ER
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<strong>ER</strong><br />
Werk VI 3<br />
EIN STUDIE NPROJE KT DE R AMD AKA D EMI E MODE & DESIGN BE RLIN, LEHRRE D A KTION MM6, AUS G ABE N O. 4, SOMM<strong>ER</strong> 2014
EDITORIAL<br />
ES<br />
IST<br />
EIN<br />
JUNGE!<br />
Vor Ihnen liegt <strong>ER</strong> — die vierte Ausgabe von Werk VI, die diesmal<br />
ganz den Herren der Schöpfung gewidmet ist. Doch vermutlich<br />
können auch Frauen bei der Lektüre noch etwas dazulernen.<br />
Wann ist ein Mann überhaupt ein Mann und wer darf das<br />
bestimmen? Fest steht, dass das sogenannte starke Geschlecht<br />
so einige Rollen auf der Bühne des Lebens spielt. Wir stießen bei<br />
unseren Recherchen auf Muttersöhnchen, einen Mann Gottes<br />
und sogar auf einen Supermann. Ein Turner-Prize-Gewinner in<br />
Frauenkleidern war auch dabei. Und wie weit gehen Männer für<br />
die Liebe? Was passiert, wenn sie sie gefunden haben? Alles Fragen,<br />
denen wir in dieser Ausgabe auf den Grund gehen.<br />
Die Jungs mischen natürlich auch in der Modewelt mit. Wir<br />
haben eine spannende Gesprächsrunde zum Thema organisiert<br />
und dafür drei Männermode-Designer eingeladen. Und wir haben<br />
uns mit einer Frau unterhalten, die Inhaberin einer Männermodel-Agentur<br />
ist.<br />
Die Berliner Typen für unsere Bildstrecke haben wir von der<br />
Straße weg gecastet. Dass der geschlechtsspezifische Stil von<br />
Männern einen steten Einfluss auf Designer hat, beweisen nicht<br />
zuletzt unsere Modestrecken. Selbst zarte Mädchen tragen aktuell<br />
gern Herrenhemd und Adiletten!<br />
Ein Ausflug in die Welt der Männer? Bitteschön.<br />
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.<br />
Ihre W<strong>ER</strong>K-VI-Redaktion<br />
4 Werk VI 5
INHALT<br />
IMPRESSUM<br />
W<strong>ER</strong>K VI IST EIN STUDIENPROJEKT<br />
DES 6. SEMEST<strong>ER</strong>S IM AUSBILDUNGSGANG<br />
MODEJOURNALISMUS/MEDIEN-<br />
KOMMUNIKATION AN D<strong>ER</strong> AMD<br />
AKADEMIE MODE & DESIGN B<strong>ER</strong>LIN.<br />
12<br />
6<br />
70<br />
28<br />
03 Editorial<br />
05 Impressum<br />
06 Einstieg<br />
12 Ich bin ein Berliner<br />
Die maskuline Vielfalt<br />
der Stadt in Bildern<br />
22 „Man muss den<br />
Kunden mit unserer<br />
Mode konfrontieren“<br />
Männermode in<br />
Deutschland –<br />
eine Gesprächsrunde<br />
28 Das Männernest<br />
Ein Interview mit Melanie<br />
Constein, Deutschlands<br />
erfolgreichster Modelagentin<br />
für Männer<br />
34 #Whatcore?<br />
Normcore, Hardcore,<br />
Whatcore? Eine modische<br />
Auseinandersetzung<br />
44 Mutters Söhnchen<br />
Mütter erzählen, wie<br />
ihre berühmten Söhne als<br />
Kinder waren<br />
52 „Rüschen sind das<br />
Kokain der Weiblichkeit“<br />
Im Gespräch mit dem<br />
britischen Künstler und<br />
Transvestiten Grayson Perry<br />
58 Mademoiselle<br />
Masculine<br />
Männerklassiker, die längst<br />
auch in die Garderobe<br />
von Frauen gehören<br />
70 Mit drei Streifen<br />
um die Welt<br />
Wie Adidas zum erfolgreichsten<br />
Bekleidungsunternehmen<br />
Deutschlands<br />
wurde<br />
76 Urban Warriors<br />
Streetwear-Deluxe<br />
in den Hinterhöfen einer<br />
Großstadt<br />
86 Der Glaubensbruder<br />
Männlich, katholisch, jung:<br />
die Zukunft der Kirche?<br />
90 Beziehungsweisen<br />
Moderne Liebesgeschichten<br />
aus Berlin<br />
96 Amors Helfer<br />
Wie Singlemänner<br />
dafür trainieren, die Frau<br />
fürs Leben zu finden<br />
52<br />
FOTOS: JAKOB & HANNAH, ALEXAND<strong>ER</strong> JED<strong>ER</strong>MANN, CHANTAL KOPPENHÖF<strong>ER</strong>, PR, MORITZ SCHMID, JULIANE SPAETE, ANDRE TITCOMBE<br />
06<br />
44<br />
34<br />
58<br />
V<strong>ER</strong>ANTWORTLICHE DOZENTEN<br />
Olga Blumhardt (Magazinentwicklung,<br />
Text, V.i.S.d.P.)<br />
Antje Drinkuth (Styling)<br />
Jan Kedves, Wibke Wetzker (Text)<br />
Janine Sack (Art Direktion)<br />
Martin Schmieder (Marketing & PR)<br />
REDAKTION, KURS MM6<br />
Tabea Becker, Johanna Demant,<br />
Katharina Görke, Alexander La Guma,<br />
Mathilda Kaliszczyk, Julia Küster,<br />
Annika Lösch, Monika Penning,<br />
Elsa Sonntag, Alexander Vetter,<br />
Leonie Volk<br />
CHEFIN VOM DIENST<br />
Katharina Görke<br />
SCHLUSSREDAKTION<br />
Heinrich Dubel<br />
FOTOS<br />
Leopold Achilles, Verena Brünig,<br />
Alexander Jedermann, Jakob & Hannah,<br />
Chantal Koppenhöfer, Stefan Korte,<br />
Ansgar Moek, Arthur Pluta, Moritz Schmid,<br />
Andre Titcombe, Jessica Wolfelsperger<br />
ANZEIGEN<br />
Johanna Demant, Alexander Vetter<br />
PR<br />
Tabea Becker, Mathilda Kaliszczyk,<br />
Julia Küster, Monika Penning<br />
EVENT<br />
Katharina Görke, Alexander La Guma,<br />
Annika Lösch, Elsa Sonntag, Leonie Volk<br />
DRUCK<br />
Brandenburgische<br />
Universitätsdruckerei und<br />
Verlagsgesellschaft Potsdam mbH<br />
Karl-Liebknecht-Straße 24–25<br />
14476 Potsdam<br />
www.bud-potsdam.de<br />
REDAKTIONSANSCHRIFT<br />
AMD Akademie Mode & Design<br />
Franklinstraße 10, 10587 Berlin<br />
Tel.: 030 330 99 76 0<br />
olga.blumhardt@amdnet.de<br />
www.werk6-magazin.de<br />
W<strong>ER</strong>K VI erscheint jährlich<br />
und liegt an ausgewählten Orten<br />
in Berlin kostenfrei aus.<br />
Das Titelbild wurde von Jakob & Hannah<br />
fotografiert. Model: Rosalie/Izaio Management<br />
Haare/Make-up: Julie Skok<br />
Rosalie trägt ein Hemd von Michael Sontag<br />
und eine Fliege von Tiger of Sweden<br />
Wir danken allen, die W<strong>ER</strong>K VI möglich<br />
gemacht haben.
SUP<strong>ER</strong><br />
MODE<br />
Comic- und Science-Fiction-<br />
Helden feiern ein modisches<br />
Comeback. Doch nicht nur Jungs<br />
träumen davon, mit Batman<br />
die Stadt, mit Superman die Welt<br />
oder mit Luke Skywalker<br />
die ganze Galaxie zu retten<br />
Jetzt hat er es nach seiner Zerstörung<br />
in „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“<br />
(1983) doch noch geschafft – und<br />
zwar auf den legendären roten Teppich<br />
des Met Ball in New York. Die<br />
Schauspielerin Kirsten Dunst trug zu<br />
dem prestigeträchtigen Event in diesem Jahr<br />
eine Robe des Designerduos Rodarte – darauf<br />
abgebildet: der Todesstern Nr. 2, die Superwaffe<br />
aus George Lucas’ Star-Wars-Saga.<br />
Auch die Droiden C-3PO und R2-D2 sowie<br />
Luke Skywalker und sein Jedi-Meister<br />
Yoda tauchen in der Winterkollektion der<br />
Designerinnen als Motive auf. Mit ihrer Huldigung<br />
des Weltraumepos’ liegen die beiden Schwestern<br />
genau im Trend.<br />
Denn nächstes Jahr soll der inzwischen siebte Star-<br />
Wars-Film, gleichzeitig der erste Teil einer neuen Trilogie,<br />
in die Kinos kommen. Nicht nur Science-Fiction-Fans,<br />
auch die Modebranche fiebert diesem Ereignis entgegen.<br />
Das Skaterlabel Vans zum Beispiel zeigte am 4. Mai<br />
(„MAY the FOURTH be with you“), dem inoffiziellen<br />
Star-Wars-Tag, eine Kollektion mit Schuhen, Shirts und<br />
Taschen, die mit den Filmfiguren bedruckt sind. Auch das<br />
Londoner Label Preen bedient sich für die kommende Winterkollektion<br />
der Macht des Blockbuster-Franchise. Sicherlich<br />
hat die modische Rückkehr der Jedi-Ritter 2014 auch<br />
marketingtechnische Hintergründe – Rodarte zum Beispiel<br />
wurden von Disney, der Produktionsfirma der Filme, eingeladen,<br />
die Archive nach Motiven zu durchforsten.<br />
Aber nicht nur Helden aus weit, weit entfernten Galaxien<br />
feiern ein Comeback, sondern ein ganzes Comic-Universum:<br />
Neue Spiderman-, Batman-, X-Men- und Superman-Verfilmungen<br />
liefen in diesem Jahr an oder sind in Planung. Comics<br />
gewinnen mehr und mehr gesellschaftliche Relevanz. In<br />
unserer Zeit, in der Bilder präsenter sind und häufig glaubhafter<br />
erscheinen als das Wort, wo ein Internet-Meme mehr<br />
aussagen kann als ein langer Zeitungstext, bilden Comics<br />
eine international verständliche Bildsprache.<br />
Designer wie Marc Jacobs, Raf Simons, J. W. Anderson<br />
oder Rei Kawakubo für Comme des Garçons lassen sich<br />
#3<br />
davon inspirieren und holen die bunten Figuren<br />
vom Papier auf den Stoff. Sogar Antihelden wie<br />
Darth Vader oder Bart Simpson werden zum coolen<br />
Mode-Statement. Der rüpelige Charme<br />
des gelben Stachelkopfs etwa sorgte 2012<br />
für regen Absatz der Kollektion von<br />
Jeremy Scott, der damit als einer der Vorreiter<br />
für diesen Trend gilt.<br />
Vielleicht weil alle Charaktere schon<br />
belegt waren, kreierte Miuccia Prada<br />
für ihren neuen Duft „Prada Candy<br />
Florale“ gleich eine eigene Comicfigur.<br />
Das Supergirl Candy, erschaffen<br />
von dem französischen Illustrator<br />
François Berthoud, ist Star der aktuellen<br />
Werbe kampagne.<br />
Die Kindheitshelden der Jungs<br />
haben sowohl die Welt der Frauenwie<br />
der Männermode erobert, ob<br />
sie diese auch retten werden, steht<br />
in den Sternen. Aufregender, frecher<br />
und selbstironischer ist die Mode<br />
durch sie auf jeden Fall geworden.<br />
Möge die Macht mit ihr sein!<br />
ALEXAND<strong>ER</strong> LA GUMA<br />
#1<br />
#4<br />
#2<br />
#5<br />
1 Preen, H/W 14/15<br />
2 Vans, Star Wars<br />
Collection<br />
3 Rodarte, F/S 14<br />
4 Jeremy Scott,<br />
H/W12<br />
5 Candy Girl aus<br />
der aktuellen<br />
Prada-Kampagne<br />
FOTOS: PR<br />
FOTOS: PAUL VICENTE/AFP/ALEXAND<strong>ER</strong> MCQUEEN RTW A/W 1998/GETTY IMAGES; PR (4)<br />
BRUTAL<br />
SCHÖN<br />
Die McQueen-Retrospektive<br />
„Savage Beauty“ kommt<br />
nächstes Jahr nach London<br />
Das Londoner Victoria & Albert<br />
Museum holt im Frühjahr 2015 die<br />
Retrospektive „Alexander McQueen:<br />
Savage Beauty“ nach Europa. Die<br />
Ausstellung wurde zu Ehren des im<br />
Februar 2010 verstorbenen Designers<br />
erstmals 2011 im New Yorker Metropolitan<br />
Museum of Art gezeigt.<br />
Bis heute zählt sie mit über 650.000<br />
Besuchern zu den erfolgreichsten<br />
Ausstellungen des Museums. Nun<br />
werden die Exponate in der Heimatstadt<br />
des Modeschöpfers gezeigt:<br />
„In London wurde ich groß gezogen.<br />
Für diese Stadt schlägt mein Herz und<br />
hier ist meine Inspiration“, sagte der<br />
HALFPIPE HALFFASHION<br />
Das Skateboard ist endgültig das neue Lieblingsaccessoire<br />
in sportlichen Modekreisen. Bereits<br />
vor zwei Jahren hat es die Céline-Chef designerin<br />
Phoebe Philo vorgemacht und unterschiedliche<br />
Skatedecks kreiert. Es folgte Marc Jacobs,<br />
der seine Kampagnenmotive, fotografiert von<br />
Juergen Teller, auf die Bretter brachte. Und das<br />
Londoner Kaufhaus Selfridges kooperierte<br />
für einen Skateboard-Pop-up-Store unter anderem<br />
mit Designern wie Stella McCartney, Dries Van<br />
Noten und Erdem. Das französische Traditionshaus<br />
Courrèges ließ sich in Zusammenarbeit mit<br />
Eastpak ebenfalls von der Skaterkultur inspirieren.<br />
Das Ergebnis ist ein Retro-Board für die Frau<br />
mit dem Namen „Mini Cruiser Diva“. Im Zuge der<br />
Demokratisierung der Mode schauen sich<br />
Designer schon seit Jahren auf den Straßen um.<br />
Da Skater fest ins Stadtbild gehören, verwundert<br />
es deshalb nicht, dass sich Modemacher nun<br />
deren Subkultur zum Vorbild nehmen.<br />
Designer im Jahr 2000. Für McQueens<br />
Mode spielt Großbritanniens Hauptstadt<br />
eine entscheidende Rolle.<br />
Auf der Savile Row lernte er alles über<br />
die englische Schneiderkunst. Für<br />
sein handwerkliches Können war er<br />
zei t lebens berühmt. Die Retrospektive<br />
präsentiert das Lebenswerk des<br />
unvergessenen Modemachers –<br />
100 Ausstellungsstücke, von seiner<br />
M.A.-Abschlusskollektion bis zur<br />
Herbst/Winter-Kollektion 2010, die<br />
er selbst nicht mehr ganz vollenden<br />
konnte. Die Werkschau greift<br />
unter anderem McQueens Hang zur<br />
Dramatik und Rebellion auf, seine<br />
Faszination für Natur und sein Spiel<br />
mit Vergänglichkeit. Die Hüfthose<br />
„Bumster“, die die untere Rückenpartie<br />
als erotischste Zone des Körpers<br />
betont, eine Jacke aus vergoldeten<br />
Entenfedern und ein rotgefärbtes<br />
Kleid aus Austernfedern mit einem<br />
Oberteil aus Glasplatten sind nur<br />
einige Highlights. Besucher dürfen<br />
sich auf eine einzigartige Inszenierung<br />
freuen.<br />
„Alexander McQueen: Savage Beauty“<br />
14. März bis 19. Juli 2015,<br />
Victoria & Albert Museum, London,<br />
www.vam.ac.uk/savagebeauty<br />
V.l.n.r.: Dries Van Noten für Selfridges,<br />
Courrèges für Eastpack, Stella McCartney<br />
für Selfridges, Céline<br />
Alexander McQueen H/W 1998<br />
8 Werk VI 9
W<strong>ER</strong> MIT WEM?<br />
Zusammen sind wir stark: Dieses Sprichwort nehmen sich viele Modemacher<br />
zu Herzen. Designerkooperationen sind populärer denn je<br />
Es scheint, als würden erfolgreiche<br />
Modedesigner weltweit fast nichts<br />
mehr alleine zustande bringen. Überall<br />
Teamwork – Designerkooperationen<br />
wollen gar nicht mehr aus der<br />
Mode kommen. Auch für dieses Jahr<br />
sind wieder prominente Partnerschaften<br />
angekündigt. Interessant dürfte<br />
das Ergebnis der neuen Männerfreundschaft<br />
zwischen Karl Lagerfeld und<br />
Louis-Vuitton-Designer Nicolas<br />
Ghesquière werden. Lagerfeld, der<br />
neben Chanel auch noch für Fendi und<br />
sein eigenes Haus arbeitet, wird im<br />
Rahmen des Projekts „The Icon<br />
and the Iconoclasts“ eine Monogramm-<br />
Tasche für Louis Vuitton entwerfen.<br />
Spannender allerdings als die deutschfranzösische<br />
Zusammenarbeit dürfte<br />
es werden, wenn englische Tradition<br />
auf japanischen Modernismus trifft.<br />
Barbour und White Mountaineering<br />
bringen mit der Männerkollektion für<br />
das Frühjahr 2015 das Ergebnis ihrer<br />
zweiten Kollaboration auf den Markt.<br />
Auch Patrick Mohr entwirft wieder<br />
NETZWEAR<br />
Im Uhrzeigersinn:<br />
Patrick Mohr für<br />
Reebok; Jeff Koons<br />
für H&M; White<br />
Mountaineering<br />
für Barbour;<br />
Raf Simons für<br />
Adidas<br />
eine Sonderedition des legendären<br />
„Freestyle Hi“ von Reebok. Der Look:<br />
so sportlich wie das Label, so skurril<br />
wie der Designer. Und wer statt der<br />
drei ikonischen Adidas-Streifen ein<br />
gelöchertes „R“ auf dem „Stan Smith“<br />
erkennt: nicht wundern! Raf Simons<br />
hat auch in dieser Saison wieder sieben<br />
Modelle für Adidas designt (mehr zum<br />
Thema ab S. 73).<br />
Das Schlachtschiff unter den Kooperationen<br />
ist aber weiterhin eine<br />
schwedische Modekette. Seit 2004<br />
darf mit Spannung erwartet werden,<br />
wer – sei es Designer, Künstler oder<br />
Musiker – für H&M entwerfen wird.<br />
Die Überraschung gelingt immer.<br />
Gerade erst entwarf Jeff Koons, der<br />
teuerste zeitgenössische Künstler,<br />
eine Tasche, die anlässlich der Eröffnung<br />
eines H&M-Flagship-Stores in<br />
New York limitiert verkauft wurde.<br />
Ein Abbild seines berühmten Luftballon-Hundes<br />
ziert das gute Stück –<br />
Koons(t) zu Schnäppchenpreisen.<br />
Am 6. November kommt dann die<br />
bereits 18. und wohl aufregenste<br />
High-Fashion-Designerkooperation in<br />
ausgewählte H&M-Filialen. Mit seinen<br />
amerikanisch-modernen Entwürfen<br />
wird Balenciaga-Chefdesigner Alexander<br />
Wang für zeitgemäße Coolness und<br />
ganz sicher erneut für Hysterie in den<br />
Läden sorgen. ALEXAND<strong>ER</strong> LA GUMA<br />
FOTOS: FASHIONSNAP.COM, HIGHSNOBIETY.COM, PR, THECUT.COM<br />
#3<br />
Der Herbst steht vor<br />
der Tür. Wir haben<br />
Sebastian Warschow,<br />
Head of PR des<br />
Luxusonlineshops<br />
mytheresa.com<br />
gefragt, was denn<br />
im Kleiderschrank<br />
nicht fehlen darf. Mit<br />
Warschows Umzug<br />
nach München hat<br />
Berlin einen echten<br />
Stilexperten verloren.<br />
Hier verrät er seine<br />
Wunschliste für die<br />
kommende Saison.<br />
STYLE IST<br />
GESCHMACKSSACHE<br />
Ganz spontan entstand im Juli 2013 das<br />
Modeprojekt Popgold. Seitdem lassen<br />
sich die Gründer, Designer Vico Stuhlmann<br />
und Modejournalistin Elena Schröder,<br />
für ihre Streetwear nicht nur von der Straße<br />
1 Sneaker von Maison<br />
inspirieren, sondern hauptsächlich vom<br />
Martin Margiela für<br />
schnellsten Medium überhaupt – dem<br />
Converse<br />
Inter net. Ihre Prints nehmen Strömungen<br />
2 Kaschmirdecke/Schal<br />
von Burberry Prorsum<br />
aktueller sowie vergangener Popkultur<br />
3 Mohairpullover mit<br />
auf, kopieren diese allerdings nicht einfach,<br />
Zebramuster von Saint<br />
sondern interpretieren sie neu. Aus dem<br />
Laurent Paris<br />
gemixten Material entstehen spannende<br />
4 Indigoblauer Anzug<br />
Drucke, immer mit einem Hauch Ironie.<br />
von Jil Sander<br />
Vielversprechend!<br />
#5<br />
5 Komplettlook von<br />
www.popgold.bigcartel.com<br />
Valentino<br />
10 WWW.BORGMANN1772.COM<br />
Werk VI 11<br />
FOTOS: PR<br />
#1<br />
Blick in die<br />
Zukunft<br />
#4<br />
#2<br />
C<br />
M<br />
Y<br />
CM<br />
MY<br />
CY<br />
CMY<br />
K<br />
„HONI SOIT<br />
QUI MAL<br />
Y PENSE!”<br />
„NEC ASP<strong>ER</strong>A<br />
T<strong>ER</strong>RENT”<br />
„W<strong>ER</strong> NICHT LIEBT<br />
WEIN, WEIB UND<br />
GESANG D<strong>ER</strong><br />
BLEIBT EIN NARR<br />
SEIN LEBEN LANG”<br />
EDITION 0
Männer dominieren den Modemarkt: als Designer, als Geschäftsführer,<br />
als Entscheider. Aber sind sie auch für den Magerwahn in der Branche<br />
verantwortlich? Wir fragen Mahret Kupka, die Kuratorin für Mode, Körper<br />
und Performatives am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main<br />
#1 SPORT-DELUXE<br />
#3 NEO-CLASSIC<br />
WATCH OUT<br />
Der Herrenmode wird gern<br />
Eintönigkeit vorgeworfen.<br />
Diese fünf vielversprechenden<br />
Labels aus Mailand,<br />
London und Paris beweisen<br />
das Gegenteil. Ein Mix aus<br />
Unisex-Couture, düsterer<br />
Walt-Disney-Motivik und<br />
Männerklassikern mit sportlichen<br />
Einflüssen bestimmt<br />
den kommenden Herbst<br />
1 Nicomede Talavera, London<br />
2 Rad Hourani, Paris<br />
3 Gosha Rubchinskiy, Paris<br />
4 Bobby Abley, London<br />
5 Andrea Pompilio, Mailand<br />
#2 UNISEX-COUTURE<br />
FOTO: PR<br />
Mahret Kupka ist<br />
Modetheoretikerin<br />
und Autorin<br />
des Blogs<br />
modekoerper.de<br />
Mann<br />
macht Mode<br />
Frau Kupka, was glauben Sie, warum sind es<br />
in der Mode ausgerechnet die Männer, die den<br />
großen Erfolg haben?<br />
Vielleicht liegt es daran, dass Männer risikofreudiger<br />
sind als Frauen und eher bereit<br />
dazu, sich durchzubeißen. Ich will damit nicht<br />
sagen, dass Frauen nicht durchsetzungs -<br />
fähig sind, aber kulturell bedingt liegen die<br />
Aufgabenbereiche der Frau bis heute eher<br />
woanders, nicht unbedingt am oberen Ende<br />
der Karriereleiter. Aber glücklicherweise<br />
gibt es ja auch ein paar erfolgreiche<br />
Modedesignerinnen.<br />
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die<br />
meisten bedeutenden Modedesigner schwul sind?<br />
Ein Grund könnte sein, dass Mode kulturell<br />
ein der „weiblichen Sphäre“ zugeordneter<br />
Bereich ist und daher möglicherweise viele heterosexuelle<br />
Männer gar nicht erst auf die Idee<br />
kommen, Modedesign zu studieren – obwohl<br />
es sie interessieren könnte.<br />
Was sagen Sie dazu, dass schwule Designer<br />
angeblich durch ihre Vorliebe zu jungenhaften<br />
Körpern den Magerwahn in der Modelbranche<br />
zu verantworten haben?<br />
Das halte ich für totalen Quatsch! Schwule Männer<br />
haben so viele unterschiedliche Vorlieben wie<br />
alle anderen Menschen auch und sind bestimmt<br />
nicht nur auf jungenhafte Körper fixiert. Außerdem<br />
ist Mode immer ein Abbild der Gesellschaft.<br />
Das heißt, sie diktiert nicht, sondern verkauft das,<br />
was die Menschen kaufen möchten. Sie nimmt<br />
Schwingungen auf und transformiert sie in<br />
Formen. Natürlich hat es auch einen Effekt auf die<br />
Menschen, wenn sie permanent mit Idealbildern<br />
konfrontiert werden. Aber das Problem des<br />
Magerwahns wird nicht zu lösen sein, wenn man<br />
sich nur auf die Mode konzentriert.<br />
VILLA SANDI PROSECCO<br />
- Flüssige Kunstwerke aus dem Veneto -<br />
#4 DISNEY-HORROR<br />
“Prosecco des Jahres”<br />
Die führende Fachzeitschrift der<br />
Weinbranche WEINWIRTSCHAFT<br />
kürt den Villa Sandi “il Fresco” zum<br />
9. Mal zum Prosecco des Jahres.<br />
#5 N<strong>ER</strong>D-TEDDY<br />
Äpfeln und etwas Eisbonbon.<br />
Erhältlich bei:<br />
Goldgelb die Farbe, kristallklar<br />
Weinagentur J. Heinz Fey KG · David Arnold<br />
im Glas ist dieser Prosecco der<br />
Olympische Straße 27 · 14052 Berlin<br />
perfekte Aperitif und optimaler<br />
Tel: (030) 305 49 48 · Fax: (030) 304 96 37<br />
Begleiter leichter Speisen.<br />
www.weinagenturarnold.de<br />
12 Werk VI 13<br />
FOTOS : PR<br />
Prosecco Spumante DOC<br />
Brut “il Fresco”<br />
il Fresco, übersetzt “der Frische”<br />
verströmt ein elegantes Bouquet<br />
von weißen Früchten, Blüten,
ICH BIN EIN<br />
B<strong>ER</strong>LIN<strong>ER</strong><br />
Sie kommen aus Bayreuth, Luxemburg oder Friedrichshain, sind tätowiert<br />
oder auch nicht, tragen Bart oder Locken, sprechen Deutsch,<br />
Englisch oder Italienisch. Eines ist jedoch klar: Man muss nicht sein<br />
ganzes Leben in der Stadt verbringen, um ein Berliner zu sein<br />
P R ODUKTION J ULIA K Ü S T E R & ELSA S ONNTA G<br />
FOTOS CHA NTA L K OPPE NHÖF<strong>ER</strong><br />
H AARE/MAKE - U P YVONNE W E NGLE R & FLORIA N FE RINO<br />
Justus, 19, Neukölln<br />
Vor zwei Jahren kam Justus der Liebe wegen aus Freiburg nach<br />
Berlin. Seitdem jobbt er bei Adidas Neo am Kudamm und genießt<br />
das Nachtleben: im Berghain, KitKat oder im Golden Gate<br />
12 Werk VI 13
Franz, 25, Wedding<br />
Für sein Mode- und Designmanagement-<br />
Studium an der AMD ist Franz vor<br />
drei Jahren aus Gütersloh nach Berlin<br />
gezogen. Sein T-Shirt-Label Skäkks<br />
(ein Modell trägt er auf dem Foto) will<br />
er in Zukunft weiter ausbauen.<br />
An warmen Sommertagen trifft man<br />
Franz am Plötzensee<br />
Patrick, 21, Wedding<br />
Ist vor zwei Jahren aus Augsburg nach Berlin gezogen,<br />
um Wirtschaftskommunikation zu studieren.<br />
Patrick wurde kürzlich in der Pariser Metro als Model<br />
entdeckt und wird dort von einer Agentur vertreten<br />
14 Werk VI 15
Jonas, 20, Wilmersdorf<br />
Anfang des Jahres kam Jonas aus Mainz<br />
nach Berlin, um Mode- und<br />
Designmanagement an der AMD zu<br />
studieren. Über Berlin muss er<br />
noch sehr viel lernen: sein Lieblingsort<br />
ist der Hackesche Markt<br />
Julian, 24, Kreuzberg<br />
Träumte zehn Jahre davon, aus Bayreuth nach Berlin zu ziehen.<br />
Seit einem Jahr ist er hier. Im Herbst fängt er bei Jil Sander am<br />
Kudamm als Verkäufer an. Auch ein Traum. Den neuen Job hat er<br />
in seiner Lieblingsbar Die Legende von Paula und Ben gefeiert<br />
16 Werk VI 17
Francesco, 29, Pankow<br />
Kümmert sich seit einem Jahr um<br />
benachteiligte Jugendliche. Er vermisst<br />
das gute Wetter seiner Heimatstadt<br />
Brescia in Italien – und Mama. Francesco<br />
mag das Maybachufer in Kreuzberg<br />
Kieron, 20, Kreuzberg<br />
Kieron findet Berlin viel charmanter als Recklinghausen,<br />
das er vor zwei Jahren für sein Politikwissenschaftsstudium<br />
verlassen hat. Man trifft ihn auf seinem BMX-Rad in der<br />
Skatehalle Berlin auf dem RAW-Gelände in Friedrichshain.<br />
Sein Leben finanziert er sich mit Modeljobs<br />
18 Werk VI 19
Pit, 28, Neukölln<br />
Anfang des Jahres kam Pit aus Luxemburg<br />
nach Berlin, um Mode- und Designmanagement<br />
an der AMD zu studieren.<br />
In seiner Freizeit spielt er Schlagzeug<br />
in einer Rockband<br />
Christoph, 28, Friedrichshain<br />
Fühlt sich seit neun Jahren sehr wohl in Berlin, weil es so<br />
„asozial“ und „zubetoniert“ ist. Anders als im<br />
brandenburgischen Luckau, woher er kommt. Christoph<br />
ist Redakteur beim Onlinemagazin netzkino.de.<br />
Seine Lieblingskneipe ist die Jägerklause in Friedrichshain<br />
20 Werk VI 21
„MAN MUSS DEN<br />
KUNDEN<br />
MIT UNS<strong>ER</strong><strong>ER</strong><br />
MODE<br />
KONFRONTI<strong>ER</strong>EN“<br />
Männern ist Mode nicht so wichtig!?<br />
Ein Gespräch mit den Designern<br />
Sissi Goetze, Daniel Blechmann von<br />
Sopopular und Mads Dinesen<br />
I NTE R V I EW: MONIKA PENNING & ALE X A NDE R VE TTE R<br />
FOTOS : VE R E N A BRÜNING<br />
Männer gelten als<br />
schwierige Kunden<br />
– und doch steigt<br />
die Zahl der jungen Designer, die sich<br />
auf Männermode spezialisieren. Zu<br />
ihnen gehören auch Sissi Goetze, Mads<br />
Dinesen und Daniel Blechmann von<br />
Sopopular. Wir treffen die drei in den<br />
Räumen von Silk Relations, der<br />
Presse agentur von Sopopular, um über<br />
Berlin als Modestadt, die Schwierigkeiten<br />
im Business und die Leidenschaft<br />
für den Job zu sprechen.<br />
Berlin zieht viele Designer an.<br />
Aus welchem Grund hat es euch<br />
hierher verschlagen?<br />
Daniel Blechmann: Nach sechs<br />
Jahren in London bin ich 1994 nach<br />
Berlin gegangen, weil meine<br />
Freunde und auch meine Familie<br />
hier leben. Die Stadt befindet<br />
sich im Veränderungsprozess und ich<br />
bin wahnsinnig gern ein Teil davon.<br />
Sissi Goetze: Ich habe nach meinem<br />
Studium in London nicht unbedingt<br />
bewusst entschieden, nach Berlin zu<br />
gehen und mein Label hier aufzubauen.<br />
Im Vordergrund standen erst einmal<br />
pragmatische und finanzielle Gründe.<br />
In London ist es unmöglich, eine<br />
Selbstständigkeit zu finanzieren. Und<br />
Berlin ist mein Zuhause. Alle meine<br />
Freunde leben hier.<br />
Mads Dinesen: Ich glaube, die Stadt<br />
gibt uns jungen Designern eine gewisse<br />
Sicherheit. Das Leben hier ist nicht<br />
zu teuer. Auch mit wenig Geld kann<br />
man in Berlin sehr gut leben.<br />
22 Werk VI 23
Der Däne Mads Dinesen machte<br />
2010 seinen Abschluss an der<br />
UdK Berlin. Seine erste Show zur<br />
Fashion Week Berlin finanzierte<br />
er durch Crowdfunding<br />
Viele sagen, Berlin sei keine Modestadt.<br />
Wie steht ihr dazu?<br />
DB: Das finde ich total albern. Zu viele<br />
Leute versuchen momentan, Berlin<br />
schlecht zu machen. Ich finde die Stadt<br />
super! Problematisch ist der ständige<br />
Vergleich mit anderen internationalen<br />
Modestädten. Man kann Berlin nicht<br />
mit Paris vergleichen, wo Traditionshäuser<br />
schon seit Jahrzehnten existieren<br />
und ein Budget zur Verfügung haben,<br />
von dem man hier nur träumen kann.<br />
Berlin ist als Modestadt sehr jung.<br />
Und man darf nicht vergessen, dass<br />
Berlin in den 1920er-Jahren die<br />
Modehauptstadt der Welt war. Ich<br />
glaube, international kommt Berlin<br />
besser an als in Deutschland selbst. Hier<br />
habe ich immer das Gefühl, so lange<br />
man unten schwimmt, ist alles in<br />
Ordnung, sobald man aber größer wird,<br />
bekommt man sofort einen auf den<br />
Deckel. Die Stadt hat superviel<br />
Potenzial, hier gibt es tolle Designer.<br />
Man sollte lieber mal die Köpfe<br />
zusammenstecken und überlegen,<br />
wie man es besser machen kann,<br />
und nicht gleich alles schlecht machen.<br />
Was fehlt Berlin noch, um eine<br />
richtige Modestadt zu sein?<br />
DB: Ernsthafte Förderung. Es gibt<br />
natürlich einige Preise, die Nachwuchsdesigner<br />
gewinnen können. Die<br />
bekommen dann Geld – und danach<br />
hört man nie wieder was von denen.<br />
„EHRLICH GESAGT<br />
IST MIR D<strong>ER</strong> DEUT-<br />
SCHE MARKT NICHT<br />
SO WICHTIG“<br />
MADS DINESEN<br />
Die Förderungsstrukturen in London<br />
sind sehr gut. Dort gibt es Preis -<br />
gelder in Höhe von 150.000 Pfund und<br />
der Gewinner hängt über Nacht in<br />
den besten und größten Kaufhäusern.<br />
In Deutschland interessieren sich<br />
die Einkäufer kaum für junge Designer.<br />
Das erschwert uns den Einstieg.<br />
SG: Ich glaube auch, dass es so<br />
schwierig ist, weil Mode in Deutschland<br />
generell nicht als Kulturgut<br />
gesehen wird. Mode wird hier gleichgesetzt<br />
mit verrückten Kleidern,<br />
die von Verrückten gemacht werden.<br />
In England oder Paris ist es ganz<br />
selbstverständlich, dass die Leute sich<br />
auskennen. Wenn man in London<br />
in einen Pub geht und sich mit einem<br />
Bauarbeiter über das Modestudium<br />
am Central Saint Martins College<br />
unterhält, dann sagt er: „Ach, Saint<br />
Martins, davon habe ich schon gehört.“<br />
Obwohl er mit Mode rein gar nichts<br />
am Hut hat. So etwas fehlt hier. In<br />
Deutschland steht Mode immer an<br />
letzter Stelle. Für Shops in Paris<br />
und London ist es ganz selbstverständlich,<br />
Jungdesigner einzukaufen. Da<br />
geht es gar nicht darum, ob die gleich<br />
auf Anhieb gut laufen oder nicht. Das<br />
gehört dort einfach zur Imagepflege.<br />
Das hat man hier noch nicht begriffen,<br />
dass es natürlich auch mal ein oder<br />
zwei Saisons dauern kann, bis etwas<br />
bombenmäßig läuft.<br />
MD: In Dänemark – eigentlich in ganz<br />
Skandinavien – ist es genauso wie in<br />
London. Mode ist dort wichtiger<br />
Bestandteil des Business und Jungdesigner<br />
sind gut fürs Image des Landes.<br />
Der deutsche Mann ist modisch<br />
gesehen als zurückhaltend bzw. fast<br />
langweilig verschrien. Läuft vielleicht<br />
auch deshalb Männermode in<br />
Deutschland schlechter?<br />
SG: Es stimmt schon, dass ein deutscher<br />
Mann vermutlich nicht 20 Hosen<br />
im Schrank hat, sondern fünf.<br />
Generell kaufen Männer gern Sachen,<br />
die sie schon kennen.<br />
MD: Das ist auch kulturell bedingt.<br />
Mode ist den meisten Deutschen<br />
nicht wichtig. In anderen Ländern<br />
gehört Kleidung zur Identität<br />
und darf auch was kosten.<br />
DB: Die Arbeit, die wir machen, ist<br />
durch die geringen Stückzahlen<br />
und die Produktionsstätten in Europa<br />
schon sehr hochpreisig. Ich habe<br />
oft die Erfahrung gemacht, dass das<br />
vielen Kunden zu teuer ist. Aber<br />
das Modebewusstsein der Männer in<br />
Deutschland wächst. Deswegen<br />
mache ich auch Männermode. Man<br />
muss den Kunden nur erst einmal<br />
mit unserer Mode konfrontieren und<br />
ihm zeigen, was es überhaupt auf<br />
dem Markt gibt. In Deutschland gibt<br />
es gute Männerlabels, und von<br />
Saison zu Saison kommen mehr dazu.<br />
Die Kunden lernen dieses Angebot<br />
nur leider gar nicht kennen.<br />
Wie sieht denn der Mann im Jahr<br />
2014 aus?<br />
SG: Ich denke gar nicht so rational<br />
darüber nach, wie der aktuelle Mann<br />
aussieht. Ich habe zwar ein Männerbild<br />
vor Augen, aber das kann ich nicht klar<br />
definieren. Die Looks, die ich für die<br />
Fashion Week produziere, sprechen<br />
schon eher den mode bewussten Mann<br />
an. Aber auch mein Papa hat einige<br />
Teile von mir im Schrank hängen. Die<br />
Kollektionen passen in jede Männergarderobe.<br />
Es ist auch spannend zu sehen,<br />
wie jeder einzelne die Teile trägt und<br />
dem eigenen Stil anpasst. Ich fände es<br />
irritierend, einen Mann im Sissi-<br />
Goetze-Komplett-Look zu sehen. Meine<br />
Sachen sprechen diejenigen an, die Lust<br />
auf gute Qualität haben<br />
und etwas suchen, das nicht nur<br />
eine Saison Gültigkeit hat.<br />
DB: Wenn ein Mann für eine Jacke<br />
schon 700 Euro ausgibt, muss die<br />
auch eine gewisse Wertigkeit haben. Ich<br />
designe Kollektionen, die auch untereinander<br />
sehr gut kombinierbar sind. Und<br />
auch ich habe niemals<br />
einen bestimmten Mann vor Augen.<br />
Meine Inspiration ist mein Leben, Dinge,<br />
die mich geprägt haben. Die fließen dann<br />
in meine Kollektionen ein.<br />
Ihr habt gerade gesagt, dass die<br />
Kunden eure Kollektionen gar nicht<br />
erst kennenlernen – woran liegt<br />
das? Daran, dass die Läden sie nicht<br />
einkaufen, oder daran, dass die Presse<br />
junge Labels ignoriert?<br />
MD: Du kannst in jedem deutschen<br />
Magazin sein, aber das bedeutet nicht,<br />
dass die Leute dann auch die Sachen<br />
kaufen. Die gehen lieber zu C&A<br />
und kaufen das günstigere Teil. Um<br />
es noch einmal zu vergleichen: In<br />
London gibt es eine viel engere<br />
Verbindung zwischen PR und Sale.<br />
„MEINE<br />
KOLLEKTIONEN<br />
PASSEN IN<br />
JEDE MÄNN<strong>ER</strong>-<br />
GARD<strong>ER</strong>OBE“<br />
SISSI GOETZE<br />
SG: Ich glaube nicht unbedingt,<br />
dass die deutschen Endverbraucher<br />
keine Lust haben, unsere Sachen zu<br />
kaufen. Das Problem liegt bei den<br />
Einkäufern, die das ihren Kunden nicht<br />
zutrauen. Es reicht nicht, einen<br />
jungen Designer in einem Kaufhaus in<br />
die Ecke zu hängen. Man muss<br />
schon ein bisschen was investieren,<br />
die Kleider highlighten, Verkäufer<br />
schulen und versuchen, die Ware an<br />
den Mann zu bringen. Im eigenen<br />
Showroom funktioniert es doch auch.<br />
Wir haben treue Stammkunden,<br />
nicht nur Modeleute, sondern auch<br />
Informatiker, die bei uns kaufen, weil<br />
sie Lust auf gute, qualitativ<br />
hochwertige Klamotten haben.<br />
DB: Ich habe die Erfahrung gemacht,<br />
dass die Einkäufer in Deutschland<br />
genau andersrum denken als<br />
ihre Kollegen im Ausland. Egal, ob in<br />
Skandinavien, Paris, Mailand oder<br />
London: In all den Ländern kaufen<br />
die Einkäufer lieber ihre eigenen Labels<br />
ein, um deren Potenzial zu fördern.<br />
In Deutschland hängen die Läden voll<br />
mit skandinavischen Labels, da<br />
dieangeblich cooler sind, und kaum<br />
jemand holt sich einen Berliner<br />
Designer in den Laden.<br />
2010 debütierte Sissi Goetze mit<br />
ihrer Abschlusskollektion am Central<br />
Saint Martins College in London.<br />
Seitdem zeigt sie regelmäßig auf der<br />
Fashion Week Berlin<br />
24 Werk VI 25
Kollektionen gekauft haben, sind<br />
insolvent – das bricht einem das<br />
Genick.<br />
MD: Ich denke, dass Firma nach so<br />
langer Zeit keine Lust mehr hatten,<br />
jeden Cent umdrehen zu müssen. Ich<br />
hoffe, bei uns wird das anders laufen.<br />
(alle lachen) Natürlich ist das kein<br />
spezifisch deutsches Problem. Das<br />
kann überall passieren. In London<br />
gibt es auch Labels, die jahrelang<br />
kämpfen müssen.<br />
»Das wohl beste Modebuch des Jahres« FAZ Magazin<br />
»Die Kunst des Mode-Interviews« Interview.de<br />
»Voller guter, überraschend komischer Geschichten« taz<br />
»Fashionliteratur mit Kultpotenzial« Elle<br />
Wie schwierig ist es, einen Investor<br />
zu finden?<br />
MD: Wenn ihr jemanden kennt,<br />
der investieren möchte, könnt ihr den<br />
gern bei mir vorbeischicken!<br />
(alle lachen)<br />
Daniel Blechmann gründete 2008 sein<br />
Label Sopopular. Von Berlin aus arbeitet<br />
er für den internationalen Markt<br />
Und wie ist es mit Kooperationen?<br />
MD: Ich habe noch nicht viel<br />
Erfahrung mit Kooperationen. Zu<br />
deren 100. Firmenjubiläum habe<br />
ich beim Deichmann Design Atelier<br />
teilgenommen und Schuhe entworfen.<br />
Ansonsten kooperiere ich lieber<br />
mit Künstlern.<br />
DB: Bislang bin ich Kooperationen<br />
aus dem Weg gegangen. Zu Beginn<br />
bin ich sehr radikal gewesen. Ich<br />
wollte mein eigenes Ding machen und<br />
mit niemanden etwas zu tun haben.<br />
Interviews habe ich auch nicht<br />
gegeben. Das war Quatsch, das<br />
funktioniert nicht. Im Moment arbeite<br />
ich deshalb an zwei großen<br />
Kooperationen.<br />
Das heißt, der deutsche Markt ist für<br />
euch ökonomisch betrachtet im<br />
Grunde unerheblich?<br />
MD: Ehrlich gesagt ist mir der deutsche<br />
Markt nicht so wichtig. Ich konzentriere<br />
mich im Moment sehr auf Japan.<br />
Man muss nicht dort arbeiten, wo<br />
man verkauft.<br />
DB: Wir haben aktuell zwei neue<br />
Vertriebe und einen Showroom<br />
in Paris, der sich um den ganzen<br />
asiatischen Markt kümmert. Auch für<br />
uns ist der internationale Markt<br />
zurzeit wichtiger als der deutsche.<br />
In welchen Ländern verkauft ihr<br />
denn am besten?<br />
SG: Japan.<br />
MD: China.<br />
DB: Hongkong.<br />
26<br />
Was sagt ihr dazu, dass Herr von Eden<br />
von der Insolvenz bedroht ist und ein<br />
etabliertes Label wie Firma aufgibt?<br />
DB: Ich mache mir schon Gedanken<br />
dazu. Firma gibt es seit fast 20 Jahren<br />
und ich bin mir nicht sicher, ob sie<br />
insolvent sind oder einfach keine Lust<br />
mehr haben. Die beiden (Daniela<br />
Biesenbach und Carl Tillessen, Anm. d.<br />
Red.) haben sich sehr auf den deutschen<br />
Markt konzentriert und viele<br />
der Einzelhändler, die ihre<br />
„DAS MODE-<br />
BEWUSSTSEIN IN<br />
DEUTSCHLAND<br />
WÄCHST“<br />
DANIEL BLECHMANN<br />
Darf man schon verraten mit wem?<br />
Stammen die Partner aus dem<br />
Modebereich?<br />
DB: Nein, das darf ich leider nicht<br />
sagen. Aber es sind Modemarken<br />
– eine deutsche und eine internationale.<br />
Meine Identität auf dem<br />
Modemarkt ist mir mittlerweile<br />
wichtig. Daher kooperiere ich nur mit<br />
Marken, bei denen ich sicher bin,<br />
dass es zusammenpasst. Ich muss kein<br />
Celebrity sein oder mich vor jede<br />
Kamera stürzen. Und ich muss auch<br />
keine Teppiche oder Pralinen machen.<br />
Das bin nicht ich. Mir ist es wichtig,<br />
ein guter Designer zu sein und meine<br />
eigene Handschrift zu finden.<br />
VIELEN DANK AN PATRICK CHODURA<br />
VON SILK RELATIONS<br />
FOTO: VOO STORE<br />
23<br />
Gespräche mit<br />
Miguel Adrover / Walter Van Beirendonck / Bless / Pierre Cardin / Damir Doma / Michel Gaubert / Jean-Paul Goude / Iris van Herpen<br />
Nick Knight / Helmut Lang / Malcolm McLaren / Charlie Le Mindu / Willi Ninja / Rick Owens / Diane Pernet / Loïc Prigent<br />
Viviane Sassen / Raf Simons / Valerie Steele / Juergen Teller / Veruschka / Barbara Vinken / Bruce Weber / Bernhard Willhelm / Zaldy<br />
www.prestel.de
Melanie Constein (42) am Schreibtisch<br />
in ihrem Büro am Berliner<br />
Kurfürstendamm. Hinter ihr hängt ein<br />
Porträt der Schauspielerin<br />
Joan Collins – eine ihrer Ikonen<br />
INT E R V I EW: JOHA NNA D EMANT<br />
F OTOS: JULIA N E SPAET E<br />
DAS<br />
MÄNN<strong>ER</strong> _<br />
NEST<br />
Ihre Models laufen für Prada, Givenchy oder<br />
Louis Vuitton. Sie werben für Dior<br />
Homme, Hermès oder Balenciaga. Melanie<br />
Constein, geborene Nest, vermittelt<br />
mit ihrer Berliner Agentur Nest Model<br />
Management außergewöhnlich schöne Männer.<br />
200 international erfolgreiche Models stehen<br />
bei ihr unter Vertrag. Ein Gespräch mit<br />
einer Frau, die mit Männern Geld verdient<br />
28
Wie kam es dazu, dass du<br />
Modelagentin wurdest?<br />
Das war Zufall. Ein Freund von mir<br />
war bei einer großen Berliner<br />
Modelagentur unter Vertrag und der<br />
festen Überzeugung, dass ich das<br />
Zeug zu einer tollen Agentin hätte. Er<br />
stellte mich der Geschäftsführerin<br />
vor und kurz danach konnte ich anfangen.<br />
Das ist jetzt acht Jahre her.<br />
Seit 2011 führst du deine eigene<br />
Agentur und konzentrierst dich dabei<br />
ausschließlich auf Männer. Was hat<br />
dich dazu bewegt?<br />
Ich habe nicht unbedingt das gleiche<br />
Auge für Frauen wie für Männer.<br />
Ich würde zwar ein potenzielles<br />
weibliches Model auf der Straße erkennen,<br />
aber bei den Jungs fühlt es sich<br />
irgendwie selbstverständlicher an.<br />
Mir wird oft gesagt, ich solle doch auch<br />
Frauen in die Kartei aufnehmen, was<br />
naheliegt, da man mit ihnen auch<br />
besser verdient. Aber ich glaube nicht<br />
an den Erfolg von irgendetwas<br />
nebenbei. Und Frauen wären für mich<br />
etwas, das nebenbei passiert. Momentan<br />
habe ich gar nicht die Kapazitäten,<br />
um Frauen auf dem gleichen Niveau zu<br />
führen. Aber in der Zukunft ist<br />
natürlich nichts ausgeschlossen.<br />
Verdienen weibliche Models tatsächlich<br />
so viel mehr als männliche?<br />
Ja, die Unterschiede in der Bezahlung<br />
sind ziemlich groß. Aber Geld ist<br />
nicht mein Hauptantrieb. Ich als Frau<br />
finde es sogar super, dass wir<br />
wenigstens in dieser Branche mehr<br />
verdienen als Männer. Aber klar, für<br />
mich als Agentin macht es das<br />
nicht einfacher.<br />
Nest bedient fast nur den High-<br />
Fashion-Bereich. Auch das unterscheidet<br />
dich von anderen Agenturen.<br />
Stimmt. Wir haben im Grunde keine<br />
kommerziellen Models, die man für<br />
jeden Job verbuchen könnte. Und vor<br />
allem sind wir mit unseren 200 Jungs<br />
keine Riesenagentur. Aber das ist auch<br />
gut so. Die persönliche Hinwendung<br />
darf nicht verloren gehen.<br />
Wäre also ein Kommerzmodel wie<br />
Markus Schenkenberg bei dir in der<br />
Agentur nicht gut aufgehoben?<br />
Damals, in den 90ern, zu seiner besten<br />
Zeit, wäre er das bestimmt gewesen.<br />
Aber mittlerweile hat er viel an sich<br />
machen lassen – wahrscheinlich auch<br />
Schönheitsoperationen. Das ist<br />
schade. Ein älterer Mann ohne Falten<br />
und graue Haare sieht doch<br />
un natürlich aus.<br />
Gibt es überhaupt eine Altersgrenze<br />
für Männermodels?<br />
Viele können sich je nach Typ wirklich<br />
ein Leben lang halten. Unser Ältester<br />
ist 51 Jahre alt. Wir haben nur nicht<br />
mehr ältere Männer in der Kartei, weil<br />
die meisten Models durch ihre<br />
„PRADA<br />
FAVORISI<strong>ER</strong>T<br />
AND<strong>ER</strong>E TYPEN<br />
ALS JIL SAND<strong>ER</strong><br />
OD<strong>ER</strong> GUCCI“<br />
langjährige Karriere schon ihren Platz<br />
in einer anderen Agentur gefunden<br />
haben. Nest ist noch jung. Und auf<br />
unserem Level reife Männer zu<br />
vertreten ist somit schwieriger. Ich<br />
denke, in einigen Jahren wird das<br />
anders aussehen. Die meisten Männer,<br />
die wir haben, sind sehr klassisch. Sie<br />
werden sich auch noch später im<br />
gehobenen Segment vermitteln lassen.<br />
Was wäre denn das perfekte Alter,<br />
um zu beginnen?<br />
Bei Jungs geht es später los als bei<br />
Mädchen. Mädchen fangen ja teilweise<br />
schon mit 14 Jahren an. Im Durchschnitt<br />
sind die Jungs eher 19 oder 20<br />
Jahre alt. Es gibt auch welche, die mit<br />
16 starten, aber das ist eher die<br />
Ausnahme.<br />
Wo findest du deine<br />
Nachwuchsmodels?<br />
Meistens dort, wo man es nicht<br />
vermutet. An der Supermarktkasse<br />
oder auf dem Weg zum Zahnarzt.<br />
Oft auch in Skateparks, auf Basketballfeldern<br />
oder Sportplätzen.<br />
Grundsätzlich laufe ich immer mit<br />
offenen Augen durch die Welt.<br />
In meiner Mittagspause treffe ich sie<br />
dann bestenfalls ganz unvorhergesehen<br />
in der Fußgängerzone mit der<br />
Mutter beim Einkaufen.<br />
Und wie werden die Labels und<br />
Magazine dann auf sie aufmerksam?<br />
Wenn wir ein Model ganz neu gefunden<br />
haben, wenden wir uns direkt an den<br />
Kunden. Gut ist, wenn so eine Exklusivbuchung<br />
zustande kommt. Was heißt,<br />
dass das Model zum ersten Mal durch<br />
den Designer gezeigt wird. Mit der Zeit<br />
bekommt man auch ein Gefühl dafür,<br />
welcher Typ zu welchem Kunden passt.<br />
Prada favorisiert andere Typen als<br />
Jil Sander oder Gucci.<br />
Von Berlin aus sendet ihr die Jungs<br />
dann in die ganze Welt.<br />
Richtig. Durch Partneragenturen<br />
platzieren wir unsere Models<br />
im Ausland. So wird der Kundenstamm<br />
auch größer. Aber wir<br />
suchen sehr selektiv aus. Welcher<br />
Agent von welcher Agentur passt zu<br />
welchem Jungen? Das wird sehr<br />
indi viduell entschieden. Ich lege sehr<br />
viel Wert darauf, dass sich die<br />
Jungs wohlfühlen.<br />
Melanie Constein mag Céline,<br />
Modezeitschriften und Kakteen –<br />
letztere aber nur, weil man<br />
sie nur selten gießen muss<br />
Das klingt so, als wären sie wie deine<br />
Kinder.<br />
Man entwickelt tatsächlich eine<br />
starke persönliche Bindung zu ihnen.<br />
Es ist wahnsinnig aufregend, diese<br />
jungen Menschen zu begleiten.<br />
Sie kommen nach Berlin, um zu<br />
studieren, laufen mir über den Weg und<br />
wenig später leben sie plötzlich<br />
in New York, Mailand oder Paris.<br />
Dennoch finde ich es wichtig, dass sie<br />
ihre Ausbildung fortsetzen.<br />
Das Modeln lässt sich sehr gut mit<br />
einem Studium verbinden.<br />
Viele Models halten dem Druck der<br />
Branche nicht stand. Wirst du mit<br />
Problemen wie Magersucht<br />
konfrontiert?<br />
Ich habe zum Glück noch nie einen<br />
Verdacht gehabt. Hätte ich einen, würde<br />
ich sofort das Gespräch suchen. Die<br />
Gesundheit der Jungs liegt mir sehr am<br />
Herzen. Es besteht überhaupt keine<br />
Notwendigkeit zu hungern.<br />
Sie müssen vielleicht hier und da etwas<br />
Sport treiben, um ihren Körper zu<br />
definieren, aber das reicht. Der junge<br />
männliche Körper ist meistens von<br />
Natur aus schon schlank genug,<br />
um den erforderlichen Maßen zu<br />
entsprechen. Zu dünn dürften sie gar<br />
nicht sein. Das ist auch ein Grund,<br />
warum ich mich mit dem Management<br />
von Mädchen schwer tue. Du weißt<br />
nie, wie sie zu ihrer Figur kommen.<br />
Wie bereitest du die Jungs auf ihren<br />
ersten Job vor?<br />
Anfangs reagieren sie total überrascht,<br />
dass man sie überhaupt anspricht.<br />
Wenn sie dann in die Agentur kommen,<br />
erklären wir ihnen alles sehr<br />
behutsam, denn der Einstieg in die<br />
Modelbranche ist sehr komplex.<br />
Wie ein Casting und ein Shooting<br />
abläuft, wie sie sich gegenüber Kunden<br />
verhalten sollen und auch, dass sie<br />
nicht alles mitmachen müssen –<br />
bis auf die Unterhosen ausziehen zum<br />
Beispiel. Wir geben ihnen vor allem<br />
Selbstbewusstsein.<br />
Was meinst du, finden sich deine<br />
Models selbst gutaussehend?<br />
Ich glaube, zu Beginn oft tatsächlich<br />
nicht. Aber die meisten entwickeln<br />
irgendwann ein ganz neues Bewusstsein<br />
für sich selbst, was sich auch in ihrem<br />
Kleidungsstil widerspiegelt. Ich bin<br />
immer wieder erstaunt, wie schnell sich<br />
ihr Interesse für Mode verändert und<br />
wie viel sie dann plötzlich meinen,<br />
davon zu verstehen.<br />
Wie lange dauert es in der Regel, bis<br />
ein Neuzugang das erste Mal gebucht<br />
wird?<br />
Manchmal nur wenige Tage. Dann<br />
nennen die Jungs ganz schnell alle um<br />
sich herum beim Vornamen und<br />
sprechen nicht mehr von Olivier Rizzo,<br />
dem Stylisten, sondern von Olivier.<br />
Und es ist nicht mehr Willy Vanderperre,<br />
der Fotograf, sondern der Willy.<br />
Das ist sehr amüsant. Aber umso<br />
wichtiger ist es, sie zu erden. Ich fühle<br />
mich verpflichtet, sie darauf hinzuweisen,<br />
dass sie sich gerade in einer<br />
Situation befinden, die nicht immer<br />
selbstverständlich ist.<br />
In deinem beruflichen Umfeld<br />
umgibst du dich nur mit Männern,<br />
aber privat liebst du eine Frau.<br />
Zufall?<br />
Irgendwo müssen sie ja hin, die<br />
Männer (lacht).<br />
30 Werk VI 31
Viele dieser Gesichter sieht man<br />
in London, Mailand und Paris<br />
auf dem Laufsteg. Rechts: Auch<br />
für andere schöne Dinge hat<br />
die Modelagentin einen Blick<br />
Mit welchen Augen siehst du das<br />
männliche Geschlecht?<br />
Ich sehe Männer jedenfalls nicht<br />
sexualisiert. Obwohl ich durchaus<br />
sagen kann, wenn ich jemanden sexy<br />
finde. Aber sicherlich betrachte ich<br />
Männer nicht so wie andere Frauen.<br />
Hast du ein persönliches Schönheitsideal?<br />
In deiner Kartei jedenfalls<br />
finden sich viele ähnliche Typen.<br />
Sie sind alle auf ihre besondere<br />
Art speziell und einzigartig. Aber<br />
privat würde ich niemals in solchen<br />
Kategorien denken. Ich kann auch<br />
einen Mann unheimlich schön finden,<br />
wenn er weit davon entfernt ist, ein<br />
Model sein zu können. Aber wenn ich<br />
mir einen stereotypen Berlin-<br />
Mitte-Typ mit Bart vorstelle, ist das<br />
meiner Meinung nach eher<br />
eine plakative Angelegenheit als ein<br />
Attraktivitätsfall.<br />
Der Designer Hedi Slimane hat bei<br />
Dior durch seinen Slim-Cut die<br />
Silhouette des Mannes nachhaltig<br />
verändert. Perfekt ist seither die Größe<br />
48. Wie wird Mode in Zukunft das<br />
Männerbild beeinflussen?<br />
Das ist schwer zu sagen. Vor sieben<br />
Jahren war es zum Beispiel noch<br />
ein Riesenproblem, wenn jemand 1,93<br />
Meter groß war. Heute gibt es diese<br />
Models. Ein überdurchschnittlich<br />
großer Mann ist kein absolutes K.o.-<br />
Kriterium mehr.<br />
Wird die gefragte Androgynität auf<br />
lange Sicht schwinden?<br />
Das ist abhängig von den Designern.<br />
Die meisten Showjungs sind<br />
nach wie vor sehr schmal und jung im<br />
Gegensatz zu den Kampagnen -<br />
männern. Momentan koexistieren beide<br />
Einflüsse nebeneinander.<br />
Deine Models laufen kaum bis gar<br />
nicht auf der Berliner Fashion Week.<br />
Woran liegt das?<br />
Das ist sehr schade. Ich wünschte,<br />
es wäre anders. Aber dafür<br />
bräuchten wir die entsprechenden<br />
Schauen, bei denen sie entweder gut<br />
bezahlt werden oder Prestige<br />
bekommen. Um ehrlich zu sein fehlen<br />
hier die Jobs, die sie in irgendeiner<br />
Form in ihrer Karriere weiterbringen.<br />
Für Frauen ist es mittlerweile lukrativer,<br />
aber für Männer ist es leider noch nicht<br />
so. Es wäre gut für den Standort meiner<br />
Agentur, hier Models zu zeigen. Doch<br />
meine internationalen Jungs extra<br />
dafür einzu fliegen, lohnt sich nicht. Für<br />
sie würde es nichts bringen.<br />
Bezahlt Berlin denn so schlecht?<br />
Pointless. Ja.<br />
Was heißt schlecht?<br />
Schlecht heißt, 50 bis 150 Euro<br />
pro Show. Und man darf nicht vergessen,<br />
dass es hier einfach nicht<br />
so viele Schauen für Männermode gibt.<br />
Wenn wir 20 hätten, würde es anders<br />
aussehen. Ich würde die Berliner<br />
Fashion Week wirklich gern mehr<br />
unterstützen, aber sie muss sich definitiv<br />
noch stärker entwickeln.<br />
Was macht die Berliner Fashion Week<br />
falsch?<br />
Falsch ist schon mal, sie zeitgleich zur<br />
Pariser Fashion Week stattfinden<br />
zu lassen. Das ist der signifikanteste<br />
Fehler. Da darf man sich nicht<br />
wundern, wenn kaum Presse erscheint<br />
und wenige gute Models laufen<br />
können. Darüber sollte man mal nachdenken.<br />
Außerdem muss hier<br />
überhaupt erst ein Umfeld geschaffen<br />
werden, das für die jungen Labels<br />
attraktiv ist. Die Schauen im Rahmen<br />
der Mercedes -Benz Fashion Week<br />
sind so immens teuer, dass talentierte<br />
Nachwuchs designer kaum eine<br />
Präsentation ihrer Mode realisieren<br />
können. Für mich sieht es am<br />
Ende wie eine Werbeveranstaltung für<br />
einzelne Partner aus. Und das ist der<br />
falsche Weg.<br />
Trotzdem hast du Berlin als Standort<br />
für deine Agentur gewählt.<br />
Aber aus so vielen anderen Gründen.<br />
Meine Agentur ist hier, weil die Nische<br />
frei war. In Berlin war noch Raum,<br />
um diese Art von Agentur zu etablieren.<br />
Ich bin natürlich aufgrund meiner<br />
internationalen Kunden auch viel<br />
unterwegs, aber Berlin ist die einzige<br />
Stadt, in der ich mir momentan wirklich<br />
vorstellen kann zu leben. Man<br />
entscheidet sich für Berlin. Das macht<br />
auch die Vielfalt und die verschiedenen<br />
Einflüsse aus. Das finde ich toll.<br />
Siehst du Berlin als Modestadt?<br />
Ich sehe Deutschland nicht als<br />
Modeland.<br />
Deutsche Mode – gibt es das<br />
überhaupt?<br />
Es gibt tolle deutsche Designer,<br />
aber die verlassen uns leider früher oder<br />
später. Da sind wir wieder bei dem<br />
Punkt: Man muss jungen Talenten<br />
etwas bieten, damit sie bleiben und wir<br />
endlich eine Mode kultur entwickeln<br />
können.<br />
Warum bist du in Deutschland außer<br />
Konkurrenz?<br />
Weil viele in erster Linie ihr Business<br />
machen, um Geld zu verdienen.<br />
Ich mache es aus Leidenschaft.<br />
Gibt es jemanden in der internationalen<br />
Agenturlandschaft, der<br />
ähnliche Standpunkte vertritt?<br />
Was John Casablancas mit seiner<br />
Agentur Elite geschaffen hat, finde ich<br />
bemerkenswert. Er hat viele der ganz<br />
großen Supermodels rausgebracht.<br />
Casablancas hatte immer seinen eigenen<br />
Kopf, war charakterfest in seinen<br />
Ansichten und hat sich von Kunden<br />
kaum einschüchtern lassen. Durch seine<br />
Person und Strategie hat er den Wert<br />
der Models potenziert. Das finde ich<br />
großartig.<br />
Hörst du nur auf deine eigene<br />
Intention, oder gibt es auch den ein<br />
oder anderen Ratschlag, den du<br />
befolgst?<br />
Meine liebe Ehefrau Rike hat mal zu mir<br />
gesagt: „You always have to have a point<br />
of view.“ Man sollte immer eine gewisse<br />
Überzeugung haben und seine<br />
Ansichten vertreten können. Wenn<br />
„ICH SEHE<br />
MÄNN<strong>ER</strong> NICHT<br />
SEXUALISI<strong>ER</strong>T“<br />
man die nicht hat, kann man alles<br />
vergessen. Rike hat mich ermutigt, mich<br />
mit der Agentur selbstständig zu<br />
machen. Zuerst habe ich viel gezweifelt:<br />
Mache ich das richtig? Kann man davon<br />
leben? Aber sie hatte recht. Es kommen<br />
gute Dinge zu einem, auch wenn man<br />
nicht immer mit dem Strom schwimmt.<br />
Du selbst kleidest dich sehr modisch.<br />
Was ist dein Lieblingskleidungsstück?<br />
Oh Gott, ich habe so viele. Ich besitze<br />
eine regelrechte Sammlung von<br />
schwarzen und weißen Blusen. Und wie<br />
fast jede Frau mag ich Schuhe. Ich<br />
trage im Grunde aber nur Brogues und<br />
Loafer. Meine Hosenmarke trage ich<br />
schon seit Jahren. Immer das eine<br />
Modell, aber in zehn verschiedenen<br />
Ausführungen. Meine Frau lacht schon<br />
darüber. Wenn ich mir etwas Neues<br />
kaufe, ist sie überzeugt, dass es längst im<br />
Schrank hängt. Ich schätze Menschen<br />
mit Stil, mehr als jene, die jeden Trend<br />
mitmachen, ungeachtet, ob er ihnen<br />
steht oder nicht. Ich liebe klassische<br />
Kleidung, mag Qualität und auch den<br />
Akt des Anziehens sehr. Aber mein<br />
Lieblingskleidungsstück? Das kann ich<br />
nicht sagen.<br />
Welches Modelabel ist dein Favorit?<br />
Céline ist mein Ruin (lacht). Ich<br />
finde nur den Hype furchtbar, den<br />
so viele auf einmal um das Label<br />
veranstalten. Für mich machen die<br />
Details der Kollektionen die Kleidung<br />
spannend. Und ich schätze die<br />
hochwertigen Materialen und die<br />
Passform der Sachen. Sie sind wie für<br />
mich gemacht. Ich würde viel mehr<br />
davon kaufen, wenn ich es mir leisten<br />
könnte.<br />
Hast du ein Laster? Von der Mode<br />
mal abgesehen.<br />
Essen. Gesunde Ernährung ist für<br />
mich eine bewusste Entscheidung,<br />
über die ich mir jeden Tag Gedanken<br />
mache. Wenn ich nicht darauf achten<br />
würde, würde ich wahrscheinlich<br />
aussehen wie Alber Elbaz (Lanvin-<br />
Chefdesigner, Anm. d. Red.). Eine<br />
ähnliche Brille habe ich ja schon.<br />
Letzte Frage: Wenn du für einen<br />
Tag ein Mann sein könntest, was<br />
würdest du tun?<br />
Sex. Jemand, der etwas anderes sagt,<br />
lügt (lacht).<br />
32 Werk VI 33
Jeansjacke: American Apparel<br />
Shirt: Schiesser<br />
Shorts: Schmidttakahashi<br />
Schuhe: Nike<br />
Socken: Kappa<br />
Uhr: G-Shock<br />
#WHATCORE?<br />
Ein Trend beschäftigt die Modewelt: Normcore. Nicht mehr experimentell und<br />
individuell, sondern hardcore normal soll es jetzt sein. Doch was ist schon normal?<br />
Eine Strecke mit vermeintlich herkömmlichen Kleidungsstücken<br />
FOTOS MORITZ SCHMID<br />
PRODUKTION J OHA NNA DEMA NT & A L E XAND<strong>ER</strong> V ETT<strong>ER</strong><br />
M ODEL J ESCO S CHÄF<strong>ER</strong>/VIVA MODEL S<br />
H A ARE & MAKE-UP CLAUDIA RUN G E<br />
F OTOASSISTENZ JANOSCH W EISS<br />
HUHN AGATHE<br />
34 Werk VI 35
Jacke: Julian Zigerli<br />
Hemd: Sissi Goetze<br />
Hose & Bauchtasche: American Apparel<br />
Sonnenbrille: Funk Eyewear<br />
Sweatshirt: Popgold<br />
Hose: Dockers Hose: G-Star Raw<br />
Cap: American Apparel Cap: MCM<br />
T-Shirt & Turnbeutel: Zur Anprobe<br />
Schuhe:<br />
Handtuch:<br />
Birkenstock<br />
American Apparel<br />
Socken: American Socken: Apparel Filippa K<br />
Uhr: G-Shock Schuhe: Adidas<br />
36 Werk VI 37
Hose und Jacke mit integriertem<br />
Rucksack: Julian Zigerli<br />
T-Shirt: Fruit of the Loom<br />
Schuhe: Birkenstock<br />
38 Werk VI 39
Links<br />
Fleecejacke: Uniqlo<br />
Poloshirt: Fred Perry<br />
Rechts<br />
Sweatshirt: Ecko Unltd.<br />
Hose: Sopopular<br />
Cap: Topman<br />
Schuhe: Adidas<br />
Socken: Kappa<br />
40 Werk VI 41
Hose: G-Star Raw<br />
Cap: MCM<br />
T-Shirt & Turnbeutel: Zur Anprobe<br />
Schuhe: Adidas<br />
Socken: Filippa K<br />
Handtuch: American Apparel<br />
42 Werk VI 43
MUTT<strong>ER</strong>S<br />
SÖHNCHEN<br />
Mama ist die Beste. Und weil das so ist, haben<br />
wir uns mit Müttern über ihre Söhne<br />
unterhalten – und dabei erfahren, wie sechs<br />
kleine Jungs zu dem wurden, was sie<br />
heute sind: talentierte und erfolgreiche Künstler<br />
Cyril in seinem<br />
Atelier in Friedrichshain.<br />
Hier entsteht,<br />
was später auf der<br />
Straße zu sehen ist<br />
INT<strong>ER</strong>VIEWS: MATHILDA KALISZCZYK<br />
FOTOS: ALEXAND<strong>ER</strong> JED<strong>ER</strong>MANN<br />
1985: Cyril auf dem<br />
Schoß seiner Mutter<br />
Brigitte, mit Oma Gilda<br />
CYRIL VOUILLOZ aka Rylsee kommt ursprünglich<br />
aus Genf, lebt allerdings seit 2012 in Berlin.<br />
Der 29-jährige Künstler arbeitet hauptsächlich mit<br />
Typographie und Wandmalerei. Street Art ist<br />
seine Leidenschaft. Seine Arbeiten wurden international<br />
ausgestellt – u.a. in Frankreich, den USA,<br />
England und Brasilien. Momentan arbeitet er im<br />
Urban Spree, einem Zentrum für urbane Kunst<br />
und Kultur in Berlin. Seine Mutter Brigitte Vouilloz<br />
(61) wusste im Gegensatz zu ihrem Sohn schon<br />
immer, dass er nur eins werden kann: Künstler.<br />
Frau Vouilloz, was für ein Kind war<br />
Cyril?<br />
Er war der absolute Anführer.<br />
Den Kopf immer voller Ideen und<br />
ständig unterwegs.<br />
Der Held seiner Kindheit war?<br />
Raphael von den Ninja Turtles.<br />
Hat er sich damals schon für<br />
Kunst interessiert?<br />
Nicht direkt für Kunst, aber für<br />
Zeichnungen jeglicher Art.<br />
Vor allem von Buchstaben war er<br />
begeistert. Mit ungefähr zehn Jahren<br />
kam dann die Street Art dazu.<br />
Welchen Berufswunsch hatte<br />
Cyril als Kind?<br />
Zeichner.<br />
War er früher ein illegaler Sprayer?<br />
Gab es zu Hause Ärger deswegen?<br />
Ja, war er. Illegal ist immer besser,<br />
wegen dem Adrenalin! Ärger gab es<br />
deswegen eigentlich nicht.<br />
Ich wollte einfach nichts davon wissen.<br />
Das einzige, was ich ihm strengstens<br />
verboten habe, war, alte Züge und<br />
Waggons zu besprühen.<br />
Das war zu gefährlich wegen der<br />
Elektrizität. Ich habe den Kindern auch<br />
immer gesagt: Ich hole euch auf jeden<br />
Fall NICHT von der Polizeistation ab.<br />
Ihr müsst gar nicht erst anrufen!<br />
Ob das etwas gebracht hat, weiß ich<br />
nicht genau.<br />
Womit hat Cyril Sie in den<br />
Wahnsinn getrieben?<br />
Eigentlich hat er das nie gemacht. Er<br />
sagte immer nur „Ja, Mama“.<br />
Aber im Endeffekt hat er doch nur das<br />
getan, was er wollte.<br />
Was war das Verrückteste, was Ihr<br />
Sohn jemals gemacht hat?<br />
Das Schlimmste war für mich, als er<br />
sich betrunken mit einer erhitzten<br />
Büroklammer eine „12“ aufs<br />
Bein gebrannt hat! Danach hatte<br />
er beinahe eine Blutvergiftung.<br />
Wie finden Sie seine Arbeiten?<br />
Die werden immer besser und sind so<br />
verschieden! Cyril kann alles machen.<br />
Haben Sie in Ihrer Wohnung Kunst<br />
von Ihrem Sohn?<br />
Ja, ich hatte schon immer sehr viele<br />
Zeichnungen von ihm zu Hause<br />
hängen.<br />
Sind Sie zufrieden mit seiner<br />
Berufswahl?<br />
Schon als er 15 Jahre alt war, wollte ich,<br />
dass er auf die Kunstschule geht. Aber<br />
Cyril wollte nichts davon wissen.<br />
Er fing eine Ausbildung in einem<br />
Skater-Shop an, zeichnete aber<br />
nebenher immer weiter. Eines Tages<br />
hat er sich dann doch dazu entschieden,<br />
Künstler zu werden. Und ich bin<br />
sehr glücklich darüber.<br />
Seine größte Schwäche/Stärke?<br />
Cyril möchte immer alles auf einmal<br />
machen. Wenn er arbeitet, verliert er<br />
jegliches Zeitgefühl. Seine Stärken sind,<br />
dass er sehr ernsthaft, präzise und<br />
ruhig arbeitet. Er ist sehr geduldig.<br />
Gibt es eine Anekdote vom<br />
kleinen Cyril?<br />
Wenn wir früher in ein Restaurant<br />
gegangen sind und Cyril gelangweilt<br />
oder zu laut war, habe ich ihm immer<br />
ein Blatt Papier und einen Stift<br />
gegeben, dann war er stundenlang<br />
ruhig. Das ist heute immer noch so.<br />
Was wünschen Sie sich am meisten<br />
für Ihren Sohn?<br />
Dass er glücklich ist und immer so viel<br />
Spaß an seiner Arbeit hat. Und dass er<br />
bekannt wird. Weltweit!<br />
44 Werk VI 45
VLADIMIR KARALEEV stammt aus Sofia, der<br />
Hauptstadt Bulgariens. Mit 19 Jahren kam er nach<br />
Berlin, um Modedesigner zu werden. Seit 2006<br />
leitet er erfolgreich sein gleichnamiges Label. Seine<br />
Entwürfe sind avantgardistisch, die Schnittführung<br />
experimentell. Seine Mutter Snejana Karaleev (58)<br />
erkannte sein großes Talent schon sehr früh und<br />
erklärt uns, warum Bulgarien nicht der richtige Ort<br />
für die Karriere ihres Sohnes gewesen wäre.<br />
1988: Oliver mit<br />
seiner Mutter Evelyn<br />
in Gibraltar …<br />
… und 2014 in<br />
seiner eigenen<br />
Galerie in der<br />
Rosenthaler<br />
Straße 66<br />
1987: Vladimir an<br />
seinem 6. Geburtstag<br />
mit Mutter Snejana<br />
OLIV<strong>ER</strong> RATH (36) lebt und arbeitet<br />
in Berlin. Der gebürtige Heidelberger<br />
begann seine Karriere mit<br />
Porno-Rap, versuchte sich zwischendurch<br />
als Piercer und landete<br />
schlielich bei der Fotografie.<br />
Heute zählt er zu den erfolgreichsten<br />
Foto-Bloggern Deutschlands.<br />
Mutti Evelyn Kramer (68) ist<br />
stolz – auch wenn die meisten<br />
Modelle ihres Sohnes nackt vor der<br />
Kamera posieren.<br />
In Vladimirs Atelier<br />
entsteht gerade die<br />
Sommerkollektion<br />
2015<br />
Frau Kramer, was für ein Kind<br />
war Oliver: Einzelgänger oder<br />
Klassenclown?<br />
Ein Einzelgänger.<br />
War er ein Muttersöhnchen?<br />
Nein.<br />
Was hat ihn Ihrer Meinung nach am<br />
glücklichsten gemacht als Kind?<br />
Kreativ und wild zu sein.<br />
Wer war der Held seiner Kindheit?<br />
Mein Vater, sein Opa, den er<br />
aber nie kennengelernt hat. Die<br />
tollen Geschichten, die er von uns<br />
über ihn erzählt bekam, haben<br />
Oliver total fasziniert. Mein Vater<br />
war Komponist, sehr beliebt<br />
und umschwärmt von vielen Frauen.<br />
Welche Eigenschaft hat Oliver<br />
definitiv von Ihnen?<br />
Seine charmante Art.<br />
Seine größte Schwäche/Stärke?<br />
Er ist kein guter Verlierer und<br />
kann sehr aufbrausend sein.<br />
Das Kreative ist seine Stärke –<br />
und dass er nicht nachtragend ist.<br />
Sein Berufswunsch als Kind?<br />
Musiker.<br />
Waren Sie zufrieden mit seiner<br />
Entscheidung, Fotograf zu werden<br />
oder hatten Sie Bedenken?<br />
Nein, ich hatte überhaupt keine<br />
Bedenken und habe mich sehr darüber<br />
gefreut. Mein Vater hat auch<br />
sehr gern fotografiert.<br />
Womit hat Oliver Sie in die Verzweiflung<br />
getrieben?<br />
Mit seinem Eigensinn. Er hat immer<br />
gemacht, was er wollte. Vor allem<br />
sein erstes Tattoo gefiel mir überhaupt<br />
nicht.<br />
Womit hat er Sie stolz gemacht?<br />
Er hat immer alles geschafft,<br />
was er sich vorgenommen hat, und<br />
immer alles selbst in die Hand<br />
genommen. Und natürlich bin ich<br />
stolz darauf, dass er mit dem,<br />
was er tut, erfolgreich ist.<br />
Können Sie sich erklären, woher er die<br />
Vorliebe für Nacktaufnahmen hat?<br />
Das habe ich mich auch schon gefragt.<br />
Hängt bei Ihnen Zuhause<br />
Oliver-Rath-Fotografie?<br />
Ja, natürlich.<br />
Was war für Sie persönlich der<br />
aufregendste Augenblick in Olivers<br />
Karrierelaufbahn?<br />
Als er – noch als Rapper – zum<br />
„New Pop Artist of the Year“<br />
vom SWR3 gekürt wurde. Da durften<br />
wir in dem tollen Parkhotel in Baden-Baden<br />
übernachten und auf dem<br />
Festivalgelände wurden auf großen<br />
Leinwänden Interviews<br />
mit ihm gezeigt – das war einfach toll.<br />
Besuchen Sie ihn manchmal in Berlin?<br />
Ja, öfter sogar. Dann gehen wir<br />
ins Nikolaiviertel und zum<br />
Gendarmenmarkt oder durch den<br />
Prenzlauer Berg.<br />
Was wünschen Sie sich am meisten für<br />
Ihren Sohn?<br />
Gesundheit, weiterhin Erfolg, weniger<br />
Stress. Dass er immer machen kann,<br />
was er möchte und sich kreativ<br />
weiterentwickeln kann.<br />
Frau Karaleev, was für ein Kind war<br />
Vladimir?<br />
Ein Klassenclown.<br />
Wer war der Held seiner Kindheit?<br />
Der König der Löwen.<br />
Was hat ihn am glücklichsten<br />
gemacht als Kind?<br />
Das Malen und das Zeichnen.<br />
Dann stand sein Berufswunsch<br />
wahrscheinlich schon früh fest?<br />
Ja. Er wollte immer Modedesigner<br />
werden und hat ständig Modeskizzen<br />
gezeichnet.<br />
Waren Sie damit zufrieden oder<br />
haben Sie sich einen anderen Beruf<br />
für ihn gewünscht?<br />
Nein, habe ich nicht. Er hat schon<br />
als Kind angedeutet, dass er etwas mit<br />
Mode zu tun haben wird. Ich wusste,<br />
dass ihm genau das am meisten<br />
Spaß bereitet.<br />
Was hat Vladimir gern getragen?<br />
Und wann fing er an, seine Sachen<br />
selbst auszusuchen?<br />
Schon als Kind hat er seine Kleidung<br />
selbst ausgesucht. Später hat er die<br />
Sachen so umgeändert, dass sie noch<br />
cooler aussahen. Er wollte nie<br />
spießig und immer etwas verrückter<br />
als die anderen aussehen.<br />
Woher kam diese<br />
Modebegeisterung?<br />
Er war damals viel mit meiner<br />
jüngeren Schwester unterwegs. Sie<br />
war sehr modebewusst und hat<br />
viel selbst genäht, auch für ihn. Ich<br />
glaube, das hat ihn sehr beeinflusst.<br />
Und wie viel Einfluss seiner Heimat<br />
Bulgarien sehen Sie in der Mode<br />
Ihres Sohnes?<br />
Ich denke, er wollte sich immer vom<br />
konservativen Geschmack in Bulgarien<br />
abheben. In seiner Mode sehe ich die<br />
Sehnsucht nach Freiheit. Er wollte<br />
einfach alles anders machen, als es hier<br />
gewünscht ist.<br />
Womit hat er Sie am meisten stolz<br />
gemacht?<br />
Als ich zum ersten Mal zu seiner<br />
Show nach Berlin kam und er sich am<br />
Ende verbeugt hat, war ich so<br />
stolz, dass ich seine Mutter bin!<br />
Tragen Sie Vladimir Karaleev?<br />
Mit großem Stolz und dem größten<br />
Vergnügen!<br />
Seine größte Schwäche?<br />
Er mag keine Deadlines, manchmal ist<br />
er sehr chaotisch und macht immer, was<br />
er will. Egal, was ich sage.<br />
Welche Eigenschaft hat er definitiv<br />
von Ihnen?<br />
Seinen Humor und sein Gefühl für<br />
Verantwortung, denke ich.<br />
Das schönste Geschenk, das Sie von<br />
Vladimir bekommen haben?<br />
Das erste Kleid, das er speziell für mich<br />
genäht hat. Ich habe mich so besonders<br />
gefühlt.<br />
Was wünschen Sie sich am meisten<br />
für Ihren Sohn?<br />
Dass er sehr glücklich in seinem Leben<br />
wird.<br />
46 Werk VI 47
MARCEL DETTMANN (36) ist ein Berliner DJ und Produzent,<br />
der regelmig im Berghain auegt und auf dem Label<br />
Ostgut Ton veröffentlicht. Kompromissloser Techno –<br />
so könnte man seinen Stil benennen. Dafür hat er sich mit<br />
seinem eigenen Label MDR eine weitere Plattform<br />
geschaffen. Seine Mama Martina Dettmann (59) lebt im<br />
brandenburgischen Fürstenwalde. Sie würde ihren<br />
Sohn gern mal an den Turntables im Berghain besuchen.<br />
Hien mag es<br />
ordentlich und<br />
diszipliniert – das<br />
sieht man auch<br />
seiner Mode an<br />
1980: Hien auf<br />
dem Arm seiner<br />
Mutter Thi, mit<br />
Vater und Bruder<br />
in Laos<br />
1978: Der kleine<br />
Marcel auf dem<br />
Arm seiner Mutter<br />
Martina<br />
Marcel in seiner<br />
Wohnung im<br />
Prenzlauer Berg.<br />
Hier lebt er mit Frau<br />
und Kind<br />
Frau Dettmann, wie war Marcel als<br />
Kind?<br />
Sehr gesellig. Er hatte immer gern<br />
Leute um sich und hat viel<br />
mit Freunden unternommen.<br />
Wo hat er sich denn so<br />
rumgetrieben?<br />
Er hat mit den anderen Kindern<br />
in den Wäldern Cowboy und Indianer<br />
gespielt – sein Held war Old<br />
Shatterhand. Später ist er Skateboard<br />
gefahren und hat sehr viel Sport<br />
getrieben, wie z. B. Fußball und dann<br />
Judo – da war er dann sogar<br />
auch einmal DDR-Meister, glaube ich.<br />
Womit hat er Sie zur Verzweiflung<br />
getrieben?<br />
Er wollte immer nur das machen, was<br />
ihm Spaß macht. Nach der Schule<br />
hat er eine Ausbildung nach der<br />
anderen angefangen und wieder<br />
abgebrochen. Später hatte er dann<br />
einen kleinen Schallplattenhandel, den<br />
er von unserem Haus aus betrieben<br />
hat. Ständig waren Leute da … und es<br />
wurde so viel geraucht,<br />
das fand ich schrecklich. Ich bin<br />
Nichtraucherin.<br />
Womit hat er Sie stolz gemacht?<br />
Mit seiner kleinen Familie: seiner<br />
tollen Ehefrau und vor allen Dingen<br />
meinem kleinen Enkelkind.<br />
Was wollte er als Kind werden?<br />
Soweit ich mich entsinnen kann, wollte<br />
er im Kindergarten Bäcker werden,<br />
weil er sehr gern Kuchen gegessen hat.<br />
Als er allerdings herausfand, dass er<br />
dann sehr früh aufstehen muss, hat er<br />
schnell das Interesse verloren. Und<br />
später im Schulalter wollte er am<br />
liebsten immer nur Sport machen – bis<br />
die Musik und die Mädchen kamen.<br />
Was halten Sie von seinem heutigen<br />
Beruf?<br />
Hauptsache, er ist gesund und<br />
glücklich und macht das, was ihn<br />
erfüllt. Ich könnte mir ihn heute<br />
definitiv in keinem anderen Beruf<br />
mehr vorstellen, er macht seinen Job<br />
zu 100 Prozent!<br />
Waren Sie schon mal im Berghain?<br />
Nein, bisher leider noch nicht. Aber<br />
ich würde natürlich sehr gerne<br />
mal hingehen. Vielleicht nimmt<br />
Marcel mich eines Tages ja mal mit.<br />
Techno ist für Sie ...<br />
... eine moderne, sehr interessante Art<br />
von Musik.<br />
Was für Musik hörte Marcel als<br />
Teenager?<br />
Ich weiß, dass seine Lieblingsband<br />
Depeche Mode war. Dementsprechend<br />
sah er zu der Zeit auch aus.<br />
In der Technoszene werden ja<br />
bekanntlich viele Drogen konsumiert.<br />
Hatten Sie damit Probleme?<br />
Ich kann mich nur noch daran<br />
erinnern, dass eines Tages meine<br />
elektrische Kaffeemühle<br />
verschwunden ist. Die ist auch nie<br />
wieder aufgetaucht. Heute kann<br />
ich mir denken, warum …<br />
Frau Le, was für ein Kind war Hien?<br />
Er war schon eher ruhig, hatte aber viele<br />
Freunde und war, soweit ich mich<br />
erinnern kann, auch ziemlich beliebt.<br />
Was hat ihn Ihrer Meinung nach<br />
damals am glücklichsten gemacht?<br />
Die Fischboulette in der Markthalle,<br />
nachdem ich ihn von der<br />
Schule abgeholt habe.<br />
Hatte er damals schon einen<br />
Berufswunsch?<br />
Als Kind wollte er immer hungernden<br />
Kindern helfen. Deshalb dachte<br />
ich, er wird mal etwas im sozialen<br />
Bereich machen oder Arzt<br />
werden. Aber das Interesse für Mode<br />
war recht früh da.<br />
Wie hat sich das gezeigt?<br />
Ich habe das nur bemerkt, weil sich die<br />
Modezeitschriften zu Hause immer<br />
höher gestapelt haben und Hien im<br />
Fernsehen alles verfolgt hat,<br />
was mit Mode zu tun hatte. Aber als<br />
er dann nach der Schule anfing,<br />
für seine kleine Schwester Sachen zu<br />
nähen, war alles klar.<br />
Waren Sie zufrieden mit seiner<br />
Entscheidung, Designer zu werden?<br />
Sein Großvater war Schneidermeister<br />
in Laos. Er war besonders stolz,<br />
dass Hien als erster seiner zahlreichen<br />
Enkel in seine Fußstapfen tritt.<br />
Wir hatten nie Bedenken, Hien wusste<br />
ziemlich früh, was er wollte und ist<br />
seinen Weg gegangen. Wir sind<br />
zufrieden, dass er die Schule beendet<br />
hat und seine Ziele verfolgt.<br />
Wie viel laotischen Einfluss sehen Sie<br />
in der Mode Ihres Sohnes?<br />
Ich kenne mich mit Mode nicht so<br />
aus. Ich würde aber nicht sagen,<br />
dass wir seine Mode beeinflussen.<br />
Soweit ich mich erinnern kann, hatte<br />
er sich mal für eine Kollektion von<br />
alten Bildern von uns inspirieren<br />
lassen. Ich glaube aber nicht, dass ihn<br />
Laos in Sachen Mode wirklich<br />
beeinflusst.<br />
Tragen Sie Hien Le?<br />
Mein Mann und ich tragen<br />
auch seine Sachen. Aber nur das,<br />
was er uns gibt.<br />
HIEN LE (35) gehört seit 2010 zu<br />
den meistbeachteten Designern in<br />
Berlin. Seine Mode steht für puren<br />
Minimalismus und Qualität. Le ist<br />
in Laos geboren, wuchs jedoch in<br />
Berlin-Kreuzberg auf. Seine Mutter<br />
Thi Lee Le hat zwar mit Mode nichts<br />
am Hut, ist aber dennoch sehr stolz<br />
auf ihren Sohn, den sie am liebsten<br />
für immer zu Hause behalten hätte.<br />
Was hat er von Ihnen mit auf den<br />
Weg bekommen, als er das Elternhaus<br />
verließ?<br />
Nur, dass wir es schöner gefunden<br />
hätten, wenn er bei uns geblieben<br />
wäre. Bei uns geht es ihm gut und er<br />
muss sich um nichts kümmern.<br />
Aber wir hatten Verständnis, dass er<br />
selbstständig werden und sein<br />
eigenes Leben führen wollte. Deshalb<br />
gab es keinen Rat, aber viele<br />
Gegenstände, unter anderem natürlich<br />
einen Reiskocher.<br />
Was war für Sie persönlich der<br />
aufregendste Augenblick in Hiens<br />
Karriere?<br />
Der Tag seines Diploms an der<br />
Hochschule für Technik und<br />
Wirtschaft. Das war sehr aufregend<br />
für uns. Und natürlich seine<br />
erste große Show auf der Berlin<br />
Fashion Week.<br />
Was wünschen Sie sich am meisten<br />
für Ihren Sohn?<br />
Natürlich Gesundheit und die ewige<br />
Freude an dem, was er tut.<br />
48 Werk VI 49
TRYSTAN PÜTT<strong>ER</strong> (33) lebt und arbeitet seit 2007 in Berlin.<br />
An der Volksbühne spielt der Schauspieler regelmäßig<br />
für Regisseure wie Frank Castorf oder René Pollesch. Auf<br />
der Kinoleinwand wird er demnächst in Christian Petzolds<br />
„Phoenix“ zu sehen sein. Aktuell dreht er mit der Regisseurin<br />
Maren Ade („Alle Anderen“). Trystans Mutter Meinir<br />
Davies lebt in Kalifornien und hat uns von der Westküste<br />
der USA aus mehr über ihren Sohn verraten.<br />
1981: Baby Trystan<br />
mit seiner Mutter<br />
Meinir<br />
Ab Herbst 2014<br />
ist Trystan<br />
wieder an der<br />
Berliner Volksbühne<br />
zu sehen<br />
Was für ein Kind war Trystan:<br />
Einzelgänger oder Klassenclown?<br />
Meinir Davies: Er war der absolute<br />
Klassenclown. Witzig, schlagfertig,<br />
voller Energie.<br />
Was waren seine Hobbys?<br />
Er hat gern gesungen. Mit 13 hat<br />
er sich selbst Unterricht organisiert.<br />
Und er ist mit dem Fahrrad von<br />
Boston nach San Francisco<br />
gefahren – das hat drei Monate<br />
gedauert. Da war er 14 Jahre alt.<br />
Gab es einen Helden in seiner<br />
Kindheit?<br />
Michael Jackson.<br />
Was wollte er werden, wenn<br />
er groß ist?<br />
Wir haben wenig über die Zukunft<br />
gesprochen, Berufe oder so<br />
etwas – es ging darum, ein glückliches<br />
Jetzt zu erleben.<br />
Konnte man schon als Kind den<br />
Schauspieler in ihm erkennen?<br />
Oh ja, absolut! Er konnte andere Leute<br />
nachmachen und damit alle<br />
zum Lachen bringen. Er hat sich einen<br />
russischen Akzent beigebracht –<br />
so gut, dass man hätte glauben können,<br />
er spreche fließend Russisch.<br />
Auch Karel Gott mit seinem Biene-<br />
Maja-Lied konnte er so gut imitieren,<br />
dass wir uns kaputtgelacht haben.<br />
Wie kam er zur Schauspielerei?<br />
Mit Theateraufführungen in der<br />
8. und dann in der 12. Klasse. An einer<br />
Waldorfschule hat es<br />
angefangen. Er war kein besonders<br />
engagierter Schüler, aber auf<br />
der Bühne hat er sich frei gefühlt. Später<br />
hat er in Wiesbaden im Jugendclubtheater<br />
gespielt. Nichts war ihm zu viel<br />
der Mühe, um an sein Ziel zu kommen.<br />
Seine Ausdauer ist unglaublich.<br />
Welcher ist Ihr Lieblingsfilm, in dem<br />
Ihr Sohn mitgespielt hat?<br />
„Hilde“, weil ich ihn da zum ersten Mal<br />
auf der großen Leinwand<br />
gesehen habe. Ich mochte ihn in<br />
der Rolle des Kurt Hirsch sehr.<br />
Trystan spielt Theater, dreht Kinofilme<br />
und Fernsehproduktionen.<br />
Wo sehen Sie ihn am liebsten?<br />
Ich liebe es, ihn auf der Bühne zu sehen.<br />
Ich finde es toll, dass er keine<br />
Kompromisse macht und ich ihn immer<br />
in Stücken sehe, die inhaltlich<br />
herausfordernd und wichtig sind.<br />
Sie kommen ursprünglich aus Wales.<br />
Hat auch Trystan etwas typisch<br />
Walisisches an sich?<br />
Das Lyrische, das Poetische … Seine<br />
Stimme ist eine walisische, finde ich.<br />
Seine größte Stärke/Schwäche?<br />
Seine größte Stärke ist seine Präsenz – er<br />
ist wirklich da, wenn man mit ihm<br />
spricht. Er hat die Fähigkeit, über sich<br />
nachzudenken und Dinge zu ändern,<br />
falls er glaubt, dass das nötig ist. Seine<br />
größte Schwäche ist, dass er nicht<br />
immer weiß, was er kann.<br />
Was wünschen Sie sich am meisten für<br />
Ihren Sohn?<br />
Ich wünsche mir für ihn natürlich,<br />
wie jede Mutter, dass er seine Version<br />
von Glück lebt. Dass er versteht,<br />
dass es seine Pflicht ist, glücklich zu<br />
sein und dass er sich als voll und<br />
vollkommen wertvoll erlebt.<br />
50 Werk VI 51
„RÜSCHEN SIND<br />
DAS KOKAIN D<strong>ER</strong><br />
WEIBLICHKEIT“<br />
Was macht einen Mann männlich? Und was ändert sich, wenn er<br />
gern Frauenkleider trägt? Eine Begegnung mit dem<br />
britischen Künstler Grayson Perry in seinem Londoner Studio<br />
INT<strong>ER</strong>VIEW: LEONIE V O L K<br />
FOTOS: ANDRE T ITCOMB E<br />
Ein Mann mit Stil: Grayson<br />
Perry ist eine der schillerndsten<br />
Persönlichkeiten in der zeitgenössischen<br />
Kunstszene<br />
Grayson Perry betritt<br />
im geblümten<br />
Kimono den Raum.<br />
Seine Augenbrauen sind grell nachgezeichnet,<br />
die Wangen rot bemalt.<br />
Wenn er spricht, hallt eine tiefe<br />
Männerstimme durch den Raum.<br />
Eine paradoxe Erscheinung, die jeden<br />
sofort in ihren Bann schlägt. Auch<br />
Prince Charles muss es so gegangen<br />
sein, als er Perry in diesem Jahr zum<br />
„Commander of the Most Excellent<br />
Order of the British Empire“ ernannte<br />
und so für seine Verdienste um die<br />
Kunst ehrte. Perry gehört zu Englands<br />
bekannt esten zeit ge nössischen<br />
Künstlern. In der Presse wird er der<br />
Transvestiten-Töpfer genannt. Er<br />
lebt mit Frau und Kind im Londoner<br />
Stadtteil Islington. 2003 erhielt er<br />
für seine bemalten Keramikvasen den<br />
begehrten Turner-Kunstpreis. Perrys<br />
Werke haben oft autobiographische<br />
Züge und beschäftigen sich mit<br />
Geschlechter rollen, Sexualität, Klasse<br />
und Religion. Der Künstler tritt<br />
meinungsstark für die Emanzipation<br />
des Mannes ein. Dazu gehört für ihn<br />
das Recht, Schwäche zeigen zu dürfen.<br />
Maskulinität wird oft mit Stärke,<br />
Härte und Aggression gleichgesetzt.<br />
Warum ist das so?<br />
Streng genommen ist alles, was ein<br />
Mann tut, maskulin. Maskulinität ist<br />
männliches Verhalten. Aber wenn<br />
ein Mann ein Kleid trägt, ist das<br />
dann maskulin? Das ist die eigentliche<br />
Frage. Einige moderne Feministen<br />
halten Aggression und Gewalt<br />
nicht zwangsläufig für maskulin,<br />
Männer weisen nur derartiges Verhalten<br />
häufiger auf als Frauen. Sie<br />
begehen die meisten Gewalttaten und<br />
Ver brechen, sind eher korrupt und<br />
eher rassistisch.<br />
52 Werk VI 53
Und diese Tendenzen sind Ihrer<br />
Meinung nach veranlagt?<br />
Männer sind körperlich stärker. Sie<br />
sind anders gebaut und ihnen wird<br />
von Geburt an beigebracht, dass<br />
sie der Vorstellung von Männlichkeit<br />
zu entsprechen haben.<br />
Welchen Einfluss hat die Emanzipation<br />
der Frau auf das gesellschaftliche<br />
Bild des Mannes?<br />
Die Emanzipation der Frau hat einen<br />
großen Einfluss, weil Männer nicht<br />
länger eine Monopolstellung haben.<br />
Bis zu einem gewissen Grad ist die<br />
westliche Welt heute eine Frauen -<br />
welt. Im Westen haben Frauen am<br />
Arbeitsplatz viele Vorteile. Ihre<br />
natürlichen Talente, wie emotionale<br />
Intelligenz, ihre Team- und Kommunikations<br />
fähigkeiten sind in der<br />
modernen Arbeitswelt gefragt. In<br />
Amerika dominieren Frauen in zwischen<br />
den Arbeitsmarkt. Und diese Entwicklung<br />
wird fortschreiten, weil Menschen<br />
in allen Branchen erkennen, dass<br />
Frauen besser sind.<br />
Wie sieht der ideale moderne Mann<br />
aus? Was macht ihn dazu?<br />
Über Ideale sollte man sich keine<br />
Gedanken machen. Das bringt nur<br />
Ärger. Ein historischer Landsmann<br />
von Ihnen hatte jedenfalls eine<br />
Vorstellung davon, wie der ideale<br />
Mann auszusehen habe (lacht).<br />
Sie meinen Hitlers Schönheitsideal<br />
vom blonden arischen Hünen …<br />
doch lassen wir extremistische<br />
Ideologien mal außen vor. Sie haben<br />
eine Tochter in meinem Alter,<br />
was wäre der ideale Mann für sie?<br />
Er sollte sie glücklich machen.<br />
Das ist aber sehr vage formuliert.<br />
Vielleicht sucht sie nach einem<br />
unbelehrbaren Neandertaler,<br />
aber das bezweifle ich. Es gibt kein<br />
Rezept für den perfekten Mann.<br />
In welche Richtung sollte sich<br />
„der Mann von heute“ aus Ihrer<br />
Sicht entwickeln?<br />
Männer sollten sich den Anforderungen<br />
der Zeit stellen; sie müssen sich<br />
verändern, weil die Welt sich verändert.<br />
Das ist aber ein Luxus problem<br />
des Westens – der Minderheit der<br />
Weltbevölkerung. Die meisten<br />
Männer leben in Entwicklungsländern<br />
Bemalte Vasen<br />
sind typisch für<br />
Grayson Perrys<br />
Werk. Vorder- und<br />
Rückansicht von<br />
„The Rosetta Vase“<br />
(2011)<br />
und befassen sich mit den Problemen<br />
und Traditionen der dortigen<br />
Gesellschaften. Das sind oft Probleme,<br />
die wir bei uns schon seit hunderten<br />
von Jahren aus dem Weg geräumt<br />
haben.<br />
Kann man also gar nicht von DEM<br />
globalisierten Mann sprechen?<br />
Es besteht da ein Konflikt zwischen der<br />
westlichen Welt, die sehr tolerant und<br />
liberal ist, auch gegenüber Schwulen<br />
etwa, und den Entwicklungs ländern, die<br />
intoleranter und konservativer ticken.<br />
Allerdings begünstigen die modernen<br />
Kommunikationsmittel und Medien ein<br />
Umdenken. Wir wissen, was in anderen<br />
Ländern vor sich geht. Ein schwuler<br />
Mann in Uganda oder Nigeria hat im<br />
Internet Zugang zu Videos, die zeigen,<br />
wie Schwule in Deutschland und<br />
Großbritannien leben.<br />
In einigen Dingen scheint das<br />
männ liche Geschlecht weltweit<br />
nachzuhängen, zum Beispiel in<br />
Sachen emotionale Intelligenz.<br />
Bei emotionaler Intelligenz geht es um<br />
Empathie. Man muss sich in die Gefühle<br />
einer anderen Person hineinversetzen<br />
können, um Sympathie und Empathie<br />
zu entwickeln. Männer werden aber zur<br />
Stärke erzogen. Sie lernen, ihre eigenen<br />
Gefühle zu ignorieren, also sind sie auch<br />
für die Emotionen anderer weniger<br />
empfänglich. Solche Strukturen zu<br />
verändern, dauert sehr lange. Wie<br />
gesagt: Es ist einfacher, in Islington über<br />
solche Themen zu diskutieren als in<br />
Pakistan. In England gehen junge<br />
Männer auf Privatschulen und danach<br />
machen sie einen Abschluss in Kunstgeschichte<br />
oder Soziologie. Bauarbeiter in<br />
Pakistan haben solche Entfaltungsmöglichkeiten<br />
nicht.<br />
Welche Rolle spielt die Gleichberechtigung<br />
der Geschlechter in einer<br />
modernen Beziehung?<br />
Ich habe einen interessanten Artikel<br />
gelesen: Wissenschaftler haben<br />
herausgefunden, dass gleichberechtigt<br />
lebende Ehepartner weniger Sex<br />
haben.<br />
Können Sie sich das erklären?<br />
Das könnte daran liegen, dass die<br />
Paare geschlaucht von ihrem Alltag<br />
sind. Sie teilen sich die Kinderbetreuung,<br />
haben zwei Jobs. Einmal<br />
FOTOS: CO U RTESY THE ARTIST A ND V ICTORIA MIRO, LONDON © GRAYSON P <strong>ER</strong>RY<br />
„Map of Truths and<br />
Beliefs“ (2011): Diesen<br />
Wandteppich ließ Grayson<br />
Perry nach einer digitalen<br />
Vorlage in Belgien weben<br />
habe ich ein Publikum dazu befragt,<br />
ob sie Sexfantasien hätten, in denen<br />
die Gleichberechtigung der<br />
Geschlechter eine tragende Rolle<br />
spielt.<br />
Wie sahen die Antworten aus?<br />
Keiner der 1.500 Menschen im Saal<br />
hat die Hand gehoben. Stattdessen<br />
fantasiert man, am Arbeitsplatz vom<br />
Chef verführt zu werden oder wie<br />
man die Sekretärin verführt. Das<br />
Macht gefälle zwischen den Geschlechtern<br />
wirkt erregend. Die männliche<br />
Sexualität ist so ausgelegt, dass sie<br />
nach Unterschieden sucht. Sie fühlt sich<br />
von Gegensätzen angezogen. Vielleicht<br />
spielt gerade dieses Machtungleichgewicht<br />
eine ent scheidende Rolle für die<br />
sexuelle Anziehungskraft. Das heißt,<br />
sobald man gleichberechtigt ist, wird<br />
das Verlangen schwächer. Außerdem<br />
gehört zu einer glücklichen Ehe viel<br />
mehr als guter Sex. Ich denke, viele<br />
Menschen haben dieses Traumszenario<br />
im Kopf, dass in einer glücklichen<br />
Ehe der Sex überragend sein muss.<br />
Das stimmt aber nicht immer.<br />
Warum denken Sie, wird die Frauenmode<br />
von Männern bestimmt?<br />
Männer dominieren alles, nicht wahr?<br />
(lacht) Das kann man historisch<br />
zurückverfolgen. Generationen über<br />
Generationen von Männern wurden in<br />
ihrem Selbstbewusstsein und ihrem<br />
Verhalten bestärkt. Frauen hingegen<br />
wird eingetrichtert, dass sie weniger<br />
wert sind, und so bleibt das System<br />
bestehen.<br />
„MÄNN<strong>ER</strong> WOLLEN<br />
LETZTENDLICH DIE ROLLE<br />
DES ENTSCHEID<strong>ER</strong>S<br />
EINNEHMEN UND<br />
NICHT DIE DES<br />
BESTIMMTEN“<br />
Die Männermode hat sich über die<br />
Jahrzehnte kaum verändert.<br />
Exzentrische Trends sind die Ausnahme.<br />
Stabilisiert das Design die<br />
Machtposition des Mannes?<br />
Männer haben nie wirklich die<br />
Chance ergriffen, Paradiesvögel zu<br />
sein. Sie wollen nicht angestarrt<br />
werden. In Kleiderfragen haben<br />
Frauen weitaus mehr Spielraum.<br />
Wenn man sich so kleidet wie ich,<br />
sind die Blicke nicht unbedingt<br />
angenehm. Männer wollen letztendlich<br />
die Rolle des Entscheiders und<br />
nicht des Bestimmten einnehmen.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Männer schauen und Frauen werden<br />
angeschaut. Was ist das typischste<br />
Männeroutfit? Wahrscheinlich ein<br />
grauer Anzug. Der ist langweilig, aber<br />
warum wird der graue Anzug von<br />
Männern getragen? Weil sie damit<br />
nicht zum Objekt werden, weil sie so<br />
keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.<br />
Ihre Aufgabe ist es, sich umzuschauen.<br />
Umso männlicher man ist, desto<br />
unscheinbarer tritt man auf.<br />
Umso unscheinbarer man ist, desto<br />
mehr Macht besitzt man in der Rolle<br />
des Betrachters. Es ist wie im<br />
Wachturm eines Gefängnisses. Von<br />
dort aus beobachtet man die anderen:<br />
Schwarze, Schwule, Frauen.<br />
Wie stehen Sie zu Modemachern wie<br />
J.W. Anderson, die Männer in<br />
Kleider und Röcke stecken?<br />
Alle Jahre wieder greifen Modedesigner<br />
dieses Thema auf. Es wird aber lange<br />
dauern, unseren Sinn für Schönheit zu<br />
verändern, gerade weil die meisten<br />
Leute Männer in Röcken und Kleidern<br />
nicht attraktiv finden. Vertrautheit ist<br />
entscheidend für unser ästhetisches<br />
Empfinden. In Ländern wie Thailand<br />
gehören Röcke an Männern zum<br />
Stadtbild. Weil es dort normal ist,<br />
finden es die Menschen attraktiv.<br />
Also steht es in Europa schlecht um<br />
den Männerrock?<br />
Röcke an Männern werden sich nur<br />
durchsetzen, wenn Männer zulassen,<br />
angeschaut zu werden – und daran<br />
54 Werk VI 55
Wenn Grayson Perry<br />
als Frau auftritt, will er<br />
provozieren und auch<br />
seinen Fetisch ausleben<br />
glaube ich nicht. Ich ziehe mich<br />
normalerweise auch nicht so zur Arbeit<br />
an. Ich genieße es, ein Kerl zu sein,<br />
der anonym herumläuft. Ich meine,<br />
ich weiß, was es bedeutet, angestarrt<br />
zu werden. Manchmal ist das ganz nett,<br />
aber ich kann auch darauf verzichten.<br />
Wann tragen Sie Frauenkleidung?<br />
Normalerweise mache ich das<br />
zwei-, dreimal die Woche. Heute trage<br />
ich ein Kostüm, weil ich am Vormittag<br />
Central-Saint-Martins-Studenten<br />
unterrichtet habe. Sie designen<br />
ein Kleid für mich und ich wollte<br />
ihnen zeigen, was mir gefällt. Sonst<br />
putze ich mich heraus, wenn es<br />
andere auch tun. Also zu Veranstaltungen,<br />
zum Brunch, zu Ausstellungen.<br />
Wenn ich in ein Restaurant<br />
gehe vielleicht auch.<br />
Hat das Cross Dressing eine therapeutische<br />
Wirkung auf Sie?<br />
Es ist eine Freizeitaktivität. Ich finde<br />
es sexy. Ich bin ein Fetischist, es<br />
macht mich an. Wenn das eine<br />
therapeutische Wirkung hat, bin ich<br />
damit einverstanden.<br />
Wie kamen Sie dazu, Frauen kleidung<br />
auszuprobieren?<br />
Ich hatte eine Fantasie, dass die<br />
Wächter eines Kriegsgefangenenlagers<br />
die Insassen zwingen, Kleider zu<br />
tragen. Ihr Ziel war es, die Häftlinge<br />
zu erniedrigen. Die Vorstellung hat<br />
mich angetörnt und ich dachte, ich<br />
probiere es mal aus. Also habe ich mir<br />
von meiner Schwester Kleider geborgt.<br />
Mit zwölf habe ich damit angefangen,<br />
mit 15 habe ich mich in die Öffentlichkeit<br />
getraut. Die Leute konnten<br />
sich vermutlich denken, dass ich keine<br />
Frau bin. Ich war nicht besonders gut<br />
darin, mich zu verkleiden.<br />
Hatten Sie Angst vor den<br />
Reaktionen?<br />
Ja, aber das ist ja Teil des ganzen<br />
Spaßes. Wir machen Dinge, die uns<br />
Angst machen. Es ist aufregend.<br />
Ihre Kostüme haben sich über die<br />
Jahre stark verändert.<br />
Angefangen habe ich wie die meisten<br />
Transvestiten. Ich wollte so aussehen<br />
wie eine Frau. Diese Phase hat 25 Jahre<br />
angehalten. Je älter und selbst bewusster<br />
ich wurde, desto mehr probierte ich aus.<br />
Ich habe eine Latexphase durchgemacht,<br />
Fetisch-Looks getragen. Anfang<br />
der 2000er hatte ich keine Lust mehr<br />
darauf. Ich begann, mich wie eine<br />
Hausfrau zu kleiden. Niemand schaute<br />
mir nach. Es verlor seinen Reiz. Am<br />
Klein mädchen-Look bin ich hängengeblieben.<br />
Ein Mädchen kleid mit<br />
Rüschen ist das femininste Kleid, das es<br />
gibt. Deshalb finden viele Kerle diese<br />
Kleider toll. Sie sind das Kokain<br />
der Weiblichkeit.<br />
„MAN KÖNNTE<br />
DEN EUROVISION<br />
SONG CONTEST<br />
AUCH ALS<br />
DAS SCHWULE<br />
WEIHNACHTEN<br />
BEZEICHNEN“<br />
Was reizt Sie im Speziellen am<br />
Kleinmädchen-Look?<br />
Er ist mir peinlich. Beschämt zu sein,<br />
die Demütigung, das reizt mich. Das ist<br />
ganz typisch für einen Fetischisten.<br />
Wo liegen die Wurzeln dieses Cross<br />
Dressings?<br />
Man kann das alles auf eine schwere<br />
Kindheit zurückführen. Ich wurde<br />
nicht als Transvestit geboren. Man<br />
hat möglicherweise eine Veranlagung<br />
zur Feinfühligkeit, aber ich glaube<br />
nicht, dass man auf die Welt kommt<br />
in der Hoffnung, einen BH zu tragen.<br />
Die große Stärke der menschlichen<br />
Psyche ist es, der Demütigung,<br />
die man als Kind erlebt hat, durch<br />
Sexualität eine positive Wendung zu<br />
geben.<br />
Durch Ihre Kostüme möchten Sie<br />
liebenswürdig erscheinen.<br />
Das wäre eine rationale Erklärung.<br />
Der Transvestit und Euro vision-<br />
Song-Contest-Gewinner Conchita<br />
Wurst …<br />
(unterbricht) Ist er ein Transvestit oder<br />
eine Dragqueen? Das ist ein großer<br />
Unterschied! Dragqueens sind meist<br />
schwul und ihr Auftreten ist satirisch.<br />
Viele wissen nicht, dass Transvestiten<br />
meist heterosexuell sind. Ich halte<br />
Conchita für eine schwule Dragqueen.<br />
Wäre er ein Transvestit, würde er<br />
keinen Bart tragen. Transvestiten<br />
wollen wie eine Frau aussehen.<br />
Transsexuell kann er demnach auch<br />
nicht sein, denn das erste, was man tut,<br />
wenn man wie eine Frau aussehen<br />
möchte, ist es, sich den Bart<br />
abzurasieren.<br />
Was bedeutet Conchitas Sieg für<br />
Europa?<br />
Europa akzeptiert die Schwulen und<br />
Transsexuellen. Man könnte den ESC<br />
auch als das schwule Weihnachten<br />
bezeichnen, oder? Conchita ist ein<br />
leichtverständliches Symbol, gerade<br />
jetzt, wo Schwulenfeindlichkeit<br />
weltweit diskutiert wird. Er hält die<br />
Flagge hoch: Wir kämpfen gegen<br />
Russland. Er ist aber keine anspruchsvolle<br />
zeitgeschichtliche Figur oder<br />
kulturell von Bedeutung. Mit dem Bart<br />
nutzt er ein leicht veraltetes Bild. Ein<br />
Mann mit Bart in einem Kleid, das gab<br />
es schon tausendmal.<br />
Wie erklären Sie sich den aktuellen<br />
Hype um den Bart?<br />
Der Männerbart hatte ein großes<br />
Revival, vor ein paar Jahren war er das<br />
Symbol männlicher Authentizität in<br />
einer Welt, in der Marken an<br />
Bedeutung verloren hatten. Der<br />
Mittel klasse-Hipster wollte etwas, das<br />
als authentisch gilt und wählte den<br />
Bart. Ich habe aber das Gefühl,<br />
Conchita Wurst hat das Schicksal des<br />
Bartes besiegelt.<br />
Wird so die bärtige Frau zum<br />
Inbegriff der Krise des Mannes?<br />
Zumindest kann sie ein Spiegel der<br />
veränderten Rolle des Mannes sein.<br />
Heute wird der Mann nicht mehr so<br />
stark darüber definiert, was er tut,<br />
deshalb konzentriert man sich<br />
verstärkt auf sein Äußeres und<br />
feminisiert ihn. Ein Mädchen wird<br />
traditionell für ihr Aussehen gelobt<br />
und der Junge für sein Schaffen.<br />
Wenn man sich aber nicht mehr auf<br />
das Tun konzentriert, konzentriert<br />
man sich auf das Sein. Überhaupt<br />
werden Männer immer überflüssiger.<br />
In anderen Worten: Die Ameisen<br />
umgarnen ihre Königin. Und nach der<br />
Paarung stirbt die männliche Ameise.<br />
56 Werk VI 57
Weste: Reality Studio<br />
Mademoiselle<br />
masculine<br />
„Die selbstsichere Frau verwischt nicht den Unterschied<br />
zwischen Mann und Frau – sie betont ihn“ Coco Chanel<br />
F OTOS JAKOB & HANNA H<br />
P RODUKTION LEONIE V O L K & A L E XAND<strong>ER</strong> LA GUM A<br />
M ODEL R OSALIE/IZ A IO MAN AGEMENT<br />
H AARE/MAKE-UP JULIE S KOK
60<br />
Links<br />
Bluse: Michael Sontag<br />
Nickerbocker: Vintage/Berliner Theaterkunst<br />
Binder: Tiger of Sweden<br />
Rechts<br />
Bluse: Vintage/Berliner Theaterkunst<br />
Hose: Herr von Eden<br />
Hut: Tiger of Sweden
Knielange Weste: Isabell de Hillerin<br />
Bluse: Asos<br />
Hut: Mads Dinesen
Weste & Hose: Herr von Eden<br />
Sandalen: H&M<br />
Werk VI 65
Mantel: Vintage/Berliner Theaterkunst<br />
Latzhose: Zara<br />
Schuhe: Bershka<br />
Werk VI 67
68<br />
Links<br />
Mantel: Martin Niklas Wieser<br />
Jeans: MIH Jeans<br />
Schuhe: Adidas<br />
Rechts<br />
Mantel: Isabell de Hillerin<br />
Kleid: & other stories
1954: Adi Dassler<br />
mit den ersten<br />
Stollenschuhen für<br />
Fußballspieler – in<br />
diesen Tretern gewann<br />
die deutsche<br />
Nationalmannschaft<br />
die WM in Bern<br />
FOT O: PR<br />
MIT DREI STREIFEN<br />
UM DIE WELT<br />
Als Adolf Adi Dassler 1947 sein Unternehmen<br />
Adidas gründete, konnte er nicht ahnen, dass es einmal<br />
an der Spitze der deutschen Bekleidungsindustrie<br />
stehen würde. Das Geheimnis einer Erfolgsgeschichte<br />
Mit einem Jahresumsatz von über 14 Milliarden<br />
Euro (2013, Quelle Textilwirtschaft)<br />
ist Adidas das umsatzstärkste Bekleidungsunternehmen<br />
in Deutschland.<br />
Unter den Sportartikelherstellern gibt es weltweit nur noch<br />
einen, der erfolgreicher ist: Nike mit 18,55 Milliarden Euro<br />
(2013, Quelle statistika.de). Der große Erfolg von Adidas wird<br />
in den Bereichen Sport, Musik und Mode erzielt. Der Sportbereich<br />
ist der älteste und bis heute umsatzstärkste: Fußball,<br />
Leichtathletik, Tennis, Basketball – es gibt kaum eine Sportart,<br />
für die Adidas nicht den richtigen Schuh oder das passende<br />
atmungsaktive Trikot im Programm hat.<br />
In den 80er-Jahren entdeckte eine neue Zielgruppe die<br />
deutsche Marke mit den drei Streifen: HipHop und die<br />
Band Run DMC brachten Adidas in die Subkultur und zu<br />
deren Vertretern. Ungezählte Kooperationen mit Musikern<br />
sollten folgen. Mit dem Retrotrend, der Anfang der<br />
90er-Jahre aufkam, eröffnete sich ein weiteres Geschäftsfeld<br />
für Adidas. Plötzlich trugen junge Leute in Clubs alte Trainingsjacken,<br />
Turnschuhe hießen auf einmal Sneakers und<br />
wurden auch zum Anzug getragen. Damals eröffneten die<br />
ersten Adidas-Originals-Stores in den Metropolen. Und die<br />
Idee, mit etablierten Designern wie Yohji Yamamoto oder<br />
Jeremy Scott zu kooperieren, ebnete Anfang der Nullerjahre<br />
den Weg in die Modewelt. Das alles hat dazu beigetragen,<br />
dass Adidas heute den deutschen Bekleidugsmarkt anführt<br />
und das Logo mit den drei Streifen auf der ganzen Welt bekannt<br />
ist.<br />
GESCHICHTE<br />
DAS WUND<strong>ER</strong> VON FRANKEN<br />
1925 entwickelte Adi Dassler in der Waschküche<br />
seiner Eltern den ersten Stollenschuh aus Leinen.<br />
Ein Jahr vorher hatte er den Schuhmacherbetrieb<br />
seines Vaters übernommen, den er zusammen mit<br />
seinem Bruder Rudolf unter dem Namen Gebrüder<br />
Dassler Schuhfabrik führte. Adi war der kreative<br />
Kopf der Familie. Er war für die Entwicklung<br />
der Schuhe zuständig. Sein Bruder kümmerte sich<br />
um administrative Aufgaben, er war der perfekte<br />
Verkäufer.<br />
Doch die Zusammenarbeit war schwierig, 1947 gingen die<br />
Brüder getrennte Wege. Rudolf Dassler gründete die Sportmarke<br />
Puma, Adi nannte seine Firma nun Adidas<br />
(ADI+DASsler). Seine Spezialität waren Sportschuhe, doch<br />
bald kamen andere Sportartikel wie Bälle oder Taschen<br />
dazu. Seit 1967 gibt es Adidas-Sporttextilien. Für Adi Dassler,<br />
der 1978 in Herzogenaurach starb, stand die Funktionalität<br />
im Vordergrund. Er testete seine Produkte immer<br />
selbst, um sicherzugehen, dass sie auch funktionieren. Als<br />
Dassler 1954 seinen neuen und selbst erprobten Stollenschuh<br />
präsentierte, konnte das Timing kaum besser sein:<br />
Die deutsche Nationalmannschaft trug den Schuh im Weltmeisterschaftsfinale<br />
gegen Ungarn. Durch die neuen Stollen<br />
verankerten sich die Schuhe besser im nassen Boden. Und<br />
tatsächlich: während des Spiels regnete es in Strömen.<br />
Deutschland gewann mit einem 3:2-Sieg zum ersten Mal<br />
eine Fußballweltmeisterschaft, was als „Wunder von Bern“<br />
in die Geschichte einging.<br />
Adidas ist nicht mehr in Familienbesitz, sondern seit 1995<br />
ein börsennotiertes Unternehmen. Doch auch heute noch<br />
überzeugt die Marke mit Innovationen und einem guten,<br />
funktionalen Design, denn das war schließlich Dasslers<br />
Grundsatz. „Die Menschen nennen mich den Vater der modernen<br />
Sportindustrie. Aber alles, was ich bin, ist ein Sportler,<br />
der den Nutzen darin sieht, die Sportausrüstung zu verbessern“,<br />
sagte Adi Dassler einmal. Durch diesen Ehrgeiz ist<br />
Adidas zu einer der bekanntesten Sportmarken der Welt<br />
geworden.<br />
KATHARINA GÖRKE<br />
Werk VI 71
SPORT<br />
NACH DEM SPIEL IST VOR DEM SPIEL<br />
Die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien, die<br />
Olympischen Sommerspiele 2012 in London oder das<br />
Champions-League-Finale 2014 in Lissabon haben<br />
eines gemeinsam: den Hauptsponsor Adidas. Das<br />
Unternehmen hat früh verstanden, wie enorm wichtig<br />
Sportereignisse für den Erfolg der Marke sind.<br />
Seit bereits 32 Jahren sponsert Adidas die Fußballweltmeisterschaft,<br />
das milliardenschwere Turnier<br />
um die beste Mannschaft der Welt. Dazu kommt das<br />
Sponsoring von neun der 32 teilnehmenden Mannschaften,<br />
darunter auch Deutschland. Welche Summen<br />
während eines solchen Sportereignisses fließen,<br />
zeigte Forbes nach der letzten WM in Südafrika.<br />
Adidas zahlte allein für das Sponsoring und die Ausstattung<br />
von sechs Nationalteams mehr als 90 Millionen Euro<br />
(2010, Quelle Forbes).<br />
Bei der Ausstattung der Mannschaften setzt Adidas auf<br />
Funktionalität für den Spieler. Die neuen Adizero-Trikots<br />
wiegen zirka 100 Gramm und sind damit die leichtesten, die<br />
Adidas je entwickelt hat. Die Gewichtsreduzierung um 50<br />
Prozent sorgt dafür, dass der Spieler schneller und effizienter<br />
auf dem Platz ist. Dabei spielt natürlich der physische Gedanke<br />
eine Rolle. Denn mit weniger Gewicht verbraucht der<br />
Sportler weniger Sauerstoff, ist dadurch schneller und hat<br />
mehr Ausdauer. Aber auch der psychologische Faktor zählt:<br />
Wenn der Sportler weiß, dass er mit einem leichteren Trikot<br />
bessere Leistungen erzielen kann, macht ihn das automatisch<br />
besser. Das ist ganz im Sinne von Adi Dassler, der zu Lebzeiten<br />
ein klares Ziel hatte: Die Sportausrüstung muss so gearbeitet<br />
sein, dass sie den Sportler unterstützt und ihm ermöglicht,<br />
Bestleistungen zu erzielen. Um das zu erreichen, arbeitet die<br />
Das Trikot der Weltmeister von 1954 kann<br />
man heute wieder kaufen. Der Originalschuh<br />
(u.) steht im Museum für Sport in Köln<br />
Entwicklungsabteilung mit Hochleistungssportlern zusammen:<br />
Fußballer, Schwimmer, Radfahrer, Leichtathleten.<br />
Zu den Trikots trugen einige Spieler der bundesdeutschen<br />
Nationalmannschaft auch einen neuen Schuh von Adidas:<br />
„Battle Pack“ nennt sich die Kollektion. Fünf Modelle in<br />
Schwarzweiß, die typischen Adidas-Streifen an der Seite in<br />
einem Gold-Ton – in Anlehnung an den Siegerpokal des<br />
Wettkampfes. Auch der Schuh ist leichter geworden. Zum<br />
Vergleich: Bei der WM 1954 in Ungarn wog der Fußballschuh<br />
der deutschen Nationalelf noch 355 Gramm. In diesem<br />
Jahr waren es 150 Gramm.<br />
Doch nicht nur Spieler tragen die Trikots. Schon während<br />
der WM verkaufte Adidas das Deutschland-Trikot (Stückpreis<br />
80 Euro) bereits zwei Millionen Mal an die Fans. Kein<br />
Wunder also, dass Adidas so viel in die Werbekampagnen<br />
steckt. Als offizieller Partner des Weltfußballverbandes (seit<br />
1956) hat Adidas die Vorkaufsrechte auf die TV-Werbung<br />
und Werbeflächen in den Stadien – das sorgt dafür, dass die<br />
Verkaufszahlen steigen. Der offizielle Werbespot zur diesjährigen<br />
Fußballweltmeisterschaft stammt von „City of God“-<br />
Regisseur Fernando Meirelles. In der Hauptrolle der argentinische<br />
Nationalspieler Lionel Messi, musikalisch begleitet<br />
durch Kayne West. Noch nie hat Adidas so viel in eine Kampagne<br />
investiert. Ob sie damit an Nike vorbeiziehen können<br />
oder ob sie der ewige Zweite bleiben, wird sich zeigen. In ihrem<br />
letzten Gruppenspiel der WM-Vorrunde immerhin besiegten<br />
die Deutschen (in Adidas) die Amerikaner (in Nike).<br />
„Wenn man gutes Equipment herstellt und den richtigen<br />
Sportler hat, der dieses trägt, kaufen es die Leute.“ Diese simple<br />
Erfolgsformel war Adi Dassler schon zu Lebzeiten bewusst.<br />
KATHARINA GÖRKE<br />
Für die diesjährige Fußballweltmeisterschaft<br />
wurden das Adizero-Trikot und<br />
der Battle-Pack-Schuh entwickelt<br />
FOTO: PR<br />
FOTO: PR<br />
MODE<br />
ALLE FÜR EINEN<br />
Wenn Design auf Sport trifft:<br />
Stella McCartney (l.)<br />
und Opening Ceremony<br />
Anfang der Nullerjahre beginnt bei Adidas eine<br />
neue Ära: Der Sportriese beschließt, mit High-<br />
Fashion-Designern zu kooperieren – taktisch klug<br />
und modisch genial, wie sich später herausstellen<br />
sollte. Bereits in den 90er-Jahren war dem Unternehmen<br />
klar geworden, dass großes Potenzial darin<br />
liegt, sich stärker im Modesegment zu positionieren. 1995<br />
wurde der damalige Designmanager von Levi’s, Michael<br />
Michalsky, ins Unternehmen geholt – ein ungewöhnlicher<br />
Schritt zu der Zeit, immerhin hat Levi’s mit Sport so viel zu<br />
tun wie Adidas damals mit High Fashion. Zuerst übernahm<br />
Michalsky die Position des Chefdesigners. Fünf Jahre später<br />
wurde er Global Creative Director und bekam die alleinige<br />
Herrschaft über die Produktlinien. Der Absolvent des London<br />
College of Fashion hatte die Idee, mit Modeschöpfern<br />
zu kooperieren und sie eigene Produktlinien für Adidas<br />
entwerfen zu lassen. Ein Meilenstein in der Geschichte des<br />
Konzerns. Bei der Zusammenarbeit mit dem japanischen<br />
Avantgarde-Designer Yohji Yamamoto im Jahr 2001 spielte<br />
allerdings auch der Zufall mit – denn auf die Idee, er könne<br />
mit Adidas kooperieren, kam Yamamoto in Japan offensichtlich<br />
von selbst. In einem Imagefilm äußerte sich Yamamoto<br />
folgendermaßen: „Ich sagte meiner rechten Hand im<br />
Atelier: ,Warum rufst du nicht mal Adidas an, ob sie nicht<br />
mit uns für die nächste Kollektion zusammenarbeiten wollen<br />
– alle Schuhe nur von Adidas.“ Aus der Vision des großen<br />
Japaners wurde eine eigene Untermarke: Y-3 – eine<br />
Mischung aus Sportswear und Avantgarde, die den Herzogenaurachern<br />
jährlich einen zweistelligen Millionenumsatz<br />
einbringt.<br />
Nach zurückhaltendem Schwarzweiß, Yamamotos Handschrift,<br />
wurde es richtig bunt: 2002 verpflichtete Michalsky<br />
den exzentrischen Amerikaner Jeremy Scott, der für seine<br />
Farbexplosionen bekannt ist – zunächst für das einmalige<br />
Projekt „I Signed“. Fünf Jahre später intensivierte sich die<br />
Zusammenarbeit, seitdem entwirft Scott seine eigene Adidas-<br />
Originals-Kollektion. Die Teddy- und Flügelsneaker wurden<br />
zum großen Erfolg, die Kooperation besteht bis heute. Scott<br />
hat ein sicheres Gespür dafür, Adidas-Klassikern seine persönliche<br />
Note zu verpassen: hawaiianische Blumen, wildeste<br />
Animal-Prints und Kapuzen mit angenähten Ohren, dazu<br />
digitale Computerschriften und grelle Neonfarben.<br />
Auch Stella McCartney gehört zu den High-Fashion-Designern,<br />
mit denen Adidas kooperiert. Anders als Yamamoto<br />
und Scott entwirft die trendbewusste Britin für die Marke jedoch<br />
nicht Streetwear, sondern sie ist verantwortlich für die<br />
Linie „Performance“ – feminine Sportmode, die mit verspielten<br />
Raffungen und Fältchen ins Detail geht. Seit 2004 sieht<br />
man McCartneys Entwürfe in Herzogenaurach als Inspirationsquelle<br />
für das gesamte Unternehmen. Die hausinternen<br />
Designer verwenden ihre verlängerten Ärmel mit integrierten<br />
Daumenlöchern längst auch für andere Kollektionen. Der<br />
Veganerin ist es wichtig, dass für ihre Drei-Streifen-Produkte<br />
keinerlei Rohstoffe tierischer Herkunft verwendet werden.<br />
Stellas Engagement kommt bei den Konsumenten an. Die<br />
Kollektionen laufen gut.<br />
Nach Yamamoto, Scott und McCartney initiierte der Konzern<br />
zunächst ein paar Jahre lang keine neuen Designkollaborationen.<br />
Vielleicht mussten es sich die Herzogenauracher<br />
nach so viel Erfolg durch externe Designer schlichtweg wieder<br />
selbst beweisen. Oder es lag daran, dass Michalsky 2006<br />
das Unternehmen verließ, um in Berlin sein eigenes Label zu<br />
gründen. Vier Jahre sollte die Pause dauern – eine Zeit, in der<br />
die bis dahin etablierten Fashion-Linien weiterliefen. 2010<br />
kam dann eine neue Kreativkraft in Gestalt des ehemaligen<br />
Joop!-Chefdesigners Dirk Schönberger.<br />
72 Werk VI 73
Dessen Plan als neuer Creative Director war es zunächst,<br />
eine neue, intern designte Adidas-Modelinie am Markt zu<br />
etablieren. Der Versuch, mit dem hauseigenen Label SLVR<br />
Fashion und Sport endgültig zu vereinen, scheiterte allerdings.<br />
Nach weltweiten Store-Eröffnungen, u. a. in Paris,<br />
Tokio, Mailand und Berlin, wurde SLVR im Winter 2013<br />
eingestellt.<br />
Parallel zum Niedergang von SLVR begann Schönberger,<br />
neue Designkooperationen anzubahnen – 2012 mit dem New<br />
Yorker Label Opening Ceremony, dessen Designer Humberto<br />
Leon und Carol Lim inzwischen auch für Kenzo verantwortlich<br />
sind. Dazu gesellten sich wenig später Raf Simons,<br />
Chefdesigner bei Dior, und der Amerikaner Rick Owens, der<br />
für futuristische Mode steht. Der jüngste Neuzugang im<br />
High-Fashion-Team ist eine Frau: Mary Katrantzou. Die in<br />
London lebende Griechin ist bekannt für ihre gemixten und<br />
grafischen Muster. Gut verkaufen ließe sich das nicht, sagen<br />
ihre Kritiker. Die Modebranche liegt ihr dennoch zu Füßen.<br />
Katranztous Kollektion kommt ab November 2014 in die Läden.<br />
Adidas gibt außergewöhnlichen und riskanten Entwürfen<br />
immer eine Chance.<br />
Für die High-Fashion-Designer gibt es viele Argumente,<br />
mit dem Sportartikelhersteller eine Zusammenarbeit einzugehen.<br />
Eines der Motive ist sicherlich der lukrative Zuverdienst.<br />
Es darf jedoch auch nicht vergessen werden, dass<br />
hochkomplexe und technisch aufwendige Produkte wie<br />
Sneakers oder Sportswear mit sehr hohen Entwicklungskosten<br />
verbunden sind. Sie rentieren sich für ein Unternehmen<br />
erst ab einer gewissen Stückzahl. Modehäuser, die in der Regel<br />
nur kleine Mengen produzieren, können sich das ohne<br />
Y-3 by Yohji Yamamoto ist die älteste Designerlinie<br />
von Adidas. In allen Kollektionen überwiegt die<br />
Farbe Schwarz – Yamamotos Favorit<br />
einen Partner mit Know-how kaum leisten. Und sicher spielt<br />
auch der extrem hohe Bekanntheitsgrad von Adidas eine Rolle.<br />
Die globale Vermarktung der Kooperationen bringt also<br />
für die Designer eine Steigerung ihrer Popularität mit sich.<br />
In den sogenannten Icon-Stores vertreibt Adidas exklusiv<br />
seine Kooperationslinien. Einer davon ist die No 74 in der<br />
Torstraße 74 in Berlin. Solche Stores gibt es auch in London<br />
und Paris. Dort sind die Läden ebenfalls nach ihrer jeweiligen<br />
Hausnummer benannt. Das für Adidas entwickelte, äußerst<br />
clevere Geschäftskonzept wird seit 2008 von der Agentur Häberlein<br />
& Mauerer betreut. Anders als in den gängigen Adidas-Stores<br />
suchen die Käufer hier funktionale Sportbekleidung<br />
vergeblich. Mode bestimmt die Vision.<br />
Will man der Legende glauben, haben wir das alles Yohji<br />
Yamamoto zu verdanken. Er gilt als Vater der Kooperationen<br />
zwischen Designern und der Sportindustrie. Für Adidas war<br />
der Anruf aus Tokio ein wichtiger Moment. Seitdem sind die<br />
Grenzen zwischen Sportswear und High-Fashion aufgelöst –<br />
zugunsten modischer Vielfältigkeit. ALEXAND<strong>ER</strong> VETT<strong>ER</strong><br />
Aktuelle Modelle für Adidas:<br />
von Rick Owens (l.)<br />
und Raf Simons<br />
Jeremy Scott entwirft seit<br />
2008 für Adidas. Seine<br />
aktuelle Sommerkollektion ist<br />
von der Natur inspiriert<br />
FOT OS: PR<br />
FOT O: AN S GAR MOEK<br />
MUSIK<br />
„MY ADIDAS AND ME“<br />
Seitdem Run DMC in den<br />
frühen 80er-Jahren mit der<br />
Hymne „My Adidas“ die<br />
Marke in die HipHop-Szene<br />
einführten, ist einiges<br />
passiert: Snoop Dogg, Missy<br />
Elliott und zuletzt Kanye<br />
West sind nur einige der<br />
Musiker, die mit den<br />
Herzogenaurachern zusammengearbeitet<br />
haben. Warum das so ist, weiß<br />
Julia Schoierer von sneakerqueen.de.<br />
Die Turnschuhsammlerin und<br />
Bloggerin hat ebenfalls schon ihren<br />
eigenen Schuh für Adidas designt. Wir<br />
haben die 32-Jährige zum Interview<br />
getroffen, um uns von ihr die Verbundenheit<br />
von Adidas zum Musikgeschäft<br />
erklären zu lassen.<br />
Julia, wie hat sich Adidas in der<br />
Musikszene etabliert?<br />
Adidas musste zunächst gar nichts<br />
dafür tun, die HipHop-Gruppe Run<br />
DMC hat in den 80er-Jahren von sich<br />
aus angefangen, die Marke als eine Art<br />
Uniform zu tragen. Ein Look, der<br />
eben nicht von den Schönen und<br />
Reichen inspiriert war, sondern<br />
direkt von der Straße kam: Double -<br />
Goose-Jacken, Adidas-Sneaker,<br />
Kangol-Caps und Cazal-Brillen. Das<br />
alles war die Uniform, die um die<br />
Subkultur HipHop entstanden ist. Der<br />
Streetstyle spielt bis heute in dieser<br />
Jugendkultur eine große Rolle.<br />
Dementsprechend war es ein Geniestreich<br />
von Adidas, dann mit Run<br />
DMC einen offiziellen Werbedeal<br />
abzuschließen. Damit hat Adidas zum<br />
ersten Mal das Lifestyle-Marketing für<br />
sich entdeckt. Dank Run DMC hat die<br />
Marke den Einstieg in die Musikszene<br />
geschafft.<br />
Kostenlose PR ohne großen Marketingaufwand.<br />
Von solch freiwilligem<br />
Product Placement träumt wohl<br />
jedes Label, oder?<br />
Genau. Zuerst produzierte Run DMC<br />
den Song „My Adidas“. In den Lyrics<br />
geht es um das Tragen von Adidas-Sneakern.<br />
Die Jungs haben quasi<br />
dazu aufgefordert. Das Video von<br />
damals kann man sich immer noch<br />
auf Youtube ansehen. Run DMC<br />
sitzen gemeinsam in einem Raum und<br />
sprechen Adidas direkt an: „Wir<br />
repräsentieren euch und tragen eure<br />
Schuhe und Klamotten.“ Sie zeigen<br />
„BESS<strong>ER</strong>E PR<br />
KANN MAN<br />
SICH GAR NICHT<br />
WÜNSCHEN“<br />
wie wild auf ihre Klamotten und zum<br />
Ende des Videos sagen sie: „Give us<br />
one million dollars.“ Dieser Spruch ist<br />
in die Geschichte eingegangen.<br />
Letztendlich bekamen sie tatsächlich<br />
einen Millionen-Dollar-Deal und<br />
Adidas produzierte mit ihnen eine<br />
eigene Run-DMC-Kollektion.<br />
Dadurch hatte Adidas natürlich die<br />
Möglichkeit, sich einem bestimmten<br />
Publikum mit einem gewissen Style zu<br />
präsentieren. Bei Auftritten riefen<br />
Run DMC ihrem Publikum zu:<br />
„Haltet eure Sneaker in die Luft!“ Und<br />
plötzlich war da dieses Meer aus<br />
Adidas-Schuhen über den Köpfen der<br />
Zuschauer. Eine bessere PR kann sich<br />
ein Unternehmen gar nicht wünschen.<br />
Ab diesem Zeitpunkt war Musik<br />
fester Bestandteil der<br />
Marketing-Maschinerie?<br />
Ja, und wie. Inzwischen hat Adidas<br />
eine sehr starke Basis in der Musikszene.<br />
Gerade im HipHop. Künstler wie<br />
Missy Elliott, Snoop Dogg oder eben<br />
Run DMC haben die Musikszene<br />
geprägt und stehen auch für die<br />
Marke. Einen Adidas-Tracksuit oder<br />
Julia Schoierer im Adidas-<br />
Icon-Store No 74. Sie<br />
trägt ein Original-Run-<br />
DMC-Shirt von 1986,<br />
eine Jogging hose aus der<br />
aktuellen Linie und ihre<br />
selbst designten Adidas-<br />
Sneakerqueen-Schuhe<br />
eine Track-Jacke zu tragen, hat heute<br />
immer noch Old-School-Flavour –<br />
und zwar nicht wegen des Sports,<br />
sondern wegen der Musik. Aber auch<br />
die langen Beziehungen zu Ian Brown<br />
(britischer Rock-Musiker, Anm. d.<br />
Red.) und zur Reggae-Legende Bob<br />
Marley gehören dazu. Sie haben sich<br />
auch privat gerne im Adidas-Dress<br />
fotografieren lassen. Brown designte<br />
zudem ebenfalls für Adidas.<br />
Aktuell launchen Pharell Williams<br />
und Rita Ora eine Linie. Wenn du es<br />
dir aussuchen könntest – mit<br />
welchem Musikkünstler sollte<br />
Adidas unbedingt zusammenarbeiten<br />
und warum?<br />
Wenn ich es mir aussuchen könnte,<br />
hätte ich gern eine Kollaboration mit<br />
Michael Jackson gesehen. Der Zug ist<br />
ja leider abgefahren. Wer ein gutes<br />
Stilempfinden hat und sicherlich auch<br />
gut zu Adidas passen würde, wäre<br />
Björk. Das wäre eine spannende<br />
Sache. Vielleicht sogar Björk mit<br />
Jeremy Scott (lacht). Ich weiß zwar<br />
nicht, ob es Sachen wären, die ich<br />
selbst tragen würde, da es auch zu<br />
flashy oder extravagant wirken<br />
könnte. Aber bei Björk mag ich<br />
einfach die Tatsache, dass sie verrückt<br />
und mutig an Sachen herangeht. Auch<br />
wenn das dann wirklich nur für den<br />
Moment bestimmt ist – wer braucht<br />
schon ein Kleidungsstück für die<br />
Ewigkeit?<br />
ALEXAND<strong>ER</strong> VETT<strong>ER</strong><br />
74 Werk VI 75
Johanna Top: Martin Niklas Wieser. Hose: Tata Christiane<br />
Vincent Longshirt: Mads Dinesen<br />
Ihr Revier ist die Großstadt, ihr Stil gibt Bewegungsfreiheit:<br />
In aktueller Streetwear ist man für den kommenden Herbst gewappnet<br />
URBAN<br />
WARRIORS<br />
FOTOS J E SSI C A WOLFELS B<strong>ER</strong>G<strong>ER</strong><br />
PRODUKTION L E O NIE VOLK & ALEXAND<strong>ER</strong> L A GUMA<br />
M ODEL J O HANNA & VINC ENT/ MEGA MODEL AGENCY<br />
H AARE/M AKE-UP O LGA P OZN YA S HEVA/CREATIVE BEAU T Y COMPANY USING M A C<br />
FOTOASSISTENZ TORBEN AV<strong>ER</strong>KO RN<br />
76 Werk VI 77
Hemd & Hose: Sadak. Schuhe: Adidas<br />
Body: Medima. Rock: Topshop<br />
78 Werk VI 79
Sweatshirt: Diesel Black Gold. Hose: Mads Dinesen. Schuhe: Adidas<br />
Bauchfreies Tanktop: Topshop. Hose mit Rockteil: Zara<br />
80 Werk VI 81
Vincent Hemd: Sadak<br />
Johanna Pullover: & Other Stories<br />
Hose: Sadak. Schuhe: Adidas<br />
82 Werk VI 83
Top: Ethel Vaughn. Leggins: Vintage<br />
Werk VI 85
D<strong>ER</strong><br />
GLAUBENSBRUD<strong>ER</strong><br />
Die katholische Kirche ist als weltfremd, dekadent und<br />
überflüssig verschrien. Ein junger Mann erklärt,<br />
warum er trotzdem in ihre Dienste tritt<br />
V O N A NNIKA L Ö SCH<br />
FOT OS: LE O P O LD ACHILLES<br />
Ob Gott ein Mann ist? Dominik Mutschler<br />
lacht über diese Frage. Wir sitzen in seinem<br />
Wohnzimmer in der nordrhein-westfälischen<br />
Großstadt Herne.<br />
Hier im Ruhrpott soll es noch echte Männer geben, werben<br />
die Ansichtskarten am nahegelegenen Bahnhof. Dominik,<br />
der in Witten aufwuchs, scheint einer von ihnen zu sein:<br />
bunt tätowierte Arme, Vollbart, kräftige Statur. In der Küche<br />
reihen sich leere Bierflaschen, auf dem Kühlschrank<br />
thronen Nahrungsergänzungsmittel für das Krafttraining.<br />
Die Hände des 26-Jährigen sind groß, sie scheinen wie geschaffen<br />
für Arbeit, bei der richtig zugepackt werden muss.<br />
Stattdessen falten sie sich zum Gebet, verteilen die Krakenkommunion,<br />
basteln mit Grundschülern und Firmlingen.<br />
Dominiks Arbeitgeber ist das Erzbistum Paderborn, sein<br />
Chef der örtliche Pfarrer. Als angehender<br />
Gemeindereferent arbeitet er<br />
hauptsächlich mit dem Kopf. Und<br />
mit seinem Herzen – das merkt<br />
man, wenn er über seinen Beruf<br />
spricht. „Ich habe mich nicht zu verstecken.<br />
Ich habe ganz viel zu geben“,<br />
sagt Dominik. Aber muss man<br />
für die Kirche arbeiten, um seinen<br />
Mitmenschen etwas geben zu können?<br />
Nein, und Dominik ist weit<br />
entfernt von dem mittelalterlichen<br />
Denken, sein Glaube wäre der einzig<br />
richtige. Er ist sich bewusst über das negative Bild, das viele<br />
von der Kirche haben. Seit Jahrzehnten sinkt die Zahl der<br />
Mitglieder in Deutschland, 2010 verzeichnete die zweithöchste<br />
Zahl an Kirchenaustritten: Über 300 Missbrauchsfälle<br />
kamen ans Licht, die an Schutzbefohlenen katholischer<br />
Einrichtungen verübt worden waren. Im Oktober<br />
2013 traten in München doppelt so viele Katholiken aus<br />
der Kirche aus wie im Vormonat, in Paderborn sogar dreimal<br />
so viele. Auslöser: der Bauskandal um den Limburger<br />
Bischof Tebartz-van Elst. Hinzu kommt das immer wieder<br />
mit Kopfschütteln betrachtete Zölibat. Jeder weiß, dass katholische<br />
Geistliche schon Kinder gezeugt haben – auch<br />
wenn in Deutschland erst eines davon offiziell anerkannt<br />
wurde. Dominik kann die Vorwürfe nachvollziehen. Für<br />
ihn ist gerade das ein Antrieb, seinen Mitmenschen zu zeigen:<br />
„Die Kirche besteht nicht nur aus Negativschlagzeilen.<br />
Hier gibt es so viele bunte, engagierte Leute, die Bock haben,<br />
Zukunft zu gestalten.“<br />
Draußen auf dem Balkon tröpfelt der Regen in einen<br />
Wok, in dem noch einzelne Asia-Nudeln von Dominiks<br />
Mittagessen kleben. Er erzählt, wie es dazu kam, dass er<br />
selbst einer dieser engagierten Menschen wurde. Wie sein<br />
optischer Auftritt ist auch sein Werdegang nicht unbedingt<br />
typisch für Vertreter seiner „Branche“. Katholisch<br />
erzogen, verlief seine Jugend trotzdem turbulent – inklusive<br />
Sitzenbleiben, eigener Rockband und haarscharf bestandenem<br />
Abi: „Eine Zeit, in der alles wichtiger war als<br />
Schule und Zukunft.“ Den Zivildienst,<br />
den Dominik in einem Altersheim<br />
leistete, sieht er als Zäsur,<br />
die ihn ein großes Stück erwachsener<br />
gemacht hat. „Ich war plötzlich<br />
mit Themen wie Vereinsamung, Armut,<br />
Krankheit und Tod konfrontiert.“<br />
Er lernte, dass es „andere<br />
Menschen mit anderen Problemen“<br />
gibt. Dominik wollte auch in Zukunft<br />
für andere etwas tun. Sein<br />
Glaube hatte ihm schon immer Halt<br />
gegeben, er bewundert seine Eltern,<br />
die sich seit Jahrzehnten in ihrer Kirchengemeinde engagieren.<br />
Er bewarb sich für das Studium der Religionspädagogik<br />
in Paderborn.<br />
Im Gegensatz zu seinem Abitur hat er den Bachelor mit<br />
Bravour bestanden. Eine 1,1 ziert das Abschlusszeugnis<br />
des angehenden Gemeindereferenten. Schon jetzt übernimmt<br />
Dominik viele der Aufgaben, die früher eigentlich<br />
ein Pfarrer erledigte. In Zeiten, in denen Pfarrer aufgrund<br />
der abnehmenden Anzahl geweihter Nachwuchskräfte –<br />
im Jahr 1962 gab es 557 Neupriester in Deutschland, 2012<br />
waren es nur noch 76 – bis zu drei Kirchengemeinden auf<br />
einmal betreuen, ist die Funktion der Gemeindereferenten<br />
Dominik ist stolz auf seine<br />
Tattoos. Für ihn sind sie<br />
Ausdruck seines Glaubens<br />
86 Werk VI 87
vielfältiger geworden. Dominik hält Gottesdienste, unterrichtet<br />
Religion in der Grundschule, betreut Firmlinge.<br />
„Auch ohne Priester zu sein, kann ich so viel tun“, sagt er.<br />
Während des Studiums hat er überlegt, Pfarrer zu werden.<br />
Er dürfte dann auch die Sakramente spenden – Taufe,<br />
Firmung, Eucharistie, Beichte, Krankensalbung, Priesterweihe,<br />
Ehe. Und er müsste die drei Gelübde ablegen: das<br />
Gelübde der Armut, das Gelübde der Gehorsamkeit und<br />
das Gelübde der Keuschheit. Gehorsamkeit ist etwas, womit<br />
Dominik wenig Probleme hat. Das bedeutet nicht, dass<br />
er jede Anweisung unreflektiert ausführt. Aber: „Ich halte<br />
mich selbst nicht für die Ultima Ratio. Ich kann viel von<br />
anderen Menschen lernen. Wenn man das begriffen hat,<br />
befreit das auch von dem Druck, sich ständig zu beweisen<br />
und selbst darzustellen“, erklärt Dominik. Er findet es<br />
männlich, wenn man sich selbst auch mal hinten anstellen<br />
kann, Dinge im Raum stehen lassen kann. „Ganz im Gegenteil<br />
zu dem gängigen Klischee, ein Mann müsste immer<br />
das letzte Wort haben“, sagt er.<br />
Die beiden anderen Gelübde haben Dominik von einer<br />
Priesterweihe abgehalten. Ein Gang durch seine Wohnung<br />
macht klar, dass hier kein Asket zu Hause ist. Digitaluhren,<br />
Gürtel und Schuhe populärer Streetwear-Labels<br />
zieren die Garderobe.<br />
Vier E-Gitarren, Skateboards und<br />
viel Computerschnickschnack sind<br />
im Schlafzimmer verstaut. „Luxusschwein“<br />
steht in goldenen Lettern<br />
auf einer Spardose. Wie andere junge<br />
Männer gibt Dominik gern Geld<br />
für seine Hobbys aus, legt Wert auf<br />
sein Äußeres.<br />
Und wie viele andere junge Männer<br />
möchte er nicht auf Frauen verzichten.<br />
„Ich will später mal eine Familie<br />
gründen und Kinder haben“,<br />
sagt er. Dominik kritisiert das Konzept<br />
des Zölibats nicht, macht aber<br />
deutlich, dass es ihm eine Laufbahn<br />
als Geistlicher unmöglich gemacht<br />
hat. Die katholische Kirche muss<br />
umdenken, überholte Regeln müssen<br />
an den gesellschaftlichen und<br />
kulturellen Wandel angeglichen<br />
werden. Nur so wird sie es schaffen,<br />
auch durch Menschen wie Dominik, jetzige und kommende<br />
Generationen zu erreichen. Sein untypisches Äußeres<br />
wirkt oft als Aufhänger, der es ihm einfach macht, mit<br />
Menschen in Dialog zu treten. „Es gab einen Vater, der<br />
selbst viele Tätowierungen hatte und das immer ein bisschen<br />
verstecken wollte, weil er unter den anderen Eltern<br />
damit auffiel. Als er mich kennengelernt und erfahren hat,<br />
dass ich einer von ‚denen‘ bin, war er sehr erleichtert. Es hat<br />
ihm das Selbstbewusstsein gegeben, zu seinen Tattoos zu<br />
stehen.“ Als Dominik den Kindergottesdienst in einer<br />
evangelischen Kirche leitete, lobten Eltern danach seine lockere<br />
Art, was sie von einem Mitarbeiter der katholischen<br />
Kirche nicht erwartet hätten.<br />
Dominik widerspricht nicht nur durch sein Äußeres<br />
dem Klischee des weltfremden Gottesmannes mit dem<br />
stets erhobenen Zeigefinger. Auch ist er keiner der Jesus-Freaks,<br />
die man auf dem Gymnasium wegen ihrer<br />
Taizé-T-Shirts belächelt hat. Seine Einstellung zu Gott ist<br />
nicht in abschreckendem Fanatismus begründet. Er lebt<br />
einfach die Liebe und Nähe zu den Menschen, denen er<br />
täglich als einer von ihnen begegnet.<br />
Ein Kruzifix sucht man in Dominiks Wohnung übrigens<br />
vergeblich. An den Wänden hängen moderne Stencil-<br />
Motive, Fotos von Familie und Freunden reihen sich im<br />
Regal. „Ich brauche das auch gar nicht so dringend“, sagt<br />
er. „Die Symbole, die mir wichtig sind, kann ich jeden<br />
Morgen unter der Dusche sehen.“ Er zieht sich sein Shirt<br />
über den Kopf. Auf dem Arm, der Brust und an der Seite<br />
des Oberkörpers ist Dominik großzügig tätowiert. Alle<br />
Motive sind durch seinen Glauben inspiriert. 2005 ließ er<br />
sich auf der Wade sein erstes Tattoo stechen, es sind Dürers<br />
„Betende Hände“. Es folgte ein Fisch – ein uraltes Christussymbol<br />
– auf der rechten Flanke, der altgriechische Spruch<br />
„Öffne dich“ aus der Taufliturgie quer über der Brust,<br />
„Wort Gottes“ in arabischen Lettern auf der Innenseite des<br />
linken Unterarms. Dominik sieht diese Bilder als Wegmarken,<br />
die die Entwicklung seiner Person nachzeichnen. So<br />
ist die Idee für den arabischen<br />
Schriftzug nach einer langen Diskussion<br />
mit einem Islamwissenschaftler<br />
entstanden: „Sowohl im Islam als<br />
auch im Christentum ist ‚Wort Gottes‘<br />
ein Titel für Jesus. Ich habe<br />
Hochachtung vor dieser Religion.<br />
Sie ist im Kern höchst friedlich und<br />
menschenfreundlich.“<br />
Sein neuestes Tattoo ist gerade erst<br />
fertig geworden. Es zeigt ein Löwensymbol,<br />
das für den Evangelisten<br />
Markus steht. Ein Stier, ein Adler und<br />
ein Engel sollen folgen, sie stehen für<br />
die übrigen drei Evangelisten.<br />
Die Kinder, die er in der Grundschule<br />
unterrichtet, stellen viele Fragen:<br />
„Hat das weh getan? Darf ich<br />
mal anfassen?“ Dominik freut sich<br />
über ihre Neugier. „Die katholische<br />
Kirche verfügt über eine reiche Symbolsprache,<br />
aber wer außer einem<br />
Theologen weiß noch, dass der Löwe<br />
ein Symbol für den Evangelisten Markus und die Auferstehung<br />
ist? Meine Schüler wissen das“, sagt er lachend. Als er<br />
sich in der Ausbildung zum Gemeindereferent befand, sicherte<br />
er sich wegen seiner Tattoos trotzdem lieber ab. „Ich<br />
habe einen Brief an den Generalvikar geschrieben, um mir<br />
bestätigen zu lassen, dass es in Ordnung ist.“<br />
Heute passen seine Nike „Air Max“, die er oft zum Gottesdienst<br />
trägt, farblich zu seinem orange-rot-bunt leuchtenden<br />
Sleeve am linken Arm. In Zeiten, wo Deutschland zu<br />
einem Missionsland wird, braucht es Menschen wie Dominik,<br />
die am Puls der Zeit leben und deshalb ihre Mitmenschen<br />
erreichen. Er will mit anderen Menschen teilen, was<br />
ihm der Glaube gibt. „Gott ist kein Mann, auch keine Frau.<br />
Gott ist eine Präsenz, eine Beziehung, die du im Gegenüber<br />
erleben kannst.“<br />
Für Dominik schließen<br />
sich Kirche und modernes<br />
Leben nicht aus<br />
88 Werk VI 89
BEZIEHUNGS-<br />
WEISEN<br />
Was ist Liebe? Was macht eine moderne Beziehung aus?<br />
Wie kann man gemeinsam den Alltag bewältigen,<br />
ohne sich dabei zu langweilen? Drei Berliner Paare sprechen<br />
über ihre ganz persönliche Art des Zusammenlebens<br />
I NT<strong>ER</strong>VIEWS: JULIA KÜST<strong>ER</strong><br />
FOT OS: STEFAN KORTE<br />
gerade in eine gemeinsame Wohnung<br />
gezogen. Die große Party mit Freunden<br />
holen wir dieses Jahr nach.<br />
Christophe (l.) und Tobias in ihrer gemeinsamen<br />
Wohnung. Die Schmetterlingssammlung<br />
hängt im Wohnzimmer<br />
empfinde. Es ist sehr wertvoll, jemanden<br />
gefunden zu haben, der in<br />
gewissen Momenten für dich da ist.<br />
Ich möchte nicht sagen, dass wir<br />
nur dafür gemacht sind, ein Pärchen -<br />
dasein zu leben, aber es gibt<br />
nichts Schöneres im Leben, als die<br />
Liebe seines Lebens zu treffen.<br />
CHRISTOPHE & TOBI<br />
Tobias Frericks (35) ist Fashion<br />
Director bei dem Männermagazin<br />
„GQ“ in München, sein Ehemann<br />
ist der französische Künstler<br />
Christophe Chemin (37). Die<br />
beiden sind seit 2010 ein Paar und<br />
haben Ende 2013 geheiratet.<br />
Sie leben in einem Loft in Berlin-<br />
Mitte. Ein Gespräch über<br />
bedingungsloses Vertrauen, Sex<br />
und die Liebe zu Prada.<br />
Wo habt ihr euch kennengelernt?<br />
Tobias: Im Freundeskreis. Ich hatte<br />
Christophe schon öfter beim Ausgehen<br />
gesehen und fand ihn interessant.<br />
Aber irgendwie war nie der richtige<br />
Moment da, um sich kennenzulernen.<br />
Bis zu dem Geburtstag eines gemeinsamen<br />
Freundes.<br />
Christophe: Ich hatte den Sommer<br />
in einer winzigen Wohnung in<br />
Kreuzberg verbracht und wollte im<br />
Herbst nach New York ziehen.<br />
Aber dann habe ich Tobi kennengelernt<br />
und meine Koffer wieder<br />
ausgepackt.<br />
T: Er ist bereits nach drei Wochen<br />
bei mir eingezogen und bis heute<br />
geblieben. Und wir haben es nie bereut,<br />
weil es perfekt harmoniert.<br />
Hattet ihr so was wie ein erstes Date?<br />
T: Wir hatten ausgemacht, zusammen<br />
die Gegend um den Teufelssee im<br />
Grunewald zu erkunden, aber ich<br />
habe dann nichts mehr von ihm gehört<br />
und dachte mir nur: was für ein<br />
Reinfall! Später kam aber eine SMS mit<br />
der Info, dass er mit einer Mittelohrentzündung<br />
im Krankenhaus sei. Ich<br />
hielt das für eine lahme Ausrede.<br />
C: Mir ging es wirklich total schlecht,<br />
ich hatte hohes Fieber und wahnsinnige<br />
Schmerzen. Als Tobi mich dann<br />
fragte, ob er sich zu Hause um mich<br />
kümmern soll, war ich sehr froh.<br />
T: Das war dann unser erstes Date.<br />
Christophe, was macht Tobias für<br />
dich so besonders?<br />
C: Er hat eine unglaublich positive<br />
Energie, die eine immense Auswirkung<br />
auf mein eigenes Befinden hat. Ich<br />
konnte viele Jahre lang mit niemandem<br />
zusammen sein, aber mit Tobi<br />
funktioniert es total selbstverständlich.<br />
Ich akzeptiere einfach alles an ihm.<br />
Das ist etwas, was ich noch nie vorher<br />
empfunden habe. Zudem weiß er,<br />
wie er mit mir umgehen muss, obwohl<br />
ich keine einfache Person bin. Es ist<br />
eine Energie zwischen uns, die<br />
unbeschreiblich und einzigartig ist.<br />
T: Ich würde auch sagen, dass sich<br />
unsere unterschiedlichen Wesen<br />
sehr gut ergänzen. Die meisten<br />
Menschen würden auf den ersten Blick<br />
nie denken, dass es zwischen uns<br />
funktioniert.<br />
C: Ich wusste von Anfang an, dass<br />
Tobi die Person ist, die ich im Leben<br />
brauche. Ich musste mich nie anstrengen,<br />
damit es funktioniert. Die<br />
meisten Menschen stören mich,<br />
wenn sie mir zu nah kommen. Ich<br />
gehe selten aus und meide Menschenmassen.<br />
Aber ich fühle mich immer<br />
wohl, wenn Tobi in meiner Nähe ist.<br />
T: Ich hatte eigentlich immer langjährige<br />
Beziehungen, aber es war auch<br />
immer klar, dass es nichts für die<br />
Ewigkeit ist. Bei Christophe ist es zum<br />
ersten Mal so, dass ich nichts in Frage<br />
stelle. Ich möchte mit ihm bis zum<br />
Ende meines Lebens zusammen sein.<br />
Deshalb habt ihr euch entschieden<br />
zu heiraten?<br />
T: Ja, wir haben im Dezember letzten<br />
Jahres im kleinen Kreis in Berlin<br />
geheiratet. Wir hatten zu der Zeit<br />
beruflich viel zu tun und sind zudem<br />
Wer hat wem den Antrag gemacht?<br />
T: Christophe hat mich gefragt und<br />
dann haben wir ausgiebig über<br />
das Thema gesprochen, weil wir<br />
eigentlich beide keine großen Fans<br />
der Ehe sind.<br />
C: Für mich ist es vor allem wichtig<br />
gewesen zu heiraten, weil wir auch<br />
das Recht dazu haben. Es hat einfach<br />
gewisse Vorteile, die sollten homosexuelle<br />
Paare auch ausnutzen.<br />
T: Es ist auch eine Frage von Sicherheit.<br />
Wir haben uns gemeinsam<br />
eine Wohnung gekauft, zudem ist<br />
Christophe hier in einem fremden<br />
Land. Wenn einem von uns vor der<br />
Heirat etwas passiert wäre, hätte<br />
der andere keine Rechte gehabt, sich zu<br />
kümmern. Schon ein Krankenhausbesuch<br />
wäre schwierig gewesen.<br />
Warum sind langjährige Beziehungen<br />
unter Homosexuellen eher selten?<br />
T: Ich denke, dass Männer von Natur<br />
aus einfach sexuellere Wesen sind,<br />
die Sex öfter und mit unterschiedlichen<br />
Partnern haben und sich nicht so gern<br />
festlegen. Nach dem Motto: Es könnte<br />
ja noch jemand Besseres kommen.<br />
Für Frauen ist es eine größere Sache,<br />
mit jemandem zu schlafen.<br />
C: Eigentlich hat es nichts damit<br />
zu tun, ob man homo- oder heterosexuell<br />
ist. Am Ende streben<br />
„ICH FÜHLE MICH<br />
WOHL BEI DEM<br />
GEDANKEN, ÄLT<strong>ER</strong><br />
ZU W<strong>ER</strong>DEN“<br />
CHRISTOPHE CHEMIN<br />
wir doch alle nach dem Gleichen.<br />
T: Männer warten einfach länger<br />
darauf, bis ihnen der perfekte Partner<br />
über den Weg läuft. Die Zwischenzeit<br />
überbrücken sie mit vielen falschen.<br />
C: Generell ist Perfektion ein großes<br />
Thema bei Männern, obwohl es<br />
vollkommen absurd ist. Denn am Ende<br />
ist die Person, mit der du wahre<br />
Liebe erlebst, nie die, die du dir vorher<br />
jahrelang in deinem Kopf vorgestellt<br />
hast.<br />
Was bedeutet Liebe für euch?<br />
C: Die Antwort darauf ist wohl dieselbe<br />
wie auf die Frage, warum ich mein<br />
Leben mit Tobi teilen möchte, obwohl<br />
ich auch allein und frei sein könnte? Es<br />
ist bedingungsloses Vertrauen, was ich<br />
Möchtet ihr Kinder haben?<br />
C: Wir haben schon oft darüber nach -<br />
gedacht, Eltern zu werden. Es ist<br />
etwas kompliziert, weil wir beruflich<br />
viel unterwegs sind. Dabei wäre ich<br />
liebend gern Vater. Ich hätte einem<br />
Kind viel zu geben. Aber ich bin auch<br />
ein Künstler und ich gebe Menschen<br />
etwas auf einer anderen Ebene.<br />
Ich würde also nicht so sehr leiden,<br />
sollten wir keine Kinder haben.<br />
T: Ich bin noch nicht bereit dazu, weil<br />
mein Job es nicht erlaubt. Ich bin nie<br />
eine komplette Woche in Berlin und<br />
möchte nicht einer dieser Väter sein,<br />
die nie da sind. Aber wir werden uns<br />
bald einen kleinen Welpen anschaffen<br />
– als ersten Familienzuwachs. (lacht)<br />
Tobias, du arbeitest in München.<br />
Christophe, du hast lange Zeit in<br />
Paris gelebt. Wieso habt ihr euch für<br />
Berlin als Basis entschieden?<br />
C: Als Franzose schätze ich Paris<br />
natürlich sehr. Es ist hübsch dort, aber<br />
es ist auch eine sehr schnelle Stadt.<br />
Berlin hat für mich gleichermaßen etwas<br />
Unvollkommenes, Zerstörerisches und<br />
Wunderschönes. Auch die historische<br />
Vergangenheit der Stadt fasziniert<br />
mich sehr. Viele meiner Freunde aus<br />
aller Welt sind vor Jahren nach Ostberlin<br />
geströmt. Es war wie eine Welle,<br />
die dann auch mich erfasst hat.<br />
90 Werk VI 91
T: Für mich ist Berlin einfach<br />
die einzig interessante Stadt in<br />
Deutschland.<br />
Christophe, welchen Bezug hast<br />
du zu Mode?<br />
C: Wir Franzosen haben ein gutes<br />
Modebewusstsein. Aber ich denke,<br />
jeder Mensch hat einen Bezug zu Mode,<br />
denn auch wenn man sie ablehnt,<br />
kleidet man sich und drückt automatisch<br />
etwas damit aus. Was ich an Mode<br />
mag ist, dass sie sich kontinuierlich<br />
ändert – obwohl ich Prada so sehr liebe,<br />
dass ich beinahe Angst habe, dass es<br />
nächste Saison anders sein könnte.<br />
Was fasziniert dich so an Prada?<br />
C: Miuccia Prada schafft es, Maskulinität<br />
und Kunst mit Bequemlichkeit<br />
zu verbinden. Man erkennt sofort,<br />
woher sie ihre Inspirationen nimmt,<br />
und das macht es für mich so tragbar.<br />
Diesen Sommer inszeniert sie einen<br />
Urlaubstrip nach Hawaii. Simpel, aber<br />
umwerfend. Man könnte alle ihre<br />
Kollektionen zusammenlegen und die<br />
Teile miteinander mixen.<br />
Ist Mode für dich Kunst?<br />
C: Nein. Es gibt Parallelen, denn Mode<br />
und Kunst inspirieren sich mittlerweile<br />
gegenseitig. Vor ein paar Jahren<br />
durfte man sich als Künstler nicht<br />
für Mode interessieren, man wäre sonst<br />
nicht ernst genommen worden. Mode<br />
wurde in der Kunst als vollkommen<br />
irrelevant angesehen. Heute ist es sehr<br />
wichtig, dass du alles, was du tust,<br />
kommunizierst. Und Mode ist dafür<br />
ein sehr wichtiges Mittel. Aber die<br />
Tatsache, dass Mode alle sechs Monate<br />
neu erfunden werden muss, widerspricht<br />
der Kunst.<br />
Wie stellt ihr es euch vor, gemeinsam<br />
alt zu werden?<br />
C: Ich fühle mich wohl bei dem<br />
Gedanken, älter zu werden, das war<br />
für mich noch nie ein Problem.<br />
Das Wichtigste ist, an einem Ort zu<br />
sein, an dem ich glücklich bin.<br />
T: Ich bin niemand, der etwas plant,<br />
denn am Ende kommt immer alles<br />
anders, als man denkt. Hauptsache ist,<br />
dass wir auch in 40 Jahren noch<br />
glücklich zusammen sind – unabhängig<br />
davon, ob wir in Berlin leben,<br />
egal, ob ich noch in der Mode oder<br />
Christophe als Künstler arbeitet.<br />
CHRISTIANE & MARCUS<br />
Die Herausgeberin des Magazins<br />
„I Love You“ Christiane<br />
Bördner (43) und der Fotograf<br />
Marcus Gaab (44) sind seit<br />
20 Jahren ein Paar – privat wie<br />
beruflich. Sie leiten gemeinsam<br />
die Kommunikationsagentur<br />
The Gaabs und leben mit ihren<br />
Kindern Aaron (14) und Zara<br />
(7) in einer 250 Quadratmeter<br />
großen Wohnung im Prenzlauer<br />
Berg. Zum Gespräch über<br />
das Geheimnis einer jahrzehntelangen<br />
Beziehung öffnen die<br />
beiden die Tür zu ihrem Studio.<br />
Wie habt ihr euch kennengelernt?<br />
Christiane: Ganz klassisch auf der<br />
Erstsemesterparty. Wir haben zusammen<br />
an der Folkwangschule in Essen<br />
Kommunikationsdesign studiert.<br />
Wo war euer erstes Date?<br />
Marcus: Mann, ist das lange her!<br />
Weißt du das noch, Christiane?<br />
C: Tja, Marcus hatte damals noch<br />
eine Freundin …<br />
M: Toll, jetzt ist es raus!<br />
C: Aber wir haben uns dann trotzdem<br />
verabredet. Bei einem Freund in<br />
Wiesbaden. Ich komme aus Frankfurt<br />
am Main und Marcus aus Mannheim,<br />
da lag das in der Mitte.<br />
Marcus, was hast du gedacht,<br />
als du Christiane zum ersten Mal<br />
gesehen hast?<br />
M: Erst mal gar nichts. Wir streiten<br />
auch immer darüber, wer den ersten<br />
Schritt gemacht hat.<br />
C: Ich habe ihn auf seinen Dialekt<br />
angesprochen. Das Besondere zwischen<br />
mir und Marcus war, dass von Anfang<br />
an alles klar war. Es gab nie dieses<br />
„Wer ruft wen zuerst an“-Spielchen.<br />
Was ist das Geheimnis eurer Liebe?<br />
C: Liebe ist Arbeit, Arbeit, Arbeit!<br />
Wir sind definitiv kein frisch verliebtes<br />
Pärchen mehr. Wir haben ein<br />
Business zusammen, Kinder und<br />
bestreiten unseren Alltag gemeinsam.<br />
Manche Dinge müssen wir nicht<br />
infrage stellen – und dazu gehört<br />
unsere Beziehung. Es funktioniert<br />
einfach.<br />
M: Am Ende ist es wohl Vertrauen und<br />
Leidenschaft. Wenn es keine Überraschungen<br />
gibt, keine Entwicklungen<br />
und keinen Energieaustausch mehr,<br />
dann wäre es komisch.<br />
C: Ja, Vertrauen ist wohl das Wichtigste<br />
bei uns.<br />
Marcus, was schätzt du an<br />
Christiane?<br />
M: Disziplin, Konsequenz und<br />
Leidenschaft.<br />
Und was nervt?<br />
M: Disziplin, Konsequenz und<br />
Leidenschaft.<br />
Und du, Christiane?<br />
C: Großzügigkeit, Mut und seinen<br />
geilen Body! (lacht) Sein angstfreies<br />
Wesen ist das, was mich am meisten<br />
beeindruckt. Es sind immer die Dinge,<br />
die man selbst nicht hat, die einen<br />
komplettieren. Marcus denkt immer<br />
sehr risikobereit, während ich sehr<br />
ängstlich bin.<br />
Gegensätze ziehen sich also<br />
wirklich an?<br />
M: Schon, aber ein paar Charakterzüge<br />
muss man einfach teilen. Wenn man<br />
gemeinsam an Projekten arbeitet, muss<br />
man an einem Strang ziehen. Wenn es<br />
am Ende hart auf hart kommt, sind wir<br />
lustigerweise auch immer einer<br />
Meinung.<br />
„LEUTE GEHEN<br />
DAVON AUS,<br />
DASS MARCUS D<strong>ER</strong><br />
CHEF IST.<br />
EINFACH, WEIL <strong>ER</strong><br />
EIN MANN IST“<br />
CHRISTIANE BÖRDN<strong>ER</strong><br />
Ihr leitet gemeinsam die Agentur The<br />
Gaabs. Wer übernimmt welchen<br />
Part?<br />
M: Ich bin als Fotograf für Fotos und<br />
Filme zuständig. Christiane macht die<br />
Art Direktion, also alles, was mit<br />
Grafikdesign zu tun hat – für Print und<br />
Online. Christiane ist aber auch für den<br />
redaktionellen Part zuständig. Sie<br />
schreibt oder überwacht die Texte.<br />
Da fliegen sicher auch mal die<br />
Fetzen?<br />
C: Sehr oft. Das bleibt nicht aus bei<br />
einem Leben mit Firma und Kindern.<br />
Meistens streiten wir uns aber über<br />
finanzielle Dinge. Wenn wir angespannt<br />
sind und beide nicht weiterwissen.<br />
Das Gute ist, dass wir uns<br />
gegenseitig so sehr vertrauen, dass wir<br />
uns nicht in die Bereiche des anderen<br />
einmischen. Jeder hat seine eigene<br />
Entscheidungsgewalt und das wird<br />
akzeptiert. Schlimm wurde es allerdings,<br />
als ich „I Love You“ gegründet<br />
habe. Damit war Marcus anfangs<br />
überhaupt nicht einverstanden. Er<br />
wollte kein eigenes Magazin machen.<br />
Er fürchtete, das würde den Eindruck<br />
machen, dass er als Fotograf keinen<br />
Erfolg hat und ein eigenes Medium<br />
für seine Arbeit braucht. Da gab es<br />
richtig Streit und unsere Beziehung<br />
stand eine Zeitlang wirklich auf der<br />
Kippe.<br />
Wie habt ihr diesen Konflikt gelöst?<br />
C: Ich habe es einfach durchgezogen<br />
und er musste es akzeptieren.<br />
Wie trennt ihr Privates vom<br />
Beruflichen?<br />
C: Das kann man nicht trennen. Wir<br />
knutschen aber nicht im Büro.<br />
Wie ist es mit Freiräumen?<br />
C: Wir sehen uns zwar rund um die<br />
Uhr, aber immerhin haben wir uns nach<br />
20 Jahren immer noch etwas zu sagen.<br />
Außerdem sind wir auch für ein paar<br />
Tage auf anderen Jobs, da genießt man<br />
die Zeit auch. Hätten wir keine gemeinsame<br />
Firma, würde sich bei unseren<br />
Jobs immer einer beschweren, dass der<br />
andere nicht zum Abendessen da ist.<br />
Und wer hat letztendlich die Hosen<br />
an in der Agentur?<br />
C: Es kommt öfter vor, dass Leute<br />
davon ausgehen, dass Marcus der Chef<br />
ist. Einfach, weil er ein Mann ist.<br />
Darüber kann ich aber nur lachen.<br />
M: In Führungssituationen teilen wir<br />
uns charakterlich gut auf. Ich sage<br />
immer: Christiane ist der Innenminister<br />
und ich der Außenminister. Ich<br />
bin immer der erste und letzte, der mit<br />
Kunden kommuniziert und viel<br />
unterwegs ist, während Christiane<br />
diejenige ist, die das Vertrauen<br />
zwischendurch aufbaut und Dinge<br />
intern viel schneller entscheiden kann.<br />
Christiane und Marcus haben ihre<br />
Agentur sehr wohnlich ausgestattet –<br />
inklusive Bibliothek, Küche und Tiermasken<br />
an den Wänden<br />
Wie bekommt man so ein Berufsleben<br />
hin mit zwei Kindern?<br />
C: Aaron ist schon 14 und sehr<br />
selbständig. Er geht nach der Schule<br />
alleine nach Hause, macht sich was zu<br />
essen. Aber früher mussten die Kinder<br />
natürlich schon immer mit ins Büro.<br />
Außerdem bekommen wir großartige<br />
Unterstützung von unseren Eltern und<br />
den Babysittern.<br />
Bleibt auch Zeit zum Ausgehen?<br />
C: Wir sind berufsbedingt auf so vielen<br />
Events, dass ich an freien Abenden<br />
nicht das Bedürfnis habe, mit Marcus<br />
auszugehen, sondern lieber die Füße<br />
hochlege. Wenn es draußen regnet,<br />
machen wir total gern einen Gammeltag<br />
und gucken den ganzen Tag Filme<br />
mit den Kindern. Das genießen wir<br />
dann alle gemeinsam.<br />
Es ist das Jahr 2044. Wie lebt ihr?<br />
M: Ähnlich wie jetzt, nur mit mehr<br />
Freiheiten. Und mit Enkelkindern<br />
vielleicht.<br />
C: Und wir reisen ganz viel, haben<br />
keinen festen Wohnsitz und kein Auto<br />
mehr. Vielleicht arbeiten wir auch<br />
noch und bringen Bücher über unsere<br />
Reisen raus.<br />
M: Bücher gibt es dann nicht mehr.<br />
C: Dann eben iPad-Lektüren.<br />
92 Werk VI 93
KIRSTEN & STEPHAN<br />
Pauly Saal, Berlin-Mitte:<br />
Kirsten Hermann (41), ihre<br />
Tochter Puki und Stephan<br />
Landwehr (55) sitzen an der<br />
Bar, um mit uns über eine<br />
moderne Patchwork-Beziehung<br />
zu sprechen. Seit acht Jahren<br />
sind die Stylistin und Inhaberin<br />
der Galerie für moderne<br />
Fotografie und der Gastronom<br />
(Pauly Saal, Grill Royal,<br />
King Size Bar), Bilderrahmer<br />
und Kunstsammler ein Paar.<br />
Die 13-jährige Puki stammt aus<br />
Kirstens vorheriger Beziehung.<br />
Wie seid ihr euch zum ersten Mal<br />
begegnet?<br />
Kirsten: Wir saßen uns bei der<br />
Hochzeit einer gemeinsamen Freundin<br />
gegenüber. Meinen Tischnachbarn<br />
habe ich über Stephan ausgefragt,<br />
weil ich ihn interessant fand.<br />
Stephan, was hast du gedacht, als du<br />
Kirsten gegenüber sitzen sahst?<br />
Stephan: Ich fand sie sehr attraktiv.<br />
Später saßen wir ja dann auch<br />
neben einander, und nach der Hoch -<br />
zeit haben wir uns immer öfter<br />
Kirsten, Stephan und Puki in der Bar des<br />
Pauly Saals, die wie ein zweites<br />
Wohnzimmer für die Patchwork-Familie ist<br />
getroffen und unsere Freundschaft<br />
verfestigt. (lacht)<br />
Was versteht ihr unter einer<br />
modernen Beziehung?<br />
S: Dass ich auch mal in Ruhe gelassen<br />
werde und machen kann, was ich will.<br />
K: Freiheit, würde ich sagen!<br />
Wohnt ihr zusammen?<br />
K: Nein, wir leben zwar an den<br />
Wochenenden auf dem Land nordöstlich<br />
von Berlin zusammen in<br />
einem Haus, aber hier in Berlin haben<br />
wir zwei getrennte Wohnungen.<br />
S: Ansonsten haben wir auch zwei<br />
Autos, zwei Bankkonten und<br />
zwei Telefonanschlüsse.<br />
Was schätzt ihr aneinander?<br />
S: Ein gutes Händchen für Hausarbeit,<br />
Abwasch und Wäsche waschen!<br />
K: Immer bist du so böse!<br />
S: Nein. Aber maximale Rückendeckung<br />
in Bezug auf meinen Beruf ist<br />
mir wichtig!<br />
K: Also mir ist meine eigene Unabhängigkeit<br />
sehr wichtig, Loyalität und<br />
auf jeden Fall Humor!<br />
Wann habt ihr denn das letzte<br />
Mal gemeinsam gelacht?<br />
K: Eigentlich lachen wir ständig.<br />
Humor ist das, was uns verbindet.<br />
S: Stimmt – wir lachen sehr oft.<br />
Am meisten lache ich über meine<br />
eigenen Witze über Kirsten.<br />
Puki: Und wenn wir alle zu lauter<br />
Musik tanzen. Dann lachen wir auch<br />
immer viel.<br />
Wie sieht ein typischer Sonntag<br />
bei euch aus?<br />
S: Da sind wir meistens in unserem<br />
Landhaus in Brandenburg. Ich stehe<br />
ganz früh auf, während Kirsten und<br />
Puki lieber länger schlafen. Dann<br />
wandere ich um die zwei Seen vor<br />
unserer Haustür und gehe dann im<br />
eiskalten Wasser schwimmen. Anschließend<br />
bereite ich ein Frühstück<br />
für uns drei vor: zwei Eier im Glas<br />
mit Schnittlauch, Chili und Meersalz.<br />
Du kochst also gern, was sollte<br />
man in deinen Restaurants unbedingt<br />
probieren?<br />
S: Die Speisekarte im Pauly Saal ist<br />
sehr saisonal, weil wir die Produkte<br />
hauptsächlich aus dem Umland<br />
beziehen. Wild ist sehr beliebt, weil<br />
es das beste Bioprodukt ist, was<br />
man haben kann. Wir kaufen es bei<br />
unserem Nachbarn auf dem Land,<br />
der Jäger ist, und transportieren es<br />
dann nach Berlin. Und im Grill Royal<br />
den frischen Fisch.<br />
Wie sehen eure Arbeitszeiten aus?<br />
S: Von acht Uhr morgens bis ein Uhr<br />
nachts.<br />
P: Aber du bist doch nicht um acht<br />
Uhr im Büro!<br />
S: Wer hat heutzutage schon ein Büro?<br />
Wenn ich um acht Uhr einen Anruf<br />
kriege, muss ich natürlich rangehen.<br />
K: Unsere Arbeitszeiten sind sehr<br />
unterschiedlich. Dadurch, dass er<br />
Chef ist und ich freiberuflich arbeite,<br />
sind wir sehr flexibel. Einerseits<br />
kann man sich seine Zeit gut einteilen,<br />
aber auf der anderen Seite muss man<br />
rund um die Uhr erreichbar sein.<br />
Arbeitet ihr auch gemeinsam an<br />
Projekten?<br />
K: Momentan bauen wir das<br />
Landhaus aus. Es sind eher gemeinsame<br />
Hobbys, die wir haben. Es ist<br />
nicht so, dass wir eine Firma haben,<br />
aber irgendwie vermischt es sich<br />
ja doch alles. Man unterhält sich über<br />
anstehende Projekte, tauscht Ideen<br />
aus, spricht über Kunst. Unterstützt<br />
sich, aber nervt sich auch, wenn<br />
man mal etwas besser weiß als der<br />
andere.<br />
Knallt es dann auch mal?<br />
S: Über Kunst kann man nicht streiten.<br />
Man kann zwar verschiedener Meinung<br />
sein, was gut oder schlecht ist,<br />
aber das kann am Ende nur akzeptiert<br />
werden. Ich kann niemandem vorschreiben,<br />
die Kunst gut zu finden, die<br />
ich gut finde. Aber Kirsten und mein<br />
Geschmack ergänzen sich ganz gut.<br />
Kirsten, nach welchen Kriterien<br />
suchst du die Künstler für deine<br />
Galerie aus?<br />
K: Das ist tatsächlich sehr intuitiv. Ich<br />
mag besonders die Porträt- und<br />
Aktfotografie. Fotografen wie Ute<br />
Mahler oder Günter Rössler, die in der<br />
DDR gearbeitet haben, interessieren<br />
mich ganz besonders. Das hat mit<br />
meinem eigenen Background zu tun,<br />
ich bin in Rostock aufgewachsen.<br />
„ÜB<strong>ER</strong> KUNST<br />
KANN MAN SICH<br />
NICHT STREITEN“<br />
STEPHAN LANDWEHR<br />
Was hältst du von Plattformen wie<br />
Instagram – da ist ja quasi jeder<br />
Fotokünstler?<br />
K: Ich finde Instagram inspirierend<br />
und ein wichtiges Mittel unserer Zeit,<br />
das man nicht einfach so ignorieren<br />
kann. Ich bin allerdings eher zögerlich,<br />
aus allem gleich eine Ausstellung zu<br />
machen.<br />
Stephan, ist Mode für dich auch<br />
Kunst?<br />
S: Nein, auf keinen Fall. Kann es gar<br />
nicht sein, weil es schlichtweg ein<br />
Gebrauchsgegenstand ist. Architektur<br />
ist schließlich auch keine Kunst.<br />
K: Aber findest du nicht, dass die<br />
Kreation dahinter eine Form der Kunst<br />
ist? Wenn du dir z. B. die Entwürfe<br />
von Alexander McQueen anschaust,<br />
das sind doch unfassbare Skulpturen!<br />
S: Kunst dient aber nicht, während<br />
Kleidung nützlich ist. In Paris waren<br />
wir in der Alaïa-Austellung, die war<br />
schon beeindruckend. Diese Zeitdokumente,<br />
losgelöst von Körper und<br />
Mensch, könnte man als Kunst<br />
betrachtet. Im historischen Rückblick<br />
funktioniert es schon. Aber dann<br />
könnte auch ein Auto aus den<br />
70er-Jahren Kunst sein. Da hört man<br />
dann automatisch die Musik, die<br />
darin wahrscheinlich gespielt wurde,<br />
und wird für einen Moment schwach.<br />
Dieses Gefühl ist Kunst.<br />
Was bedeutet dir die Kleidung,<br />
die du trägst?<br />
S: Ich habe keinerlei Beziehung zu<br />
Mode.<br />
K: Das würde ich nicht sagen,<br />
schließlich trägst du ausschließlich<br />
maßgeschneiderte Anzüge – genau<br />
das ist Mode!<br />
S: Das liegt daran, dass ich es hasse,<br />
in Läden einzukaufen.<br />
Was macht guten Stil bei einem Mann<br />
aus?<br />
K: Er muss einfach seine Kleidung<br />
füllen. Das können auch Jeans und<br />
T-Shirt sein, aber es muss authentisch<br />
sein und die Ausstrahlung muss von<br />
innen kommen. Stephan scheint für<br />
mich im Anzug geboren zu sein.<br />
Wichtig ist auch, dass die Kleidung gut<br />
sitzt – egal ob Anzug oder Baggy-Jeans.<br />
Euch trennen 14 Jahre – ist der<br />
Altersunterschied ein Thema?<br />
K: Das Positive daran sind Stephans<br />
spannende Geschichten, insbesondere<br />
vom Berlin der 80er-Jahre. Er kam<br />
1983 nach Westberlin und hat die<br />
ganze Entwicklung der Stadt mitbekommen.<br />
Negativ ist, dass er immer<br />
so früh aufstehen muss.<br />
Puki, findest du es auch mal schwierig,<br />
in einer Patchwork-Familie zu leben?<br />
P: Nö!<br />
K: Erzähl mal, wie du lebst, Puki.<br />
P: Ich bin eine Woche bei Mama<br />
und eine Woche bei Papa, und am<br />
Wochenende bin ich meistens mit<br />
Stephan und Mama auf dem Land.<br />
Manchmal komm ich aber auch nicht<br />
mit, wenn ich keine Lust habe.<br />
Ist dein Verhältnis zu Stephan<br />
väterlich oder freundschaftlich?<br />
P: Auf jeden Fall väterlich.<br />
S: Braves Mädchen!<br />
K: Das ist aber wirklich so. Ich habe<br />
manchmal sogar das Gefühl,<br />
dass ich etwas außen vor bin, weil<br />
die beiden sich so gut verstehen.<br />
P: Am Anfang hatte ich noch Angst<br />
vor ihm, weil er so groß ist und so<br />
einen speziellen Humor hat. Aber jetzt<br />
ist alles super.<br />
Stephan, hast du dir eigene Kinder<br />
gewünscht?<br />
S: Es war nie so ein Thema für mich.<br />
Ausgeschlossen habe ich es nie,<br />
aber natürlich gehört auch immer<br />
die richtige Beziehung dazu.<br />
Was versucht ihr, Puki mit auf den<br />
Weg zu geben?<br />
K: Mir sind gute Umgangsformen<br />
wichtig. Wie sie ihr Besteck hält, dass<br />
sie gerade sitzt und beim Begrüßen<br />
aufsteht. Ansonsten versuche ich, ihr<br />
viele Freiheiten zu geben, weil ich<br />
selbst sehr unkonventionell aufgewachsen<br />
bin. Ich bin keine Mutter, die sagt:<br />
„Nicht soviel fernsehen!“ Ich finde,<br />
man sollte Kindern eher beibringen,<br />
Verantwortung zu übernehmen und<br />
herauszufinden, was gut für sie ist.<br />
S: Und keine Männer, bis sie 16 ist!<br />
94 Werk VI 95
AMORS<br />
HELF<strong>ER</strong><br />
Flirten. Für manche die einfachste Sache der Welt, für andere<br />
eine unlösbare Hürde auf der Suche nach der großen Liebe.<br />
Für Männer, die Frauen aus Fleisch und Blut kennenlernen wollen,<br />
es aber nicht schaffen, bietet die Flirtuniversity in Köln<br />
ein Wochenendseminar an. Wir waren dabei<br />
TEXT: ELSA SONNTAG<br />
ILLUSTRATION: TABEA BECK<strong>ER</strong><br />
Johann rennt über die Straße und erreicht die junge<br />
Frau gerade noch, bevor sie im Hauseingang verschwindet.<br />
„Hallo, ich heiße Johann. Ich hab dich<br />
gesehen und fand dich unglaublich süß. Ich musste<br />
dir das jetzt einfach mal sagen.“ Eine Situation wie aus einem<br />
Hollywood-Liebesfilm: Frau läuft nichtsahnend durch die<br />
Stadt und plötzlich taucht ihr Traumprinz auf und spricht sie<br />
an. Ganz so spontan war das bei Johann allerdings nicht. Er<br />
befindet sich mitten in einem Flirtcoaching-Seminar und hat<br />
vorher genau gesagt bekommen, was er tun muss. Er ist mit<br />
einem Mikrofon ausgestattet und wird heimlich gefilmt.<br />
Flirtcoaching-Seminar? Was bitte soll das denn sein? Wozu<br />
gibt es Tinder, Facebook und Parship? In Zeiten, in denen es<br />
völlig normal ist, seinen Partner mittels Onlinedating zu finden,<br />
scheint so eine Taktik völlig veraltet. Heute schickt man<br />
dem oder der Angebeteten eine Freundschaftseinladung oder<br />
schreibt eine Nachricht. Wenn nichts zurückkommt, dann war<br />
die Zurückweisung wenigstens digital und nicht echt. Doch<br />
was ist, wenn man keine Lust auf Onlinedating hat? Wenn<br />
man es ausprobiert hat und nur enttäuscht wurde? So geht es<br />
den sieben Männern, die an einem heißen Juniwochenende in<br />
Köln zusammenkommen, um das Flirten zu lernen.<br />
Gegründet wurde die Flirtuniversity 2012 von Alex Pareto<br />
und Horst Wenzel in Essen. Wenzel war vorher jüngster<br />
SPD-Ortsvereinschef in Westerfilde, Nordrhein-Westfalen.<br />
Er hat seine politische Karriere für den Job als Flirtcoach an<br />
den Nagel gehängt. Pareto hat bereits als Student eine eigene<br />
Internetfirma gegründet. Neben seiner Tätigkeit an der<br />
Flirtuniversity coacht er u. a. Mitarbeiter in großen Unternehmen<br />
im Bereich Persönlichkeitsentwicklung. Inzwischen<br />
bieten die beiden deutschlandweit an mindestens drei Wochenenden<br />
im Monat Flirtcoaching-Seminare an. Auch<br />
Stimmtraining, Einzel- und Stylecoaching kann man zusätzlich<br />
buchen. Pareto und Wenzel haben für ihre University<br />
ein klares Ziel definiert: den Männern und Frauen auf dieser<br />
Welt zu mehr „Liebe im Leben“ zu verhelfen. Potenzielle<br />
Kunden gibt es genug. Rund 20 Millionen Singles leben in<br />
Deutschland. 2013 hat das Online-Partnerportal elitepartner.de<br />
insgesamt 4.147 Alleinstehende nach dem Grund ihres<br />
Singlelebens befragt. Die Frauen gaben an, zu oft auf beziehungsunfähige<br />
Männer zu treffen. Und Männer sind<br />
schlichtweg zu schüchtern, um die richtige Frau anzusprechen.<br />
Diesen Männern wollen Pareto und Wenzel auf die<br />
Sprünge helfen.<br />
HINT<strong>ER</strong> JEDEM FLIRT<br />
STECKT EIN ABENTEU<strong>ER</strong><br />
„Natürlich begeistern“ lautet der Titel des Seminars in Köln.<br />
Vormittags um halb elf treffen die Teilnehmer in den Konferenzräumen<br />
ein. Alle sieben haben ein Problem: Frauen stellen<br />
immer höhere Ansprüche! Sie wollen einen Superman,<br />
der charmant, gutaussehend und auch noch erfolgreich im<br />
Beruf ist! Michael ist 47 und Kinderarzt. Eine gute Partie,<br />
könnte man meinen. Aber er schafft es einfach nicht, aus seiner<br />
Komfortzone, die aus Freunden, Familie und Beruf besteht,<br />
auszubrechen und Frauen kennenzulernen. Er sei kein<br />
Typ, der Frauen ansprechen kann, sagt er. Als er im Internet<br />
auf die Flirtuniversity stieß, dachte er sich, was soll schon<br />
passieren, einen Versuch ist es wert. Ralf, 32, erfolgreicher Ingenieur,<br />
findet sich immer wieder in der sogenannten Friendzone<br />
wieder: laut Wikipedia eine platonische Beziehung, in<br />
der eine Person, meist der Mann, sich irgendwann auch nach<br />
Romantik und Sex sehnt. Die andere Person jedoch nicht. „Es<br />
ist eine verkappte Männervorstellung, dass man mit einer<br />
Frau befreundet sein kann, bevor sie sich in einen verliebt“,<br />
sagt Coach Wenzel. Das passiere nur selten. „Mann muss seine<br />
Intention klar machen!“<br />
Patricks größter Wunsch wäre es, überhaupt mal in der<br />
Nähe einer Friendzone zu landen. Er ist 36, hatte noch nie<br />
eine Freundin und bisher nur Sex mit Prostituierten. Und der<br />
war nicht mal gut. Er packt offen sein Problem auf den Tisch.<br />
Patrick wünscht sich endlich Zufriedenheit in seinem Leben.<br />
„Was dich glücklich macht, sind deine Gedanken! Frauen<br />
merken eine positive Ausstrahlung. Wir werden das an diesem<br />
Wochenende bei euch schaffen“, versprechen die<br />
Coaches.<br />
ÜBEN AN D<strong>ER</strong> FALSCHEN<br />
FÜR DIE RICHTIGE<br />
Was alle sieben Männer gemeinsam haben, ist die Angst vor<br />
der Zurückweisung. Die Panik, abgelehnt zu werden, lähmt<br />
sie bei dem Versuch, Frauen anzusprechen. „Vor mir sitzen<br />
sieben Ferraris, aber ihr wisst es noch nicht!“, sagt Wenzel.<br />
Patrick unterbricht: „Ich will aber lieber ein Bugatti sein!“ An<br />
Motivation mangelt es nicht. Wäre auch fehl am Platz. Mit<br />
knapp 600 Euro ist die Teilnahme am Flirtseminar kein<br />
Schnäppchen. Wer das Geld ausgibt, macht also besser richtig<br />
mit. Nun geht es darum, Frauen in alltäglichen Situationen<br />
anzusprechen. „Motion creates emotion“, sagt Wenzel.<br />
„Und Frauen lieben Emotionen, denn sie handeln aus dem<br />
Bauch heraus.“ Schafft es der Mann, der Frau ein positives<br />
Gefühl zu geben, ist das Ziel des ersten Seminartages schon so<br />
gut wie erreicht: ihre Handynummer. „Der verbale Inhalt<br />
beim Ansprechen einer Frau wird total überschätzt. Viel<br />
wichtiger ist die Energie“, behauptet Wenzel. An diesem Wochenende<br />
werden die Männer also keine vorgefertigten Sprüche<br />
oder Fünf-Schritte-zum-Date-Formeln erhalten. Sie sollen<br />
ihre innere Einstellung ändern. „Wenn du denkst, dass<br />
das, was du sagst, das Coolste auf der Welt ist, dann ist es das<br />
Coolste auf der Welt!“, prophezeit Pareto.<br />
Wenn man ihn so sprechen hört, glaubt man ihm das auch.<br />
Er ist 31 Jahre jung, attraktiv, mit seinem Zahnpastalächeln<br />
bringt er sicher viele zum Grinsen. Ebenso Wenzel: Der<br />
26-Jährige könnte selbst den kältesten Eisblock zum Schmelzen<br />
bringen. Die beiden haben vereint einen Charme, der<br />
schon allerhand Frauenherzen gebrochen haben muss. Aber<br />
die Flirtprofis sind in festen Beziehungen. Offenen festen Beziehungen,<br />
wie sie betonen.<br />
Tag eins: Auf der Ehrenstraße, einer großen Fußgängerzone<br />
in Köln, werden die Teilnehmer frei laufen gelassen. Um<br />
warm zu werden, müssen sie in einer Minute so viele High-fives<br />
wie nur möglich sammeln. Danach sollen sie ausschwärmen,<br />
um fremden Menschen ein Kompliment zu machen.<br />
Um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen, sollen sie nun<br />
96 Werk VI 97
gezielt auf Frauen zugehen, ihren Namen herausfinden und<br />
welches Spielzeug sie als Kind am liebsten hatten. Das Coaching<br />
vorab lautet, den Frauen in die Augen zu schauen, sie<br />
anzulächeln und sich mit einem Händeschütteln vorzustellen.<br />
Denn mit einem Händeschütteln habe man schon zehn<br />
Prozent erreicht auf dem Weg zum Kuss. Der Kuss liegt bei<br />
100 Prozent. Für Karsten ein kaum vorstellbares Ziel. Karsten<br />
ist zwei Meter groß und war zehn Jahre Soldat in der<br />
Bundeswehr. Kontrolliert und kühl wirkt er. Nicht gerade<br />
eine anziehende Ausstrahlung. Auch Michael steht etwas<br />
verloren in der Gegend rum. „Je länger du wartest, umso<br />
größer wird die Angst vor der Zurückweisung! Du verpasst<br />
dein Leben“, motiviert Pareto. Michael spricht eine Frau an.<br />
Sie spielte am liebsten mit Barbies.<br />
Im Kopf des Mannes, so lernen die Seminarteilnehmer, arbeiten<br />
drei Menschen beim Flirt. Erstens: der Kreative. Er<br />
überlegt, mit welchem Kompliment oder welchem Satz er<br />
den Fokus der Frau auf sich zieht, zum Beispiel: „Ich habe<br />
dich gerade die Rolltreppe hochfahren sehen und musste dir<br />
jetzt sagen, wie schön du aussiehst.“ Zweitens: der Händler.<br />
Er ergreift die Initiative, wenn die Frau stehen geblieben ist.<br />
„Ein Gespräch ist wie ein Tennisspiel. Du musst immer wieder<br />
die Bälle einwerfen. Der Inhalt ist egal.“ Drittens: der Kritiker.<br />
Er ist in dem Moment der größte Feind. Er ist der innere<br />
Schweinehund: „Es gibt nicht nur einen Weg und es ist<br />
harte Arbeit. Aber jeder von euch kann flirten und jeder von<br />
euch wird Erfolg haben.“ Amen.<br />
SIE HATTE NUR<br />
NOCH SCHUHE AN<br />
Bevor es am Abend des ersten Seminartages auf die Piste<br />
geht, bekommen die Junggesellen ein paar Stylingtipps, die<br />
auch dringend benötigt werden. Der 26-jährige Christian studiert<br />
Maschinenbau. Nach der Trennung von seiner Freundin<br />
hat er 20 Kilo zugenommen. Dass T-Shirts nicht automatisch<br />
mitwachsen, wird ihm nun erklärt. Er macht beim<br />
Seminar mit, weil er nach seiner langjährigen Beziehung<br />
nicht mehr weiß, wie er Frauen ansprechen soll. In seiner Uni<br />
herrscht Männerüberschuss und Onlinedating kommt für<br />
ihn nicht infrage. Er hat nicht einmal ein Smartphone. Auch<br />
Patrick wird nahegelegt, dass seine Dieter-Bohlen-Gedächtnishose<br />
mit auffälligen Ziernähten die meisten Frauen schreiend<br />
in die Flucht schlagen wird.<br />
Gestylt geht es jetzt ins Partytreiben. Plan ist es, von Bar zu<br />
Bar zu ziehen und später in einem Club tanzen zu gehen.<br />
Aufgabe ist es, immer unter Menschen zu sein. Keiner soll<br />
allein in der Ecke stehen. Und natürlich die 100 Prozent: der<br />
Kuss einer Frau. Die Coaches sind jetzt nicht mehr zu halten.<br />
Sie erinnern an die energiegeladenen Häschen aus der Duracell-Werbung.<br />
Die Frau wird anvisiert und erobert – und im<br />
Schlepptau ist immer ein Kursteilnehmer. Starthilfe. Nachts<br />
um drei landet die Gruppe auf einer Schlagerparty. Zu Klassikern<br />
wie „Knallrotes Gummiboot“ oder „Das rote Pferd“<br />
wird auf der Tanzfläche alles gegeben. Doch nicht jeder lässt<br />
sich von der Musik mitreißen. Für Michael war es dann doch<br />
nicht die richtige Zielgruppe, ihm sind die Frauen zu jung.<br />
Ralf ist auf dem Weg verloren gegangen und Patrick traut<br />
sich einfach nicht, die Tanzfläche zu stürmen. Nach einer<br />
kurzen Aufmunterungs-Session der beiden Coaches tanzen<br />
dann doch alle im Kreis zu Mickie Krauses Hit „Sie hatte nur<br />
noch Schuhe an“. Außer Mirko. Am Morgen hatte der<br />
35-Jährige noch erklärt, sein größtes Ziel wäre es, überhaupt<br />
eine Frau anzusprechen. Jetzt hat er die 100 Prozent erreicht.<br />
Zärtlich schmust er auf der Tanzfläche mit einer hübschen<br />
Blondine.<br />
MUTIG SEIN HEISST, ANGST ZU HABEN<br />
UND ES TROTZDEM ZU V<strong>ER</strong>SUCHEN<br />
Sonntag. Am zweiten Tag des Seminars wird es noch mal ernst.<br />
Es geht um Persönlichkeitsentwicklung. Negative Erfahrungen<br />
in der Vergangenheit könnten das Verhalten der Männer gegenüber<br />
Frauen ein ganzes Leben lang beeinflussen, sagt Pareto:<br />
„Dein persönliches Glück kann sich nur durch deine innere<br />
Einstellung ändern.“ Es gehe darum, im Hier und Jetzt zu leben<br />
und seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Jeder müsse<br />
in sich gehen und überlegen: Was genau will ich und was erwarte<br />
ich von einer Frau? „Andere zu erkennen ist Intelligenz.<br />
Sich selbst zu erkennen ist wahre Weisheit.“<br />
Auch die beiden Coaches mussten erst ihre innere Einstellung<br />
ändern, um Erfolg bei Frauen zu haben. Wenzel wurde<br />
lange wegen seines Namens gehänselt, Pareto war als Nerd<br />
verschrien. Ihr Talent, Frauen um den Finger zu wickeln, entstand<br />
durch den Willen, aus diesen Außenseiterrolle auszubrechen.<br />
Wie sie das geschafft haben, wollen sie in ihrer<br />
Flirtuniversity an Bedürftige weitergeben.<br />
Die Teilnehmer haben nun drei Minuten Zeit, um sich zu<br />
überlegen, wie ihr Wunschleben in drei Jahren aussehen soll.<br />
Alle sieben sehen sich mit einer festen Partnerin. Hier wird<br />
noch einmal klar: Diese Männer sehnen sich nach Liebe. Das<br />
Verlangen nach Zweisamkeit treibt sie an. Verkabelt und mit<br />
Kamera ausgestattet startet die Gruppe am Nachmittag nach<br />
draußen, um das Erlernte der letzten 24 Stunden anzuwenden.<br />
Die Kameraaufnahmen dienen der späteren Videoanalyse.<br />
Patrick wird auf eine junge Frau angesetzt, die in den Augen<br />
aller anderen eine „Granate“ ist. Zielstrebig spricht er sie an. In<br />
dem Moment, in dem er nach ihrer Nummer fragt, taucht ihr<br />
Freund auf. Dass Patrick nun überhaupt den Mut besitzt, eine<br />
Frau anzusprechen, grenzt an ein Wunder. Am Ende des Tages<br />
gehen alle mit mindestens einer Handynummer nach<br />
Hause. Außer Johann, der sogar ein Date mit der jungen Frau<br />
hatte, der er hinterherrennen musste. Mehr Liebe im Leben.<br />
Zumindest für zwei Tage haben die Flirtcoaches Wenzel und<br />
Pareto ihr Ziel erreicht.<br />
Flirttrainer Horst<br />
Wenzel (r.)<br />
und Alex Pareto<br />
verhelfen verzweifelten<br />
Singlemännern<br />
zu<br />
neuem Liebesglück<br />
FOTOS: ARTHUT PLUTA<br />
98 Werk VI 99
Torstrasse 74<br />
Berlin Germany<br />
no74-berlin.com<br />
42 Rue de Sévigné<br />
Paris France<br />
no42-paris.com<br />
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