MIXTAPE
Ausgabe 2013
Ausgabe 2013
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Werk VI . Mixtape<br />
Kant Kino, KantstraSSe 54,<br />
Charlottenburg<br />
Läuft man am Tag einfach nur so am Kant Kino vorbei,<br />
wirkt es völlig unspektakulär. Aber es ist nicht nur eines<br />
der ältesten Kinos in Berlin, hier wurde Ende der 70er- und<br />
Anfang der 80er-Jahre auch Musikgeschichte geschrieben.<br />
Hier spielten Patti Smith, die Ramones oder Blondie ebenso<br />
wie eine damals noch weitgehend unbekannte Band aus<br />
England: Joy Division.<br />
In ihrer Heimat hatte sie es bereits zu einiger Bekanntheit<br />
gebracht, Konzerte gespielt und ein Album inklusiver<br />
einiger Singles auf den Markt geworfen. Jetzt sollte mit<br />
einer Tour durch die Niederlande, Belgien und die Bundesrepublik<br />
der Rest Europas erobert werden. Abschlussstation<br />
der Tournee: das Kant Kino in Berlin. Damals ahnte<br />
noch niemand, dass es der letzte Ort sein sollte, an dem<br />
sich die junge aufstrebende Band ihrem Publikum auf dem<br />
Festland zeigte.<br />
Das Konzert war an einem kalten Januarabend. Joy Divison<br />
spielten vor gerade mal 150 Leuten.<br />
„Die Atmosphäre war seltsam – irgendwie kalt und<br />
anonym. Man konnte beinahe meinen, das Böse zu spüren“,<br />
erinnert sich noch Jahre später Bernard Sumner, der<br />
ehemalige Gitarrist von Joy Division.<br />
Vier Monate nach diesem Auftritt nahm sich der Sänger<br />
Ian Curtis das Leben. Er war 23 Jahre alt. Wenige<br />
Wochen vor seinem Tod erschien die Single „Love Will<br />
Tear Us Apart“, das Stück wurde kurz danach zu einem<br />
Welthit. Der Liedtext wird oft mit Curtis’ Eheproblemen<br />
in Verbindung gebracht. Seine Witwe Deborah verewigte<br />
die Lyrics am Ende sogar auf seinem Grabstein. Curstis’<br />
Suizid ließen ihn und seine Band zu einer Legende werden.<br />
Keine fünf Wochen nach seinem Tod erschien die<br />
Single „Komakino“, zu der Ian Curtis von seinem Auftritt<br />
im Kant Kino inspiriert wurde.<br />
Dresdener StraSSe 11, Kreuzberg<br />
„Ich würde gern für ein paar Monate in Berlin leben“,<br />
soll Nick Cave eines Tages ganz spontan und angetrunken<br />
zu einem Freund in London gesagt haben. Genau das<br />
tat er bald darauf und aus ein paar Monaten wurden fast<br />
acht Jahre. 1983 zog er bei seinem Freund Christoph Dreher<br />
von der Punkband Die Haut in eine Fabriketage in der<br />
Dresdener Straße 11 in Berlin-Kreuzberg ein.<br />
Oft ist der Sänger während dieser Zeit mitten in der<br />
Nacht aus dem Schlaf senkrecht aus dem Bett hochgeschreckt<br />
und fing an, laut zu schreien. Seinem besorgten<br />
Mitbewohner erklärte er darauf immer: „Das ist normal.<br />
Das mache ich oft.“<br />
Heute sagt Nick Cave, er könne nicht über seine Berliner<br />
Zeit sprechen, weil er sich nicht mehr daran erinnere. Als<br />
er damals in der geteilten Stadt ankam, herrschte so etwas<br />
wie Weltuntergangsstimmung – da war die Mauer und diese<br />
unterschwellige Angst vor dem Kalten Krieg. Aber es war ein<br />
perfekter Ort für den jungen Nick Cave, der damals pleite,<br />
perspektivlos und vor allem heroinabhängig war. Er schaffte<br />
es, sich in der Stadt neu zu erfinden und zog eine ganze<br />
Jugendbewegung mit. Nachdem er seine Band The Birthday<br />
Party aufgelöst hatte, stolzierte er jede Nacht von Club<br />
zu Club und eroberte Berlin im Sturm. Durch eine Konzert-Szene<br />
in dem Wenders-Film Der Himmel über Berlin<br />
wurde er zum Idol der Kunst- und Musikszene. Bald trugen<br />
alle die für Nick Cave typischen Anzüge, gebügelte Hemden<br />
und Lederhandschuhe. Die Stadt baute ihn auf, hier galt er<br />
als Exot, irgendwie cool und irgendwie gefährlich.<br />
Im Club Risiko traf Cave auf Blixa Bargeld und gründete<br />
mit ihm The Bad Seeds. Mit Musikern, die nicht wussten,<br />
was genau sie eigentlich wollten, beginnt er, mehrere, kommerziell<br />
erfolgreiche Alben zu veröffentlichen. Anstelle lärmender<br />
Punkmusik von The Birthday Massacre singt er jetzt<br />
kunstvollen, dunklen Blues und gefühlvolle Balladen.<br />
Als Cave kurz vor dem Mauerfall weiterzog und Berlin<br />
verließ, feierte man ihn als den großen Überlebenden eines<br />
wilden Jahrzehnts, der ohne Plan in der Stadt gestrandet<br />
war und es zum stilprägenden Künstler schaffte.<br />
Weinstube Ganymed,<br />
Schiffbauerdamm 5, Mitte<br />
In der Weinstube Ganymed trifft sich heute gern die<br />
Polit-Prominenz. Das prunkvolle, stuckverzierte Lokal<br />
am Schifferbauerdamm liegt nah am Bundestag und<br />
auch direkt an der ehemaligen Sektorengrenze, die einst<br />
den Osten vom Westen trennte. Damals passte das Nobelrestaurant<br />
im Ostteil der Stadt in keines der sozialistischen<br />
Raster. Mit französischer Speisekarte und Kellnern<br />
in Frackhemden mit echten Perlmuttknöpfen galt es als<br />
kleines Tor zum Westen.<br />
Es war einer der weniger bekannten Lieblingsplätze von<br />
Popikone David Bowie während seiner legendären Berliner<br />
Jahre. Bis heute wird Bowie und seine Beziehung<br />
zu Berlin in den Medien diskutiert. Alle reden von der<br />
Hauptstraße, den Hansa-Studios und den langen Nächten<br />
im Club Dschungel. Aber fasziniert war Bowie auch<br />
vom Osten der Stadt. Sein britischer Pass ermöglichte es<br />
ihm problemlos, über den Checkpoint Charlie zwischen<br />
den beiden Stadthälften zu wandern. Am Tag fuhr er oft<br />
raus zum Wannsee und am Abend besuchte er gern die<br />
Vorstellungen des Berliner Ensembles, um sich danach<br />
gleich um die Ecke in der Weinstube Ganymed niederzulassen.<br />
Nach der künstlichen Welt der USA, insbesondere<br />
Hollywoods, in der Bowie zuvor gelebt hatte, muss ihm<br />
der Osten von Berlin wie eine Reise in eine andere Zeit<br />
vorgekommen sein.<br />
Berlin inspirierte, faszinierte und kurierte ihn sogar weitgehend<br />
von seinen damaligen Depressionen und seiner<br />
Kokainsucht.<br />
Erst Anfang diesen Jahres überraschte David Bowie die<br />
Musikwelt mit seinem Comeback und einem Anflug von<br />
Berlin-Sehnsucht. „Where Are We Now?“ ist eine Hommage<br />
an die Stadt, die ab 1976 für drei Jahre sein Zuhause<br />
war und die ihn bis heute offensichtlich nicht losgelassen hat.<br />
Eisengrau, GoltzstraSSe 37, Schöneberg<br />
Im Berlin Anfang der 80er-Jahre lag Neuerung und Aufbruch<br />
in der Luft. Es war die Zeit der Untergrundszene und<br />
der Entstehung ganz neuartiger Musik. Plötzlich gab es<br />
überall Punkbands mit klangvollen Namen wie Die Tödliche<br />
Doris, Malaria! oder Einstürzende Neubauten.<br />
Sie alle gelten als Pioniere in der experimentellen Musik,<br />
beeinflussten Bands wie Depeche Mode und haben eines<br />
gemeinsam: die Goltzstraße 37 in Berlin-Schöneberg.<br />
Eigentlich kaum vorstellbar, denn heute befindet sich an<br />
dieser Ecke und auf drei Etagen verteilt ein gut sortierter<br />
Hobby- und Bastelshop.<br />
Vor 20 Jahren hieß der Laden noch Eisengrau und wurde<br />
von Christian Emmerich bewohnt. Einem dünnen, sehr<br />
nervösen jungen Mann, der gern mit synthetischen Drogen<br />
experimentierte und später unter dem Künstlernamen<br />
Blixa Bargeld als langjähriger Gitarrist der Bad Seeds und<br />
vor allem als Gründungsmitglied der Einstürzenden Neubauten<br />
in die Musikgeschichte eingehen sollte.<br />
Ursprünglich gehörte der Laden, in dem sich der junge<br />
Musiker eingenistet hatte, den beiden Frauen Bettina Köster<br />
und Gudrun Gut. Das Eisengrau war eine kleine Modeboutique<br />
für Punk-Klamotten, in der es selbstgestrickte<br />
grau-schwarze Pullover zu kaufen gab. Doch schnell entwickelte<br />
er sich zum Treffpunkt der deutschen Punk- und<br />
New-Wave-Szene.<br />
Der junge Alex Hacke, damals besser bekannt als Alexander<br />
von Borsig, späterer Bassist bei den Neubauten,<br />
schwänzte hier regelmäßig die Schule. Sowohl der Technopionier<br />
Dr. Motte, Ben Becker und DJ Fetisch von den Stereo<br />
MCs trafen sich hier zum Kaffeetrinken, Flipperspielen<br />
oder einfach nur zum Tratschen.<br />
Das Sortiment des Eisengrau erweiterte sich über die Zeit<br />
um allerlei seltsame Sammelsurien und ein Kassetten- und<br />
Plattenlabel, um die aufkeimende Szene zu fördern.<br />
Hier erschienen die ersten Platten der Einstürzenden<br />
Neubauten, limitiert auf 20 Stück, hier fanden die ersten<br />
Bandproben und Konzerte statt, direkt neben selbstgemachten<br />
Farbfolienportemonnaie aus Sexmagazinen vom<br />
Sperrmüll. Und von hier wurde der deutsche Dark Wave<br />
hinaus in die Welt getragen.<br />
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Werk VI . Mixtape