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zeitungzur - Schauspiel Frankfurt

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36<br />

GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

37<br />

spielzeit 2013/14<br />

NATUR GEMEINSCHAFT<br />

NATUR GEMEINSCHAFT<br />

Wir sind an den Gedanken gewöhnt,<br />

dass Gemeinschaft etwas an sich Gutes<br />

ist. Tatsächlich aber liegt es in der<br />

»Natur« der Gemeinschaft, von tragischen<br />

WideR Sprüchen durchzogen zu sein. Der promovierte<br />

Philo Soph Dirk Setton lehrt an<br />

der Goethe- universität <strong>Frankfurt</strong> am Main<br />

und schreibt in dem vorliegenden Essay auSgehend<br />

von »Dogville« und »Bakchen« über<br />

AlBder<br />

Dirk Setton<br />

träume<br />

Gemein schaft<br />

einige Paradoxien des Zusammen lebens, ihre<br />

Gewaltpotenziale und über den Schein<br />

einer unendlichen Gemeinschaft im Theater.<br />

Ambivalenzen der Gemeinschaft<br />

»D<br />

ie schönste Form der Existenz ist für uns diejenige,<br />

die in Beziehungen und im Miteinander<br />

besteht; unser wahres Ich liegt nicht in uns<br />

allein.« (Jean-Jacques Rousseau) Dieser common<br />

sense über die notwendige Gemeinschaftlichkeit<br />

sinnvollen Daseins birgt ein Problem. Es liegt<br />

nicht darin, dass er schlicht falsch wäre; es liegt vielmehr<br />

in seiner Einseitigkeit – und in dem, was seine Einseitigkeit<br />

vergessen macht: die tragische Einsicht in die<br />

unauflösbare Ambivalenz von Gemeinschaft.<br />

I<br />

m Folgenden soll es um den Versuch gehen, diese Ambivalenz<br />

in einer kleinen Serie von »tragischen Widersprüchen«<br />

zu skizzieren. Drei Spannungen werden<br />

dabei im Zentrum stehen: erstens der Widerstreit zwischen<br />

einem »Naturzustand« und einem »Gesellschaftszustand«<br />

der Gemeinschaft; zweitens die Spannung<br />

zwischen der Verbindlichkeit, die das soziale Band einer<br />

Gemeinschaft stiftet, und den Formen, in denen sich eine<br />

Gemeinschaft gegen die exzessiven Tendenzen immunisieren<br />

muss, die in jener Verbindlichkeit stecken; sowie<br />

drittens der Widerstreit zwischen der Selbstidentifikation<br />

eines Kollektivs, durch die das Gemeinsame in einem bestimmten<br />

Merkmal repräsentiert wird, und dem dadurch<br />

verdrängten »Seinsgrund« der Gemeinschaft, der sich<br />

jeder Identifikation oder Repräsentation entzieht.<br />

D<br />

ass<br />

Gemeinschaften von diesen Spannungen durchzogen<br />

werden, können wir nur durch eine Form der<br />

Darstellung erfahren, die auf exemplarische Weise<br />

diese Spannungen vorführt, und zwar im Zuge einer<br />

Durcharbeitung von besonderen Vorstellungen, die das<br />

Verständnis von Gemeinschaft bestimmen. Zu einer solchen<br />

Darstellung ist allein die Kunst fähig: Theater, Literatur<br />

oder Film. Und vielleicht sind dazu insbesondere<br />

solche Beispiele aus der Geschichte der erzählenden<br />

Kunst imstande, die uns den inneren Widerstreit der Gemeinschaft<br />

drastisch – weil tragisch – vor Augen führen.<br />

A<br />

us diesem Grund wird sich diese kleine Skizze an<br />

zwei Beispielen orientieren: den »Bakchen« von<br />

Euripides und »Dogville« von Lars von Trier. Drei<br />

Merkmale sind beiden Stücken gemeinsam: In ihrem<br />

dramatischen Zentrum steht erstens die folgenreiche<br />

Begegnung zwischen einer bestehenden Gemeinschaft<br />

(der griechischen Polis Theben, dem kleinen Dorf Dogville<br />

in den Rocky Mountains) und einem oder einer<br />

Fremden – dem Gott Dionysos und seinem Gefolge,<br />

der in Theben einen neuen Kult einführen will, sowie<br />

Grace, die in Dogville Zuflucht vor ihren Verfolgern<br />

sucht. Zweitens endet diese Begegnung in beiden Fällen<br />

mit der unverhältnismäßig grausamen Auslöschung<br />

der Gemeinschaft – der Ermordung, Verbannung und<br />

Verfluchung des ganzen Herrschergeschlechts von<br />

Theben unter der Regie des listigen Dionysos sowie mit<br />

der Erschießung aller Bewohner von Dogville durch den<br />

Befehl von Grace. Und drittens sind beide Stücke von<br />

einer auffälligen Figurensprache des Natürlichen und<br />

insbesondere einer Tiermetaphorik gezeichnet. Dadurch<br />

tritt bei Euripides das beteiligte Personal in eine<br />

Art Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mensch und<br />

Tier, während bei Lars von Trier gleich die Gemeinschaft<br />

als Ganze einen tierisch-bestialischen Zug erhält.<br />

Es sind diese drei Aspekte, die uns helfen sollen,<br />

eine erste Idee von den tragischen Spannungen im<br />

Begriff der Gemeinschaft zu bekommen.<br />

Die Gemeinschaft ohne<br />

Eigenschaften: Grace in Dogville<br />

D<br />

ie Pointe der Begegnung der Bewohner von Dogville<br />

mit der flüchtenden Grace liegt zunächst darin, dass<br />

sie die Frage nach der Gemeinschaft auf eine neue<br />

Weise aufwirft. Grace ist eine Fremde in Dogville, doch<br />

ihre Fremdheit besteht nicht darin, dass sie einer anderen<br />

Gemeinschaft angehört; sie besteht vielmehr darin,<br />

dass sie ohne Gemeinschaft ist: allein, mittellos, auf der<br />

Flucht und in ihrer Verletzbarkeit exponiert. Die Frage,<br />

die deren Begegnung aufwirft, lässt sich dabei nicht<br />

bloß auf die Frage der Bewohner von Dogville reduzieren,<br />

»ob sie Grace Asyl gewähren oder nicht«; genau<br />

genommen geht es um die Frage nach Gemeinschaft<br />

und ihrem Status selbst – d. h. mit welchem Verständnis,<br />

welchen Vorstellungen von »Gemeinschaft« haben<br />

wir es zu tun und in welchem Verhältnis stehen diese<br />

zueinander?<br />

A<br />

m Anfang von »Dogville« erfahren wir von einem der<br />

Bewohner, dass das Dorf »verrottet« sei; und der<br />

»Dorfintellektuelle« Tom sieht die Gemeinschaft von<br />

Dogville von einem tiefen Mangel gezeichnet – ihr fehlt<br />

etwas, um eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne zu<br />

sein. Der Mangel liegt nicht im Fehlen eines stabilen Kriteriums<br />

der Zugehörigkeit, sondern, Tom zufolge, vielmehr

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