zeitungzur - Schauspiel Frankfurt
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02<br />
e d i t o r i a l S T A D T<br />
03<br />
u n d i n h a l t<br />
spielzeit 2013/14<br />
G E M E I N S C H A F T F R A N K F U R T<br />
EDIT<br />
ORIAL<br />
Fehlt es in unserer Gesellschaft an gemeinsamen Werten oder überhaupt an Gemeinschaft?<br />
Ist »Gemeinschaft« heutzutage eine angemessene Antwort auf die<br />
neoliberale Desintegration der Gesellschaft oder können wir gut und gerne darauf<br />
verzichten? Wie viel Differenz ist unerlässlich für ein lebendiges soziales Gebilde,<br />
für dessen Kritik, seine Veränderung? Wie viel Einigkeit ist produktiv für ein friedliches<br />
Zusammenleben, wann beginnt der Zwang zur Vereinheitlichung, die Gewalt?<br />
Gemeinschaft, Individualitätsstreben und Außenseitertum sind Begriffe, die das Feld<br />
abstecken, auf welchem sich die Spielzeit 13/14 des <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> bewegt. Wir<br />
haben Künstler, Politiker und Wissenschaftler eingeladen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.<br />
Die einen tun es auf der Bühne im Theater, den anderen möchten<br />
wir mit dieser Publikation eine gedankliche Bühne eröffnen.<br />
S<br />
chorsch Kamerun, Sänger und Regisseur, unterhält sich anlässlich seines Stadtprojektes<br />
»<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous« mit der <strong>Frankfurt</strong>er Dezernentin für Integration,<br />
Nargess Eskandari-Grünberg, über Möglichkeiten und Grenzen gezielter Förderung<br />
von Gemeinschaft. Nach dem Verschwinden von »Gemeinschaft«, d. h. von überpersönlichen<br />
Strukturen und Institutionen, ist das »Du« – so die These des Soziologen<br />
Sven Hillenkamp – die einzige Instanz, die dem Menschen noch einen Wert verleihen<br />
kann. In welche Nöte uns diese Abhängigkeit von der Liebe bzw. Wertschätzung eines<br />
Einzelnen und die Abwesenheit von gesellschaftlichen Institutionen bringt, umkreisen u. a.<br />
Stücke wie Lars von Triers »Dogville« oder »Gefährliche Liebschaften« von Christopher<br />
Hampton. Auf der anderen Seite spielt Florian Fiedlers humoreske Inszenierung von<br />
Schnitzlers »Anatol« damit, wie viel Spaß und Lustgewinn man aus dieser Situation<br />
auch ziehen kann. Im Zusammenhang mit Molières »Menschenfeind« denkt die Philosophin<br />
Simone Dietz über den Wert der Lüge für ein vitales Gemeinschaftsleben nach,<br />
während Jörg Splett Gewissenstreue und unbedingten Respekt vor dem anderen für<br />
eine Gemeinschaft freier Menschen als unerlässlich erachtet und religionsphilosophisch<br />
begründet. In der künstlerischen Auseinandersetzung des polnischen Filmemachers<br />
und Autors Krzysztof Kieślowski mit den zehn Geboten wird deutlich, dass in einer<br />
weltlichen Gesellschaft oder in dem sogenannten »postmetaphysischen Zeitalter« allgemeinverbindliche<br />
Werte keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Wie kann<br />
Wahrheit ein absoluter Wert sein, wenn eine Notlüge Menschenleben rettet? Vielleicht<br />
brauchen moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften zu ihrer Integration auch nicht<br />
unbedingt einen unerschütterlichen Wertekanon als integrative Maßnahme. Sind andere<br />
Strategien möglicherweise besser geeignet, integrativ zu wirken, z. B. die Verfahren<br />
demokratischer Meinungs- und Willensbildung? Eine Frage, die in Christopher<br />
Rüpings Inszenierung von »Dekalog – Die zehn Gebote« eine Rolle spielt.<br />
D<br />
er Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer forscht seit über dreißig Jahren zu den<br />
Themen Rechtsextremismus und soziale Desintegration. In seinem Text beschreibt<br />
er, warum es eine Fehleinschätzung wäre, die Gewaltverbrechen des NSU als Einzelphänomen<br />
zu stilisieren. Die Ereignisse rund um den NSU nahm der Dramatiker<br />
Lothar Kittstein zum Anlass für sein Stück »Der weiße Wolf«. Mit den Folgen des inneren<br />
und äußeren Krieges und den Wiedereingliederungsschwierigkeiten der Heimkehrer<br />
beschäftigen sich aus aktuellem Anlass die beiden Stücke »Draußen vor der Tür« von<br />
Wolfgang Borchert und »Ajax« von Sophokles. Der niederländische Regisseur Thibaud<br />
Delpeut liest die antike Tragödie vor dem Hintergrund der Afghanistan-Heimkehrer.<br />
Karl-Heinz Biesold, emeritierter leitender Arzt der Abteilung Neurologie und Psychotherapie<br />
am Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg, beschreibt das gegenwärtige Dilemma<br />
der Bundeswehrsoldaten, während der Arzt und Psychologe Elmar Brähler von der<br />
Universität Leipzig über die psychischen Folgen der Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg<br />
bis hin zu den Auswirkungen auf die Enkelgeneration forscht.<br />
I<br />
m Kontext von Jorinde Dröses Nibelungen-Inszenierung macht sich der <strong>Frankfurt</strong>er<br />
Politologe Daniel Keil Gedanken zum Mythos der Europäischen Gemeinschaft. Den<br />
Wunsch nach innerer Vereinheitlichung entlarvt Keil als eine maßgeblich von<br />
Deutschland forcierte Politik, die sich v. a. um den Wert der »Leistung« gruppiert. Das<br />
»Andere« wird dabei als »das Unproduktive« in Abgrenzung zum »produktiven WIR«<br />
konstruiert. Offen bleibt die Frage, ob und wie sich eine Gemeinschaft wie die europäische<br />
ohne den Zwang zur Identität gestalten lässt. Dass es in der »Natur von<br />
Gemeinschaft« liegt, nicht per se »gut«, sondern von tragischen Widersprüchen durchzogen<br />
zu sein, erläutert der <strong>Frankfurt</strong>er Philosoph Dirk Setton anhand von Lars von<br />
Triers »Dogville« und den »Bakchen« von Euripides. Ausgehend von Maxim Gorkis<br />
»Kinder der Sonne« widmet sich der in Berlin lebende französische Philosoph und<br />
Schriftsteller Guillaume Paoli dem Thema des kollektiven Widerstands und der Rolle<br />
der Intellektuellen. Als intellektueller Unruhestifter, als Außenseiter, dessen Aufgabe<br />
es ist, seine Autonomie gegenüber Staat und Gesellschaft zu bewahren, um sie kritisieren<br />
zu können, verstand sich Zeit seines Lebens der österreichische Autor Thomas<br />
Bernhard. Mit »Wille zur Wahrheit« dramatisiert und inszeniert Intendant Oliver Reese<br />
zum ersten Mal Thomas Bernhards fünfbändige Autobiografie. Der <strong>Frankfurt</strong>er Soziologe<br />
Tilman Allert schildert in dem vorliegenden Essay die Erfahrung des jungen<br />
Bernhard, in der kleinsten gemeinschaftlichen Zelle, der Familie, immer schon »anwesend<br />
abwesend« gewesen zu sein.<br />
Zum Schluss macht Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an<br />
der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, das Verhältnis von Theater und Gemeinschaft<br />
zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Ein wichtiger Impuls des modernen<br />
politischen Theaters in der Nachfolge von Brecht war es, die Zuschauer von angeblich<br />
passiven Konsumenten in eine Gemeinschaft von aktiv Urteilenden zu verwandeln.<br />
Rebentisch zieht in Zweifel, dass in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, in welcher<br />
Eigeninitiative und Vernetzung zu den entscheidenden Forderungen geworden sind,<br />
»Aktivierung« und »Teilhabe« per se die zeitgenössischen künstlerischen Gegenstrategien<br />
sind. Statt das Publikum in eine Gemeinschaft zu verwandeln, könnte es in einer<br />
zeitgenössischen kritischen Theaterpraxis vielmehr darum gehen, die Position des<br />
Zuschauens, die Aktivität des Interpretierens und Urteilens sowie das dabei vorausgesetzte<br />
Soziale zum Gegenstand einer reflexiven Auseinandersetzung zu machen.<br />
Wir haben den Illustrator Paul Davis gebeten, zu den aufgeworfenen Themen Stellung<br />
zu beziehen. Davis lebt in London und zeichnet u. a. für »The Guardian« und<br />
»The New York Times«. Mit einer lakonischen Leichtigkeit und Ironie entlarven<br />
seine Illustrationen die Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens. Sie bringen<br />
zum Ausdruck, dass unsere persönlichen, kleinen und alltäglichen Utopien, aber auch<br />
die großen politischen Versprechen der Gegenwart, schnell zur Groteske verrutschen,<br />
wenn man sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft.<br />
wem gehört die stadt? 03<br />
Schorsch Kamerun im Gespräch mit Nargess Eskandari-Grünberg<br />
Feigheit vor dem Volk 07<br />
Guillaume Paoli<br />
Über Gemeinschaft und Lüge 10<br />
Simone Dietz<br />
Furchtbares DU! Stürzendes ICH! 14<br />
Sven Hillenkamp<br />
Der Nationalsozialistische Untergrund und 18<br />
die gesellschaftliche Selbstentlastung<br />
Wilhelm Heitmeyer<br />
Gemeinschaft und Mythos: zum Verhältnis von nationaler und 21<br />
europäischer Identität<br />
Daniel Keil<br />
Über Religion und Gemeinschaft 25<br />
Ein Gespräch mit dem <strong>Frankfurt</strong>er Religionsphilosophen Jörg Splett<br />
Kriegsheimkehrer, Kriegskinder, Kriegsenkel 28<br />
Maggie Thieme und Elmar Brähler<br />
Ajax in Afghanistan 33<br />
Ein Gespräch mit dem Militärarzt Karl-Heinz Biesold<br />
Albträume der Gemeinschaft 36<br />
Dirk Setton<br />
Thomas Bernhard – die Fiktionalisierung einer biografischen Erfahrung 40<br />
Tilman Allert<br />
Emanzipierte Zuschauer und spekulative Kollektivitäten 44<br />
Juliane Rebentisch<br />
S<br />
chorsch<br />
Kamerun ist Sänger der<br />
Hamburger Band »Die goldenen<br />
Zitronen« und TheateR Regisseur<br />
begehbarer Konzertinstallationen.<br />
Mit Dr. Nargess Eskandari-Grünberg ,<br />
Dezernentin für Integration in<br />
FranK Furt, spricht er über ein<br />
Theater für alle, die Möglichkeiten<br />
und Grenzen gezielter Förderung<br />
von Gemeinschaft und die Imitation<br />
der Liebe durch die Stadt planung.