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zeitungzur - Schauspiel Frankfurt

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46<br />

T H E A T E R G E M E I N S C H A F T K R I T I K<br />

spielzeit<br />

zu denken. Schließlich hat die gegenwärtige Kunstwelt<br />

selbst inzwischen einen inter-, ja, transnationalen Charakter<br />

angenommen. Sie ist, wie Peter Osborne in seiner<br />

Philosophie der zeitgenössischen Kunst ausführt,<br />

sogar »exemplarisch« für die »Durchdringung aller sozialen<br />

Formen durch Tauschbeziehungen«, die ihnen<br />

neue Formen der Verbindung und Abhängigkeit aufzwinge,<br />

in deren Horizont Begriffe wie Gemeinschaft,<br />

Kultur, Nation sich zunehmend als »inadäquat« erwiesen.<br />

In diesem Horizont zeichneten sich jedoch, so<br />

Osborne weiter, »neue spekulative Kollektivitäten« ab,<br />

auf deren politische Möglichkeit sich eine tatsächlich<br />

zeitgenössische künstlerische Praxis beziehen müsse,<br />

die ihre eigenen historischen Bedingungen im Blick behält.<br />

Statt sich regressiv am Ideal der Gemeinschaft<br />

auszurichten (und die Probleme zu verdrängen, die mit<br />

der Einheit und Geschlossenheit dieser sozialen Form<br />

schon immer einhergingen), gilt es dann im Gegenteil,<br />

die begrifflichen und politischen Grenzen der Gemeinschaft<br />

ebenso hinter sich zu lassen wie den Zustand<br />

der sozialen Desintegration.<br />

E<br />

s kann also politisch einiges gegen die undialektische<br />

Partizipations- und Gemeinschaftseuphorie<br />

eingewendet werden, die in einigen Teilen der zeitgenössischen<br />

Theater- und Kunstwelt herrscht. Damit<br />

ist jedoch noch nicht das Problem mit dem Theater<br />

abgeräumt, das den Hang zu Partizipation und Gemeinschaft<br />

ursprünglich motivierte. Denn wenn die<br />

Kritik Recht damit hätte, dass das Theater sein Publikum<br />

sediert, so bliebe dies ja ein Problem – unabhängig<br />

von der Frage, ob Partizipation eine befriedigende<br />

Antwort darauf sein kann. Was also ist von dieser Kritik<br />

zu halten? Was wäre, wenn die diesem Impuls unterliegende<br />

Theaterkritik selbst zu kritisieren wäre, weil<br />

sie ein verzerrtes Bild des Theaters und seiner Erfahrung<br />

vermittelt?<br />

J<br />

acques Rancière hat in seinem Aufsatz »Der emanzipierte<br />

Zuschauer« einen viel beachteten Einwand<br />

gegen die dieser Kritik vorausgesetzte Gleichsetzung<br />

von Zuschauen und Passivität vorgebracht. Jedoch<br />

speist sich seine Argumentation interessanterweise<br />

nicht aus dem Ideenreservoir der Ästhetik, sondern<br />

aus dem der Pädagogik: Die von Brecht und Artaud<br />

geteilte Vorstellung eines passiven Publikums, das es<br />

zu aktivieren gilt, ähnele traditionellen Vorstellungen von<br />

Pädagogik, denen zufolge es die Aufgabe des Lehrers<br />

sein soll, den Abstand zwischen seinem eigenen Wissen<br />

und dem Unwissen der Schüler aufzuheben. Doch<br />

setze diese Vorstellung erst den Abstand, dessen<br />

Überwindung sie anzustreben vorgibt. De facto nämlich<br />

gebe es keine Position reiner Unwissenheit, weil jeder<br />

immer schon »einen Haufen Dinge weiß, die er selbst<br />

gelernt hat«. Eine dem Ziel der intellektuellen Emanzipation<br />

verschriebene pädagogische Praxis könne sich<br />

deshalb gerade nicht als asymmetrische Belehrung<br />

verstehen, sondern müsse sich als ein Prozess der Übersetzung<br />

begreifen, in dem der Lehrende dem Lernenden<br />

dabei hilft, das noch nicht Gewusste zum bereits<br />

Gewussten in ein Verhältnis zu bringen. Das Verhältnis<br />

zwischen Lehrer und Schüler sei hier keines von asymmetrischen<br />

Positionen, sondern verlaufe über ein Drittes,<br />

»ein Buch oder irgendein Stück Schrift«, auf das<br />

sich beide beziehen können, »um gemeinsam zu verifizieren,<br />

was der Schüler gesehen hat, was er darüber<br />

sagt und was er davon denkt«.<br />

A<br />

nalog argumentiert Rancière nun für die Theaterpraxis.<br />

Die moderne Theaterästhetik leite ihren<br />

quasi-pädagogischen Aktivierungsauftrag aus der<br />

Annahme ab, dass der Zuschauer den Bildern schlicht<br />

erliegt, die ihm vorgesetzt werden. Der Zuschauer sei<br />

jedoch, so wendet Rancière ein, nie rein passiv, vielmehr<br />

müsse man das Zuschauen selbst als Aktivität<br />

begreifen: »Auch der Zuschauer handelt, wie der<br />

Schüler oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt<br />

aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das,<br />

was er sieht, mit vielen anderen Dingen, die er gesehen<br />

hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten<br />

von Orten.« Statt davon auszugehen, dass man das<br />

Publikum aktivieren muss, indem man ihm eine Rezeptionsweise<br />

vorschreibt, müsse eine emanzipative Theaterpraxis<br />

mit der Anerkennung des Publikums als einer<br />

Zusammenhäufung von freien Interpreten beginnen.<br />

Jeder Zuschauer mache sich nämlich vor dem Hintergrund<br />

seiner eigenen Biografie interpretierend eine<br />

eigene Version des Theaters, das er sieht, und sei also<br />

immer schon aktiv.<br />

J<br />

edoch ist dieses Argument, das zweifellos zu<br />

Recht die Freiheit des Interpreten hervorhebt, eigentümlich<br />

indifferent gegenüber der ästhetischen<br />

Differenz, die eine Theateraufführung von einem theoretischen<br />

Text oder einem politischen Ereignis unterscheidet.<br />

Tatsächlich rückt Rancière die Theateraufführung<br />

neben alle möglichen anderen Gegenstände,<br />

denen wir nun einmal aus unterschiedlichen Perspektiven<br />

begegnen: »In einem Theater, vor einer Performance,<br />

ebenso in einem Museum, einer Schule oder<br />

auf einer Straße, gibt es immer nur Individuen, die ihren<br />

eigenen Weg durch den Wald der Dinge, Handlungen<br />

und Zeichen gehen.« Wie Brecht bestimmt<br />

auch Rancière das Theater damit aber letztlich als einen<br />

Ort des Lernens und Urteilens – mit dem Unterschied<br />

seiner Annahme, dass es hier statt einer vom<br />

Theatermacher intendierten Wahrheit viele individuelle<br />

Wahrheiten zu erkennen gibt. Die entsprechende<br />

Heterogenität kann (und sollte) Rancière zufolge freilich<br />

nie in der Geschlossenheit einer Gemeinschaft<br />

aufgehoben, sondern in einem Prozess der Übersetzung<br />

produktiv gemacht werden, in dem die vielfältigen<br />

Interpretationen und Urteile zueinander ins Verhältnis<br />

gebracht werden können.<br />

D<br />

ie Frage aber ist, ob wir akzeptieren sollten, dass<br />

das Theater als ein (weiterer) Ort des Lernens und<br />

Urteilens verstanden werden muss. Das entscheidende<br />

Problem ist dabei nicht, ob der Zuschauer mental<br />

aktiv ist oder nicht, sondern wie man seine mentale<br />

Aktivität genau verstehen sollte. Dafür empfiehlt sich<br />

ein Blick aufs Theater, und zwar durchaus das der Gegenwart.<br />

Denn nicht alles Gegenwartstheater zielt darauf,<br />

den Zuschauer in einen Teilnehmer zu verwandeln<br />

und das Publikum in Gemeinschaft, vielmehr geht es<br />

häufig auch darum, die Position des Zuschauens, die<br />

Aktivität des Interpretierens und Urteilens sowie das<br />

dieser Aktivität vorausgesetzte Soziale zum Gegenstand<br />

einer reflexiven Auseinandersetzung zu machen.<br />

Das zeigt sich sogar auf besonders markante Weise<br />

an Formen, die die Gegensätze von Fiktion und Wirklichkeit,<br />

Bühne und Zuschauerraum gezielt destabilisieren.<br />

Für den Zuschauer wird hier nämlich fraglich,<br />

ob er es (noch) mit einer Inszenierung zu tun hat, die er<br />

als Zuschauer beobachten kann, oder aber (schon) mit<br />

Wirklichkeit, in die es handelnd zu intervenieren gilt.<br />

Durch die Spannung zwischen diesen beiden Einstellungen<br />

aber wird sich der Zuschauer selbst thematisch<br />

werden – und zwar nicht nur im Blick auf die (von<br />

der modernen Theaterkritik hervorgehobene) Passivität,<br />

durch die sich die Position des Zuschauens ja tatsächlich<br />

dann auszeichnet, wenn man sie am Maßstab<br />

der praktischen Intervention misst, sondern auch im<br />

Blick auf die (von Rancière betonte) Aktivität des Interpretierens.<br />

Weil auch denjenigen Arbeiten, die ein Reales<br />

mit hervorkehren, zugleich immer ein Moment des<br />

Scheins, des Als-ob, anhaftet, wird der an ihnen Teilnehmende<br />

nicht nur auf seine jeweilige Situationswahrnehmung,<br />

sondern auch auf die ihnen zugrunde<br />

liegenden sozialen Deutungsschemata zurückgestoßen<br />

werden. Wir werden dadurch nicht nur gegenüber<br />

dem Gegenstand unserer Wahrnehmung in einer Distanz<br />

gehalten, die spezifisch für ästhetische Gegenstände<br />

ist, sondern auch reflexiv auf die evaluativen<br />

Kategorien verwiesen, vor deren Hintergrund wir die<br />

Welt (immer schon interpretierend) wahrnehmen. Eine<br />

solche Erfahrung unterbricht mit anderen Worten auch<br />

noch die Selbstverständlichkeit, mit der wir das, was<br />

wir aktuell wahrnehmen, mit dem in Verbindung bringen,<br />

was wir bereits kennen.<br />

Wenn hier zugleich auch die Dimension des Sozialen<br />

adressiert wird, so überhaupt nicht mehr im Blick<br />

auf das konkrete und zufällige Publikum (egal, ob<br />

man es sich in seinem Potenzial zur Gemeinschaftsbildung<br />

oder im Gegenteil als heterogene Multitude vorstellt);<br />

reflexiv thematisch wird vielmehr, für jede und<br />

jeden einzeln, jenes Soziale, von dem wir bereits Teil<br />

sind und das uns bis in unsere individuellen Wahrnehmungen<br />

hinein beeinflusst. Dies geschieht indes genau<br />

in dem Maße, wie die Automatismen unserer interpretierenden<br />

Wahrnehmung ausgesetzt, die Kategorien unseres<br />

evaluativen Weltbezugs problematisch werden.<br />

Indem sie solche Erfahrungen ermöglichen, demonstrieren<br />

die interessantesten zeitgenössischen Theaterund<br />

Performancepraktiken nicht nur ihre Differenz, ihre<br />

Autonomie, gegenüber den Bereichen der Handlung<br />

und des Urteilens. Sie assoziieren sich zugleich auch,<br />

und zwar durch diese Autonomie, den politischen Diskussionen<br />

um die Möglichkeit neuer »spekulativer Kollektivitäten«<br />

(Osborne): Denn in diesem Rahmen wird<br />

eine Übersetzungsarbeit notwendig, die nicht nur die<br />

individuellen Perspektiven auf die Gegenstände unserer<br />

Wahrnehmung zu betreffen hätte, sondern auch<br />

noch die sozialen Voraussetzungen, von denen diese<br />

geprägt sind.<br />

impressum Herausgeber: <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> Intendant: Oliver Reese Redaktion: Dramaturgie, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Künstlerisches Betriebsbüro Redaktionsleitung: Sibylle Baschung,<br />

Veronika Breuning Konzept und Gestaltung: Double Standards, Berlin, www.doublestandards.net Illustrationen: Paul Davis, London, www.copyrightdavis.com Druck: Bechtle Druck & Service,<br />

Zeppelinstraße 116, 73730 Esslingen Redaktionsschluss: 5.11.2013 Spielzeit: 2013/14<br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> ist eine Sparte der Städtische Bühnen <strong>Frankfurt</strong> am Main GmbH Geschäftsführer: Bernd Fülle, Bernd Loebe, Oliver Reese Aufsichtsratvorsitzender: Prof. Dr. Felix Semmelroth HRB 52240, <strong>Frankfurt</strong> am Main Steuernummer: 047 250 38165

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