zeitungzur - Schauspiel Frankfurt
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GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
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spielzeit 2013/14<br />
NATUR GEMEINSCHAFT<br />
NATUR GEMEINSCHAFT<br />
Wir sind an den Gedanken gewöhnt,<br />
dass Gemeinschaft etwas an sich Gutes<br />
ist. Tatsächlich aber liegt es in der<br />
»Natur« der Gemeinschaft, von tragischen<br />
WideR Sprüchen durchzogen zu sein. Der promovierte<br />
Philo Soph Dirk Setton lehrt an<br />
der Goethe- universität <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />
und schreibt in dem vorliegenden Essay auSgehend<br />
von »Dogville« und »Bakchen« über<br />
AlBder<br />
Dirk Setton<br />
träume<br />
Gemein schaft<br />
einige Paradoxien des Zusammen lebens, ihre<br />
Gewaltpotenziale und über den Schein<br />
einer unendlichen Gemeinschaft im Theater.<br />
Ambivalenzen der Gemeinschaft<br />
»D<br />
ie schönste Form der Existenz ist für uns diejenige,<br />
die in Beziehungen und im Miteinander<br />
besteht; unser wahres Ich liegt nicht in uns<br />
allein.« (Jean-Jacques Rousseau) Dieser common<br />
sense über die notwendige Gemeinschaftlichkeit<br />
sinnvollen Daseins birgt ein Problem. Es liegt<br />
nicht darin, dass er schlicht falsch wäre; es liegt vielmehr<br />
in seiner Einseitigkeit – und in dem, was seine Einseitigkeit<br />
vergessen macht: die tragische Einsicht in die<br />
unauflösbare Ambivalenz von Gemeinschaft.<br />
I<br />
m Folgenden soll es um den Versuch gehen, diese Ambivalenz<br />
in einer kleinen Serie von »tragischen Widersprüchen«<br />
zu skizzieren. Drei Spannungen werden<br />
dabei im Zentrum stehen: erstens der Widerstreit zwischen<br />
einem »Naturzustand« und einem »Gesellschaftszustand«<br />
der Gemeinschaft; zweitens die Spannung<br />
zwischen der Verbindlichkeit, die das soziale Band einer<br />
Gemeinschaft stiftet, und den Formen, in denen sich eine<br />
Gemeinschaft gegen die exzessiven Tendenzen immunisieren<br />
muss, die in jener Verbindlichkeit stecken; sowie<br />
drittens der Widerstreit zwischen der Selbstidentifikation<br />
eines Kollektivs, durch die das Gemeinsame in einem bestimmten<br />
Merkmal repräsentiert wird, und dem dadurch<br />
verdrängten »Seinsgrund« der Gemeinschaft, der sich<br />
jeder Identifikation oder Repräsentation entzieht.<br />
D<br />
ass<br />
Gemeinschaften von diesen Spannungen durchzogen<br />
werden, können wir nur durch eine Form der<br />
Darstellung erfahren, die auf exemplarische Weise<br />
diese Spannungen vorführt, und zwar im Zuge einer<br />
Durcharbeitung von besonderen Vorstellungen, die das<br />
Verständnis von Gemeinschaft bestimmen. Zu einer solchen<br />
Darstellung ist allein die Kunst fähig: Theater, Literatur<br />
oder Film. Und vielleicht sind dazu insbesondere<br />
solche Beispiele aus der Geschichte der erzählenden<br />
Kunst imstande, die uns den inneren Widerstreit der Gemeinschaft<br />
drastisch – weil tragisch – vor Augen führen.<br />
A<br />
us diesem Grund wird sich diese kleine Skizze an<br />
zwei Beispielen orientieren: den »Bakchen« von<br />
Euripides und »Dogville« von Lars von Trier. Drei<br />
Merkmale sind beiden Stücken gemeinsam: In ihrem<br />
dramatischen Zentrum steht erstens die folgenreiche<br />
Begegnung zwischen einer bestehenden Gemeinschaft<br />
(der griechischen Polis Theben, dem kleinen Dorf Dogville<br />
in den Rocky Mountains) und einem oder einer<br />
Fremden – dem Gott Dionysos und seinem Gefolge,<br />
der in Theben einen neuen Kult einführen will, sowie<br />
Grace, die in Dogville Zuflucht vor ihren Verfolgern<br />
sucht. Zweitens endet diese Begegnung in beiden Fällen<br />
mit der unverhältnismäßig grausamen Auslöschung<br />
der Gemeinschaft – der Ermordung, Verbannung und<br />
Verfluchung des ganzen Herrschergeschlechts von<br />
Theben unter der Regie des listigen Dionysos sowie mit<br />
der Erschießung aller Bewohner von Dogville durch den<br />
Befehl von Grace. Und drittens sind beide Stücke von<br />
einer auffälligen Figurensprache des Natürlichen und<br />
insbesondere einer Tiermetaphorik gezeichnet. Dadurch<br />
tritt bei Euripides das beteiligte Personal in eine<br />
Art Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mensch und<br />
Tier, während bei Lars von Trier gleich die Gemeinschaft<br />
als Ganze einen tierisch-bestialischen Zug erhält.<br />
Es sind diese drei Aspekte, die uns helfen sollen,<br />
eine erste Idee von den tragischen Spannungen im<br />
Begriff der Gemeinschaft zu bekommen.<br />
Die Gemeinschaft ohne<br />
Eigenschaften: Grace in Dogville<br />
D<br />
ie Pointe der Begegnung der Bewohner von Dogville<br />
mit der flüchtenden Grace liegt zunächst darin, dass<br />
sie die Frage nach der Gemeinschaft auf eine neue<br />
Weise aufwirft. Grace ist eine Fremde in Dogville, doch<br />
ihre Fremdheit besteht nicht darin, dass sie einer anderen<br />
Gemeinschaft angehört; sie besteht vielmehr darin,<br />
dass sie ohne Gemeinschaft ist: allein, mittellos, auf der<br />
Flucht und in ihrer Verletzbarkeit exponiert. Die Frage,<br />
die deren Begegnung aufwirft, lässt sich dabei nicht<br />
bloß auf die Frage der Bewohner von Dogville reduzieren,<br />
»ob sie Grace Asyl gewähren oder nicht«; genau<br />
genommen geht es um die Frage nach Gemeinschaft<br />
und ihrem Status selbst – d. h. mit welchem Verständnis,<br />
welchen Vorstellungen von »Gemeinschaft« haben<br />
wir es zu tun und in welchem Verhältnis stehen diese<br />
zueinander?<br />
A<br />
m Anfang von »Dogville« erfahren wir von einem der<br />
Bewohner, dass das Dorf »verrottet« sei; und der<br />
»Dorfintellektuelle« Tom sieht die Gemeinschaft von<br />
Dogville von einem tiefen Mangel gezeichnet – ihr fehlt<br />
etwas, um eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne zu<br />
sein. Der Mangel liegt nicht im Fehlen eines stabilen Kriteriums<br />
der Zugehörigkeit, sondern, Tom zufolge, vielmehr