft – der Ermordung, Verbannung und<br />
Verfluchung des ganzen Herrschergeschlechts von<br />
Theben unter der Regie des listigen Dionysos sowie mit<br />
der Erschießung aller Bewohner von Dogville durch den<br />
Befehl von Grace. Und drittens sind beide Stücke von<br />
einer auffälligen Figurensprache des Natürlichen und<br />
insbesondere einer Tiermetaphorik gezeichnet. Dadurch<br />
tritt bei Euripides das beteiligte Personal in eine<br />
Art Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mensch und<br />
Tier, während bei Lars von Trier gleich die Gemeinschaft<br />
als Ganze einen tierisch-bestialischen Zug erhält.<br />
Es sind diese drei Aspekte, die uns helfen sollen,<br />
eine erste Idee von den tragischen Spannungen im<br />
Begriff der Gemeinschaft zu bekommen.<br />
Die Gemeinschaft ohne<br />
Eigenschaften: Grace in Dogville<br />
D<br />
ie Pointe der Begegnung der Bewohner von Dogville<br />
mit der flüchtenden Grace liegt zunächst darin, dass<br />
sie die Frage nach der Gemeinschaft auf eine neue<br />
Weise aufwirft. Grace ist eine Fremde in Dogville, doch<br />
ihre Fremdheit besteht nicht darin, dass sie einer anderen<br />
Gemeinschaft angehört; sie besteht vielmehr darin,<br />
dass sie ohne Gemeinschaft ist: allein, mittellos, auf der<br />
Flucht und in ihrer Verletzbarkeit exponiert. Die Frage,<br />
die deren Begegnung aufwirft, lässt sich dabei nicht<br />
bloß auf die Frage der Bewohner von Dogville reduzieren,<br />
»ob sie Grace Asyl gewähren oder nicht«; genau<br />
genommen geht es um die Frage nach Gemeinschaft<br />
und ihrem Status selbst – d. h. mit welchem Verständnis,<br />
welchen Vorstellungen von »Gemeinschaft« haben<br />
wir es zu tun und in welchem Verhältnis stehen diese<br />
zueinander?<br />
A<br />
m Anfang von »Dogville« erfahren wir von einem der<br />
Bewohner, dass das Dorf »verrottet« sei; und der<br />
»Dorfintellektuelle« Tom sieht die Gemeinschaft von<br />
Dogville von einem tiefen Mangel gezeichnet – ihr fehlt<br />
etwas, um eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne zu<br />
sein. Der Mangel liegt nicht im Fehlen eines stabilen Kriteriums<br />
der Zugehörigkeit, sondern, Tom zufolge, vielmehr
38<br />
GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
39<br />
spielzeit 2013/14<br />
NATUR GEMEINSCHAFT<br />
NATUR GEMEINSCHAFT<br />
in der Fähigkeit, eine »Gabe« und eine damit einhergehende<br />
moralische Verpflichtung zu »akzeptieren«. Diese<br />
»Gabe« nun ist Grace selbst, d. h. ihre Fremdheit und<br />
Nichtzugehörigkeit, die dem Dorf demnach das vermittelt,<br />
was ihm fehlt, um eine wirkliche Gemeinschaft zu sein.<br />
Wir rühren hier an eine Verschiebung im Verständnis<br />
von Gemeinschaft, die der italienische Philosoph<br />
Roberto Esposito in seinem Buch »Communitas«<br />
jüngst vorgeschlagen hat: Das »Gemeine«, das eine<br />
Gemeinschaft vereint, entspricht keinem »Eigenen« (keinem<br />
Eigentum, keiner Identität, keinem Interesse, keinem<br />
Wertekonsens), das alle Mitglieder insofern teilen, als<br />
sie sich mit ihm identifizieren (ihr »wahres Ich« darin<br />
wiedererkennen); das »Gemeine« der Gemeinschaft<br />
besteht vielmehr in einer geteilten Pflicht, einer gemeinsamen<br />
Schuldigkeit oder Verantwortung, die ihren<br />
Grund wiederum nicht in der Identität oder den Eigenschaften<br />
ihrer Mitglieder hat, sondern in der bloßen und<br />
nicht weiter zu qualifizierenden Tatsache eines gemeinsamen<br />
Erscheinens 1 der Beteiligten. Was hier erscheint,<br />
ist gewissermaßen ein »Zwischenraum«, der sich zwischen<br />
einer Vielheit von Personen auftut, der niemandem<br />
gehört und mit dem sich niemand identifizieren<br />
kann, der aber dennoch die Vielen aufeinander bezieht<br />
und diese insofern vereint, als sie gerade gemeinsam in<br />
einer stets noch zu bestimmenden Weise auf diese<br />
geteilte Sphäre verpflichtet werden. Damit wird jede<br />
Begrenzung von Gemeinschaft, jedes Ein- und Ausschlusskriterium<br />
und damit die gängige Vorstellung von<br />
»Gemeinschaft als kollektive Identität« unterlaufen.<br />
Das animalische Gemeinwesen<br />
Vor diesem Hintergrund können wir mit Blick auf »Dogville«<br />
sagen, dass es exakt diese Verschiebung im<br />
Gemeinschaftsbegriff ist, die durch die Ankunft von<br />
Grace in Szene gesetzt wird – eine Verschiebung von<br />
der »in sich geschlossenen Dorfgemeinschaft« hin zur<br />
Erfahrung jenes »Zwischenraums des gemeinsamen Erscheinens«,<br />
der Grace und die Bewohner von Dogville<br />
in einer noch zu bestimmenden Verpflichtung vereint.<br />
Diese Verpflichtung entfaltet sich zunächst innerhalb<br />
eines instabilen Spiels von Gabe und Gegen-Gabe,<br />
von Hilfeleistung und Dankbarkeit, das dem Miteinander<br />
im Dorf spürbar neues Leben gibt: Dogville gewährt der<br />
flüchtenden Grace sícheren Unterschlupf, während<br />
Grace den Dorfbewohnern als Gegenleistung verschiedene<br />
Dienste anbietet. Dass im Verlauf des Dramas dieses<br />
Spiel langsam eine desaströse Wendung bekommt,<br />
liegt an dem beinahe notwendigen Selbstmissverständnis<br />
der Gemeinschaft, das die Bewohner von Dogville unbeirrt<br />
fortsetzen. Dieses Selbstmissverständnis besteht<br />
darin, dass ihre Gemeinschaft eben eine Art »kollektives<br />
Individuum« darstellt und über ein kollektives Eigentum<br />
verfügt, an dem jedes rechtmäßige Mitglied teilhat<br />
(was dieses wiederum in die Lage setzt, sich mit der<br />
Gemeinschaft zu identifizieren). Aus dieser Perspektive<br />
verschwindet aber jene Sphäre des »gemeinsamen Erscheinens«,<br />
und das Verhältnis zwischen Dogville und<br />
dem Flüchtling verwandelt sich in ein bloßes Tauschgeschäft.<br />
Folglich muss es für die Bewohner darum gehen,<br />
sich jene »Gabe« anzueignen, die die Vitalität ihres gemeinschaftlichen<br />
Lebens durch ihre Nichtzugehörigkeit<br />
bedingt. Und weil Grace nicht nur in den Austausch<br />
zwischen Gabe und Gegen-Gabe eingebunden ist,<br />
sondern zugleich auch (als »Gabe« an die Gemeinschaft)<br />
den Grund verkörpert, der diesen Austausch<br />
ermöglicht und jene Sphäre des gemeinsamen Erscheinens<br />
und der geteilten Pflicht eröffnet, läuft der Versuch<br />
der Aneignung, der Verwandlung des Grunds (oder der<br />
»Gabe«) in das »Eigentum« eines Kollektivs, notwendig<br />
auf eine Misshandlung hinaus.<br />
E<br />
s ist klar, dass diese Dynamik in ihrer drastischen<br />
Zuspitzung eine Übertreibung enthält. Aber diese<br />
Übertreibung ist notwendig, um jenen Widerstreit<br />
überhaupt als solchen sehen zu können, der zwischen<br />
der »Gemeinschaft als kollektiver Identität« und der<br />
»Gemeinschaft des gemeinsamen Erscheinens« besteht.<br />
»Dogville« schildert die beiden Pole dieses Widerstreits<br />
in den grellen Farben einer wechselseitigen Vernichtung<br />
(Dogville misshandelt Grace, Grace vernichtet Dogville),<br />
um die Tatsache zu betonen, dass wir es hier mit<br />
zwei heterogenen Prinzipien der Gemeinschaft zu tun<br />
haben – und dass dieser Gegensatz zu ihrer »Natur«<br />
gehört. Diese zentrale Pointe von »Dogville« können wir<br />
auch in der Begründung erkennen, die Grace dafür anführt,<br />
weshalb sie die Misshandlungen der Bewohner<br />
akzeptiert: denn sie »folgen nur ihrer Natur«. Worum es<br />
also geht, ist eine Art Perspektivenwechsel bezüglich<br />
der »Natur« einer Gemeinschaft, die eben keine »per se<br />
gute« ist, sondern im Gegenteil eine hochambivalente:<br />
Sie basiert auf jenem »natürlichen« Selbstmissverständnis,<br />
das dazu führt, dass die Gemeinschaft ihren eigenen<br />
Grund verzehrt.<br />
Der wiederholte Naturzustand:<br />
Dionysos in Theben<br />
Eine naheliegende Weise, das Desaster von »Dogville«<br />
zu vermeiden, besteht darin, Institutionen zu schaffen,<br />
die die Gemeinschaft vor ihrer »Natur« schützen. Der<br />
Eindruck, dass das Problem von Dog ville auch daher<br />
rührt, dass wir es mit einer Gemeinschaft fern von<br />
rechtlichen und staatlichen Institutionen zu tun haben,<br />
unterstreicht diese Diagnose. Doch mit der Einsicht,<br />
So verlieren sich Worte in unserem Fleisch und Blut; wie vieles auch,<br />
widersprechen sich Gesetz und Natur.<br />
Bakchen von Euripides/ Schrott Premiere Januar 2014<br />
dass eine gerechte Gemeinschaft »naturwüchsige«<br />
Bindungen auflösen und sich eine »künst liche« (rechtliche<br />
und staatliche) Verfassung geben muss, um ihre<br />
Mitglieder gegen die Gewaltpotenziale zu schützen, die<br />
in den diffusen Inklusions- und Exklusionsverhältnissen<br />
solcher »naturwüchsiger« Assoziationen liegen, betreten<br />
wir in der Tat die Bühne eines neuen Widerstreits der<br />
Gemeinschaft: des Widerstreits zwischen dem »Naturzustand«<br />
und dem »Gesellschaftszustand« eines Gemeinwesens.<br />
2 Denn wenn eine rechtliche und staatliche<br />
Konstitution die Gemeinschaft vor sich selbst »immunisiert«,<br />
indem alle Mitglieder ihr Recht auf Gewalt anwendung<br />
an einen Souverän abtreten, unter dessen<br />
Schutz sie sich fortan stellen, dann bedeutet das zugleich,<br />
jede von sich aus potenziell konfliktträchtige<br />
oder gewalthafte Beziehung unter den Mitgliedern auf<br />
eine neue Basis zu stellen. Und damit wird zugleich der<br />
soziale Zusammenhalt unter ihren Mitgliedern notwendig<br />
geschwächt, insofern letzterer gerade auf »ersten«<br />
Identifikationen beruht, mit denen die rechtliche und<br />
staatliche Ordnung in gewisser Weise Schluss machen<br />
muss, um deren Gewaltpotenzial zu unterminieren.<br />
E<br />
uripides’ »Bakchen« können wir als ein Stück lesen,<br />
das die Tragödie dieses Widerstreits entfaltet: Es erzählt<br />
von der Wiederkehr des »Naturzustands« unter<br />
den Vorzeichen des »Gesellschaftszustands« sowie von<br />
der besonderen Gestalt, die diese Wiederkehr besitzt.<br />
Zu Beginn des Stücks haben wir es mit einer Situation<br />
zu tun, die derjenigen von »Dogville« analog ist: Die Ankunft<br />
von Dionysos in Theben markiert den Einbruch<br />
eines Fremden in ein (nun durch staatliche Herrschaft<br />
organisiertes) Gemeinwesen, das eine neue Form der<br />
Gemeinschaft einführt – allerdings mit der expliziten,<br />
wenn auch umstrittenen Behauptung, dass Dionysos<br />
eigentlich aus Theben stammt. Auch hier beginnt also<br />
alles mit der Frage nach einer Gemeinschaft derer, zwischen<br />
denen keine Gemeinschaft besteht oder anerkannt<br />
wird. Wir müssen also die beiden gegensätzlichen<br />
Auffassungen – dass Dionysos dazugehört und nicht<br />
dazugehört – zusammennehmen, um jene Gemeinschaft<br />
in den Blick zu bekommen, die Euripides ins Zentrum<br />
der Tragödie gestellt hat. Und insofern Dionysos ein Gott<br />
ist, der wie ein Regisseur die Geschicke der Handlung<br />
lenkt, sollten wir ihn als Verkörperung des Prinzips derjenigen<br />
Gemeinschaft verstehen, welche die Stadt und<br />
ihr Außen von innen her vereint.<br />
Die unbegrenzte Gemeinschaft<br />
Wofür also steht der Name »Dionysos«? Es wäre vielleicht<br />
zu einfach, in dieser Figur bloß eine Einsicht<br />
in die »irrationale« Dimension gemeinschaftlicher<br />
Existenz zu sehen, der zufolge es gerade Erfahrungen<br />
Sie hätte ihre Verletzlichkeit<br />
verbergen können, aber<br />
stattdessen hatte sie<br />
entschieden, sich blindlings<br />
auszuliefern.<br />
Dogville von Lars von Trier Premiere April 2014<br />
kollektiver Berauschung und geteilter exzessiver Freude<br />
sind, die einen tieferen Sinn für das Gemeinsame stiften.<br />
Eine solche psychologische Deutung verfehlt jedoch<br />
den Grund dessen, was in den dionysischen Kostümierungen,<br />
Tänzen, Gesängen und Trinkgelagen zur Darstellung<br />
kommt. Ganz am Anfang der »Bakchen« erinnert<br />
der Seher Teiresias an diesen Grund. Zwei Prinzipien,<br />
so ließen sich die Verse 274–285 interpretieren, bestimmen<br />
die menschliche Gemeinschaft: ein Prinzip (für das<br />
die Göttin Demeter steht), das die Belange endlicher<br />
Koexistenz regelt und ihre Gefahren bannt, und ein Prinzip<br />
(für das Dionysos steht), das die Ansprüche auf Unendlichkeit<br />
beantwortet, die sich im Leiden an der Endlichkeit<br />
Ausdruck verschafft. Wie können wir dies verstehen?<br />
Eine soziale Ordnung beinhaltet (staatliche, rechtliche,<br />
ökonomische etc.) Institutionen, die das Überleben ihrer<br />
Mitglieder absichert, ihre Bedürfnisbefriedigung reguliert<br />
und ihre sozialen Unterschiede so schützt, dass die<br />
darin liegenden Konfliktpotenziale nicht ausbrechen.<br />
Das Problem dieser Ordnung, die den »Gesellschaftszustand«<br />
des Gemeinwesens konstituiert, besteht jedoch<br />
darin, dass sie aufgrund ihrer Immunfunktion nur auf die<br />
Bedingungen der Endlichkeit gerichtet ist – und mithin<br />
der Gemeinschaft allein die Beschäftigung mit den endlosen<br />
Mängeln endlichen Lebens übrig lässt. Dionysos<br />
hingegen, so Teiresias, »tröstet« die »mühbeladenen<br />
Sterblichen«. Wie macht er das? Dadurch, dass er eine<br />
andere Orientierung einführt – die am Unendlichen als<br />
»göttlicher Gabe« –, aus deren Perspektive alles Endliche,<br />
jede Grenze und jede Beschränkung nichts mehr<br />
zählt. Im dionysischen Fest hören Identitätsmerkmale<br />
(sozialer Stand, Herkunft, Alter, Geschlecht, Vermögen<br />
etc.) auf, signifikant zu sein, so dass eine Gemeinschaft<br />
Da ich nun einmal da war, wollte ich<br />
in diese Gemeinschaft gehören, auch<br />
wenn es sich um die scheuSSlichste und<br />
entsetzlichste Gemeinschaft handelte,<br />
die sich denken läSSt.<br />
Wille zur Wahrheit von Thomas Bernhard Premiere November 2013<br />
derer entsteht, die alle besonderen Eigenschaften hinter<br />
sich gelassen haben – und gerade diese Tatsache<br />
feiern. Eine solche »unendliche Gemeinschaft« wird dabei<br />
als eine Rückkehr in den »Naturzustand« ausagiert, der<br />
freilich nur ein Schein sein kann, denn auf der Basis einer<br />
»künstlichen« Gemeinschaft gibt es nur einen künstlichen<br />
Naturzustand: Dionysos führt seine Gemeinde<br />
aus der Stadt und in die Wildnis, lässt alle Besonderheit<br />
unter einem Kleid naturalistischer Symbolik verschwinden<br />
und macht die Künstlichkeit der Veranstaltung<br />
durch Rauschmittel vergessen.<br />
D<br />
och der Kater danach, den die Tragödie als Katastrophe<br />
in Szene setzt, macht einerseits deutlich, dass mit<br />
der Negation des »Gesellschaftszustands« auch die<br />
Gewaltpotenziale wieder freigesetzt werden. Er zeigt<br />
aber auch andererseits, dass in einem auf Endlichkeit fixierten<br />
»Gesellschaftszustand« die unendliche Gemeinschaft<br />
nur als vorübergehender Rausch, Betäubung oder<br />
Fest aufblitzen kann. Warum es sie aber überhaupt unter<br />
diesen Bedingungen gibt, deutet die intime Nähe an, die<br />
in den »Bakchen« zwischen Dionysos und Pentheus, dem<br />
Herrscher über den »Gesellschaftszustand« von Theben,<br />
vorgeführt wird. Pentheus hegt, seinen militärischen Strafmaßnahmen<br />
zum Trotz, eine tiefe Faszination für Dionysos<br />
und seinen Kult. Diese Faszination basiert auf dem Erlebnis<br />
der Betrachtung des künstlich erzeugten Naturschönen:<br />
Das dionysische Spektakel lässt etwas Unendliches<br />
im Endlichen aufscheinen. Und auch wenn dieser Sinn für<br />
das künstliche Naturschöne Pentheus zum Verhängnis<br />
wird, so enthält es dennoch einen Hinweis auf das<br />
Schicksal jenes Scheins einer »unendlichen« Gemeinschaft,<br />
das über das Ende der Tragödie hinausweist.<br />
E<br />
s ist oft gesagt worden, dass man die historische Bedeutung<br />
antiker Tragödien so interpretieren kann,<br />
dass sie im Zuge einer Arbeit am Mythos die Entstehung<br />
– d. h. den Sinn – kultischer Einrichtungen in der<br />
Polis erzählen. Wenn es also in Euripides’ »Bakchen«<br />
um eine Deutung der Einführung der dionysischen Mysterienspiele<br />
in Griechenland geht, aus denen sich dann<br />
später die Kunstform der Tragödie selbst entwickelt hat,<br />
dann ließe sich vielleicht behaupten, dass der Schein<br />
der »unendlichen Gemeinschaft« zur Domäne des Theaters<br />
geworden ist. Die Albträume der Gemeinschaft,<br />
die auf die Bühne gebracht werden, hätten dann die<br />
Pointe, gerade durch die grelle Inszenierung der tragischen<br />
Spannungen, die in der Struktur der Gemeinschaft<br />
liegen, jenen Schein einer »unendlichen Gemeinschaft«<br />
zu behaupten – und zwar als einen solchen, der den<br />
sich entziehenden Grund politischer Gemeinschaft nach<br />
wie vor bildet.<br />
1 Vgl. Jean-Luc Nancy: »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des<br />
›Kommunismus‹ zur Gemeinschaftlichkeit der ›Existenz‹«, in: Gemeinschaften. Positionen<br />
zu einer Philosophie des Politischen, hrsg. v. Joseph Vogl, <strong>Frankfurt</strong> am<br />
Main 1994.<br />
2 Zu diesem Widerstreit vgl. Joseph Vogl: »Einleitung«, in: Gemeinschaften, a.a.O.
40<br />
Anwesenheit<br />
41<br />
GEMEINSCHAFT Abwesenheit<br />
Anwesenheit<br />
spielzeit 2013/14<br />
GEMEINSCHAFT Abwesenheit<br />
T<br />
homas<br />
Bernhard war einer der herausragenden<br />
Autoren des 20. Jahrhunderts. Wie kaum ein<br />
anderer Schriftsteller vor ihm hat er sein Leben<br />
und seine Biografie zum Thema seines Schaffens<br />
gemacht. Fünf Bände umfasst allein seine Autobiografie,<br />
in der sich Bernhard brillant als<br />
AuSSenseiter in einer ihm von Anfang an feindlich<br />
gesinnten Umwelt inszeniert. Zu Beginn von<br />
Bernhards biografischer Katastrophe steht für<br />
Thomas<br />
Bernhard<br />
Tilman Allert<br />
die<br />
biografischen<br />
Fiktionalisierung<br />
Erfahrung<br />
einer<br />
Tilman Allert , Professor für Soziologie und Sozialpsychologie<br />
an der Goethe-Universität <strong>Frankfurt</strong><br />
am Main, die Erfahrung des jungen Bernhard<br />
nicht nur in der Familie, sondern auch in der<br />
Gemeinschaft > anwesend abwesend< zu sein.<br />
Künstlerische Kreativität greift auf lebensgeschichtliche<br />
Erfahrungen zurück. Sie stellen das Material<br />
bereit für eine Sensibilität, die im handwerklich<br />
virtuos gehandhabten ästhetischen Medium artikulierbar<br />
wird. Derart übersetzt werden sie jenseits<br />
der Selbstentblößung für den Rezipienten verfügbar.<br />
In dieser Anstrengung der Verfeinerung entsteht die<br />
Sache ›Kunst‹: das Verschwinden alles Subjektiven in<br />
der Form. Eine Ausdrucksmöglichkeit, die es ermöglicht,<br />
beispielsweise das Singuläre eines Schreis oder<br />
einer frühen Verletzung in den Status allgemeiner, universaler<br />
Empfindungen zu rücken.<br />
T<br />
homas Bernhard, der in seinem Werk sich dem Cantus<br />
firmus einer lebenslangen »Ursachenforschung«,<br />
der Suche nach der Herkunft, verschrieben hat,<br />
überfällt das Publikum in seinen Stücken und seiner<br />
kunstvollen Prosa mit einem einzigen Schrei, durch die<br />
deklamatorisch eindrucksvolle Klage eines Menschen,<br />
dessen Lebensschicksal durch eine Sequenz von Tilgung<br />
und Nichtwahrnehmung bestimmt ist. Von der<br />
seelischen Disposition her ein Waisenkind, aber eines,<br />
das sich im Unterschied zur Waisen mit der definitiven<br />
Abwesenheit der Eltern und Nächsten nicht arrangieren<br />
kann, vielmehr eine Waise, der gleichsam das<br />
Recht auf das strukturelle Verlassensein genommen<br />
wird. Die Mutter, die Großeltern gerieren sich in der<br />
Sozialisationsgeschichte des jungen Bernhard als fragile<br />
Stützen eines Weltkontakts und werden aufgrund<br />
ihrer nur situativen Zuneigung schnell Objekte einer<br />
Obsession, im Erlittenen die Gesten eines gelingenden<br />
Lebens zu entdecken.<br />
D<br />
ie Personen aus der Frühzeit seines Lebens, eingeschlossen<br />
der Großvater, sind auf eine für das Kind<br />
erstickende Weise mit sich selbst beschäftigt. Die<br />
Kälte, die Bernhards autobiografische Texte ausstrahlen,<br />
ist unterlegt von einer autosuggestiven Gewissheit,<br />
in der Welt aufgenommen zu sein – gegen alle Evidenz,<br />
die von Bernhard lautstark und in faszinierend<br />
anschaulichen Paraphrasen in Erinnerung gerufen<br />
wird. Eine Gewissheit, die in nichts ausdrucksstärker<br />
ins Bild gesetzt wird als in der Moses-Fantasie, ein<br />
Schlüssel zu Biografie wie zur Werkgestalt. Eine Fantasie,<br />
die sehr früh in den beiden seelischen Dimensionen<br />
die Funktion einer seelischen Stütze übernimmt,<br />
eine Art Halteseil:<br />
»Ich soll ein fröhliches Kind gewesen sein. Ein Jahr<br />
lang getraute sich meine Mutter nicht, meinen Großeltern<br />
in Wien meine Geburt zu melden. Was sie fürchtete,<br />
weiß ich nicht. Der Vater als Romanschreiber und<br />
Philosoph durfte in seiner Arbeit nicht gestört werden,<br />
ich glaube fest, das war der Grund, warum mich meine<br />
Mutter so lange verschwieg. Mein Vater hat mich niemals<br />
anerkannt. Die Möglichkeit, mich in dem Kloster<br />
bei Heerlen 1 in Holland zu lassen, dem Fluchtort ihrer<br />
Schande, war nur kurz gewesen, meine Mutter musste<br />
mich abholen, in einem von ihrer Freundin geliehenen<br />
kleinen Wäschekorb reiste sie mit mir nach Rotterdam<br />
zurück. Da sie nicht ihren Lebensunterhalt verdienen<br />
und gleichzeitig bei mir sein konnte, musste sie sich<br />
von mir trennen. Die Lösung war ein im Hafen von Rotterdam<br />
liegender Fischkutter, auf welchem die Frau<br />
des Fischers Pflegekinder in Hängematten unter Deck<br />
hatte ... Aber meine Mutter hatte keine andere Wahl.<br />
Immerhin kann ich sagen, dass ich mein erstes Lebensjahr<br />
ausschließlich auf dem Meer verbracht habe,<br />
nicht am Meer, sondern auf dem Meer … Im Grunde<br />
bin ich ein Meermensch, erst, wenn ich am Meerwasser<br />
bin, kann ich richtig atmen, von meinen Denkmöglichkeiten<br />
ganz zu schweigen. Nicht ohne Stolz denke<br />
ich oft, ich bin ein Kind des Meeres, nicht der Berge.«<br />
Thomas Bernhard: »Ein Kind«<br />
A<br />
ußeralltäglich begabt, also mit einer Mission geboren<br />
zu sein, darin liegt die unmittelbar nachvollziehbare<br />
Seite dieses seelischen Konstrukts. Der Korb,<br />
eine verzweifelte Geste der Sorge und Behausung –<br />
immerhin in die Welt gesetzt aus dem Wunsch heraus,<br />
sich eines Tages wiederzusehen, also das den Lebensumständen<br />
geopferte Band zur Mutter nicht abreißen zu<br />
lassen –, dieses Element der Moses-Fantasie wird leicht<br />
übersehen. Die Fantasie – sie taucht in den autobiografischen<br />
Texten auf – entsteht als eine Übersteigerung der<br />
ersten dramatischen Kränkung, die der junge Thomas<br />
Bernhard durch die Mutter erfährt.<br />
G<br />
eht man der Frage nach, wie das Leben, das in seiner<br />
Ausweglosigkeit an die Befunde von René Spitz 2<br />
über die traumatisierenden Erfahrungen von Kindern<br />
in totalen Institutionen erinnert, den Weg aus der Verzweiflung<br />
in die literarische Sublimation findet, so stößt<br />
man bei Thomas Bernhard auf eine Reihe von Milieueigentümlichkeiten<br />
und ›Nebenmenschen‹ (Sigmund Freud),<br />
eine Konstellation, die das hervorbringt, was einem angesichts<br />
der Kaskade von Entbehrungen wie ein Wunder<br />
vorkommt und doch stimmig auf die frühe Zeit seines<br />
Lebens zurückzuführen ist. Nicht die Armut, nicht die<br />
gebrochenen Familienbeziehungen und auch nicht eine<br />
Steigerung dieser Ausgangsbedingungen lassen die<br />
kindliche Verzweiflung entstehen. Vielmehr ist es die<br />
Resonanzlosigkeit, die Erfahrung, anwesend abwesend<br />
zu sein, die am Anfang der biografischen Katastrophe<br />
steht. Traumatisierungen, die sich bei Bernhard dem<br />
Umstand verdanken, dass er für seine Mutter die leibhaftige<br />
Präsenz einer Liebesaffäre verkörpert, die sie<br />
einzig Bernhards Vater zurechnet. Die Familiengründung,<br />
die mit der Geburt eines Kindes hätte erfolgen können,<br />
war weder von der Mutter noch von Bernhards Vater<br />
erwünscht. Ein Kind kommt zur Welt, ein Irrtum, schamvoll<br />
zugestanden, aber nun als eine Herausforderung für
2013/14<br />
Anwesenheit GEMEINSCHAFT Abwesenheit<br />
43<br />
Ich hatte überhaupt nichts<br />
werden und natürlich niemals<br />
ein Beruf werden wollen,<br />
ich hatte immer nur ich werden<br />
wollen.<br />
Wille zur Wahrheit von Thomas Bernhard<br />
Premiere November 2013<br />
Die Idee ist gewesen, der<br />
Existenz auf die Spur zu kommen,<br />
der eigenen wie den andern.<br />
Wille zur Wahrheit von Thomas Bernhard Premiere November 2013<br />
den eigenen Lebensentwurf, der im Fall der Mutter von<br />
Thomas Bernhard eine eigene weibliche Selbstständigkeit<br />
nicht vorsieht: Bernhards Mutter lebt in einer engen<br />
Bindung an ihren eigenen Vater, dessen angestrengt<br />
schriftstellerischen Aspirationen sie eine grenzenlose<br />
Bewunderung entgegenbringt.<br />
Während in den Würdigungen des literarischen Werks<br />
von Thomas Bernhard die in affektiver wie intellektueller<br />
Hinsicht umsichtige Präsenz des Großvaters<br />
Johannes Freumbichler zu Recht angeführt wird,<br />
wenn es darum geht, den Weg Bernhards in die literarische<br />
Sublimierung, die eindrucksvoll bittere Sprachgewalt<br />
einer Weltklage, biografisch zu bestimmen, bleibt<br />
die intime gegen alle Verzweiflung beständige Zuneigung<br />
zur Mutter übersehen. Bernhard, der auf der Ebene<br />
der trivialen Alltagserfahrung sich Vorwürfe anhören<br />
muss, die in ihrer Verachtung nicht drastischer ausfallen<br />
konnten, gelingt es, zu seiner Mutter eine Bindung<br />
aufrechtzuerhalten, so als nehme er sie gegen ihre eigenen<br />
Irrtümer, gegen die Brutalität ihrer Ablehnung des<br />
ungeliebten Sohnes, in einer grandiosen Geste des<br />
Verzeihens in Schutz, als würde er im Unterton ihrer<br />
scharfen Distanz eine Zuneigung erkennen, die unsichtbar<br />
und doch wirkungsvoll bleibt, ja, die zwischen Mutter<br />
und Sohn von dem Geheimnis eines gegen die Welt<br />
gerichteten Überlebenswillens getragen ist. Es ist eine<br />
gegen alle Wahrscheinlichkeit extrem aufopferungsvolle<br />
Liebe. Bernhard, der tagtäglich nach Evidenzen der Zuneigung<br />
vergeblich gesucht hat, führt in einer Art Autosuggestion<br />
ein Zwiegespräch mit der Mutter als ein<br />
gegen alle Kränkungen immer wieder anspruchsvoll und<br />
zuweilen usurpatorisch auftretendes Insistieren auf Einzig<br />
artigkeit. Dieser kaum offen artikulierten Liebe entstammt<br />
das kontinuierliche Sprechen, das im Werk und<br />
seinem fantastischen monologisierenden Stakkato seinen<br />
literarischen Ausdruck findet. Dieser Liebe entstammt<br />
die Moses-Fantasie, wie auch der in seinen<br />
Selbst äußerungen zu einem Heiligen verklärte Großvater.<br />
Dieser schenkt seinem Enkel zwar rührende Aufmerksamkeit,<br />
gleichzeitig verlangt er jedoch im Verfol gen<br />
seiner eigenen literarischen Selbstmission seinen Mitmenschen<br />
eine bis zur Groteske gesteigerte Fügsamkeit<br />
ab. Trotzdem wird er vom jungen Bernhard so<br />
geliebt, als wolle er auch hierbei der Mutter und deren<br />
abwegiger Liebe zu ihrem eigenen Vater folgen:<br />
»Ich beobachtete mit Liebe, wie er schrieb und wie ihm<br />
meine Großmutter dabei aus dem Weg ging, behutsam<br />
lud sie zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Nachtmahl,<br />
wir hatten die Behutsamkeit meinem Großvater<br />
gegenüber zu unserer Hauptdisziplin gemacht, solange<br />
er lebte, war die Behutsamkeit oberstes Gebot. Alles<br />
musste leise gesprochen sein, wir mussten leise gehen,<br />
wir mussten uns ununterbrochen leise verhalten. Der<br />
Kopf ist zerbrechlich wie ein Ei, so mein Großvater, das<br />
leuchtete mir ein, erschütterte mich gleichzeitig.«<br />
Thomas Bernhard: »Ein Kind«<br />
D<br />
ie enge Bindung an den Großvater erscheint somit<br />
nicht als endliche Ankunft eines früh traumatisierten<br />
Menschen, sondern als Fortsetzung der<br />
psychosozialen Obdachlosigkeit im Schatten einer<br />
grandiosen großväterlichen Verkennung. Bernhard gerät<br />
in die bedrückende Delegation, das vergebliche<br />
Bemühen um die Anerkennung als Schriftsteller nun<br />
stellvertretend zu übernehmen. So betrachtet rückt<br />
auch und gerade der Großvater in die Abfolge von<br />
Verkennungen ein:<br />
»Der Mensch lechzt von Natur aus nach Liebe, von Anfang<br />
an. Nach Zuwendung, Zuneigung, die die Welt zu<br />
vergeben hat. Wenn einem das entzogen wird, kann<br />
man hundertmal sagen, man sei kalt und sehe und höre<br />
das nicht. Es trifft einen mit aller Härte. Aber das gehört<br />
eben dazu, dem kann man nicht ausweichen.«<br />
»Von einer Katastrophe in die andere«, Thomas Bernhard im Gespräch<br />
mit Asta Scheib<br />
D<br />
as besondere einer Kränkung der Art, wie sie Thomas<br />
Bernhard erfahren hat, tritt darin zu Tage: Noch<br />
in der Entfernung, die die Mutter ihm tagtäglich demonstriert,<br />
in der sternenweiten Einsamkeit, die ihn umgibt,<br />
kreiert er sie sich als seine Verbündete. Er fantasiert<br />
sich in ihre Welt hinein und zieht selbst aus ihrer<br />
Einsamkeit als einer Frau, die sich der Mutterschaft zu<br />
verweigern sucht, die Kraft für die eigene Lebenszuversicht.<br />
Die Mutter, die sich entzieht, erscheint für das<br />
heranwachsende Kind paradoxerweise in der Unerreichbarkeit<br />
als eine einzige Vollkommenheit.<br />
»K<br />
unstwerke folgen ihrem Formgesetz, indem sie<br />
ihre Genesis verzehren« (Th. W. Adorno) – daran<br />
ist angesichts der brennenden Suggestivität der<br />
bernhardschen autobiografischen Texte zu erinnern.<br />
Die sozialisatorischen Erfahrungen eines desaströs aufgeschichteten<br />
Lebens in der Verkennung der Realität<br />
mögen als solche eindrucksvoll sein. Zieht man aber<br />
den sozialgeschichtlichen Hintergrund, die bäuerliche<br />
Herkunft, die politische Situation eines begeistert die<br />
nationalsozialistische Okkupation feiernden Österreichs,<br />
die zerbrochenen Familienbeziehungen von Menschen,<br />
die sich aus der Enge ihrer Lebensumgebung<br />
überstürzt zu befreien versuchen, zieht man all dies hinzu,<br />
so verliert die Drastik des biografischen Exposés<br />
von Thomas Bernhard allerdings ihre Singularität. Sie<br />
wird eben nichts anderes als eine Vorlage. Aber Vorlage<br />
für was? Was hier in die Sache der Kunst übersetzt wird<br />
und fern von einem Erschauern angesichts der Idiosynkrasie<br />
eines Lebens berührt, was in diesem Sinne auch<br />
das künstlerische Darstellungsmotiv übersteigt und von<br />
den biografischen Ausgangsbedingungen unabhängig<br />
geworden ist, ist ein Gebilde, das der Erfahrung der<br />
Resonanzlosigkeit und Obdachlosigkeit eine Sprache<br />
verleiht. Es handelt sich nicht um eine mystifizierte Einsamkeit<br />
des Ich, vielmehr um eine kommunikative Situation,<br />
die die Gabe des Sprechens verweigert und somit<br />
dem Menschen die Möglichkeit einer Weltverortung<br />
nimmt. In dieser Bedrohung, in der vitalen Geselligkeit<br />
mit anderen, den »Lebensmenschen«, unter deren Zuspruch<br />
man sich anerkannt weiß, von der Abwesenheit<br />
überfallen zu werden, hierin mag die zeitübergreifende<br />
Schönheit der Texte liegen. Noch in der stilisierten<br />
Penetranz ihrer Wiederholung, in den Klagen, die die<br />
Provokation aller Institutionen des sozialen Lebens –<br />
inklusive des Staates – einschließt, erinnern sie an den<br />
Anspruch des Menschen auf die Würde des Sprechens,<br />
auf die elementare Geste der Antwort.<br />
1 Thomas Bernhards Geburtsort.<br />
2 René A. Spitz war ein österreichisch-amerikanischer Psychoanalytiker und<br />
Wegbereiter von Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie.
44<br />
T H E A T E R T H E A T E R<br />
45<br />
G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />
E<br />
in wichtiger Impuls des modernen<br />
politischen Theaters in der Nachfolge<br />
von Brecht war es, die Zuschauer in<br />
aktive Teilnehmer und das Publikum in<br />
eine Gemeinschaft von aktiv Urteilenden<br />
zu veR wandeln. Juliane Rebentisch , ProfeSsorin<br />
für Philosophie und Ästhetik an der<br />
Hoch Schule für Gestaltung in Offenbach,<br />
Emanzipierte<br />
spekulativeschauer<br />
und<br />
zu<br />
Kollektivitäten<br />
Juliane Rebentisch<br />
fragt in dem vorliegenden Artikel danach,<br />
ob » Gemeinschaft« heutzutage eine an gemessene<br />
Ant wort auf die neo liberale DeSintegRA<br />
tion der Gesellschaft ist und<br />
welche Formen des GegenwartS theA ters<br />
eine kritische Wahrnehmung sozialer<br />
Bedingungen ermöglichen.<br />
D<br />
as Theater ist das genaue Gegenteil einer lebendigen<br />
Gemeinschaft. Jedenfalls dann, wenn man der<br />
traditionellen Kritik am Theater glaubt, der zufolge<br />
das Theater seine Zuschauer nicht nur passiviert,<br />
sondern auch voneinander isoliert. Vielleicht erklärt<br />
dies, warum »Gemeinschaft« im Theaterkontext ein<br />
solcher Fetisch ist – man will das, was man nicht haben<br />
kann. Das Unmögliche möglich zu machen, also Theater<br />
und Gemeinschaft zu versöhnen, war indes bereits ein<br />
wichtiger Impuls des modernen Theaters. Ob man nun<br />
an Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit« denkt<br />
oder an Bertolt Brechts »episches Theater« – beide Theaterästhetiken<br />
sind von der Annahme geprägt, dass die<br />
Position des Zuschauers durch soziale Isolation, konsumistische<br />
Passivität und voyeuristische Distanz vom Geschehen<br />
gekennzeichnet ist und also überwunden werden<br />
muss. Während Artaud die Isolation, Passivität und<br />
Distanz des Zuschauers durch dessen lebendige, gleichsam<br />
viszerale Beteiligung am Geschehen überwinden<br />
wollte, ging es Brecht darum, die Distanz des passiv konsumierenden<br />
Publikums in eine analytische Distanz zu<br />
transformieren und dieses damit in eine Gemeinschaft<br />
von aktiv Urteilenden. Der Impuls zu einer im Zeichen<br />
der Gemeinschaft stehenden Selbstüberwindung des<br />
Theaters übergreift nicht nur die ansonsten natürlich<br />
weitreichenden Differenzen zwischen diesen beiden<br />
Theaterästhetiken, er macht sich auch in einer Vielzahl<br />
von partizipatorischen Projekten der Gegenwart geltend.<br />
O<br />
bwohl<br />
man sich heute kaum mehr zu der politischen<br />
Frage verhält, welche konkrete politische Form die<br />
Gemeinschaft eigentlich wünschenswerterweise anzunehmen<br />
hätte, ist man sich doch sicher, dass es politisch<br />
geboten ist, die Zuschauer in aktive Teilnehmer zu<br />
verwandeln und das Publikum in eine – irgendeine – Gemeinschaft.<br />
Man kann nun aber fragen, ob die Kulturkritik,<br />
die diese Gewissheit stützt, eigentlich noch zeitgemäß<br />
ist. So sind die hier einschlägigen Ansätze (z. B. Guy<br />
Debords Manifest gegen die »Gesellschaft des Spektakels«,<br />
aber auch die Kritik an der Kulturindustrie von<br />
Adorno und Horkheimer) von der Annahme getragen,<br />
dass die Passivierung und kommunikative Isolation des<br />
Kulturkonsumenten in einem internen Zusammenhang<br />
mit seiner Disziplinierung im Arbeitsleben zu sehen sind:<br />
Nur derjenige, der sich in seiner Freizeit von schematischen<br />
Selbst- und Weltdeutungen überwältigen und auf<br />
diese Weise zugleich sozial verarmen lässt, wird seine<br />
Arbeitskraft den Anforderungen gemäß einsetzen.<br />
H<br />
eute liegen die Dinge jedoch anders: In den Bereichen<br />
der westlichen Gesellschaften, für die von einem<br />
Übergang von der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft<br />
gesprochen werden kann, sind Eigeninitiative<br />
und Konnektivität zu entscheidenden Forderungen geworden.<br />
Der Einzelne kann unter diesen Bedingungen<br />
nur dann am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess<br />
teilnehmen, wenn er permanent vernetzt, aktiv und autonom<br />
agiert. Im Rahmen einer solchen Gesellschaftsformation<br />
können Aktivierung und Partizipation nicht mehr<br />
unmittelbar als Widerlager identifiziert werden, im Gegenteil:<br />
Wir haben es hier mit einer so grundsätzlich neuen<br />
Konstellation von Kultur und Arbeit zu tun, dass der Partizipationsimperativ<br />
in der Kunst und im Theater zugleich<br />
als Effekt wie als Modell jenes neuen Anforderungsprofils<br />
diskutiert werden muss. Eine genauere Auseinandersetzung<br />
verdiente in dieser Hinsicht auch der Umstand,<br />
dass das Soziale, das von den entsprechenden<br />
künstlerischen Projekten produziert wird, zumeist flüchtigen<br />
und unbestimmten Charakters ist. Die Klage über<br />
die passivierenden und isolierenden Effekte der »Gesellschaft<br />
des Spektakels« (Guy Debord) läuft angesichts<br />
dieser Situation jedenfalls tendenziell ins Leere:<br />
»Für den heutigen, aktiven Konsumenten, den Zwangsvernetzten,<br />
der dauernd aktiv präsent ist, beurteilt, einstuft,<br />
antwortet und als networkender Soft-Skills-Virtuose in<br />
der heutigen Freizeit-, Service- und Kulturarbeitswelt<br />
einem Terror der surrogat-demokra tischen Partizipation<br />
ausgesetzt ist, wäre«, schreibt Diedrich Diederichsen,<br />
»ein neuer Begriff überfällig: Partizipation ist das neue<br />
Spektakel.«<br />
N<br />
un könnte man den partizipatorischen Projekten jedoch<br />
zugute halten, dass sie auf eine unmittelbare<br />
Erfahrung sozialer Beziehungen (oder sozialer »Resonanz«,<br />
wie Hartmut Rosa jüngst formuliert) zielen.<br />
Diese soll sich auch noch der Verdinglichung und Kommerzialisierung<br />
sozialer Verhältnisse unter den Bedingungen<br />
des soeben skizzierten »neuen Geists des<br />
Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello) entgegenstellen.<br />
Hier scheint die Sehnsucht nach Gemeinschaft ihren<br />
zeitgenössischen Ort zu haben. Doch muss man fragen,<br />
ob »Gemeinschaft« die angemessene Antwort auf die<br />
neoliberale Desintegration der Gesellschaft sein kann –<br />
oder ob es nicht, zumal im Horizont der sogenannten<br />
Globalisierung, vielmehr darum gehen müsste, die<br />
Möglichkeit einer Solidarität jenseits der Gemeinschaft
46<br />
T H E A T E R G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />
spielzeit<br />
zu denken. Schließlich hat die gegenwärtige Kunstwelt<br />
selbst inzwischen einen inter-, ja, transnationalen Charakter<br />
angenommen. Sie ist, wie Peter Osborne in seiner<br />
Philosophie der zeitgenössischen Kunst ausführt,<br />
sogar »exemplarisch« für die »Durchdringung aller sozialen<br />
Formen durch Tauschbeziehungen«, die ihnen<br />
neue Formen der Verbindung und Abhängigkeit aufzwinge,<br />
in deren Horizont Begriffe wie Gemeinschaft,<br />
Kultur, Nation sich zunehmend als »inadäquat« erwiesen.<br />
In diesem Horizont zeichneten sich jedoch, so<br />
Osborne weiter, »neue spekulative Kollektivitäten« ab,<br />
auf deren politische Möglichkeit sich eine tatsächlich<br />
zeitgenössische künstlerische Praxis beziehen müsse,<br />
die ihre eigenen historischen Bedingungen im Blick behält.<br />
Statt sich regressiv am Ideal der Gemeinschaft<br />
auszurichten (und die Probleme zu verdrängen, die mit<br />
der Einheit und Geschlossenheit dieser sozialen Form<br />
schon immer einhergingen), gilt es dann im Gegenteil,<br />
die begrifflichen und politischen Grenzen der Gemeinschaft<br />
ebenso hinter sich zu lassen wie den Zustand<br />
der sozialen Desintegration.<br />
E<br />
s kann also politisch einiges gegen die undialektische<br />
Partizipations- und Gemeinschaftseuphorie<br />
eingewendet werden, die in einigen Teilen der zeitgenössischen<br />
Theater- und Kunstwelt herrscht. Damit<br />
ist jedoch noch nicht das Problem mit dem Theater<br />
abgeräumt, das den Hang zu Partizipation und Gemeinschaft<br />
ursprünglich motivierte. Denn wenn die<br />
Kritik Recht damit hätte, dass das Theater sein Publikum<br />
sediert, so bliebe dies ja ein Problem – unabhängig<br />
von der Frage, ob Partizipation eine befriedigende<br />
Antwort darauf sein kann. Was also ist von dieser Kritik<br />
zu halten? Was wäre, wenn die diesem Impuls unterliegende<br />
Theaterkritik selbst zu kritisieren wäre, weil<br />
sie ein verzerrtes Bild des Theaters und seiner Erfahrung<br />
vermittelt?<br />
J<br />
acques Rancière hat in seinem Aufsatz »Der emanzipierte<br />
Zuschauer« einen viel beachteten Einwand<br />
gegen die dieser Kritik vorausgesetzte Gleichsetzung<br />
von Zuschauen und Passivität vorgebracht. Jedoch<br />
speist sich seine Argumentation interessanterweise<br />
nicht aus dem Ideenreservoir der Ästhetik, sondern<br />
aus dem der Pädagogik: Die von Brecht und Artaud<br />
geteilte Vorstellung eines passiven Publikums, das es<br />
zu aktivieren gilt, ähnele traditionellen Vorstellungen von<br />
Pädagogik, denen zufolge es die Aufgabe des Lehrers<br />
sein soll, den Abstand zwischen seinem eigenen Wissen<br />
und dem Unwissen der Schüler aufzuheben. Doch<br />
setze diese Vorstellung erst den Abstand, dessen<br />
Überwindung sie anzustreben vorgibt. De facto nämlich<br />
gebe es keine Position reiner Unwissenheit, weil jeder<br />
immer schon »einen Haufen Dinge weiß, die er selbst<br />
gelernt hat«. Eine dem Ziel der intellektuellen Emanzipation<br />
verschriebene pädagogische Praxis könne sich<br />
deshalb gerade nicht als asymmetrische Belehrung<br />
verstehen, sondern müsse sich als ein Prozess der Übersetzung<br />
begreifen, in dem der Lehrende dem Lernenden<br />
dabei hilft, das noch nicht Gewusste zum bereits<br />
Gewussten in ein Verhältnis zu bringen. Das Verhältnis<br />
zwischen Lehrer und Schüler sei hier keines von asymmetrischen<br />
Positionen, sondern verlaufe über ein Drittes,<br />
»ein Buch oder irgendein Stück Schrift«, auf das<br />
sich beide beziehen können, »um gemeinsam zu verifizieren,<br />
was der Schüler gesehen hat, was er darüber<br />
sagt und was er davon denkt«.<br />
A<br />
nalog argumentiert Rancière nun für die Theaterpraxis.<br />
Die moderne Theaterästhetik leite ihren<br />
quasi-pädagogischen Aktivierungsauftrag aus der<br />
Annahme ab, dass der Zuschauer den Bildern schlicht<br />
erliegt, die ihm vorgesetzt werden. Der Zuschauer sei<br />
jedoch, so wendet Rancière ein, nie rein passiv, vielmehr<br />
müsse man das Zuschauen selbst als Aktivität<br />
begreifen: »Auch der Zuschauer handelt, wie der<br />
Schüler oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt<br />
aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das,<br />
was er sieht, mit vielen anderen Dingen, die er gesehen<br />
hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten<br />
von Orten.« Statt davon auszugehen, dass man das<br />
Publikum aktivieren muss, indem man ihm eine Rezeptionsweise<br />
vorschreibt, müsse eine emanzipative Theaterpraxis<br />
mit der Anerkennung des Publikums als einer<br />
Zusammenhäufung von freien Interpreten beginnen.<br />
Jeder Zuschauer mache sich nämlich vor dem Hintergrund<br />
seiner eigenen Biografie interpretierend eine<br />
eigene Version des Theaters, das er sieht, und sei also<br />
immer schon aktiv.<br />
J<br />
edoch ist dieses Argument, das zweifellos zu<br />
Recht die Freiheit des Interpreten hervorhebt, eigentümlich<br />
indifferent gegenüber der ästhetischen<br />
Differenz, die eine Theateraufführung von einem theoretischen<br />
Text oder einem politischen Ereignis unterscheidet.<br />
Tatsächlich rückt Rancière die Theateraufführung<br />
neben alle möglichen anderen Gegenstände,<br />
denen wir nun einmal aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
begegnen: »In einem Theater, vor einer Performance,<br />
ebenso in einem Museum, einer Schule oder<br />
auf einer Straße, gibt es immer nur Individuen, die ihren<br />
eigenen Weg durch den Wald der Dinge, Handlungen<br />
und Zeichen gehen.« Wie Brecht bestimmt<br />
auch Rancière das Theater damit aber letztlich als einen<br />
Ort des Lernens und Urteilens – mit dem Unterschied<br />
seiner Annahme, dass es hier statt einer vom<br />
Theatermacher intendierten Wahrheit viele individuelle<br />
Wahrheiten zu erkennen gibt. Die entsprechende<br />
Heterogenität kann (und sollte) Rancière zufolge freilich<br />
nie in der Geschlossenheit einer Gemeinschaft<br />
aufgehoben, sondern in einem Prozess der Übersetzung<br />
produktiv gemacht werden, in dem die vielfältigen<br />
Interpretationen und Urteile zueinander ins Verhältnis<br />
gebracht werden können.<br />
D<br />
ie Frage aber ist, ob wir akzeptieren sollten, dass<br />
das Theater als ein (weiterer) Ort des Lernens und<br />
Urteilens verstanden werden muss. Das entscheidende<br />
Problem ist dabei nicht, ob der Zuschauer mental<br />
aktiv ist oder nicht, sondern wie man seine mentale<br />
Aktivität genau verstehen sollte. Dafür empfiehlt sich<br />
ein Blick aufs Theater, und zwar durchaus das der Gegenwart.<br />
Denn nicht alles Gegenwartstheater zielt darauf,<br />
den Zuschauer in einen Teilnehmer zu verwandeln<br />
und das Publikum in Gemeinschaft, vielmehr geht es<br />
häufig auch darum, die Position des Zuschauens, die<br />
Aktivität des Interpretierens und Urteilens sowie das<br />
dieser Aktivität vorausgesetzte Soziale zum Gegenstand<br />
einer reflexiven Auseinandersetzung zu machen.<br />
Das zeigt sich sogar auf besonders markante Weise<br />
an Formen, die die Gegensätze von Fiktion und Wirklichkeit,<br />
Bühne und Zuschauerraum gezielt destabilisieren.<br />
Für den Zuschauer wird hier nämlich fraglich,<br />
ob er es (noch) mit einer Inszenierung zu tun hat, die er<br />
als Zuschauer beobachten kann, oder aber (schon) mit<br />
Wirklichkeit, in die es handelnd zu intervenieren gilt.<br />
Durch die Spannung zwischen diesen beiden Einstellungen<br />
aber wird sich der Zuschauer selbst thematisch<br />
werden – und zwar nicht nur im Blick auf die (von<br />
der modernen Theaterkritik hervorgehobene) Passivität,<br />
durch die sich die Position des Zuschauens ja tatsächlich<br />
dann auszeichnet, wenn man sie am Maßstab<br />
der praktischen Intervention misst, sondern auch im<br />
Blick auf die (von Rancière betonte) Aktivität des Interpretierens.<br />
Weil auch denjenigen Arbeiten, die ein Reales<br />
mit hervorkehren, zugleich immer ein Moment des<br />
Scheins, des Als-ob, anhaftet, wird der an ihnen Teilnehmende<br />
nicht nur auf seine jeweilige Situationswahrnehmung,<br />
sondern auch auf die ihnen zugrunde<br />
liegenden sozialen Deutungsschemata zurückgestoßen<br />
werden. Wir werden dadurch nicht nur gegenüber<br />
dem Gegenstand unserer Wahrnehmung in einer Distanz<br />
gehalten, die spezifisch für ästhetische Gegenstände<br />
ist, sondern auch reflexiv auf die evaluativen<br />
Kategorien verwiesen, vor deren Hintergrund wir die<br />
Welt (immer schon interpretierend) wahrnehmen. Eine<br />
solche Erfahrung unterbricht mit anderen Worten auch<br />
noch die Selbstverständlichkeit, mit der wir das, was<br />
wir aktuell wahrnehmen, mit dem in Verbindung bringen,<br />
was wir bereits kennen.<br />
Wenn hier zugleich auch die Dimension des Sozialen<br />
adressiert wird, so überhaupt nicht mehr im Blick<br />
auf das konkrete und zufällige Publikum (egal, ob<br />
man es sich in seinem Potenzial zur Gemeinschaftsbildung<br />
oder im Gegenteil als heterogene Multitude vorstellt);<br />
reflexiv thematisch wird vielmehr, für jede und<br />
jeden einzeln, jenes Soziale, von dem wir bereits Teil<br />
sind und das uns bis in unsere individuellen Wahrnehmungen<br />
hinein beeinflusst. Dies geschieht indes genau<br />
in dem Maße, wie die Automatismen unserer interpretierenden<br />
Wahrnehmung ausgesetzt, die Kategorien unseres<br />
evaluativen Weltbezugs problematisch werden.<br />
Indem sie solche Erfahrungen ermöglichen, demonstrieren<br />
die interessantesten zeitgenössischen Theaterund<br />
Performancepraktiken nicht nur ihre Differenz, ihre<br />
Autonomie, gegenüber den Bereichen der Handlung<br />
und des Urteilens. Sie assoziieren sich zugleich auch,<br />
und zwar durch diese Autonomie, den politischen Diskussionen<br />
um die Möglichkeit neuer »spekulativer Kollektivitäten«<br />
(Osborne): Denn in diesem Rahmen wird<br />
eine Übersetzungsarbeit notwendig, die nicht nur die<br />
individuellen Perspektiven auf die Gegenstände unserer<br />
Wahrnehmung zu betreffen hätte, sondern auch<br />
noch die sozialen Voraussetzungen, von denen diese<br />
geprägt sind.<br />
impressum Herausgeber: <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> Intendant: Oliver Reese Redaktion: Dramaturgie, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Künstlerisches Betriebsbüro Redaktionsleitung: Sibylle Baschung,<br />
Veronika Breuning Konzept und Gestaltung: Double Standards, Berlin, www.doublestandards.net Illustrationen: Paul Davis, London, www.copyrightdavis.com Druck: Bechtle Druck & Service,<br />
Zeppelinstraße 116, 73730 Esslingen Redaktionsschluss: 5.11.2013 Spielzeit: 2013/14<br />
<strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> ist eine Sparte der Städtische Bühnen <strong>Frankfurt</strong> am Main GmbH Geschäftsführer: Bernd Fülle, Bernd Loebe, Oliver Reese Aufsichtsratvorsitzender: Prof. Dr. Felix Semmelroth HRB 52240, <strong>Frankfurt</strong> am Main Steuernummer: 047 250 38165
Die Nibelungen<br />
Friedrich Hebbel<br />
Regie: Jorinde Dröse<br />
Premiere 13. September 2013<br />
Der Menschenfeind<br />
Molière<br />
Regie: Günter Krämer<br />
Premiere 11. Oktober 2013<br />
Der Idiot<br />
Fjodor Dostojewski<br />
Regie: Stephan Kimmig<br />
Premiere 8. November 2013<br />
Wille zur Wahrheit<br />
Bestandsaufnahme von mir<br />
Thomas Bernhard<br />
Regie: Oliver Reese<br />
Uraufführung 17. November 2013<br />
Kinder der Sonne<br />
Maxim Gorki<br />
Regie: Andrea Moses<br />
Premiere 18. Januar 2014<br />
biedermann und die brandstifter<br />
Max Frisch<br />
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Premiere 14. Februar 2014<br />
SCHAUSPIEL HAUS<br />
dogville<br />
Lars von Trier<br />
Regie: Karin Henkel<br />
Premiere 11. April 2014<br />
NORA<br />
Henrik Ibsen<br />
Regie: Michael Thalheimer<br />
Premiere 9. Mai 2014<br />
Gefährliche liebschaften<br />
Christopher Hampton<br />
Regie: Amélie Niermeyer<br />
Premiere 14. Juni 2014<br />
KAMMER<br />
SPIELE<br />
DrauSSen vor der Tür<br />
Wolfgang Borchert<br />
Regie: Jürgen Kruse<br />
Premiere 14. September 2013<br />
Das Versprechen<br />
Friedrich Dürrenmatt<br />
Regie: Markus Bothe<br />
Premiere 1. Oktober 2013<br />
Anatol<br />
Arthur Schnitzler<br />
Regie: Florian Fiedler<br />
Premiere 22. November 2013<br />
Dekalog – Die zehn Gebote<br />
Krzysztof Kieślowski /<br />
Krzysztof Piesiewicz<br />
Regie: Christopher Rüping<br />
Premiere 13. Dezember 2013<br />
Bakchen<br />
Euripides / Raoul Schrott<br />
Regie: Felix Rothenhäusler<br />
Premiere 17. Januar 2014<br />
Der weiSSe Wolf<br />
Lothar Kittstein<br />
Regie: Christoph Mehler<br />
Uraufführung 7. Februar 2014<br />
Ein Traumspiel<br />
August Strindberg<br />
Regie: Philipp Preuss<br />
Premiere 28. März 2014<br />
Der Zwerg reinigt den Kittel<br />
Anita Augustin<br />
Regie: Bettina Bruinier<br />
Uraufführung Mai 2014<br />
Andere spielorte<br />
Ich bin Nijinsky.<br />
Ich bin der Tod.<br />
Vaslav Nijinsky / Oliver Reese<br />
Regie: Oliver Reese<br />
Uraufführung 16. September 2013<br />
Mozartsaal, Alte Oper<br />
Der Zeuge<br />
Vivienne Franzmann<br />
Regie: Leonie Kubigsteltig<br />
Deutschsprachige Erstaufführung<br />
April 2014<br />
Museum für Moderne Kunst<br />
<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous<br />
Musikalische Vollversammlung<br />
auf dem Willy-Brandt-Platz<br />
Text und Regie: Schorsch Kamerun<br />
Uraufführung Juni 2014<br />
vom Ende einer Geschichte<br />
Julian Barnes<br />
Regie: Lily Sykes<br />
Uraufführung Juni 2014<br />
PREMIEREN<br />
Ajax<br />
Sophokles<br />
Regie: Thibaud Delpeut<br />
Premiere 1. Dezember 2013<br />
Je t’adorno<br />
Text und Regie: René Pollesch<br />
Uraufführung 8. März 2014<br />
BOckenheimer<br />
depot<br />
Wälsungenblut<br />
Thomas Mann<br />
Regie: Alexander Eisenach<br />
Uraufführung 15. September 2013<br />
Die Geierwally<br />
Wilhelmine von Hillern<br />
Regie: Johanna Wehner<br />
Premiere 22. Oktober 2013<br />
2. Sinfonie – Rausch<br />
Projekt von Ersan Mondtag<br />
Regie: Ersan Mondtag<br />
Uraufführung 10. November 2013<br />
FAUSER<br />
nach dem Roman »Der Schneemann«<br />
von Jörg Fauser<br />
Regie: Alexander Eisenach<br />
Uraufführung Januar 2014<br />
BOX<br />
Junges<br />
schau<br />
FAMILIE : SCHROFFENSTEIN<br />
Projekt mit Jugendlichen nach<br />
Heinrich von Kleist<br />
Regie: Sébastien Jacobi<br />
Premiere 19. Oktober 2013<br />
Kammerspiele<br />
Ronja Räubertochter<br />
Astrid Lindgren<br />
Regie: Matthias Schönfeldt<br />
Wiederaufnahme 24. November 2013<br />
<strong>Schauspiel</strong>haus<br />
all inclusive<br />
Projekt von Martina Droste und<br />
Chris Weinheimer<br />
Premiere 8. Dezember 2013<br />
Jugendclub / Bockenheimer Depot<br />
Punk Rock<br />
Simon Stephens<br />
Regie: Fabian Gerhardt<br />
Premiere 21. März 2014<br />
Bockenheimer Depot<br />
spiel<br />
Das Schloss<br />
nach Franz Kafka<br />
Regie: Ersan Mondtag<br />
Premiere März 2014<br />
schauspiel frankfurt spielzeit 2013/ 14