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ER

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<strong>ER</strong><br />

Werk VI 3<br />

EIN STUDIE NPROJE KT DE R AMD AKA D EMI E MODE & DESIGN BE RLIN, LEHRRE D A KTION MM6, AUS G ABE N O. 4, SOMM<strong>ER</strong> 2014


EDITORIAL<br />

ES<br />

IST<br />

EIN<br />

JUNGE!<br />

Vor Ihnen liegt <strong>ER</strong> — die vierte Ausgabe von Werk VI, die diesmal<br />

ganz den Herren der Schöpfung gewidmet ist. Doch vermutlich<br />

können auch Frauen bei der Lektüre noch etwas dazulernen.<br />

Wann ist ein Mann überhaupt ein Mann und wer darf das<br />

bestimmen? Fest steht, dass das sogenannte starke Geschlecht<br />

so einige Rollen auf der Bühne des Lebens spielt. Wir stießen bei<br />

unseren Recherchen auf Muttersöhnchen, einen Mann Gottes<br />

und sogar auf einen Supermann. Ein Turner-Prize-Gewinner in<br />

Frauenkleidern war auch dabei. Und wie weit gehen Männer für<br />

die Liebe? Was passiert, wenn sie sie gefunden haben? Alles Fragen,<br />

denen wir in dieser Ausgabe auf den Grund gehen.<br />

Die Jungs mischen natürlich auch in der Modewelt mit. Wir<br />

haben eine spannende Gesprächsrunde zum Thema organisiert<br />

und dafür drei Männermode-Designer eingeladen. Und wir haben<br />

uns mit einer Frau unterhalten, die Inhaberin einer Männermodel-Agentur<br />

ist.<br />

Die Berliner Typen für unsere Bildstrecke haben wir von der<br />

Straße weg gecastet. Dass der geschlechtsspezifische Stil von<br />

Männern einen steten Einfluss auf Designer hat, beweisen nicht<br />

zuletzt unsere Modestrecken. Selbst zarte Mädchen tragen aktuell<br />

gern Herrenhemd und Adiletten!<br />

Ein Ausflug in die Welt der Männer? Bitteschön.<br />

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.<br />

Ihre W<strong>ER</strong>K-VI-Redaktion<br />

4 Werk VI 5


INHALT<br />

IMPRESSUM<br />

W<strong>ER</strong>K VI IST EIN STUDIENPROJEKT<br />

DES 6. SEMEST<strong>ER</strong>S IM AUSBILDUNGSGANG<br />

MODEJOURNALISMUS/MEDIEN-<br />

KOMMUNIKATION AN D<strong>ER</strong> AMD<br />

AKADEMIE MODE & DESIGN B<strong>ER</strong>LIN.<br />

12<br />

6<br />

70<br />

28<br />

03 Editorial<br />

05 Impressum<br />

06 Einstieg<br />

12 Ich bin ein Berliner<br />

Die maskuline Vielfalt<br />

der Stadt in Bildern<br />

22 „Man muss den<br />

Kunden mit unserer<br />

Mode konfrontieren“<br />

Männermode in<br />

Deutschland –<br />

eine Gesprächsrunde<br />

28 Das Männernest<br />

Ein Interview mit Melanie<br />

Constein, Deutschlands<br />

erfolgreichster Modelagentin<br />

für Männer<br />

34 #Whatcore?<br />

Normcore, Hardcore,<br />

Whatcore? Eine modische<br />

Auseinandersetzung<br />

44 Mutters Söhnchen<br />

Mütter erzählen, wie<br />

ihre berühmten Söhne als<br />

Kinder waren<br />

52 „Rüschen sind das<br />

Kokain der Weiblichkeit“<br />

Im Gespräch mit dem<br />

britischen Künstler und<br />

Transvestiten Grayson Perry<br />

58 Mademoiselle<br />

Masculine<br />

Männerklassiker, die längst<br />

auch in die Garderobe<br />

von Frauen gehören<br />

70 Mit drei Streifen<br />

um die Welt<br />

Wie Adidas zum erfolgreichsten<br />

Bekleidungsunternehmen<br />

Deutschlands<br />

wurde<br />

76 Urban Warriors<br />

Streetwear-Deluxe<br />

in den Hinterhöfen einer<br />

Großstadt<br />

86 Der Glaubensbruder<br />

Männlich, katholisch, jung:<br />

die Zukunft der Kirche?<br />

90 Beziehungsweisen<br />

Moderne Liebesgeschichten<br />

aus Berlin<br />

96 Amors Helfer<br />

Wie Singlemänner<br />

dafür trainieren, die Frau<br />

fürs Leben zu finden<br />

52<br />

FOTOS: JAKOB & HANNAH, ALEXAND<strong>ER</strong> JED<strong>ER</strong>MANN, CHANTAL KOPPENHÖF<strong>ER</strong>, PR, MORITZ SCHMID, JULIANE SPAETE, ANDRE TITCOMBE<br />

06<br />

44<br />

34<br />

58<br />

V<strong>ER</strong>ANTWORTLICHE DOZENTEN<br />

Olga Blumhardt (Magazinentwicklung,<br />

Text, V.i.S.d.P.)<br />

Antje Drinkuth (Styling)<br />

Jan Kedves, Wibke Wetzker (Text)<br />

Janine Sack (Art Direktion)<br />

Martin Schmieder (Marketing & PR)<br />

REDAKTION, KURS MM6<br />

Tabea Becker, Johanna Demant,<br />

Katharina Görke, Alexander La Guma,<br />

Mathilda Kaliszczyk, Julia Küster,<br />

Annika Lösch, Monika Penning,<br />

Elsa Sonntag, Alexander Vetter,<br />

Leonie Volk<br />

CHEFIN VOM DIENST<br />

Katharina Görke<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Heinrich Dubel<br />

FOTOS<br />

Leopold Achilles, Verena Brünig,<br />

Alexander Jedermann, Jakob & Hannah,<br />

Chantal Koppenhöfer, Stefan Korte,<br />

Ansgar Moek, Arthur Pluta, Moritz Schmid,<br />

Andre Titcombe, Jessica Wolfelsperger<br />

ANZEIGEN<br />

Johanna Demant, Alexander Vetter<br />

PR<br />

Tabea Becker, Mathilda Kaliszczyk,<br />

Julia Küster, Monika Penning<br />

EVENT<br />

Katharina Görke, Alexander La Guma,<br />

Annika Lösch, Elsa Sonntag, Leonie Volk<br />

DRUCK<br />

Brandenburgische<br />

Universitätsdruckerei und<br />

Verlagsgesellschaft Potsdam mbH<br />

Karl-Liebknecht-Straße 24–25<br />

14476 Potsdam<br />

www.bud-potsdam.de<br />

REDAKTIONSANSCHRIFT<br />

AMD Akademie Mode & Design<br />

Franklinstraße 10, 10587 Berlin<br />

Tel.: 030 330 99 76 0<br />

olga.blumhardt@amdnet.de<br />

www.werk6-magazin.de<br />

W<strong>ER</strong>K VI erscheint jährlich<br />

und liegt an ausgewählten Orten<br />

in Berlin kostenfrei aus.<br />

Das Titelbild wurde von Jakob & Hannah<br />

fotografiert. Model: Rosalie/Izaio Management<br />

Haare/Make-up: Julie Skok<br />

Rosalie trägt ein Hemd von Michael Sontag<br />

und eine Fliege von Tiger of Sweden<br />

Wir danken allen, die W<strong>ER</strong>K VI möglich<br />

gemacht haben.


SUP<strong>ER</strong><br />

MODE<br />

Comic- und Science-Fiction-<br />

Helden feiern ein modisches<br />

Comeback. Doch nicht nur Jungs<br />

träumen davon, mit Batman<br />

die Stadt, mit Superman die Welt<br />

oder mit Luke Skywalker<br />

die ganze Galaxie zu retten<br />

Jetzt hat er es nach seiner Zerstörung<br />

in „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“<br />

(1983) doch noch geschafft – und<br />

zwar auf den legendären roten Teppich<br />

des Met Ball in New York. Die<br />

Schauspielerin Kirsten Dunst trug zu<br />

dem prestigeträchtigen Event in diesem Jahr<br />

eine Robe des Designerduos Rodarte – darauf<br />

abgebildet: der Todesstern Nr. 2, die Superwaffe<br />

aus George Lucas’ Star-Wars-Saga.<br />

Auch die Droiden C-3PO und R2-D2 sowie<br />

Luke Skywalker und sein Jedi-Meister<br />

Yoda tauchen in der Winterkollektion der<br />

Designerinnen als Motive auf. Mit ihrer Huldigung<br />

des Weltraumepos’ liegen die beiden Schwestern<br />

genau im Trend.<br />

Denn nächstes Jahr soll der inzwischen siebte Star-<br />

Wars-Film, gleichzeitig der erste Teil einer neuen Trilogie,<br />

in die Kinos kommen. Nicht nur Science-Fiction-Fans,<br />

auch die Modebranche fiebert diesem Ereignis entgegen.<br />

Das Skaterlabel Vans zum Beispiel zeigte am 4. Mai<br />

(„MAY the FOURTH be with you“), dem inoffiziellen<br />

Star-Wars-Tag, eine Kollektion mit Schuhen, Shirts und<br />

Taschen, die mit den Filmfiguren bedruckt sind. Auch das<br />

Londoner Label Preen bedient sich für die kommende Winterkollektion<br />

der Macht des Blockbuster-Franchise. Sicherlich<br />

hat die modische Rückkehr der Jedi-Ritter 2014 auch<br />

marketingtechnische Hintergründe – Rodarte zum Beispiel<br />

wurden von Disney, der Produktionsfirma der Filme, eingeladen,<br />

die Archive nach Motiven zu durchforsten.<br />

Aber nicht nur Helden aus weit, weit entfernten Galaxien<br />

feiern ein Comeback, sondern ein ganzes Comic-Universum:<br />

Neue Spiderman-, Batman-, X-Men- und Superman-Verfilmungen<br />

liefen in diesem Jahr an oder sind in Planung. Comics<br />

gewinnen mehr und mehr gesellschaftliche Relevanz. In<br />

unserer Zeit, in der Bilder präsenter sind und häufig glaubhafter<br />

erscheinen als das Wort, wo ein Internet-Meme mehr<br />

aussagen kann als ein langer Zeitungstext, bilden Comics<br />

eine international verständliche Bildsprache.<br />

Designer wie Marc Jacobs, Raf Simons, J. W. Anderson<br />

oder Rei Kawakubo für Comme des Garçons lassen sich<br />

#3<br />

davon inspirieren und holen die bunten Figuren<br />

vom Papier auf den Stoff. Sogar Antihelden wie<br />

Darth Vader oder Bart Simpson werden zum coolen<br />

Mode-Statement. Der rüpelige Charme<br />

des gelben Stachelkopfs etwa sorgte 2012<br />

für regen Absatz der Kollektion von<br />

Jeremy Scott, der damit als einer der Vorreiter<br />

für diesen Trend gilt.<br />

Vielleicht weil alle Charaktere schon<br />

belegt waren, kreierte Miuccia Prada<br />

für ihren neuen Duft „Prada Candy<br />

Florale“ gleich eine eigene Comicfigur.<br />

Das Supergirl Candy, erschaffen<br />

von dem französischen Illustrator<br />

François Berthoud, ist Star der aktuellen<br />

Werbe kampagne.<br />

Die Kindheitshelden der Jungs<br />

haben sowohl die Welt der Frauenwie<br />

der Männermode erobert, ob<br />

sie diese auch retten werden, steht<br />

in den Sternen. Aufregender, frecher<br />

und selbstironischer ist die Mode<br />

durch sie auf jeden Fall geworden.<br />

Möge die Macht mit ihr sein!<br />

ALEXAND<strong>ER</strong> LA GUMA<br />

#1<br />

#4<br />

#2<br />

#5<br />

1 Preen, H/W 14/15<br />

2 Vans, Star Wars<br />

Collection<br />

3 Rodarte, F/S 14<br />

4 Jeremy Scott,<br />

H/W12<br />

5 Candy Girl aus<br />

der aktuellen<br />

Prada-Kampagne<br />

FOTOS: PR<br />

FOTOS: PAUL VICENTE/AFP/ALEXAND<strong>ER</strong> MCQUEEN RTW A/W 1998/GETTY IMAGES; PR (4)<br />

BRUTAL<br />

SCHÖN<br />

Die McQueen-Retrospektive<br />

„Savage Beauty“ kommt<br />

nächstes Jahr nach London<br />

Das Londoner Victoria & Albert<br />

Museum holt im Frühjahr 2015 die<br />

Retrospektive „Alexander McQueen:<br />

Savage Beauty“ nach Europa. Die<br />

Ausstellung wurde zu Ehren des im<br />

Februar 2010 verstorbenen Designers<br />

erstmals 2011 im New Yorker Metropolitan<br />

Museum of Art gezeigt.<br />

Bis heute zählt sie mit über 650.000<br />

Besuchern zu den erfolgreichsten<br />

Ausstellungen des Museums. Nun<br />

werden die Exponate in der Heimatstadt<br />

des Modeschöpfers gezeigt:<br />

„In London wurde ich groß gezogen.<br />

Für diese Stadt schlägt mein Herz und<br />

hier ist meine Inspiration“, sagte der<br />

HALFPIPE HALFFASHION<br />

Das Skateboard ist endgültig das neue Lieblingsaccessoire<br />

in sportlichen Modekreisen. Bereits<br />

vor zwei Jahren hat es die Céline-Chef designerin<br />

Phoebe Philo vorgemacht und unterschiedliche<br />

Skatedecks kreiert. Es folgte Marc Jacobs,<br />

der seine Kampagnenmotive, fotografiert von<br />

Juergen Teller, auf die Bretter brachte. Und das<br />

Londoner Kaufhaus Selfridges kooperierte<br />

für einen Skateboard-Pop-up-Store unter anderem<br />

mit Designern wie Stella McCartney, Dries Van<br />

Noten und Erdem. Das französische Traditionshaus<br />

Courrèges ließ sich in Zusammenarbeit mit<br />

Eastpak ebenfalls von der Skaterkultur inspirieren.<br />

Das Ergebnis ist ein Retro-Board für die Frau<br />

mit dem Namen „Mini Cruiser Diva“. Im Zuge der<br />

Demokratisierung der Mode schauen sich<br />

Designer schon seit Jahren auf den Straßen um.<br />

Da Skater fest ins Stadtbild gehören, verwundert<br />

es deshalb nicht, dass sich Modemacher nun<br />

deren Subkultur zum Vorbild nehmen.<br />

Designer im Jahr 2000. Für McQueens<br />

Mode spielt Großbritanniens Hauptstadt<br />

eine entscheidende Rolle.<br />

Auf der Savile Row lernte er alles über<br />

die englische Schneiderkunst. Für<br />

sein handwerkliches Können war er<br />

zei t lebens berühmt. Die Retrospektive<br />

präsentiert das Lebenswerk des<br />

unvergessenen Modemachers –<br />

100 Ausstellungsstücke, von seiner<br />

M.A.-Abschlusskollektion bis zur<br />

Herbst/Winter-Kollektion 2010, die<br />

er selbst nicht mehr ganz vollenden<br />

konnte. Die Werkschau greift<br />

unter anderem McQueens Hang zur<br />

Dramatik und Rebellion auf, seine<br />

Faszination für Natur und sein Spiel<br />

mit Vergänglichkeit. Die Hüfthose<br />

„Bumster“, die die untere Rückenpartie<br />

als erotischste Zone des Körpers<br />

betont, eine Jacke aus vergoldeten<br />

Entenfedern und ein rotgefärbtes<br />

Kleid aus Austernfedern mit einem<br />

Oberteil aus Glasplatten sind nur<br />

einige Highlights. Besucher dürfen<br />

sich auf eine einzigartige Inszenierung<br />

freuen.<br />

„Alexander McQueen: Savage Beauty“<br />

14. März bis 19. Juli 2015,<br />

Victoria & Albert Museum, London,<br />

www.vam.ac.uk/savagebeauty<br />

V.l.n.r.: Dries Van Noten für Selfridges,<br />

Courrèges für Eastpack, Stella McCartney<br />

für Selfridges, Céline<br />

Alexander McQueen H/W 1998<br />

8 Werk VI 9


W<strong>ER</strong> MIT WEM?<br />

Zusammen sind wir stark: Dieses Sprichwort nehmen sich viele Modemacher<br />

zu Herzen. Designerkooperationen sind populärer denn je<br />

Es scheint, als würden erfolgreiche<br />

Modedesigner weltweit fast nichts<br />

mehr alleine zustande bringen. Überall<br />

Teamwork – Designerkooperationen<br />

wollen gar nicht mehr aus der<br />

Mode kommen. Auch für dieses Jahr<br />

sind wieder prominente Partnerschaften<br />

angekündigt. Interessant dürfte<br />

das Ergebnis der neuen Männerfreundschaft<br />

zwischen Karl Lagerfeld und<br />

Louis-Vuitton-Designer Nicolas<br />

Ghesquière werden. Lagerfeld, der<br />

neben Chanel auch noch für Fendi und<br />

sein eigenes Haus arbeitet, wird im<br />

Rahmen des Projekts „The Icon<br />

and the Iconoclasts“ eine Monogramm-<br />

Tasche für Louis Vuitton entwerfen.<br />

Spannender allerdings als die deutschfranzösische<br />

Zusammenarbeit dürfte<br />

es werden, wenn englische Tradition<br />

auf japanischen Modernismus trifft.<br />

Barbour und White Mountaineering<br />

bringen mit der Männerkollektion für<br />

das Frühjahr 2015 das Ergebnis ihrer<br />

zweiten Kollaboration auf den Markt.<br />

Auch Patrick Mohr entwirft wieder<br />

NETZWEAR<br />

Im Uhrzeigersinn:<br />

Patrick Mohr für<br />

Reebok; Jeff Koons<br />

für H&M; White<br />

Mountaineering<br />

für Barbour;<br />

Raf Simons für<br />

Adidas<br />

eine Sonderedition des legendären<br />

„Freestyle Hi“ von Reebok. Der Look:<br />

so sportlich wie das Label, so skurril<br />

wie der Designer. Und wer statt der<br />

drei ikonischen Adidas-Streifen ein<br />

gelöchertes „R“ auf dem „Stan Smith“<br />

erkennt: nicht wundern! Raf Simons<br />

hat auch in dieser Saison wieder sieben<br />

Modelle für Adidas designt (mehr zum<br />

Thema ab S. 73).<br />

Das Schlachtschiff unter den Kooperationen<br />

ist aber weiterhin eine<br />

schwedische Modekette. Seit 2004<br />

darf mit Spannung erwartet werden,<br />

wer – sei es Designer, Künstler oder<br />

Musiker – für H&M entwerfen wird.<br />

Die Überraschung gelingt immer.<br />

Gerade erst entwarf Jeff Koons, der<br />

teuerste zeitgenössische Künstler,<br />

eine Tasche, die anlässlich der Eröffnung<br />

eines H&M-Flagship-Stores in<br />

New York limitiert verkauft wurde.<br />

Ein Abbild seines berühmten Luftballon-Hundes<br />

ziert das gute Stück –<br />

Koons(t) zu Schnäppchenpreisen.<br />

Am 6. November kommt dann die<br />

bereits 18. und wohl aufregenste<br />

High-Fashion-Designerkooperation in<br />

ausgewählte H&M-Filialen. Mit seinen<br />

amerikanisch-modernen Entwürfen<br />

wird Balenciaga-Chefdesigner Alexander<br />

Wang für zeitgemäße Coolness und<br />

ganz sicher erneut für Hysterie in den<br />

Läden sorgen. ALEXAND<strong>ER</strong> LA GUMA<br />

FOTOS: FASHIONSNAP.COM, HIGHSNOBIETY.COM, PR, THECUT.COM<br />

#3<br />

Der Herbst steht vor<br />

der Tür. Wir haben<br />

Sebastian Warschow,<br />

Head of PR des<br />

Luxusonlineshops<br />

mytheresa.com<br />

gefragt, was denn<br />

im Kleiderschrank<br />

nicht fehlen darf. Mit<br />

Warschows Umzug<br />

nach München hat<br />

Berlin einen echten<br />

Stilexperten verloren.<br />

Hier verrät er seine<br />

Wunschliste für die<br />

kommende Saison.<br />

STYLE IST<br />

GESCHMACKSSACHE<br />

Ganz spontan entstand im Juli 2013 das<br />

Modeprojekt Popgold. Seitdem lassen<br />

sich die Gründer, Designer Vico Stuhlmann<br />

und Modejournalistin Elena Schröder,<br />

für ihre Streetwear nicht nur von der Straße<br />

1 Sneaker von Maison<br />

inspirieren, sondern hauptsächlich vom<br />

Martin Margiela für<br />

schnellsten Medium überhaupt – dem<br />

Converse<br />

Inter net. Ihre Prints nehmen Strömungen<br />

2 Kaschmirdecke/Schal<br />

von Burberry Prorsum<br />

aktueller sowie vergangener Popkultur<br />

3 Mohairpullover mit<br />

auf, kopieren diese allerdings nicht einfach,<br />

Zebramuster von Saint<br />

sondern interpretieren sie neu. Aus dem<br />

Laurent Paris<br />

gemixten Material entstehen spannende<br />

4 Indigoblauer Anzug<br />

Drucke, immer mit einem Hauch Ironie.<br />

von Jil Sander<br />

Vielversprechend!<br />

#5<br />

5 Komplettlook von<br />

www.popgold.bigcartel.com<br />

Valentino<br />

10 WWW.BORGMANN1772.COM<br />

Werk VI 11<br />

FOTOS: PR<br />

#1<br />

Blick in die<br />

Zukunft<br />

#4<br />

#2<br />

C<br />

M<br />

Y<br />

CM<br />

MY<br />

CY<br />

CMY<br />

K<br />

„HONI SOIT<br />

QUI MAL<br />

Y PENSE!”<br />

„NEC ASP<strong>ER</strong>A<br />

T<strong>ER</strong>RENT”<br />

„W<strong>ER</strong> NICHT LIEBT<br />

WEIN, WEIB UND<br />

GESANG D<strong>ER</strong><br />

BLEIBT EIN NARR<br />

SEIN LEBEN LANG”<br />

EDITION 0


Männer dominieren den Modemarkt: als Designer, als Geschäftsführer,<br />

als Entscheider. Aber sind sie auch für den Magerwahn in der Branche<br />

verantwortlich? Wir fragen Mahret Kupka, die Kuratorin für Mode, Körper<br />

und Performatives am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main<br />

#1 SPORT-DELUXE<br />

#3 NEO-CLASSIC<br />

WATCH OUT<br />

Der Herrenmode wird gern<br />

Eintönigkeit vorgeworfen.<br />

Diese fünf vielversprechenden<br />

Labels aus Mailand,<br />

London und Paris beweisen<br />

das Gegenteil. Ein Mix aus<br />

Unisex-Couture, düsterer<br />

Walt-Disney-Motivik und<br />

Männerklassikern mit sportlichen<br />

Einflüssen bestimmt<br />

den kommenden Herbst<br />

1 Nicomede Talavera, London<br />

2 Rad Hourani, Paris<br />

3 Gosha Rubchinskiy, Paris<br />

4 Bobby Abley, London<br />

5 Andrea Pompilio, Mailand<br />

#2 UNISEX-COUTURE<br />

FOTO: PR<br />

Mahret Kupka ist<br />

Modetheoretikerin<br />

und Autorin<br />

des Blogs<br />

modekoerper.de<br />

Mann<br />

macht Mode<br />

Frau Kupka, was glauben Sie, warum sind es<br />

in der Mode ausgerechnet die Männer, die den<br />

großen Erfolg haben?<br />

Vielleicht liegt es daran, dass Männer risikofreudiger<br />

sind als Frauen und eher bereit<br />

dazu, sich durchzubeißen. Ich will damit nicht<br />

sagen, dass Frauen nicht durchsetzungs -<br />

fähig sind, aber kulturell bedingt liegen die<br />

Aufgabenbereiche der Frau bis heute eher<br />

woanders, nicht unbedingt am oberen Ende<br />

der Karriereleiter. Aber glücklicherweise<br />

gibt es ja auch ein paar erfolgreiche<br />

Modedesignerinnen.<br />

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die<br />

meisten bedeutenden Modedesigner schwul sind?<br />

Ein Grund könnte sein, dass Mode kulturell<br />

ein der „weiblichen Sphäre“ zugeordneter<br />

Bereich ist und daher möglicherweise viele heterosexuelle<br />

Männer gar nicht erst auf die Idee<br />

kommen, Modedesign zu studieren – obwohl<br />

es sie interessieren könnte.<br />

Was sagen Sie dazu, dass schwule Designer<br />

angeblich durch ihre Vorliebe zu jungenhaften<br />

Körpern den Magerwahn in der Modelbranche<br />

zu verantworten haben?<br />

Das halte ich für totalen Quatsch! Schwule Männer<br />

haben so viele unterschiedliche Vorlieben wie<br />

alle anderen Menschen auch und sind bestimmt<br />

nicht nur auf jungenhafte Körper fixiert. Außerdem<br />

ist Mode immer ein Abbild der Gesellschaft.<br />

Das heißt, sie diktiert nicht, sondern verkauft das,<br />

was die Menschen kaufen möchten. Sie nimmt<br />

Schwingungen auf und transformiert sie in<br />

Formen. Natürlich hat es auch einen Effekt auf die<br />

Menschen, wenn sie permanent mit Idealbildern<br />

konfrontiert werden. Aber das Problem des<br />

Magerwahns wird nicht zu lösen sein, wenn man<br />

sich nur auf die Mode konzentriert.<br />

VILLA SANDI PROSECCO<br />

- Flüssige Kunstwerke aus dem Veneto -<br />

#4 DISNEY-HORROR<br />

“Prosecco des Jahres”<br />

Die führende Fachzeitschrift der<br />

Weinbranche WEINWIRTSCHAFT<br />

kürt den Villa Sandi “il Fresco” zum<br />

9. Mal zum Prosecco des Jahres.<br />

#5 N<strong>ER</strong>D-TEDDY<br />

Äpfeln und etwas Eisbonbon.<br />

Erhältlich bei:<br />

Goldgelb die Farbe, kristallklar<br />

Weinagentur J. Heinz Fey KG · David Arnold<br />

im Glas ist dieser Prosecco der<br />

Olympische Straße 27 · 14052 Berlin<br />

perfekte Aperitif und optimaler<br />

Tel: (030) 305 49 48 · Fax: (030) 304 96 37<br />

Begleiter leichter Speisen.<br />

www.weinagenturarnold.de<br />

12 Werk VI 13<br />

FOTOS : PR<br />

Prosecco Spumante DOC<br />

Brut “il Fresco”<br />

il Fresco, übersetzt “der Frische”<br />

verströmt ein elegantes Bouquet<br />

von weißen Früchten, Blüten,


ICH BIN EIN<br />

B<strong>ER</strong>LIN<strong>ER</strong><br />

Sie kommen aus Bayreuth, Luxemburg oder Friedrichshain, sind tätowiert<br />

oder auch nicht, tragen Bart oder Locken, sprechen Deutsch,<br />

Englisch oder Italienisch. Eines ist jedoch klar: Man muss nicht sein<br />

ganzes Leben in der Stadt verbringen, um ein Berliner zu sein<br />

P R ODUKTION J ULIA K Ü S T E R & ELSA S ONNTA G<br />

FOTOS CHA NTA L K OPPE NHÖF<strong>ER</strong><br />

H AARE/MAKE - U P YVONNE W E NGLE R & FLORIA N FE RINO<br />

Justus, 19, Neukölln<br />

Vor zwei Jahren kam Justus der Liebe wegen aus Freiburg nach<br />

Berlin. Seitdem jobbt er bei Adidas Neo am Kudamm und genießt<br />

das Nachtleben: im Berghain, KitKat oder im Golden Gate<br />

12 Werk VI 13


Franz, 25, Wedding<br />

Für sein Mode- und Designmanagement-<br />

Studium an der AMD ist Franz vor<br />

drei Jahren aus Gütersloh nach Berlin<br />

gezogen. Sein T-Shirt-Label Skäkks<br />

(ein Modell trägt er auf dem Foto) will<br />

er in Zukunft weiter ausbauen.<br />

An warmen Sommertagen trifft man<br />

Franz am Plötzensee<br />

Patrick, 21, Wedding<br />

Ist vor zwei Jahren aus Augsburg nach Berlin gezogen,<br />

um Wirtschaftskommunikation zu studieren.<br />

Patrick wurde kürzlich in der Pariser Metro als Model<br />

entdeckt und wird dort von einer Agentur vertreten<br />

14 Werk VI 15


Jonas, 20, Wilmersdorf<br />

Anfang des Jahres kam Jonas aus Mainz<br />

nach Berlin, um Mode- und<br />

Designmanagement an der AMD zu<br />

studieren. Über Berlin muss er<br />

noch sehr viel lernen: sein Lieblingsort<br />

ist der Hackesche Markt<br />

Julian, 24, Kreuzberg<br />

Träumte zehn Jahre davon, aus Bayreuth nach Berlin zu ziehen.<br />

Seit einem Jahr ist er hier. Im Herbst fängt er bei Jil Sander am<br />

Kudamm als Verkäufer an. Auch ein Traum. Den neuen Job hat er<br />

in seiner Lieblingsbar Die Legende von Paula und Ben gefeiert<br />

16 Werk VI 17


Francesco, 29, Pankow<br />

Kümmert sich seit einem Jahr um<br />

benachteiligte Jugendliche. Er vermisst<br />

das gute Wetter seiner Heimatstadt<br />

Brescia in Italien – und Mama. Francesco<br />

mag das Maybachufer in Kreuzberg<br />

Kieron, 20, Kreuzberg<br />

Kieron findet Berlin viel charmanter als Recklinghausen,<br />

das er vor zwei Jahren für sein Politikwissenschaftsstudium<br />

verlassen hat. Man trifft ihn auf seinem BMX-Rad in der<br />

Skatehalle Berlin auf dem RAW-Gelände in Friedrichshain.<br />

Sein Leben finanziert er sich mit Modeljobs<br />

18 Werk VI 19


Pit, 28, Neukölln<br />

Anfang des Jahres kam Pit aus Luxemburg<br />

nach Berlin, um Mode- und Designmanagement<br />

an der AMD zu studieren.<br />

In seiner Freizeit spielt er Schlagzeug<br />

in einer Rockband<br />

Christoph, 28, Friedrichshain<br />

Fühlt sich seit neun Jahren sehr wohl in Berlin, weil es so<br />

„asozial“ und „zubetoniert“ ist. Anders als im<br />

brandenburgischen Luckau, woher er kommt. Christoph<br />

ist Redakteur beim Onlinemagazin netzkino.de.<br />

Seine Lieblingskneipe ist die Jägerklause in Friedrichshain<br />

20 Werk VI 21


„MAN MUSS DEN<br />

KUNDEN<br />

MIT UNS<strong>ER</strong><strong>ER</strong><br />

MODE<br />

KONFRONTI<strong>ER</strong>EN“<br />

Männern ist Mode nicht so wichtig!?<br />

Ein Gespräch mit den Designern<br />

Sissi Goetze, Daniel Blechmann von<br />

Sopopular und Mads Dinesen<br />

I NTE R V I EW: MONIKA PENNING & ALE X A NDE R VE TTE R<br />

FOTOS : VE R E N A BRÜNING<br />

Männer gelten als<br />

schwierige Kunden<br />

– und doch steigt<br />

die Zahl der jungen Designer, die sich<br />

auf Männermode spezialisieren. Zu<br />

ihnen gehören auch Sissi Goetze, Mads<br />

Dinesen und Daniel Blechmann von<br />

Sopopular. Wir treffen die drei in den<br />

Räumen von Silk Relations, der<br />

Presse agentur von Sopopular, um über<br />

Berlin als Modestadt, die Schwierigkeiten<br />

im Business und die Leidenschaft<br />

für den Job zu sprechen.<br />

Berlin zieht viele Designer an.<br />

Aus welchem Grund hat es euch<br />

hierher verschlagen?<br />

Daniel Blechmann: Nach sechs<br />

Jahren in London bin ich 1994 nach<br />

Berlin gegangen, weil meine<br />

Freunde und auch meine Familie<br />

hier leben. Die Stadt befindet<br />

sich im Veränderungsprozess und ich<br />

bin wahnsinnig gern ein Teil davon.<br />

Sissi Goetze: Ich habe nach meinem<br />

Studium in London nicht unbedingt<br />

bewusst entschieden, nach Berlin zu<br />

gehen und mein Label hier aufzubauen.<br />

Im Vordergrund standen erst einmal<br />

pragmatische und finanzielle Gründe.<br />

In London ist es unmöglich, eine<br />

Selbstständigkeit zu finanzieren. Und<br />

Berlin ist mein Zuhause. Alle meine<br />

Freunde leben hier.<br />

Mads Dinesen: Ich glaube, die Stadt<br />

gibt uns jungen Designern eine gewisse<br />

Sicherheit. Das Leben hier ist nicht<br />

zu teuer. Auch mit wenig Geld kann<br />

man in Berlin sehr gut leben.<br />

22 Werk VI 23


Der Däne Mads Dinesen machte<br />

2010 seinen Abschluss an der<br />

UdK Berlin. Seine erste Show zur<br />

Fashion Week Berlin finanzierte<br />

er durch Crowdfunding<br />

Viele sagen, Berlin sei keine Modestadt.<br />

Wie steht ihr dazu?<br />

DB: Das finde ich total albern. Zu viele<br />

Leute versuchen momentan, Berlin<br />

schlecht zu machen. Ich finde die Stadt<br />

super! Problematisch ist der ständige<br />

Vergleich mit anderen internationalen<br />

Modestädten. Man kann Berlin nicht<br />

mit Paris vergleichen, wo Traditionshäuser<br />

schon seit Jahrzehnten existieren<br />

und ein Budget zur Verfügung haben,<br />

von dem man hier nur träumen kann.<br />

Berlin ist als Modestadt sehr jung.<br />

Und man darf nicht vergessen, dass<br />

Berlin in den 1920er-Jahren die<br />

Modehauptstadt der Welt war. Ich<br />

glaube, international kommt Berlin<br />

besser an als in Deutschland selbst. Hier<br />

habe ich immer das Gefühl, so lange<br />

man unten schwimmt, ist alles in<br />

Ordnung, sobald man aber größer wird,<br />

bekommt man sofort einen auf den<br />

Deckel. Die Stadt hat superviel<br />

Potenzial, hier gibt es tolle Designer.<br />

Man sollte lieber mal die Köpfe<br />

zusammenstecken und überlegen,<br />

wie man es besser machen kann,<br />

und nicht gleich alles schlecht machen.<br />

Was fehlt Berlin noch, um eine<br />

richtige Modestadt zu sein?<br />

DB: Ernsthafte Förderung. Es gibt<br />

natürlich einige Preise, die Nachwuchsdesigner<br />

gewinnen können. Die<br />

bekommen dann Geld – und danach<br />

hört man nie wieder was von denen.<br />

„EHRLICH GESAGT<br />

IST MIR D<strong>ER</strong> DEUT-<br />

SCHE MARKT NICHT<br />

SO WICHTIG“<br />

MADS DINESEN<br />

Die Förderungsstrukturen in London<br />

sind sehr gut. Dort gibt es Preis -<br />

gelder in Höhe von 150.000 Pfund und<br />

der Gewinner hängt über Nacht in<br />

den besten und größten Kaufhäusern.<br />

In Deutschland interessieren sich<br />

die Einkäufer kaum für junge Designer.<br />

Das erschwert uns den Einstieg.<br />

SG: Ich glaube auch, dass es so<br />

schwierig ist, weil Mode in Deutschland<br />

generell nicht als Kulturgut<br />

gesehen wird. Mode wird hier gleichgesetzt<br />

mit verrückten Kleidern,<br />

die von Verrückten gemacht werden.<br />

In England oder Paris ist es ganz<br />

selbstverständlich, dass die Leute sich<br />

auskennen. Wenn man in London<br />

in einen Pub geht und sich mit einem<br />

Bauarbeiter über das Modestudium<br />

am Central Saint Martins College<br />

unterhält, dann sagt er: „Ach, Saint<br />

Martins, davon habe ich schon gehört.“<br />

Obwohl er mit Mode rein gar nichts<br />

am Hut hat. So etwas fehlt hier. In<br />

Deutschland steht Mode immer an<br />

letzter Stelle. Für Shops in Paris<br />

und London ist es ganz selbstverständlich,<br />

Jungdesigner einzukaufen. Da<br />

geht es gar nicht darum, ob die gleich<br />

auf Anhieb gut laufen oder nicht. Das<br />

gehört dort einfach zur Imagepflege.<br />

Das hat man hier noch nicht begriffen,<br />

dass es natürlich auch mal ein oder<br />

zwei Saisons dauern kann, bis etwas<br />

bombenmäßig läuft.<br />

MD: In Dänemark – eigentlich in ganz<br />

Skandinavien – ist es genauso wie in<br />

London. Mode ist dort wichtiger<br />

Bestandteil des Business und Jungdesigner<br />

sind gut fürs Image des Landes.<br />

Der deutsche Mann ist modisch<br />

gesehen als zurückhaltend bzw. fast<br />

langweilig verschrien. Läuft vielleicht<br />

auch deshalb Männermode in<br />

Deutschland schlechter?<br />

SG: Es stimmt schon, dass ein deutscher<br />

Mann vermutlich nicht 20 Hosen<br />

im Schrank hat, sondern fünf.<br />

Generell kaufen Männer gern Sachen,<br />

die sie schon kennen.<br />

MD: Das ist auch kulturell bedingt.<br />

Mode ist den meisten Deutschen<br />

nicht wichtig. In anderen Ländern<br />

gehört Kleidung zur Identität<br />

und darf auch was kosten.<br />

DB: Die Arbeit, die wir machen, ist<br />

durch die geringen Stückzahlen<br />

und die Produktionsstätten in Europa<br />

schon sehr hochpreisig. Ich habe<br />

oft die Erfahrung gemacht, dass das<br />

vielen Kunden zu teuer ist. Aber<br />

das Modebewusstsein der Männer in<br />

Deutschland wächst. Deswegen<br />

mache ich auch Männermode. Man<br />

muss den Kunden nur erst einmal<br />

mit unserer Mode konfrontieren und<br />

ihm zeigen, was es überhaupt auf<br />

dem Markt gibt. In Deutschland gibt<br />

es gute Männerlabels, und von<br />

Saison zu Saison kommen mehr dazu.<br />

Die Kunden lernen dieses Angebot<br />

nur leider gar nicht kennen.<br />

Wie sieht denn der Mann im Jahr<br />

2014 aus?<br />

SG: Ich denke gar nicht so rational<br />

darüber nach, wie der aktuelle Mann<br />

aussieht. Ich habe zwar ein Männerbild<br />

vor Augen, aber das kann ich nicht klar<br />

definieren. Die Looks, die ich für die<br />

Fashion Week produziere, sprechen<br />

schon eher den mode bewussten Mann<br />

an. Aber auch mein Papa hat einige<br />

Teile von mir im Schrank hängen. Die<br />

Kollektionen passen in jede Männergarderobe.<br />

Es ist auch spannend zu sehen,<br />

wie jeder einzelne die Teile trägt und<br />

dem eigenen Stil anpasst. Ich fände es<br />

irritierend, einen Mann im Sissi-<br />

Goetze-Komplett-Look zu sehen. Meine<br />

Sachen sprechen diejenigen an, die Lust<br />

auf gute Qualität haben<br />

und etwas suchen, das nicht nur<br />

eine Saison Gültigkeit hat.<br />

DB: Wenn ein Mann für eine Jacke<br />

schon 700 Euro ausgibt, muss die<br />

auch eine gewisse Wertigkeit haben. Ich<br />

designe Kollektionen, die auch untereinander<br />

sehr gut kombinierbar sind. Und<br />

auch ich habe niemals<br />

einen bestimmten Mann vor Augen.<br />

Meine Inspiration ist mein Leben, Dinge,<br />

die mich geprägt haben. Die fließen dann<br />

in meine Kollektionen ein.<br />

Ihr habt gerade gesagt, dass die<br />

Kunden eure Kollektionen gar nicht<br />

erst kennenlernen – woran liegt<br />

das? Daran, dass die Läden sie nicht<br />

einkaufen, oder daran, dass die Presse<br />

junge Labels ignoriert?<br />

MD: Du kannst in jedem deutschen<br />

Magazin sein, aber das bedeutet nicht,<br />

dass die Leute dann auch die Sachen<br />

kaufen. Die gehen lieber zu C&A<br />

und kaufen das günstigere Teil. Um<br />

es noch einmal zu vergleichen: In<br />

London gibt es eine viel engere<br />

Verbindung zwischen PR und Sale.<br />

„MEINE<br />

KOLLEKTIONEN<br />

PASSEN IN<br />

JEDE MÄNN<strong>ER</strong>-<br />

GARD<strong>ER</strong>OBE“<br />

SISSI GOETZE<br />

SG: Ich glaube nicht unbedingt,<br />

dass die deutschen Endverbraucher<br />

keine Lust haben, unsere Sachen zu<br />

kaufen. Das Problem liegt bei den<br />

Einkäufern, die das ihren Kunden nicht<br />

zutrauen. Es reicht nicht, einen<br />

jungen Designer in einem Kaufhaus in<br />

die Ecke zu hängen. Man muss<br />

schon ein bisschen was investieren,<br />

die Kleider highlighten, Verkäufer<br />

schulen und versuchen, die Ware an<br />

den Mann zu bringen. Im eigenen<br />

Showroom funktioniert es doch auch.<br />

Wir haben treue Stammkunden,<br />

nicht nur Modeleute, sondern auch<br />

Informatiker, die bei uns kaufen, weil<br />

sie Lust auf gute, qualitativ<br />

hochwertige Klamotten haben.<br />

DB: Ich habe die Erfahrung gemacht,<br />

dass die Einkäufer in Deutschland<br />

genau andersrum denken als<br />

ihre Kollegen im Ausland. Egal, ob in<br />

Skandinavien, Paris, Mailand oder<br />

London: In all den Ländern kaufen<br />

die Einkäufer lieber ihre eigenen Labels<br />

ein, um deren Potenzial zu fördern.<br />

In Deutschland hängen die Läden voll<br />

mit skandinavischen Labels, da<br />

dieangeblich cooler sind, und kaum<br />

jemand holt sich einen Berliner<br />

Designer in den Laden.<br />

2010 debütierte Sissi Goetze mit<br />

ihrer Abschlusskollektion am Central<br />

Saint Martins College in London.<br />

Seitdem zeigt sie regelmäßig auf der<br />

Fashion Week Berlin<br />

24 Werk VI 25


Kollektionen gekauft haben, sind<br />

insolvent – das bricht einem das<br />

Genick.<br />

MD: Ich denke, dass Firma nach so<br />

langer Zeit keine Lust mehr hatten,<br />

jeden Cent umdrehen zu müssen. Ich<br />

hoffe, bei uns wird das anders laufen.<br />

(alle lachen) Natürlich ist das kein<br />

spezifisch deutsches Problem. Das<br />

kann überall passieren. In London<br />

gibt es auch Labels, die jahrelang<br />

kämpfen müssen.<br />

»Das wohl beste Modebuch des Jahres« FAZ Magazin<br />

»Die Kunst des Mode-Interviews« Interview.de<br />

»Voller guter, überraschend komischer Geschichten« taz<br />

»Fashionliteratur mit Kultpotenzial« Elle<br />

Wie schwierig ist es, einen Investor<br />

zu finden?<br />

MD: Wenn ihr jemanden kennt,<br />

der investieren möchte, könnt ihr den<br />

gern bei mir vorbeischicken!<br />

(alle lachen)<br />

Daniel Blechmann gründete 2008 sein<br />

Label Sopopular. Von Berlin aus arbeitet<br />

er für den internationalen Markt<br />

Und wie ist es mit Kooperationen?<br />

MD: Ich habe noch nicht viel<br />

Erfahrung mit Kooperationen. Zu<br />

deren 100. Firmenjubiläum habe<br />

ich beim Deichmann Design Atelier<br />

teilgenommen und Schuhe entworfen.<br />

Ansonsten kooperiere ich lieber<br />

mit Künstlern.<br />

DB: Bislang bin ich Kooperationen<br />

aus dem Weg gegangen. Zu Beginn<br />

bin ich sehr radikal gewesen. Ich<br />

wollte mein eigenes Ding machen und<br />

mit niemanden etwas zu tun haben.<br />

Interviews habe ich auch nicht<br />

gegeben. Das war Quatsch, das<br />

funktioniert nicht. Im Moment arbeite<br />

ich deshalb an zwei großen<br />

Kooperationen.<br />

Das heißt, der deutsche Markt ist für<br />

euch ökonomisch betrachtet im<br />

Grunde unerheblich?<br />

MD: Ehrlich gesagt ist mir der deutsche<br />

Markt nicht so wichtig. Ich konzentriere<br />

mich im Moment sehr auf Japan.<br />

Man muss nicht dort arbeiten, wo<br />

man verkauft.<br />

DB: Wir haben aktuell zwei neue<br />

Vertriebe und einen Showroom<br />

in Paris, der sich um den ganzen<br />

asiatischen Markt kümmert. Auch für<br />

uns ist der internationale Markt<br />

zurzeit wichtiger als der deutsche.<br />

In welchen Ländern verkauft ihr<br />

denn am besten?<br />

SG: Japan.<br />

MD: China.<br />

DB: Hongkong.<br />

26<br />

Was sagt ihr dazu, dass Herr von Eden<br />

von der Insolvenz bedroht ist und ein<br />

etabliertes Label wie Firma aufgibt?<br />

DB: Ich mache mir schon Gedanken<br />

dazu. Firma gibt es seit fast 20 Jahren<br />

und ich bin mir nicht sicher, ob sie<br />

insolvent sind oder einfach keine Lust<br />

mehr haben. Die beiden (Daniela<br />

Biesenbach und Carl Tillessen, Anm. d.<br />

Red.) haben sich sehr auf den deutschen<br />

Markt konzentriert und viele<br />

der Einzelhändler, die ihre<br />

„DAS MODE-<br />

BEWUSSTSEIN IN<br />

DEUTSCHLAND<br />

WÄCHST“<br />

DANIEL BLECHMANN<br />

Darf man schon verraten mit wem?<br />

Stammen die Partner aus dem<br />

Modebereich?<br />

DB: Nein, das darf ich leider nicht<br />

sagen. Aber es sind Modemarken<br />

– eine deutsche und eine internationale.<br />

Meine Identität auf dem<br />

Modemarkt ist mir mittlerweile<br />

wichtig. Daher kooperiere ich nur mit<br />

Marken, bei denen ich sicher bin,<br />

dass es zusammenpasst. Ich muss kein<br />

Celebrity sein oder mich vor jede<br />

Kamera stürzen. Und ich muss auch<br />

keine Teppiche oder Pralinen machen.<br />

Das bin nicht ich. Mir ist es wichtig,<br />

ein guter Designer zu sein und meine<br />

eigene Handschrift zu finden.<br />

VIELEN DANK AN PATRICK CHODURA<br />

VON SILK RELATIONS<br />

FOTO: VOO STORE<br />

23<br />

Gespräche mit<br />

Miguel Adrover / Walter Van Beirendonck / Bless / Pierre Cardin / Damir Doma / Michel Gaubert / Jean-Paul Goude / Iris van Herpen<br />

Nick Knight / Helmut Lang / Malcolm McLaren / Charlie Le Mindu / Willi Ninja / Rick Owens / Diane Pernet / Loïc Prigent<br />

Viviane Sassen / Raf Simons / Valerie Steele / Juergen Teller / Veruschka / Barbara Vinken / Bruce Weber / Bernhard Willhelm / Zaldy<br />

www.prestel.de


Melanie Constein (42) am Schreibtisch<br />

in ihrem Büro am Berliner<br />

Kurfürstendamm. Hinter ihr hängt ein<br />

Porträt der Schauspielerin<br />

Joan Collins – eine ihrer Ikonen<br />

INT E R V I EW: JOHA NNA D EMANT<br />

F OTOS: JULIA N E SPAET E<br />

DAS<br />

MÄNN<strong>ER</strong> _<br />

NEST<br />

Ihre Models laufen für Prada, Givenchy oder<br />

Louis Vuitton. Sie werben für Dior<br />

Homme, Hermès oder Balenciaga. Melanie<br />

Constein, geborene Nest, vermittelt<br />

mit ihrer Berliner Agentur Nest Model<br />

Management außergewöhnlich schöne Männer.<br />

200 international erfolgreiche Models stehen<br />

bei ihr unter Vertrag. Ein Gespräch mit<br />

einer Frau, die mit Männern Geld verdient<br />

28


Wie kam es dazu, dass du<br />

Modelagentin wurdest?<br />

Das war Zufall. Ein Freund von mir<br />

war bei einer großen Berliner<br />

Modelagentur unter Vertrag und der<br />

festen Überzeugung, dass ich das<br />

Zeug zu einer tollen Agentin hätte. Er<br />

stellte mich der Geschäftsführerin<br />

vor und kurz danach konnte ich anfangen.<br />

Das ist jetzt acht Jahre her.<br />

Seit 2011 führst du deine eigene<br />

Agentur und konzentrierst dich dabei<br />

ausschließlich auf Männer. Was hat<br />

dich dazu bewegt?<br />

Ich habe nicht unbedingt das gleiche<br />

Auge für Frauen wie für Männer.<br />

Ich würde zwar ein potenzielles<br />

weibliches Model auf der Straße erkennen,<br />

aber bei den Jungs fühlt es sich<br />

irgendwie selbstverständlicher an.<br />

Mir wird oft gesagt, ich solle doch auch<br />

Frauen in die Kartei aufnehmen, was<br />

naheliegt, da man mit ihnen auch<br />

besser verdient. Aber ich glaube nicht<br />

an den Erfolg von irgendetwas<br />

nebenbei. Und Frauen wären für mich<br />

etwas, das nebenbei passiert. Momentan<br />

habe ich gar nicht die Kapazitäten,<br />

um Frauen auf dem gleichen Niveau zu<br />

führen. Aber in der Zukunft ist<br />

natürlich nichts ausgeschlossen.<br />

Verdienen weibliche Models tatsächlich<br />

so viel mehr als männliche?<br />

Ja, die Unterschiede in der Bezahlung<br />

sind ziemlich groß. Aber Geld ist<br />

nicht mein Hauptantrieb. Ich als Frau<br />

finde es sogar super, dass wir<br />

wenigstens in dieser Branche mehr<br />

verdienen als Männer. Aber klar, für<br />

mich als Agentin macht es das<br />

nicht einfacher.<br />

Nest bedient fast nur den High-<br />

Fashion-Bereich. Auch das unterscheidet<br />

dich von anderen Agenturen.<br />

Stimmt. Wir haben im Grunde keine<br />

kommerziellen Models, die man für<br />

jeden Job verbuchen könnte. Und vor<br />

allem sind wir mit unseren 200 Jungs<br />

keine Riesenagentur. Aber das ist auch<br />

gut so. Die persönliche Hinwendung<br />

darf nicht verloren gehen.<br />

Wäre also ein Kommerzmodel wie<br />

Markus Schenkenberg bei dir in der<br />

Agentur nicht gut aufgehoben?<br />

Damals, in den 90ern, zu seiner besten<br />

Zeit, wäre er das bestimmt gewesen.<br />

Aber mittlerweile hat er viel an sich<br />

machen lassen – wahrscheinlich auch<br />

Schönheitsoperationen. Das ist<br />

schade. Ein älterer Mann ohne Falten<br />

und graue Haare sieht doch<br />

un natürlich aus.<br />

Gibt es überhaupt eine Altersgrenze<br />

für Männermodels?<br />

Viele können sich je nach Typ wirklich<br />

ein Leben lang halten. Unser Ältester<br />

ist 51 Jahre alt. Wir haben nur nicht<br />

mehr ältere Männer in der Kartei, weil<br />

die meisten Models durch ihre<br />

„PRADA<br />

FAVORISI<strong>ER</strong>T<br />

AND<strong>ER</strong>E TYPEN<br />

ALS JIL SAND<strong>ER</strong><br />

OD<strong>ER</strong> GUCCI“<br />

langjährige Karriere schon ihren Platz<br />

in einer anderen Agentur gefunden<br />

haben. Nest ist noch jung. Und auf<br />

unserem Level reife Männer zu<br />

vertreten ist somit schwieriger. Ich<br />

denke, in einigen Jahren wird das<br />

anders aussehen. Die meisten Männer,<br />

die wir haben, sind sehr klassisch. Sie<br />

werden sich auch noch später im<br />

gehobenen Segment vermitteln lassen.<br />

Was wäre denn das perfekte Alter,<br />

um zu beginnen?<br />

Bei Jungs geht es später los als bei<br />

Mädchen. Mädchen fangen ja teilweise<br />

schon mit 14 Jahren an. Im Durchschnitt<br />

sind die Jungs eher 19 oder 20<br />

Jahre alt. Es gibt auch welche, die mit<br />

16 starten, aber das ist eher die<br />

Ausnahme.<br />

Wo findest du deine<br />

Nachwuchsmodels?<br />

Meistens dort, wo man es nicht<br />

vermutet. An der Supermarktkasse<br />

oder auf dem Weg zum Zahnarzt.<br />

Oft auch in Skateparks, auf Basketballfeldern<br />

oder Sportplätzen.<br />

Grundsätzlich laufe ich immer mit<br />

offenen Augen durch die Welt.<br />

In meiner Mittagspause treffe ich sie<br />

dann bestenfalls ganz unvorhergesehen<br />

in der Fußgängerzone mit der<br />

Mutter beim Einkaufen.<br />

Und wie werden die Labels und<br />

Magazine dann auf sie aufmerksam?<br />

Wenn wir ein Model ganz neu gefunden<br />

haben, wenden wir uns direkt an den<br />

Kunden. Gut ist, wenn so eine Exklusivbuchung<br />

zustande kommt. Was heißt,<br />

dass das Model zum ersten Mal durch<br />

den Designer gezeigt wird. Mit der Zeit<br />

bekommt man auch ein Gefühl dafür,<br />

welcher Typ zu welchem Kunden passt.<br />

Prada favorisiert andere Typen als<br />

Jil Sander oder Gucci.<br />

Von Berlin aus sendet ihr die Jungs<br />

dann in die ganze Welt.<br />

Richtig. Durch Partneragenturen<br />

platzieren wir unsere Models<br />

im Ausland. So wird der Kundenstamm<br />

auch größer. Aber wir<br />

suchen sehr selektiv aus. Welcher<br />

Agent von welcher Agentur passt zu<br />

welchem Jungen? Das wird sehr<br />

indi viduell entschieden. Ich lege sehr<br />

viel Wert darauf, dass sich die<br />

Jungs wohlfühlen.<br />

Melanie Constein mag Céline,<br />

Modezeitschriften und Kakteen –<br />

letztere aber nur, weil man<br />

sie nur selten gießen muss<br />

Das klingt so, als wären sie wie deine<br />

Kinder.<br />

Man entwickelt tatsächlich eine<br />

starke persönliche Bindung zu ihnen.<br />

Es ist wahnsinnig aufregend, diese<br />

jungen Menschen zu begleiten.<br />

Sie kommen nach Berlin, um zu<br />

studieren, laufen mir über den Weg und<br />

wenig später leben sie plötzlich<br />

in New York, Mailand oder Paris.<br />

Dennoch finde ich es wichtig, dass sie<br />

ihre Ausbildung fortsetzen.<br />

Das Modeln lässt sich sehr gut mit<br />

einem Studium verbinden.<br />

Viele Models halten dem Druck der<br />

Branche nicht stand. Wirst du mit<br />

Problemen wie Magersucht<br />

konfrontiert?<br />

Ich habe zum Glück noch nie einen<br />

Verdacht gehabt. Hätte ich einen, würde<br />

ich sofort das Gespräch suchen. Die<br />

Gesundheit der Jungs liegt mir sehr am<br />

Herzen. Es besteht überhaupt keine<br />

Notwendigkeit zu hungern.<br />

Sie müssen vielleicht hier und da etwas<br />

Sport treiben, um ihren Körper zu<br />

definieren, aber das reicht. Der junge<br />

männliche Körper ist meistens von<br />

Natur aus schon schlank genug,<br />

um den erforderlichen Maßen zu<br />

entsprechen. Zu dünn dürften sie gar<br />

nicht sein. Das ist auch ein Grund,<br />

warum ich mich mit dem Management<br />

von Mädchen schwer tue. Du weißt<br />

nie, wie sie zu ihrer Figur kommen.<br />

Wie bereitest du die Jungs auf ihren<br />

ersten Job vor?<br />

Anfangs reagieren sie total überrascht,<br />

dass man sie überhaupt anspricht.<br />

Wenn sie dann in die Agentur kommen,<br />

erklären wir ihnen alles sehr<br />

behutsam, denn der Einstieg in die<br />

Modelbranche ist sehr komplex.<br />

Wie ein Casting und ein Shooting<br />

abläuft, wie sie sich gegenüber Kunden<br />

verhalten sollen und auch, dass sie<br />

nicht alles mitmachen müssen –<br />

bis auf die Unterhosen ausziehen zum<br />

Beispiel. Wir geben ihnen vor allem<br />

Selbstbewusstsein.<br />

Was meinst du, finden sich deine<br />

Models selbst gutaussehend?<br />

Ich glaube, zu Beginn oft tatsächlich<br />

nicht. Aber die meisten entwickeln<br />

irgendwann ein ganz neues Bewusstsein<br />

für sich selbst, was sich auch in ihrem<br />

Kleidungsstil widerspiegelt. Ich bin<br />

immer wieder erstaunt, wie schnell sich<br />

ihr Interesse für Mode verändert und<br />

wie viel sie dann plötzlich meinen,<br />

davon zu verstehen.<br />

Wie lange dauert es in der Regel, bis<br />

ein Neuzugang das erste Mal gebucht<br />

wird?<br />

Manchmal nur wenige Tage. Dann<br />

nennen die Jungs ganz schnell alle um<br />

sich herum beim Vornamen und<br />

sprechen nicht mehr von Olivier Rizzo,<br />

dem Stylisten, sondern von Olivier.<br />

Und es ist nicht mehr Willy Vanderperre,<br />

der Fotograf, sondern der Willy.<br />

Das ist sehr amüsant. Aber umso<br />

wichtiger ist es, sie zu erden. Ich fühle<br />

mich verpflichtet, sie darauf hinzuweisen,<br />

dass sie sich gerade in einer<br />

Situation befinden, die nicht immer<br />

selbstverständlich ist.<br />

In deinem beruflichen Umfeld<br />

umgibst du dich nur mit Männern,<br />

aber privat liebst du eine Frau.<br />

Zufall?<br />

Irgendwo müssen sie ja hin, die<br />

Männer (lacht).<br />

30 Werk VI 31


Viele dieser Gesichter sieht man<br />

in London, Mailand und Paris<br />

auf dem Laufsteg. Rechts: Auch<br />

für andere schöne Dinge hat<br />

die Modelagentin einen Blick<br />

Mit welchen Augen siehst du das<br />

männliche Geschlecht?<br />

Ich sehe Männer jedenfalls nicht<br />

sexualisiert. Obwohl ich durchaus<br />

sagen kann, wenn ich jemanden sexy<br />

finde. Aber sicherlich betrachte ich<br />

Männer nicht so wie andere Frauen.<br />

Hast du ein persönliches Schönheitsideal?<br />

In deiner Kartei jedenfalls<br />

finden sich viele ähnliche Typen.<br />

Sie sind alle auf ihre besondere<br />

Art speziell und einzigartig. Aber<br />

privat würde ich niemals in solchen<br />

Kategorien denken. Ich kann auch<br />

einen Mann unheimlich schön finden,<br />

wenn er weit davon entfernt ist, ein<br />

Model sein zu können. Aber wenn ich<br />

mir einen stereotypen Berlin-<br />

Mitte-Typ mit Bart vorstelle, ist das<br />

meiner Meinung nach eher<br />

eine plakative Angelegenheit als ein<br />

Attraktivitätsfall.<br />

Der Designer Hedi Slimane hat bei<br />

Dior durch seinen Slim-Cut die<br />

Silhouette des Mannes nachhaltig<br />

verändert. Perfekt ist seither die Größe<br />

48. Wie wird Mode in Zukunft das<br />

Männerbild beeinflussen?<br />

Das ist schwer zu sagen. Vor sieben<br />

Jahren war es zum Beispiel noch<br />

ein Riesenproblem, wenn jemand 1,93<br />

Meter groß war. Heute gibt es diese<br />

Models. Ein überdurchschnittlich<br />

großer Mann ist kein absolutes K.o.-<br />

Kriterium mehr.<br />

Wird die gefragte Androgynität auf<br />

lange Sicht schwinden?<br />

Das ist abhängig von den Designern.<br />

Die meisten Showjungs sind<br />

nach wie vor sehr schmal und jung im<br />

Gegensatz zu den Kampagnen -<br />

männern. Momentan koexistieren beide<br />

Einflüsse nebeneinander.<br />

Deine Models laufen kaum bis gar<br />

nicht auf der Berliner Fashion Week.<br />

Woran liegt das?<br />

Das ist sehr schade. Ich wünschte,<br />

es wäre anders. Aber dafür<br />

bräuchten wir die entsprechenden<br />

Schauen, bei denen sie entweder gut<br />

bezahlt werden oder Prestige<br />

bekommen. Um ehrlich zu sein fehlen<br />

hier die Jobs, die sie in irgendeiner<br />

Form in ihrer Karriere weiterbringen.<br />

Für Frauen ist es mittlerweile lukrativer,<br />

aber für Männer ist es leider noch nicht<br />

so. Es wäre gut für den Standort meiner<br />

Agentur, hier Models zu zeigen. Doch<br />

meine internationalen Jungs extra<br />

dafür einzu fliegen, lohnt sich nicht. Für<br />

sie würde es nichts bringen.<br />

Bezahlt Berlin denn so schlecht?<br />

Pointless. Ja.<br />

Was heißt schlecht?<br />

Schlecht heißt, 50 bis 150 Euro<br />

pro Show. Und man darf nicht vergessen,<br />

dass es hier einfach nicht<br />

so viele Schauen für Männermode gibt.<br />

Wenn wir 20 hätten, würde es anders<br />

aussehen. Ich würde die Berliner<br />

Fashion Week wirklich gern mehr<br />

unterstützen, aber sie muss sich definitiv<br />

noch stärker entwickeln.<br />

Was macht die Berliner Fashion Week<br />

falsch?<br />

Falsch ist schon mal, sie zeitgleich zur<br />

Pariser Fashion Week stattfinden<br />

zu lassen. Das ist der signifikanteste<br />

Fehler. Da darf man sich nicht<br />

wundern, wenn kaum Presse erscheint<br />

und wenige gute Models laufen<br />

können. Darüber sollte man mal nachdenken.<br />

Außerdem muss hier<br />

überhaupt erst ein Umfeld geschaffen<br />

werden, das für die jungen Labels<br />

attraktiv ist. Die Schauen im Rahmen<br />

der Mercedes -Benz Fashion Week<br />

sind so immens teuer, dass talentierte<br />

Nachwuchs designer kaum eine<br />

Präsentation ihrer Mode realisieren<br />

können. Für mich sieht es am<br />

Ende wie eine Werbeveranstaltung für<br />

einzelne Partner aus. Und das ist der<br />

falsche Weg.<br />

Trotzdem hast du Berlin als Standort<br />

für deine Agentur gewählt.<br />

Aber aus so vielen anderen Gründen.<br />

Meine Agentur ist hier, weil die Nische<br />

frei war. In Berlin war noch Raum,<br />

um diese Art von Agentur zu etablieren.<br />

Ich bin natürlich aufgrund meiner<br />

internationalen Kunden auch viel<br />

unterwegs, aber Berlin ist die einzige<br />

Stadt, in der ich mir momentan wirklich<br />

vorstellen kann zu leben. Man<br />

entscheidet sich für Berlin. Das macht<br />

auch die Vielfalt und die verschiedenen<br />

Einflüsse aus. Das finde ich toll.<br />

Siehst du Berlin als Modestadt?<br />

Ich sehe Deutschland nicht als<br />

Modeland.<br />

Deutsche Mode – gibt es das<br />

überhaupt?<br />

Es gibt tolle deutsche Designer,<br />

aber die verlassen uns leider früher oder<br />

später. Da sind wir wieder bei dem<br />

Punkt: Man muss jungen Talenten<br />

etwas bieten, damit sie bleiben und wir<br />

endlich eine Mode kultur entwickeln<br />

können.<br />

Warum bist du in Deutschland außer<br />

Konkurrenz?<br />

Weil viele in erster Linie ihr Business<br />

machen, um Geld zu verdienen.<br />

Ich mache es aus Leidenschaft.<br />

Gibt es jemanden in der internationalen<br />

Agenturlandschaft, der<br />

ähnliche Standpunkte vertritt?<br />

Was John Casablancas mit seiner<br />

Agentur Elite geschaffen hat, finde ich<br />

bemerkenswert. Er hat viele der ganz<br />

großen Supermodels rausgebracht.<br />

Casablancas hatte immer seinen eigenen<br />

Kopf, war charakterfest in seinen<br />

Ansichten und hat sich von Kunden<br />

kaum einschüchtern lassen. Durch seine<br />

Person und Strategie hat er den Wert<br />

der Models potenziert. Das finde ich<br />

großartig.<br />

Hörst du nur auf deine eigene<br />

Intention, oder gibt es auch den ein<br />

oder anderen Ratschlag, den du<br />

befolgst?<br />

Meine liebe Ehefrau Rike hat mal zu mir<br />

gesagt: „You always have to have a point<br />

of view.“ Man sollte immer eine gewisse<br />

Überzeugung haben und seine<br />

Ansichten vertreten können. Wenn<br />

„ICH SEHE<br />

MÄNN<strong>ER</strong> NICHT<br />

SEXUALISI<strong>ER</strong>T“<br />

man die nicht hat, kann man alles<br />

vergessen. Rike hat mich ermutigt, mich<br />

mit der Agentur selbstständig zu<br />

machen. Zuerst habe ich viel gezweifelt:<br />

Mache ich das richtig? Kann man davon<br />

leben? Aber sie hatte recht. Es kommen<br />

gute Dinge zu einem, auch wenn man<br />

nicht immer mit dem Strom schwimmt.<br />

Du selbst kleidest dich sehr modisch.<br />

Was ist dein Lieblingskleidungsstück?<br />

Oh Gott, ich habe so viele. Ich besitze<br />

eine regelrechte Sammlung von<br />

schwarzen und weißen Blusen. Und wie<br />

fast jede Frau mag ich Schuhe. Ich<br />

trage im Grunde aber nur Brogues und<br />

Loafer. Meine Hosenmarke trage ich<br />

schon seit Jahren. Immer das eine<br />

Modell, aber in zehn verschiedenen<br />

Ausführungen. Meine Frau lacht schon<br />

darüber. Wenn ich mir etwas Neues<br />

kaufe, ist sie überzeugt, dass es längst im<br />

Schrank hängt. Ich schätze Menschen<br />

mit Stil, mehr als jene, die jeden Trend<br />

mitmachen, ungeachtet, ob er ihnen<br />

steht oder nicht. Ich liebe klassische<br />

Kleidung, mag Qualität und auch den<br />

Akt des Anziehens sehr. Aber mein<br />

Lieblingskleidungsstück? Das kann ich<br />

nicht sagen.<br />

Welches Modelabel ist dein Favorit?<br />

Céline ist mein Ruin (lacht). Ich<br />

finde nur den Hype furchtbar, den<br />

so viele auf einmal um das Label<br />

veranstalten. Für mich machen die<br />

Details der Kollektionen die Kleidung<br />

spannend. Und ich schätze die<br />

hochwertigen Materialen und die<br />

Passform der Sachen. Sie sind wie für<br />

mich gemacht. Ich würde viel mehr<br />

davon kaufen, wenn ich es mir leisten<br />

könnte.<br />

Hast du ein Laster? Von der Mode<br />

mal abgesehen.<br />

Essen. Gesunde Ernährung ist für<br />

mich eine bewusste Entscheidung,<br />

über die ich mir jeden Tag Gedanken<br />

mache. Wenn ich nicht darauf achten<br />

würde, würde ich wahrscheinlich<br />

aussehen wie Alber Elbaz (Lanvin-<br />

Chefdesigner, Anm. d. Red.). Eine<br />

ähnliche Brille habe ich ja schon.<br />

Letzte Frage: Wenn du für einen<br />

Tag ein Mann sein könntest, was<br />

würdest du tun?<br />

Sex. Jemand, der etwas anderes sagt,<br />

lügt (lacht).<br />

32 Werk VI 33


Jeansjacke: American Apparel<br />

Shirt: Schiesser<br />

Shorts: Schmidttakahashi<br />

Schuhe: Nike<br />

Socken: Kappa<br />

Uhr: G-Shock<br />

#WHATCORE?<br />

Ein Trend beschäftigt die Modewelt: Normcore. Nicht mehr experimentell und<br />

individuell, sondern hardcore normal soll es jetzt sein. Doch was ist schon normal?<br />

Eine Strecke mit vermeintlich herkömmlichen Kleidungsstücken<br />

FOTOS MORITZ SCHMID<br />

PRODUKTION J OHA NNA DEMA NT & A L E XAND<strong>ER</strong> V ETT<strong>ER</strong><br />

M ODEL J ESCO S CHÄF<strong>ER</strong>/VIVA MODEL S<br />

H A ARE & MAKE-UP CLAUDIA RUN G E<br />

F OTOASSISTENZ JANOSCH W EISS<br />

HUHN AGATHE<br />

34 Werk VI 35


Jacke: Julian Zigerli<br />

Hemd: Sissi Goetze<br />

Hose & Bauchtasche: American Apparel<br />

Sonnenbrille: Funk Eyewear<br />

Sweatshirt: Popgold<br />

Hose: Dockers Hose: G-Star Raw<br />

Cap: American Apparel Cap: MCM<br />

T-Shirt & Turnbeutel: Zur Anprobe<br />

Schuhe:<br />

Handtuch:<br />

Birkenstock<br />

American Apparel<br />

Socken: American Socken: Apparel Filippa K<br />

Uhr: G-Shock Schuhe: Adidas<br />

36 Werk VI 37


Hose und Jacke mit integriertem<br />

Rucksack: Julian Zigerli<br />

T-Shirt: Fruit of the Loom<br />

Schuhe: Birkenstock<br />

38 Werk VI 39


Links<br />

Fleecejacke: Uniqlo<br />

Poloshirt: Fred Perry<br />

Rechts<br />

Sweatshirt: Ecko Unltd.<br />

Hose: Sopopular<br />

Cap: Topman<br />

Schuhe: Adidas<br />

Socken: Kappa<br />

40 Werk VI 41


Hose: G-Star Raw<br />

Cap: MCM<br />

T-Shirt & Turnbeutel: Zur Anprobe<br />

Schuhe: Adidas<br />

Socken: Filippa K<br />

Handtuch: American Apparel<br />

42 Werk VI 43


MUTT<strong>ER</strong>S<br />

SÖHNCHEN<br />

Mama ist die Beste. Und weil das so ist, haben<br />

wir uns mit Müttern über ihre Söhne<br />

unterhalten – und dabei erfahren, wie sechs<br />

kleine Jungs zu dem wurden, was sie<br />

heute sind: talentierte und erfolgreiche Künstler<br />

Cyril in seinem<br />

Atelier in Friedrichshain.<br />

Hier entsteht,<br />

was später auf der<br />

Straße zu sehen ist<br />

INT<strong>ER</strong>VIEWS: MATHILDA KALISZCZYK<br />

FOTOS: ALEXAND<strong>ER</strong> JED<strong>ER</strong>MANN<br />

1985: Cyril auf dem<br />

Schoß seiner Mutter<br />

Brigitte, mit Oma Gilda<br />

CYRIL VOUILLOZ aka Rylsee kommt ursprünglich<br />

aus Genf, lebt allerdings seit 2012 in Berlin.<br />

Der 29-jährige Künstler arbeitet hauptsächlich mit<br />

Typographie und Wandmalerei. Street Art ist<br />

seine Leidenschaft. Seine Arbeiten wurden international<br />

ausgestellt – u.a. in Frankreich, den USA,<br />

England und Brasilien. Momentan arbeitet er im<br />

Urban Spree, einem Zentrum für urbane Kunst<br />

und Kultur in Berlin. Seine Mutter Brigitte Vouilloz<br />

(61) wusste im Gegensatz zu ihrem Sohn schon<br />

immer, dass er nur eins werden kann: Künstler.<br />

Frau Vouilloz, was für ein Kind war<br />

Cyril?<br />

Er war der absolute Anführer.<br />

Den Kopf immer voller Ideen und<br />

ständig unterwegs.<br />

Der Held seiner Kindheit war?<br />

Raphael von den Ninja Turtles.<br />

Hat er sich damals schon für<br />

Kunst interessiert?<br />

Nicht direkt für Kunst, aber für<br />

Zeichnungen jeglicher Art.<br />

Vor allem von Buchstaben war er<br />

begeistert. Mit ungefähr zehn Jahren<br />

kam dann die Street Art dazu.<br />

Welchen Berufswunsch hatte<br />

Cyril als Kind?<br />

Zeichner.<br />

War er früher ein illegaler Sprayer?<br />

Gab es zu Hause Ärger deswegen?<br />

Ja, war er. Illegal ist immer besser,<br />

wegen dem Adrenalin! Ärger gab es<br />

deswegen eigentlich nicht.<br />

Ich wollte einfach nichts davon wissen.<br />

Das einzige, was ich ihm strengstens<br />

verboten habe, war, alte Züge und<br />

Waggons zu besprühen.<br />

Das war zu gefährlich wegen der<br />

Elektrizität. Ich habe den Kindern auch<br />

immer gesagt: Ich hole euch auf jeden<br />

Fall NICHT von der Polizeistation ab.<br />

Ihr müsst gar nicht erst anrufen!<br />

Ob das etwas gebracht hat, weiß ich<br />

nicht genau.<br />

Womit hat Cyril Sie in den<br />

Wahnsinn getrieben?<br />

Eigentlich hat er das nie gemacht. Er<br />

sagte immer nur „Ja, Mama“.<br />

Aber im Endeffekt hat er doch nur das<br />

getan, was er wollte.<br />

Was war das Verrückteste, was Ihr<br />

Sohn jemals gemacht hat?<br />

Das Schlimmste war für mich, als er<br />

sich betrunken mit einer erhitzten<br />

Büroklammer eine „12“ aufs<br />

Bein gebrannt hat! Danach hatte<br />

er beinahe eine Blutvergiftung.<br />

Wie finden Sie seine Arbeiten?<br />

Die werden immer besser und sind so<br />

verschieden! Cyril kann alles machen.<br />

Haben Sie in Ihrer Wohnung Kunst<br />

von Ihrem Sohn?<br />

Ja, ich hatte schon immer sehr viele<br />

Zeichnungen von ihm zu Hause<br />

hängen.<br />

Sind Sie zufrieden mit seiner<br />

Berufswahl?<br />

Schon als er 15 Jahre alt war, wollte ich,<br />

dass er auf die Kunstschule geht. Aber<br />

Cyril wollte nichts davon wissen.<br />

Er fing eine Ausbildung in einem<br />

Skater-Shop an, zeichnete aber<br />

nebenher immer weiter. Eines Tages<br />

hat er sich dann doch dazu entschieden,<br />

Künstler zu werden. Und ich bin<br />

sehr glücklich darüber.<br />

Seine größte Schwäche/Stärke?<br />

Cyril möchte immer alles auf einmal<br />

machen. Wenn er arbeitet, verliert er<br />

jegliches Zeitgefühl. Seine Stärken sind,<br />

dass er sehr ernsthaft, präzise und<br />

ruhig arbeitet. Er ist sehr geduldig.<br />

Gibt es eine Anekdote vom<br />

kleinen Cyril?<br />

Wenn wir früher in ein Restaurant<br />

gegangen sind und Cyril gelangweilt<br />

oder zu laut war, habe ich ihm immer<br />

ein Blatt Papier und einen Stift<br />

gegeben, dann war er stundenlang<br />

ruhig. Das ist heute immer noch so.<br />

Was wünschen Sie sich am meisten<br />

für Ihren Sohn?<br />

Dass er glücklich ist und immer so viel<br />

Spaß an seiner Arbeit hat. Und dass er<br />

bekannt wird. Weltweit!<br />

44 Werk VI 45


VLADIMIR KARALEEV stammt aus Sofia, der<br />

Hauptstadt Bulgariens. Mit 19 Jahren kam er nach<br />

Berlin, um Modedesigner zu werden. Seit 2006<br />

leitet er erfolgreich sein gleichnamiges Label. Seine<br />

Entwürfe sind avantgardistisch, die Schnittführung<br />

experimentell. Seine Mutter Snejana Karaleev (58)<br />

erkannte sein großes Talent schon sehr früh und<br />

erklärt uns, warum Bulgarien nicht der richtige Ort<br />

für die Karriere ihres Sohnes gewesen wäre.<br />

1988: Oliver mit<br />

seiner Mutter Evelyn<br />

in Gibraltar …<br />

… und 2014 in<br />

seiner eigenen<br />

Galerie in der<br />

Rosenthaler<br />

Straße 66<br />

1987: Vladimir an<br />

seinem 6. Geburtstag<br />

mit Mutter Snejana<br />

OLIV<strong>ER</strong> RATH (36) lebt und arbeitet<br />

in Berlin. Der gebürtige Heidelberger<br />

begann seine Karriere mit<br />

Porno-Rap, versuchte sich zwischendurch<br />

als Piercer und landete<br />

schlielich bei der Fotografie.<br />

Heute zählt er zu den erfolgreichsten<br />

Foto-Bloggern Deutschlands.<br />

Mutti Evelyn Kramer (68) ist<br />

stolz – auch wenn die meisten<br />

Modelle ihres Sohnes nackt vor der<br />

Kamera posieren.<br />

In Vladimirs Atelier<br />

entsteht gerade die<br />

Sommerkollektion<br />

2015<br />

Frau Kramer, was für ein Kind<br />

war Oliver: Einzelgänger oder<br />

Klassenclown?<br />

Ein Einzelgänger.<br />

War er ein Muttersöhnchen?<br />

Nein.<br />

Was hat ihn Ihrer Meinung nach am<br />

glücklichsten gemacht als Kind?<br />

Kreativ und wild zu sein.<br />

Wer war der Held seiner Kindheit?<br />

Mein Vater, sein Opa, den er<br />

aber nie kennengelernt hat. Die<br />

tollen Geschichten, die er von uns<br />

über ihn erzählt bekam, haben<br />

Oliver total fasziniert. Mein Vater<br />

war Komponist, sehr beliebt<br />

und umschwärmt von vielen Frauen.<br />

Welche Eigenschaft hat Oliver<br />

definitiv von Ihnen?<br />

Seine charmante Art.<br />

Seine größte Schwäche/Stärke?<br />

Er ist kein guter Verlierer und<br />

kann sehr aufbrausend sein.<br />

Das Kreative ist seine Stärke –<br />

und dass er nicht nachtragend ist.<br />

Sein Berufswunsch als Kind?<br />

Musiker.<br />

Waren Sie zufrieden mit seiner<br />

Entscheidung, Fotograf zu werden<br />

oder hatten Sie Bedenken?<br />

Nein, ich hatte überhaupt keine<br />

Bedenken und habe mich sehr darüber<br />

gefreut. Mein Vater hat auch<br />

sehr gern fotografiert.<br />

Womit hat Oliver Sie in die Verzweiflung<br />

getrieben?<br />

Mit seinem Eigensinn. Er hat immer<br />

gemacht, was er wollte. Vor allem<br />

sein erstes Tattoo gefiel mir überhaupt<br />

nicht.<br />

Womit hat er Sie stolz gemacht?<br />

Er hat immer alles geschafft,<br />

was er sich vorgenommen hat, und<br />

immer alles selbst in die Hand<br />

genommen. Und natürlich bin ich<br />

stolz darauf, dass er mit dem,<br />

was er tut, erfolgreich ist.<br />

Können Sie sich erklären, woher er die<br />

Vorliebe für Nacktaufnahmen hat?<br />

Das habe ich mich auch schon gefragt.<br />

Hängt bei Ihnen Zuhause<br />

Oliver-Rath-Fotografie?<br />

Ja, natürlich.<br />

Was war für Sie persönlich der<br />

aufregendste Augenblick in Olivers<br />

Karrierelaufbahn?<br />

Als er – noch als Rapper – zum<br />

„New Pop Artist of the Year“<br />

vom SWR3 gekürt wurde. Da durften<br />

wir in dem tollen Parkhotel in Baden-Baden<br />

übernachten und auf dem<br />

Festivalgelände wurden auf großen<br />

Leinwänden Interviews<br />

mit ihm gezeigt – das war einfach toll.<br />

Besuchen Sie ihn manchmal in Berlin?<br />

Ja, öfter sogar. Dann gehen wir<br />

ins Nikolaiviertel und zum<br />

Gendarmenmarkt oder durch den<br />

Prenzlauer Berg.<br />

Was wünschen Sie sich am meisten für<br />

Ihren Sohn?<br />

Gesundheit, weiterhin Erfolg, weniger<br />

Stress. Dass er immer machen kann,<br />

was er möchte und sich kreativ<br />

weiterentwickeln kann.<br />

Frau Karaleev, was für ein Kind war<br />

Vladimir?<br />

Ein Klassenclown.<br />

Wer war der Held seiner Kindheit?<br />

Der König der Löwen.<br />

Was hat ihn am glücklichsten<br />

gemacht als Kind?<br />

Das Malen und das Zeichnen.<br />

Dann stand sein Berufswunsch<br />

wahrscheinlich schon früh fest?<br />

Ja. Er wollte immer Modedesigner<br />

werden und hat ständig Modeskizzen<br />

gezeichnet.<br />

Waren Sie damit zufrieden oder<br />

haben Sie sich einen anderen Beruf<br />

für ihn gewünscht?<br />

Nein, habe ich nicht. Er hat schon<br />

als Kind angedeutet, dass er etwas mit<br />

Mode zu tun haben wird. Ich wusste,<br />

dass ihm genau das am meisten<br />

Spaß bereitet.<br />

Was hat Vladimir gern getragen?<br />

Und wann fing er an, seine Sachen<br />

selbst auszusuchen?<br />

Schon als Kind hat er seine Kleidung<br />

selbst ausgesucht. Später hat er die<br />

Sachen so umgeändert, dass sie noch<br />

cooler aussahen. Er wollte nie<br />

spießig und immer etwas verrückter<br />

als die anderen aussehen.<br />

Woher kam diese<br />

Modebegeisterung?<br />

Er war damals viel mit meiner<br />

jüngeren Schwester unterwegs. Sie<br />

war sehr modebewusst und hat<br />

viel selbst genäht, auch für ihn. Ich<br />

glaube, das hat ihn sehr beeinflusst.<br />

Und wie viel Einfluss seiner Heimat<br />

Bulgarien sehen Sie in der Mode<br />

Ihres Sohnes?<br />

Ich denke, er wollte sich immer vom<br />

konservativen Geschmack in Bulgarien<br />

abheben. In seiner Mode sehe ich die<br />

Sehnsucht nach Freiheit. Er wollte<br />

einfach alles anders machen, als es hier<br />

gewünscht ist.<br />

Womit hat er Sie am meisten stolz<br />

gemacht?<br />

Als ich zum ersten Mal zu seiner<br />

Show nach Berlin kam und er sich am<br />

Ende verbeugt hat, war ich so<br />

stolz, dass ich seine Mutter bin!<br />

Tragen Sie Vladimir Karaleev?<br />

Mit großem Stolz und dem größten<br />

Vergnügen!<br />

Seine größte Schwäche?<br />

Er mag keine Deadlines, manchmal ist<br />

er sehr chaotisch und macht immer, was<br />

er will. Egal, was ich sage.<br />

Welche Eigenschaft hat er definitiv<br />

von Ihnen?<br />

Seinen Humor und sein Gefühl für<br />

Verantwortung, denke ich.<br />

Das schönste Geschenk, das Sie von<br />

Vladimir bekommen haben?<br />

Das erste Kleid, das er speziell für mich<br />

genäht hat. Ich habe mich so besonders<br />

gefühlt.<br />

Was wünschen Sie sich am meisten<br />

für Ihren Sohn?<br />

Dass er sehr glücklich in seinem Leben<br />

wird.<br />

46 Werk VI 47


MARCEL DETTMANN (36) ist ein Berliner DJ und Produzent,<br />

der regelmig im Berghain auegt und auf dem Label<br />

Ostgut Ton veröffentlicht. Kompromissloser Techno –<br />

so könnte man seinen Stil benennen. Dafür hat er sich mit<br />

seinem eigenen Label MDR eine weitere Plattform<br />

geschaffen. Seine Mama Martina Dettmann (59) lebt im<br />

brandenburgischen Fürstenwalde. Sie würde ihren<br />

Sohn gern mal an den Turntables im Berghain besuchen.<br />

Hien mag es<br />

ordentlich und<br />

diszipliniert – das<br />

sieht man auch<br />

seiner Mode an<br />

1980: Hien auf<br />

dem Arm seiner<br />

Mutter Thi, mit<br />

Vater und Bruder<br />

in Laos<br />

1978: Der kleine<br />

Marcel auf dem<br />

Arm seiner Mutter<br />

Martina<br />

Marcel in seiner<br />

Wohnung im<br />

Prenzlauer Berg.<br />

Hier lebt er mit Frau<br />

und Kind<br />

Frau Dettmann, wie war Marcel als<br />

Kind?<br />

Sehr gesellig. Er hatte immer gern<br />

Leute um sich und hat viel<br />

mit Freunden unternommen.<br />

Wo hat er sich denn so<br />

rumgetrieben?<br />

Er hat mit den anderen Kindern<br />

in den Wäldern Cowboy und Indianer<br />

gespielt – sein Held war Old<br />

Shatterhand. Später ist er Skateboard<br />

gefahren und hat sehr viel Sport<br />

getrieben, wie z. B. Fußball und dann<br />

Judo – da war er dann sogar<br />

auch einmal DDR-Meister, glaube ich.<br />

Womit hat er Sie zur Verzweiflung<br />

getrieben?<br />

Er wollte immer nur das machen, was<br />

ihm Spaß macht. Nach der Schule<br />

hat er eine Ausbildung nach der<br />

anderen angefangen und wieder<br />

abgebrochen. Später hatte er dann<br />

einen kleinen Schallplattenhandel, den<br />

er von unserem Haus aus betrieben<br />

hat. Ständig waren Leute da … und es<br />

wurde so viel geraucht,<br />

das fand ich schrecklich. Ich bin<br />

Nichtraucherin.<br />

Womit hat er Sie stolz gemacht?<br />

Mit seiner kleinen Familie: seiner<br />

tollen Ehefrau und vor allen Dingen<br />

meinem kleinen Enkelkind.<br />

Was wollte er als Kind werden?<br />

Soweit ich mich entsinnen kann, wollte<br />

er im Kindergarten Bäcker werden,<br />

weil er sehr gern Kuchen gegessen hat.<br />

Als er allerdings herausfand, dass er<br />

dann sehr früh aufstehen muss, hat er<br />

schnell das Interesse verloren. Und<br />

später im Schulalter wollte er am<br />

liebsten immer nur Sport machen – bis<br />

die Musik und die Mädchen kamen.<br />

Was halten Sie von seinem heutigen<br />

Beruf?<br />

Hauptsache, er ist gesund und<br />

glücklich und macht das, was ihn<br />

erfüllt. Ich könnte mir ihn heute<br />

definitiv in keinem anderen Beruf<br />

mehr vorstellen, er macht seinen Job<br />

zu 100 Prozent!<br />

Waren Sie schon mal im Berghain?<br />

Nein, bisher leider noch nicht. Aber<br />

ich würde natürlich sehr gerne<br />

mal hingehen. Vielleicht nimmt<br />

Marcel mich eines Tages ja mal mit.<br />

Techno ist für Sie ...<br />

... eine moderne, sehr interessante Art<br />

von Musik.<br />

Was für Musik hörte Marcel als<br />

Teenager?<br />

Ich weiß, dass seine Lieblingsband<br />

Depeche Mode war. Dementsprechend<br />

sah er zu der Zeit auch aus.<br />

In der Technoszene werden ja<br />

bekanntlich viele Drogen konsumiert.<br />

Hatten Sie damit Probleme?<br />

Ich kann mich nur noch daran<br />

erinnern, dass eines Tages meine<br />

elektrische Kaffeemühle<br />

verschwunden ist. Die ist auch nie<br />

wieder aufgetaucht. Heute kann<br />

ich mir denken, warum …<br />

Frau Le, was für ein Kind war Hien?<br />

Er war schon eher ruhig, hatte aber viele<br />

Freunde und war, soweit ich mich<br />

erinnern kann, auch ziemlich beliebt.<br />

Was hat ihn Ihrer Meinung nach<br />

damals am glücklichsten gemacht?<br />

Die Fischboulette in der Markthalle,<br />

nachdem ich ihn von der<br />

Schule abgeholt habe.<br />

Hatte er damals schon einen<br />

Berufswunsch?<br />

Als Kind wollte er immer hungernden<br />

Kindern helfen. Deshalb dachte<br />

ich, er wird mal etwas im sozialen<br />

Bereich machen oder Arzt<br />

werden. Aber das Interesse für Mode<br />

war recht früh da.<br />

Wie hat sich das gezeigt?<br />

Ich habe das nur bemerkt, weil sich die<br />

Modezeitschriften zu Hause immer<br />

höher gestapelt haben und Hien im<br />

Fernsehen alles verfolgt hat,<br />

was mit Mode zu tun hatte. Aber als<br />

er dann nach der Schule anfing,<br />

für seine kleine Schwester Sachen zu<br />

nähen, war alles klar.<br />

Waren Sie zufrieden mit seiner<br />

Entscheidung, Designer zu werden?<br />

Sein Großvater war Schneidermeister<br />

in Laos. Er war besonders stolz,<br />

dass Hien als erster seiner zahlreichen<br />

Enkel in seine Fußstapfen tritt.<br />

Wir hatten nie Bedenken, Hien wusste<br />

ziemlich früh, was er wollte und ist<br />

seinen Weg gegangen. Wir sind<br />

zufrieden, dass er die Schule beendet<br />

hat und seine Ziele verfolgt.<br />

Wie viel laotischen Einfluss sehen Sie<br />

in der Mode Ihres Sohnes?<br />

Ich kenne mich mit Mode nicht so<br />

aus. Ich würde aber nicht sagen,<br />

dass wir seine Mode beeinflussen.<br />

Soweit ich mich erinnern kann, hatte<br />

er sich mal für eine Kollektion von<br />

alten Bildern von uns inspirieren<br />

lassen. Ich glaube aber nicht, dass ihn<br />

Laos in Sachen Mode wirklich<br />

beeinflusst.<br />

Tragen Sie Hien Le?<br />

Mein Mann und ich tragen<br />

auch seine Sachen. Aber nur das,<br />

was er uns gibt.<br />

HIEN LE (35) gehört seit 2010 zu<br />

den meistbeachteten Designern in<br />

Berlin. Seine Mode steht für puren<br />

Minimalismus und Qualität. Le ist<br />

in Laos geboren, wuchs jedoch in<br />

Berlin-Kreuzberg auf. Seine Mutter<br />

Thi Lee Le hat zwar mit Mode nichts<br />

am Hut, ist aber dennoch sehr stolz<br />

auf ihren Sohn, den sie am liebsten<br />

für immer zu Hause behalten hätte.<br />

Was hat er von Ihnen mit auf den<br />

Weg bekommen, als er das Elternhaus<br />

verließ?<br />

Nur, dass wir es schöner gefunden<br />

hätten, wenn er bei uns geblieben<br />

wäre. Bei uns geht es ihm gut und er<br />

muss sich um nichts kümmern.<br />

Aber wir hatten Verständnis, dass er<br />

selbstständig werden und sein<br />

eigenes Leben führen wollte. Deshalb<br />

gab es keinen Rat, aber viele<br />

Gegenstände, unter anderem natürlich<br />

einen Reiskocher.<br />

Was war für Sie persönlich der<br />

aufregendste Augenblick in Hiens<br />

Karriere?<br />

Der Tag seines Diploms an der<br />

Hochschule für Technik und<br />

Wirtschaft. Das war sehr aufregend<br />

für uns. Und natürlich seine<br />

erste große Show auf der Berlin<br />

Fashion Week.<br />

Was wünschen Sie sich am meisten<br />

für Ihren Sohn?<br />

Natürlich Gesundheit und die ewige<br />

Freude an dem, was er tut.<br />

48 Werk VI 49


TRYSTAN PÜTT<strong>ER</strong> (33) lebt und arbeitet seit 2007 in Berlin.<br />

An der Volksbühne spielt der Schauspieler regelmäßig<br />

für Regisseure wie Frank Castorf oder René Pollesch. Auf<br />

der Kinoleinwand wird er demnächst in Christian Petzolds<br />

„Phoenix“ zu sehen sein. Aktuell dreht er mit der Regisseurin<br />

Maren Ade („Alle Anderen“). Trystans Mutter Meinir<br />

Davies lebt in Kalifornien und hat uns von der Westküste<br />

der USA aus mehr über ihren Sohn verraten.<br />

1981: Baby Trystan<br />

mit seiner Mutter<br />

Meinir<br />

Ab Herbst 2014<br />

ist Trystan<br />

wieder an der<br />

Berliner Volksbühne<br />

zu sehen<br />

Was für ein Kind war Trystan:<br />

Einzelgänger oder Klassenclown?<br />

Meinir Davies: Er war der absolute<br />

Klassenclown. Witzig, schlagfertig,<br />

voller Energie.<br />

Was waren seine Hobbys?<br />

Er hat gern gesungen. Mit 13 hat<br />

er sich selbst Unterricht organisiert.<br />

Und er ist mit dem Fahrrad von<br />

Boston nach San Francisco<br />

gefahren – das hat drei Monate<br />

gedauert. Da war er 14 Jahre alt.<br />

Gab es einen Helden in seiner<br />

Kindheit?<br />

Michael Jackson.<br />

Was wollte er werden, wenn<br />

er groß ist?<br />

Wir haben wenig über die Zukunft<br />

gesprochen, Berufe oder so<br />

etwas – es ging darum, ein glückliches<br />

Jetzt zu erleben.<br />

Konnte man schon als Kind den<br />

Schauspieler in ihm erkennen?<br />

Oh ja, absolut! Er konnte andere Leute<br />

nachmachen und damit alle<br />

zum Lachen bringen. Er hat sich einen<br />

russischen Akzent beigebracht –<br />

so gut, dass man hätte glauben können,<br />

er spreche fließend Russisch.<br />

Auch Karel Gott mit seinem Biene-<br />

Maja-Lied konnte er so gut imitieren,<br />

dass wir uns kaputtgelacht haben.<br />

Wie kam er zur Schauspielerei?<br />

Mit Theateraufführungen in der<br />

8. und dann in der 12. Klasse. An einer<br />

Waldorfschule hat es<br />

angefangen. Er war kein besonders<br />

engagierter Schüler, aber auf<br />

der Bühne hat er sich frei gefühlt. Später<br />

hat er in Wiesbaden im Jugendclubtheater<br />

gespielt. Nichts war ihm zu viel<br />

der Mühe, um an sein Ziel zu kommen.<br />

Seine Ausdauer ist unglaublich.<br />

Welcher ist Ihr Lieblingsfilm, in dem<br />

Ihr Sohn mitgespielt hat?<br />

„Hilde“, weil ich ihn da zum ersten Mal<br />

auf der großen Leinwand<br />

gesehen habe. Ich mochte ihn in<br />

der Rolle des Kurt Hirsch sehr.<br />

Trystan spielt Theater, dreht Kinofilme<br />

und Fernsehproduktionen.<br />

Wo sehen Sie ihn am liebsten?<br />

Ich liebe es, ihn auf der Bühne zu sehen.<br />

Ich finde es toll, dass er keine<br />

Kompromisse macht und ich ihn immer<br />

in Stücken sehe, die inhaltlich<br />

herausfordernd und wichtig sind.<br />

Sie kommen ursprünglich aus Wales.<br />

Hat auch Trystan etwas typisch<br />

Walisisches an sich?<br />

Das Lyrische, das Poetische … Seine<br />

Stimme ist eine walisische, finde ich.<br />

Seine größte Stärke/Schwäche?<br />

Seine größte Stärke ist seine Präsenz – er<br />

ist wirklich da, wenn man mit ihm<br />

spricht. Er hat die Fähigkeit, über sich<br />

nachzudenken und Dinge zu ändern,<br />

falls er glaubt, dass das nötig ist. Seine<br />

größte Schwäche ist, dass er nicht<br />

immer weiß, was er kann.<br />

Was wünschen Sie sich am meisten für<br />

Ihren Sohn?<br />

Ich wünsche mir für ihn natürlich,<br />

wie jede Mutter, dass er seine Version<br />

von Glück lebt. Dass er versteht,<br />

dass es seine Pflicht ist, glücklich zu<br />

sein und dass er sich als voll und<br />

vollkommen wertvoll erlebt.<br />

50 Werk VI 51


„RÜSCHEN SIND<br />

DAS KOKAIN D<strong>ER</strong><br />

WEIBLICHKEIT“<br />

Was macht einen Mann männlich? Und was ändert sich, wenn er<br />

gern Frauenkleider trägt? Eine Begegnung mit dem<br />

britischen Künstler Grayson Perry in seinem Londoner Studio<br />

INT<strong>ER</strong>VIEW: LEONIE V O L K<br />

FOTOS: ANDRE T ITCOMB E<br />

Ein Mann mit Stil: Grayson<br />

Perry ist eine der schillerndsten<br />

Persönlichkeiten in der zeitgenössischen<br />

Kunstszene<br />

Grayson Perry betritt<br />

im geblümten<br />

Kimono den Raum.<br />

Seine Augenbrauen sind grell nachgezeichnet,<br />

die Wangen rot bemalt.<br />

Wenn er spricht, hallt eine tiefe<br />

Männerstimme durch den Raum.<br />

Eine paradoxe Erscheinung, die jeden<br />

sofort in ihren Bann schlägt. Auch<br />

Prince Charles muss es so gegangen<br />

sein, als er Perry in diesem Jahr zum<br />

„Commander of the Most Excellent<br />

Order of the British Empire“ ernannte<br />

und so für seine Verdienste um die<br />

Kunst ehrte. Perry gehört zu Englands<br />

bekannt esten zeit ge nössischen<br />

Künstlern. In der Presse wird er der<br />

Transvestiten-Töpfer genannt. Er<br />

lebt mit Frau und Kind im Londoner<br />

Stadtteil Islington. 2003 erhielt er<br />

für seine bemalten Keramikvasen den<br />

begehrten Turner-Kunstpreis. Perrys<br />

Werke haben oft autobiographische<br />

Züge und beschäftigen sich mit<br />

Geschlechter rollen, Sexualität, Klasse<br />

und Religion. Der Künstler tritt<br />

meinungsstark für die Emanzipation<br />

des Mannes ein. Dazu gehört für ihn<br />

das Recht, Schwäche zeigen zu dürfen.<br />

Maskulinität wird oft mit Stärke,<br />

Härte und Aggression gleichgesetzt.<br />

Warum ist das so?<br />

Streng genommen ist alles, was ein<br />

Mann tut, maskulin. Maskulinität ist<br />

männliches Verhalten. Aber wenn<br />

ein Mann ein Kleid trägt, ist das<br />

dann maskulin? Das ist die eigentliche<br />

Frage. Einige moderne Feministen<br />

halten Aggression und Gewalt<br />

nicht zwangsläufig für maskulin,<br />

Männer weisen nur derartiges Verhalten<br />

häufiger auf als Frauen. Sie<br />

begehen die meisten Gewalttaten und<br />

Ver brechen, sind eher korrupt und<br />

eher rassistisch.<br />

52 Werk VI 53


Und diese Tendenzen sind Ihrer<br />

Meinung nach veranlagt?<br />

Männer sind körperlich stärker. Sie<br />

sind anders gebaut und ihnen wird<br />

von Geburt an beigebracht, dass<br />

sie der Vorstellung von Männlichkeit<br />

zu entsprechen haben.<br />

Welchen Einfluss hat die Emanzipation<br />

der Frau auf das gesellschaftliche<br />

Bild des Mannes?<br />

Die Emanzipation der Frau hat einen<br />

großen Einfluss, weil Männer nicht<br />

länger eine Monopolstellung haben.<br />

Bis zu einem gewissen Grad ist die<br />

westliche Welt heute eine Frauen -<br />

welt. Im Westen haben Frauen am<br />

Arbeitsplatz viele Vorteile. Ihre<br />

natürlichen Talente, wie emotionale<br />

Intelligenz, ihre Team- und Kommunikations<br />

fähigkeiten sind in der<br />

modernen Arbeitswelt gefragt. In<br />

Amerika dominieren Frauen in zwischen<br />

den Arbeitsmarkt. Und diese Entwicklung<br />

wird fortschreiten, weil Menschen<br />

in allen Branchen erkennen, dass<br />

Frauen besser sind.<br />

Wie sieht der ideale moderne Mann<br />

aus? Was macht ihn dazu?<br />

Über Ideale sollte man sich keine<br />

Gedanken machen. Das bringt nur<br />

Ärger. Ein historischer Landsmann<br />

von Ihnen hatte jedenfalls eine<br />

Vorstellung davon, wie der ideale<br />

Mann auszusehen habe (lacht).<br />

Sie meinen Hitlers Schönheitsideal<br />

vom blonden arischen Hünen …<br />

doch lassen wir extremistische<br />

Ideologien mal außen vor. Sie haben<br />

eine Tochter in meinem Alter,<br />

was wäre der ideale Mann für sie?<br />

Er sollte sie glücklich machen.<br />

Das ist aber sehr vage formuliert.<br />

Vielleicht sucht sie nach einem<br />

unbelehrbaren Neandertaler,<br />

aber das bezweifle ich. Es gibt kein<br />

Rezept für den perfekten Mann.<br />

In welche Richtung sollte sich<br />

„der Mann von heute“ aus Ihrer<br />

Sicht entwickeln?<br />

Männer sollten sich den Anforderungen<br />

der Zeit stellen; sie müssen sich<br />

verändern, weil die Welt sich verändert.<br />

Das ist aber ein Luxus problem<br />

des Westens – der Minderheit der<br />

Weltbevölkerung. Die meisten<br />

Männer leben in Entwicklungsländern<br />

Bemalte Vasen<br />

sind typisch für<br />

Grayson Perrys<br />

Werk. Vorder- und<br />

Rückansicht von<br />

„The Rosetta Vase“<br />

(2011)<br />

und befassen sich mit den Problemen<br />

und Traditionen der dortigen<br />

Gesellschaften. Das sind oft Probleme,<br />

die wir bei uns schon seit hunderten<br />

von Jahren aus dem Weg geräumt<br />

haben.<br />

Kann man also gar nicht von DEM<br />

globalisierten Mann sprechen?<br />

Es besteht da ein Konflikt zwischen der<br />

westlichen Welt, die sehr tolerant und<br />

liberal ist, auch gegenüber Schwulen<br />

etwa, und den Entwicklungs ländern, die<br />

intoleranter und konservativer ticken.<br />

Allerdings begünstigen die modernen<br />

Kommunikationsmittel und Medien ein<br />

Umdenken. Wir wissen, was in anderen<br />

Ländern vor sich geht. Ein schwuler<br />

Mann in Uganda oder Nigeria hat im<br />

Internet Zugang zu Videos, die zeigen,<br />

wie Schwule in Deutschland und<br />

Großbritannien leben.<br />

In einigen Dingen scheint das<br />

männ liche Geschlecht weltweit<br />

nachzuhängen, zum Beispiel in<br />

Sachen emotionale Intelligenz.<br />

Bei emotionaler Intelligenz geht es um<br />

Empathie. Man muss sich in die Gefühle<br />

einer anderen Person hineinversetzen<br />

können, um Sympathie und Empathie<br />

zu entwickeln. Männer werden aber zur<br />

Stärke erzogen. Sie lernen, ihre eigenen<br />

Gefühle zu ignorieren, also sind sie auch<br />

für die Emotionen anderer weniger<br />

empfänglich. Solche Strukturen zu<br />

verändern, dauert sehr lange. Wie<br />

gesagt: Es ist einfacher, in Islington über<br />

solche Themen zu diskutieren als in<br />

Pakistan. In England gehen junge<br />

Männer auf Privatschulen und danach<br />

machen sie einen Abschluss in Kunstgeschichte<br />

oder Soziologie. Bauarbeiter in<br />

Pakistan haben solche Entfaltungsmöglichkeiten<br />

nicht.<br />

Welche Rolle spielt die Gleichberechtigung<br />

der Geschlechter in einer<br />

modernen Beziehung?<br />

Ich habe einen interessanten Artikel<br />

gelesen: Wissenschaftler haben<br />

herausgefunden, dass gleichberechtigt<br />

lebende Ehepartner weniger Sex<br />

haben.<br />

Können Sie sich das erklären?<br />

Das könnte daran liegen, dass die<br />

Paare geschlaucht von ihrem Alltag<br />

sind. Sie teilen sich die Kinderbetreuung,<br />

haben zwei Jobs. Einmal<br />

FOTOS: CO U RTESY THE ARTIST A ND V ICTORIA MIRO, LONDON © GRAYSON P <strong>ER</strong>RY<br />

„Map of Truths and<br />

Beliefs“ (2011): Diesen<br />

Wandteppich ließ Grayson<br />

Perry nach einer digitalen<br />

Vorlage in Belgien weben<br />

habe ich ein Publikum dazu befragt,<br />

ob sie Sexfantasien hätten, in denen<br />

die Gleichberechtigung der<br />

Geschlechter eine tragende Rolle<br />

spielt.<br />

Wie sahen die Antworten aus?<br />

Keiner der 1.500 Menschen im Saal<br />

hat die Hand gehoben. Stattdessen<br />

fantasiert man, am Arbeitsplatz vom<br />

Chef verführt zu werden oder wie<br />

man die Sekretärin verführt. Das<br />

Macht gefälle zwischen den Geschlechtern<br />

wirkt erregend. Die männliche<br />

Sexualität ist so ausgelegt, dass sie<br />

nach Unterschieden sucht. Sie fühlt sich<br />

von Gegensätzen angezogen. Vielleicht<br />

spielt gerade dieses Machtungleichgewicht<br />

eine ent scheidende Rolle für die<br />

sexuelle Anziehungskraft. Das heißt,<br />

sobald man gleichberechtigt ist, wird<br />

das Verlangen schwächer. Außerdem<br />

gehört zu einer glücklichen Ehe viel<br />

mehr als guter Sex. Ich denke, viele<br />

Menschen haben dieses Traumszenario<br />

im Kopf, dass in einer glücklichen<br />

Ehe der Sex überragend sein muss.<br />

Das stimmt aber nicht immer.<br />

Warum denken Sie, wird die Frauenmode<br />

von Männern bestimmt?<br />

Männer dominieren alles, nicht wahr?<br />

(lacht) Das kann man historisch<br />

zurückverfolgen. Generationen über<br />

Generationen von Männern wurden in<br />

ihrem Selbstbewusstsein und ihrem<br />

Verhalten bestärkt. Frauen hingegen<br />

wird eingetrichtert, dass sie weniger<br />

wert sind, und so bleibt das System<br />

bestehen.<br />

„MÄNN<strong>ER</strong> WOLLEN<br />

LETZTENDLICH DIE ROLLE<br />

DES ENTSCHEID<strong>ER</strong>S<br />

EINNEHMEN UND<br />

NICHT DIE DES<br />

BESTIMMTEN“<br />

Die Männermode hat sich über die<br />

Jahrzehnte kaum verändert.<br />

Exzentrische Trends sind die Ausnahme.<br />

Stabilisiert das Design die<br />

Machtposition des Mannes?<br />

Männer haben nie wirklich die<br />

Chance ergriffen, Paradiesvögel zu<br />

sein. Sie wollen nicht angestarrt<br />

werden. In Kleiderfragen haben<br />

Frauen weitaus mehr Spielraum.<br />

Wenn man sich so kleidet wie ich,<br />

sind die Blicke nicht unbedingt<br />

angenehm. Männer wollen letztendlich<br />

die Rolle des Entscheiders und<br />

nicht des Bestimmten einnehmen.<br />

Wie meinen Sie das?<br />

Männer schauen und Frauen werden<br />

angeschaut. Was ist das typischste<br />

Männeroutfit? Wahrscheinlich ein<br />

grauer Anzug. Der ist langweilig, aber<br />

warum wird der graue Anzug von<br />

Männern getragen? Weil sie damit<br />

nicht zum Objekt werden, weil sie so<br />

keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.<br />

Ihre Aufgabe ist es, sich umzuschauen.<br />

Umso männlicher man ist, desto<br />

unscheinbarer tritt man auf.<br />

Umso unscheinbarer man ist, desto<br />

mehr Macht besitzt man in der Rolle<br />

des Betrachters. Es ist wie im<br />

Wachturm eines Gefängnisses. Von<br />

dort aus beobachtet man die anderen:<br />

Schwarze, Schwule, Frauen.<br />

Wie stehen Sie zu Modemachern wie<br />

J.W. Anderson, die Männer in<br />

Kleider und Röcke stecken?<br />

Alle Jahre wieder greifen Modedesigner<br />

dieses Thema auf. Es wird aber lange<br />

dauern, unseren Sinn für Schönheit zu<br />

verändern, gerade weil die meisten<br />

Leute Männer in Röcken und Kleidern<br />

nicht attraktiv finden. Vertrautheit ist<br />

entscheidend für unser ästhetisches<br />

Empfinden. In Ländern wie Thailand<br />

gehören Röcke an Männern zum<br />

Stadtbild. Weil es dort normal ist,<br />

finden es die Menschen attraktiv.<br />

Also steht es in Europa schlecht um<br />

den Männerrock?<br />

Röcke an Männern werden sich nur<br />

durchsetzen, wenn Männer zulassen,<br />

angeschaut zu werden – und daran<br />

54 Werk VI 55


Wenn Grayson Perry<br />

als Frau auftritt, will er<br />

provozieren und auch<br />

seinen Fetisch ausleben<br />

glaube ich nicht. Ich ziehe mich<br />

normalerweise auch nicht so zur Arbeit<br />

an. Ich genieße es, ein Kerl zu sein,<br />

der anonym herumläuft. Ich meine,<br />

ich weiß, was es bedeutet, angestarrt<br />

zu werden. Manchmal ist das ganz nett,<br />

aber ich kann auch darauf verzichten.<br />

Wann tragen Sie Frauenkleidung?<br />

Normalerweise mache ich das<br />

zwei-, dreimal die Woche. Heute trage<br />

ich ein Kostüm, weil ich am Vormittag<br />

Central-Saint-Martins-Studenten<br />

unterrichtet habe. Sie designen<br />

ein Kleid für mich und ich wollte<br />

ihnen zeigen, was mir gefällt. Sonst<br />

putze ich mich heraus, wenn es<br />

andere auch tun. Also zu Veranstaltungen,<br />

zum Brunch, zu Ausstellungen.<br />

Wenn ich in ein Restaurant<br />

gehe vielleicht auch.<br />

Hat das Cross Dressing eine therapeutische<br />

Wirkung auf Sie?<br />

Es ist eine Freizeitaktivität. Ich finde<br />

es sexy. Ich bin ein Fetischist, es<br />

macht mich an. Wenn das eine<br />

therapeutische Wirkung hat, bin ich<br />

damit einverstanden.<br />

Wie kamen Sie dazu, Frauen kleidung<br />

auszuprobieren?<br />

Ich hatte eine Fantasie, dass die<br />

Wächter eines Kriegsgefangenenlagers<br />

die Insassen zwingen, Kleider zu<br />

tragen. Ihr Ziel war es, die Häftlinge<br />

zu erniedrigen. Die Vorstellung hat<br />

mich angetörnt und ich dachte, ich<br />

probiere es mal aus. Also habe ich mir<br />

von meiner Schwester Kleider geborgt.<br />

Mit zwölf habe ich damit angefangen,<br />

mit 15 habe ich mich in die Öffentlichkeit<br />

getraut. Die Leute konnten<br />

sich vermutlich denken, dass ich keine<br />

Frau bin. Ich war nicht besonders gut<br />

darin, mich zu verkleiden.<br />

Hatten Sie Angst vor den<br />

Reaktionen?<br />

Ja, aber das ist ja Teil des ganzen<br />

Spaßes. Wir machen Dinge, die uns<br />

Angst machen. Es ist aufregend.<br />

Ihre Kostüme haben sich über die<br />

Jahre stark verändert.<br />

Angefangen habe ich wie die meisten<br />

Transvestiten. Ich wollte so aussehen<br />

wie eine Frau. Diese Phase hat 25 Jahre<br />

angehalten. Je älter und selbst bewusster<br />

ich wurde, desto mehr probierte ich aus.<br />

Ich habe eine Latexphase durchgemacht,<br />

Fetisch-Looks getragen. Anfang<br />

der 2000er hatte ich keine Lust mehr<br />

darauf. Ich begann, mich wie eine<br />

Hausfrau zu kleiden. Niemand schaute<br />

mir nach. Es verlor seinen Reiz. Am<br />

Klein mädchen-Look bin ich hängengeblieben.<br />

Ein Mädchen kleid mit<br />

Rüschen ist das femininste Kleid, das es<br />

gibt. Deshalb finden viele Kerle diese<br />

Kleider toll. Sie sind das Kokain<br />

der Weiblichkeit.<br />

„MAN KÖNNTE<br />

DEN EUROVISION<br />

SONG CONTEST<br />

AUCH ALS<br />

DAS SCHWULE<br />

WEIHNACHTEN<br />

BEZEICHNEN“<br />

Was reizt Sie im Speziellen am<br />

Kleinmädchen-Look?<br />

Er ist mir peinlich. Beschämt zu sein,<br />

die Demütigung, das reizt mich. Das ist<br />

ganz typisch für einen Fetischisten.<br />

Wo liegen die Wurzeln dieses Cross<br />

Dressings?<br />

Man kann das alles auf eine schwere<br />

Kindheit zurückführen. Ich wurde<br />

nicht als Transvestit geboren. Man<br />

hat möglicherweise eine Veranlagung<br />

zur Feinfühligkeit, aber ich glaube<br />

nicht, dass man auf die Welt kommt<br />

in der Hoffnung, einen BH zu tragen.<br />

Die große Stärke der menschlichen<br />

Psyche ist es, der Demütigung,<br />

die man als Kind erlebt hat, durch<br />

Sexualität eine positive Wendung zu<br />

geben.<br />

Durch Ihre Kostüme möchten Sie<br />

liebenswürdig erscheinen.<br />

Das wäre eine rationale Erklärung.<br />

Der Transvestit und Euro vision-<br />

Song-Contest-Gewinner Conchita<br />

Wurst …<br />

(unterbricht) Ist er ein Transvestit oder<br />

eine Dragqueen? Das ist ein großer<br />

Unterschied! Dragqueens sind meist<br />

schwul und ihr Auftreten ist satirisch.<br />

Viele wissen nicht, dass Transvestiten<br />

meist heterosexuell sind. Ich halte<br />

Conchita für eine schwule Dragqueen.<br />

Wäre er ein Transvestit, würde er<br />

keinen Bart tragen. Transvestiten<br />

wollen wie eine Frau aussehen.<br />

Transsexuell kann er demnach auch<br />

nicht sein, denn das erste, was man tut,<br />

wenn man wie eine Frau aussehen<br />

möchte, ist es, sich den Bart<br />

abzurasieren.<br />

Was bedeutet Conchitas Sieg für<br />

Europa?<br />

Europa akzeptiert die Schwulen und<br />

Transsexuellen. Man könnte den ESC<br />

auch als das schwule Weihnachten<br />

bezeichnen, oder? Conchita ist ein<br />

leichtverständliches Symbol, gerade<br />

jetzt, wo Schwulenfeindlichkeit<br />

weltweit diskutiert wird. Er hält die<br />

Flagge hoch: Wir kämpfen gegen<br />

Russland. Er ist aber keine anspruchsvolle<br />

zeitgeschichtliche Figur oder<br />

kulturell von Bedeutung. Mit dem Bart<br />

nutzt er ein leicht veraltetes Bild. Ein<br />

Mann mit Bart in einem Kleid, das gab<br />

es schon tausendmal.<br />

Wie erklären Sie sich den aktuellen<br />

Hype um den Bart?<br />

Der Männerbart hatte ein großes<br />

Revival, vor ein paar Jahren war er das<br />

Symbol männlicher Authentizität in<br />

einer Welt, in der Marken an<br />

Bedeutung verloren hatten. Der<br />

Mittel klasse-Hipster wollte etwas, das<br />

als authentisch gilt und wählte den<br />

Bart. Ich habe aber das Gefühl,<br />

Conchita Wurst hat das Schicksal des<br />

Bartes besiegelt.<br />

Wird so die bärtige Frau zum<br />

Inbegriff der Krise des Mannes?<br />

Zumindest kann sie ein Spiegel der<br />

veränderten Rolle des Mannes sein.<br />

Heute wird der Mann nicht mehr so<br />

stark darüber definiert, was er tut,<br />

deshalb konzentriert man sich<br />

verstärkt auf sein Äußeres und<br />

feminisiert ihn. Ein Mädchen wird<br />

traditionell für ihr Aussehen gelobt<br />

und der Junge für sein Schaffen.<br />

Wenn man sich aber nicht mehr auf<br />

das Tun konzentriert, konzentriert<br />

man sich auf das Sein. Überhaupt<br />

werden Männer immer überflüssiger.<br />

In anderen Worten: Die Ameisen<br />

umgarnen ihre Königin. Und nach der<br />

Paarung stirbt die männliche Ameise.<br />

56 Werk VI 57


Weste: Reality Studio<br />

Mademoiselle<br />

masculine<br />

„Die selbstsichere Frau verwischt nicht den Unterschied<br />

zwischen Mann und Frau – sie betont ihn“ Coco Chanel<br />

F OTOS JAKOB & HANNA H<br />

P RODUKTION LEONIE V O L K & A L E XAND<strong>ER</strong> LA GUM A<br />

M ODEL R OSALIE/IZ A IO MAN AGEMENT<br />

H AARE/MAKE-UP JULIE S KOK


60<br />

Links<br />

Bluse: Michael Sontag<br />

Nickerbocker: Vintage/Berliner Theaterkunst<br />

Binder: Tiger of Sweden<br />

Rechts<br />

Bluse: Vintage/Berliner Theaterkunst<br />

Hose: Herr von Eden<br />

Hut: Tiger of Sweden


Knielange Weste: Isabell de Hillerin<br />

Bluse: Asos<br />

Hut: Mads Dinesen


Weste & Hose: Herr von Eden<br />

Sandalen: H&M<br />

Werk VI 65


Mantel: Vintage/Berliner Theaterkunst<br />

Latzhose: Zara<br />

Schuhe: Bershka<br />

Werk VI 67


68<br />

Links<br />

Mantel: Martin Niklas Wieser<br />

Jeans: MIH Jeans<br />

Schuhe: Adidas<br />

Rechts<br />

Mantel: Isabell de Hillerin<br />

Kleid: & other stories


1954: Adi Dassler<br />

mit den ersten<br />

Stollenschuhen für<br />

Fußballspieler – in<br />

diesen Tretern gewann<br />

die deutsche<br />

Nationalmannschaft<br />

die WM in Bern<br />

FOT O: PR<br />

MIT DREI STREIFEN<br />

UM DIE WELT<br />

Als Adolf Adi Dassler 1947 sein Unternehmen<br />

Adidas gründete, konnte er nicht ahnen, dass es einmal<br />

an der Spitze der deutschen Bekleidungsindustrie<br />

stehen würde. Das Geheimnis einer Erfolgsgeschichte<br />

Mit einem Jahresumsatz von über 14 Milliarden<br />

Euro (2013, Quelle Textilwirtschaft)<br />

ist Adidas das umsatzstärkste Bekleidungsunternehmen<br />

in Deutschland.<br />

Unter den Sportartikelherstellern gibt es weltweit nur noch<br />

einen, der erfolgreicher ist: Nike mit 18,55 Milliarden Euro<br />

(2013, Quelle statistika.de). Der große Erfolg von Adidas wird<br />

in den Bereichen Sport, Musik und Mode erzielt. Der Sportbereich<br />

ist der älteste und bis heute umsatzstärkste: Fußball,<br />

Leichtathletik, Tennis, Basketball – es gibt kaum eine Sportart,<br />

für die Adidas nicht den richtigen Schuh oder das passende<br />

atmungsaktive Trikot im Programm hat.<br />

In den 80er-Jahren entdeckte eine neue Zielgruppe die<br />

deutsche Marke mit den drei Streifen: HipHop und die<br />

Band Run DMC brachten Adidas in die Subkultur und zu<br />

deren Vertretern. Ungezählte Kooperationen mit Musikern<br />

sollten folgen. Mit dem Retrotrend, der Anfang der<br />

90er-Jahre aufkam, eröffnete sich ein weiteres Geschäftsfeld<br />

für Adidas. Plötzlich trugen junge Leute in Clubs alte Trainingsjacken,<br />

Turnschuhe hießen auf einmal Sneakers und<br />

wurden auch zum Anzug getragen. Damals eröffneten die<br />

ersten Adidas-Originals-Stores in den Metropolen. Und die<br />

Idee, mit etablierten Designern wie Yohji Yamamoto oder<br />

Jeremy Scott zu kooperieren, ebnete Anfang der Nullerjahre<br />

den Weg in die Modewelt. Das alles hat dazu beigetragen,<br />

dass Adidas heute den deutschen Bekleidugsmarkt anführt<br />

und das Logo mit den drei Streifen auf der ganzen Welt bekannt<br />

ist.<br />

GESCHICHTE<br />

DAS WUND<strong>ER</strong> VON FRANKEN<br />

1925 entwickelte Adi Dassler in der Waschküche<br />

seiner Eltern den ersten Stollenschuh aus Leinen.<br />

Ein Jahr vorher hatte er den Schuhmacherbetrieb<br />

seines Vaters übernommen, den er zusammen mit<br />

seinem Bruder Rudolf unter dem Namen Gebrüder<br />

Dassler Schuhfabrik führte. Adi war der kreative<br />

Kopf der Familie. Er war für die Entwicklung<br />

der Schuhe zuständig. Sein Bruder kümmerte sich<br />

um administrative Aufgaben, er war der perfekte<br />

Verkäufer.<br />

Doch die Zusammenarbeit war schwierig, 1947 gingen die<br />

Brüder getrennte Wege. Rudolf Dassler gründete die Sportmarke<br />

Puma, Adi nannte seine Firma nun Adidas<br />

(ADI+DASsler). Seine Spezialität waren Sportschuhe, doch<br />

bald kamen andere Sportartikel wie Bälle oder Taschen<br />

dazu. Seit 1967 gibt es Adidas-Sporttextilien. Für Adi Dassler,<br />

der 1978 in Herzogenaurach starb, stand die Funktionalität<br />

im Vordergrund. Er testete seine Produkte immer<br />

selbst, um sicherzugehen, dass sie auch funktionieren. Als<br />

Dassler 1954 seinen neuen und selbst erprobten Stollenschuh<br />

präsentierte, konnte das Timing kaum besser sein:<br />

Die deutsche Nationalmannschaft trug den Schuh im Weltmeisterschaftsfinale<br />

gegen Ungarn. Durch die neuen Stollen<br />

verankerten sich die Schuhe besser im nassen Boden. Und<br />

tatsächlich: während des Spiels regnete es in Strömen.<br />

Deutschland gewann mit einem 3:2-Sieg zum ersten Mal<br />

eine Fußballweltmeisterschaft, was als „Wunder von Bern“<br />

in die Geschichte einging.<br />

Adidas ist nicht mehr in Familienbesitz, sondern seit 1995<br />

ein börsennotiertes Unternehmen. Doch auch heute noch<br />

überzeugt die Marke mit Innovationen und einem guten,<br />

funktionalen Design, denn das war schließlich Dasslers<br />

Grundsatz. „Die Menschen nennen mich den Vater der modernen<br />

Sportindustrie. Aber alles, was ich bin, ist ein Sportler,<br />

der den Nutzen darin sieht, die Sportausrüstung zu verbessern“,<br />

sagte Adi Dassler einmal. Durch diesen Ehrgeiz ist<br />

Adidas zu einer der bekanntesten Sportmarken der Welt<br />

geworden.<br />

KATHARINA GÖRKE<br />

Werk VI 71


SPORT<br />

NACH DEM SPIEL IST VOR DEM SPIEL<br />

Die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien, die<br />

Olympischen Sommerspiele 2012 in London oder das<br />

Champions-League-Finale 2014 in Lissabon haben<br />

eines gemeinsam: den Hauptsponsor Adidas. Das<br />

Unternehmen hat früh verstanden, wie enorm wichtig<br />

Sportereignisse für den Erfolg der Marke sind.<br />

Seit bereits 32 Jahren sponsert Adidas die Fußballweltmeisterschaft,<br />

das milliardenschwere Turnier<br />

um die beste Mannschaft der Welt. Dazu kommt das<br />

Sponsoring von neun der 32 teilnehmenden Mannschaften,<br />

darunter auch Deutschland. Welche Summen<br />

während eines solchen Sportereignisses fließen,<br />

zeigte Forbes nach der letzten WM in Südafrika.<br />

Adidas zahlte allein für das Sponsoring und die Ausstattung<br />

von sechs Nationalteams mehr als 90 Millionen Euro<br />

(2010, Quelle Forbes).<br />

Bei der Ausstattung der Mannschaften setzt Adidas auf<br />

Funktionalität für den Spieler. Die neuen Adizero-Trikots<br />

wiegen zirka 100 Gramm und sind damit die leichtesten, die<br />

Adidas je entwickelt hat. Die Gewichtsreduzierung um 50<br />

Prozent sorgt dafür, dass der Spieler schneller und effizienter<br />

auf dem Platz ist. Dabei spielt natürlich der physische Gedanke<br />

eine Rolle. Denn mit weniger Gewicht verbraucht der<br />

Sportler weniger Sauerstoff, ist dadurch schneller und hat<br />

mehr Ausdauer. Aber auch der psychologische Faktor zählt:<br />

Wenn der Sportler weiß, dass er mit einem leichteren Trikot<br />

bessere Leistungen erzielen kann, macht ihn das automatisch<br />

besser. Das ist ganz im Sinne von Adi Dassler, der zu Lebzeiten<br />

ein klares Ziel hatte: Die Sportausrüstung muss so gearbeitet<br />

sein, dass sie den Sportler unterstützt und ihm ermöglicht,<br />

Bestleistungen zu erzielen. Um das zu erreichen, arbeitet die<br />

Das Trikot der Weltmeister von 1954 kann<br />

man heute wieder kaufen. Der Originalschuh<br />

(u.) steht im Museum für Sport in Köln<br />

Entwicklungsabteilung mit Hochleistungssportlern zusammen:<br />

Fußballer, Schwimmer, Radfahrer, Leichtathleten.<br />

Zu den Trikots trugen einige Spieler der bundesdeutschen<br />

Nationalmannschaft auch einen neuen Schuh von Adidas:<br />

„Battle Pack“ nennt sich die Kollektion. Fünf Modelle in<br />

Schwarzweiß, die typischen Adidas-Streifen an der Seite in<br />

einem Gold-Ton – in Anlehnung an den Siegerpokal des<br />

Wettkampfes. Auch der Schuh ist leichter geworden. Zum<br />

Vergleich: Bei der WM 1954 in Ungarn wog der Fußballschuh<br />

der deutschen Nationalelf noch 355 Gramm. In diesem<br />

Jahr waren es 150 Gramm.<br />

Doch nicht nur Spieler tragen die Trikots. Schon während<br />

der WM verkaufte Adidas das Deutschland-Trikot (Stückpreis<br />

80 Euro) bereits zwei Millionen Mal an die Fans. Kein<br />

Wunder also, dass Adidas so viel in die Werbekampagnen<br />

steckt. Als offizieller Partner des Weltfußballverbandes (seit<br />

1956) hat Adidas die Vorkaufsrechte auf die TV-Werbung<br />

und Werbeflächen in den Stadien – das sorgt dafür, dass die<br />

Verkaufszahlen steigen. Der offizielle Werbespot zur diesjährigen<br />

Fußballweltmeisterschaft stammt von „City of God“-<br />

Regisseur Fernando Meirelles. In der Hauptrolle der argentinische<br />

Nationalspieler Lionel Messi, musikalisch begleitet<br />

durch Kayne West. Noch nie hat Adidas so viel in eine Kampagne<br />

investiert. Ob sie damit an Nike vorbeiziehen können<br />

oder ob sie der ewige Zweite bleiben, wird sich zeigen. In ihrem<br />

letzten Gruppenspiel der WM-Vorrunde immerhin besiegten<br />

die Deutschen (in Adidas) die Amerikaner (in Nike).<br />

„Wenn man gutes Equipment herstellt und den richtigen<br />

Sportler hat, der dieses trägt, kaufen es die Leute.“ Diese simple<br />

Erfolgsformel war Adi Dassler schon zu Lebzeiten bewusst.<br />

KATHARINA GÖRKE<br />

Für die diesjährige Fußballweltmeisterschaft<br />

wurden das Adizero-Trikot und<br />

der Battle-Pack-Schuh entwickelt<br />

FOTO: PR<br />

FOTO: PR<br />

MODE<br />

ALLE FÜR EINEN<br />

Wenn Design auf Sport trifft:<br />

Stella McCartney (l.)<br />

und Opening Ceremony<br />

Anfang der Nullerjahre beginnt bei Adidas eine<br />

neue Ära: Der Sportriese beschließt, mit High-<br />

Fashion-Designern zu kooperieren – taktisch klug<br />

und modisch genial, wie sich später herausstellen<br />

sollte. Bereits in den 90er-Jahren war dem Unternehmen<br />

klar geworden, dass großes Potenzial darin<br />

liegt, sich stärker im Modesegment zu positionieren. 1995<br />

wurde der damalige Designmanager von Levi’s, Michael<br />

Michalsky, ins Unternehmen geholt – ein ungewöhnlicher<br />

Schritt zu der Zeit, immerhin hat Levi’s mit Sport so viel zu<br />

tun wie Adidas damals mit High Fashion. Zuerst übernahm<br />

Michalsky die Position des Chefdesigners. Fünf Jahre später<br />

wurde er Global Creative Director und bekam die alleinige<br />

Herrschaft über die Produktlinien. Der Absolvent des London<br />

College of Fashion hatte die Idee, mit Modeschöpfern<br />

zu kooperieren und sie eigene Produktlinien für Adidas<br />

entwerfen zu lassen. Ein Meilenstein in der Geschichte des<br />

Konzerns. Bei der Zusammenarbeit mit dem japanischen<br />

Avantgarde-Designer Yohji Yamamoto im Jahr 2001 spielte<br />

allerdings auch der Zufall mit – denn auf die Idee, er könne<br />

mit Adidas kooperieren, kam Yamamoto in Japan offensichtlich<br />

von selbst. In einem Imagefilm äußerte sich Yamamoto<br />

folgendermaßen: „Ich sagte meiner rechten Hand im<br />

Atelier: ,Warum rufst du nicht mal Adidas an, ob sie nicht<br />

mit uns für die nächste Kollektion zusammenarbeiten wollen<br />

– alle Schuhe nur von Adidas.“ Aus der Vision des großen<br />

Japaners wurde eine eigene Untermarke: Y-3 – eine<br />

Mischung aus Sportswear und Avantgarde, die den Herzogenaurachern<br />

jährlich einen zweistelligen Millionenumsatz<br />

einbringt.<br />

Nach zurückhaltendem Schwarzweiß, Yamamotos Handschrift,<br />

wurde es richtig bunt: 2002 verpflichtete Michalsky<br />

den exzentrischen Amerikaner Jeremy Scott, der für seine<br />

Farbexplosionen bekannt ist – zunächst für das einmalige<br />

Projekt „I Signed“. Fünf Jahre später intensivierte sich die<br />

Zusammenarbeit, seitdem entwirft Scott seine eigene Adidas-<br />

Originals-Kollektion. Die Teddy- und Flügelsneaker wurden<br />

zum großen Erfolg, die Kooperation besteht bis heute. Scott<br />

hat ein sicheres Gespür dafür, Adidas-Klassikern seine persönliche<br />

Note zu verpassen: hawaiianische Blumen, wildeste<br />

Animal-Prints und Kapuzen mit angenähten Ohren, dazu<br />

digitale Computerschriften und grelle Neonfarben.<br />

Auch Stella McCartney gehört zu den High-Fashion-Designern,<br />

mit denen Adidas kooperiert. Anders als Yamamoto<br />

und Scott entwirft die trendbewusste Britin für die Marke jedoch<br />

nicht Streetwear, sondern sie ist verantwortlich für die<br />

Linie „Performance“ – feminine Sportmode, die mit verspielten<br />

Raffungen und Fältchen ins Detail geht. Seit 2004 sieht<br />

man McCartneys Entwürfe in Herzogenaurach als Inspirationsquelle<br />

für das gesamte Unternehmen. Die hausinternen<br />

Designer verwenden ihre verlängerten Ärmel mit integrierten<br />

Daumenlöchern längst auch für andere Kollektionen. Der<br />

Veganerin ist es wichtig, dass für ihre Drei-Streifen-Produkte<br />

keinerlei Rohstoffe tierischer Herkunft verwendet werden.<br />

Stellas Engagement kommt bei den Konsumenten an. Die<br />

Kollektionen laufen gut.<br />

Nach Yamamoto, Scott und McCartney initiierte der Konzern<br />

zunächst ein paar Jahre lang keine neuen Designkollaborationen.<br />

Vielleicht mussten es sich die Herzogenauracher<br />

nach so viel Erfolg durch externe Designer schlichtweg wieder<br />

selbst beweisen. Oder es lag daran, dass Michalsky 2006<br />

das Unternehmen verließ, um in Berlin sein eigenes Label zu<br />

gründen. Vier Jahre sollte die Pause dauern – eine Zeit, in der<br />

die bis dahin etablierten Fashion-Linien weiterliefen. 2010<br />

kam dann eine neue Kreativkraft in Gestalt des ehemaligen<br />

Joop!-Chefdesigners Dirk Schönberger.<br />

72 Werk VI 73


Dessen Plan als neuer Creative Director war es zunächst,<br />

eine neue, intern designte Adidas-Modelinie am Markt zu<br />

etablieren. Der Versuch, mit dem hauseigenen Label SLVR<br />

Fashion und Sport endgültig zu vereinen, scheiterte allerdings.<br />

Nach weltweiten Store-Eröffnungen, u. a. in Paris,<br />

Tokio, Mailand und Berlin, wurde SLVR im Winter 2013<br />

eingestellt.<br />

Parallel zum Niedergang von SLVR begann Schönberger,<br />

neue Designkooperationen anzubahnen – 2012 mit dem New<br />

Yorker Label Opening Ceremony, dessen Designer Humberto<br />

Leon und Carol Lim inzwischen auch für Kenzo verantwortlich<br />

sind. Dazu gesellten sich wenig später Raf Simons,<br />

Chefdesigner bei Dior, und der Amerikaner Rick Owens, der<br />

für futuristische Mode steht. Der jüngste Neuzugang im<br />

High-Fashion-Team ist eine Frau: Mary Katrantzou. Die in<br />

London lebende Griechin ist bekannt für ihre gemixten und<br />

grafischen Muster. Gut verkaufen ließe sich das nicht, sagen<br />

ihre Kritiker. Die Modebranche liegt ihr dennoch zu Füßen.<br />

Katranztous Kollektion kommt ab November 2014 in die Läden.<br />

Adidas gibt außergewöhnlichen und riskanten Entwürfen<br />

immer eine Chance.<br />

Für die High-Fashion-Designer gibt es viele Argumente,<br />

mit dem Sportartikelhersteller eine Zusammenarbeit einzugehen.<br />

Eines der Motive ist sicherlich der lukrative Zuverdienst.<br />

Es darf jedoch auch nicht vergessen werden, dass<br />

hochkomplexe und technisch aufwendige Produkte wie<br />

Sneakers oder Sportswear mit sehr hohen Entwicklungskosten<br />

verbunden sind. Sie rentieren sich für ein Unternehmen<br />

erst ab einer gewissen Stückzahl. Modehäuser, die in der Regel<br />

nur kleine Mengen produzieren, können sich das ohne<br />

Y-3 by Yohji Yamamoto ist die älteste Designerlinie<br />

von Adidas. In allen Kollektionen überwiegt die<br />

Farbe Schwarz – Yamamotos Favorit<br />

einen Partner mit Know-how kaum leisten. Und sicher spielt<br />

auch der extrem hohe Bekanntheitsgrad von Adidas eine Rolle.<br />

Die globale Vermarktung der Kooperationen bringt also<br />

für die Designer eine Steigerung ihrer Popularität mit sich.<br />

In den sogenannten Icon-Stores vertreibt Adidas exklusiv<br />

seine Kooperationslinien. Einer davon ist die No 74 in der<br />

Torstraße 74 in Berlin. Solche Stores gibt es auch in London<br />

und Paris. Dort sind die Läden ebenfalls nach ihrer jeweiligen<br />

Hausnummer benannt. Das für Adidas entwickelte, äußerst<br />

clevere Geschäftskonzept wird seit 2008 von der Agentur Häberlein<br />

& Mauerer betreut. Anders als in den gängigen Adidas-Stores<br />

suchen die Käufer hier funktionale Sportbekleidung<br />

vergeblich. Mode bestimmt die Vision.<br />

Will man der Legende glauben, haben wir das alles Yohji<br />

Yamamoto zu verdanken. Er gilt als Vater der Kooperationen<br />

zwischen Designern und der Sportindustrie. Für Adidas war<br />

der Anruf aus Tokio ein wichtiger Moment. Seitdem sind die<br />

Grenzen zwischen Sportswear und High-Fashion aufgelöst –<br />

zugunsten modischer Vielfältigkeit. ALEXAND<strong>ER</strong> VETT<strong>ER</strong><br />

Aktuelle Modelle für Adidas:<br />

von Rick Owens (l.)<br />

und Raf Simons<br />

Jeremy Scott entwirft seit<br />

2008 für Adidas. Seine<br />

aktuelle Sommerkollektion ist<br />

von der Natur inspiriert<br />

FOT OS: PR<br />

FOT O: AN S GAR MOEK<br />

MUSIK<br />

„MY ADIDAS AND ME“<br />

Seitdem Run DMC in den<br />

frühen 80er-Jahren mit der<br />

Hymne „My Adidas“ die<br />

Marke in die HipHop-Szene<br />

einführten, ist einiges<br />

passiert: Snoop Dogg, Missy<br />

Elliott und zuletzt Kanye<br />

West sind nur einige der<br />

Musiker, die mit den<br />

Herzogenaurachern zusammengearbeitet<br />

haben. Warum das so ist, weiß<br />

Julia Schoierer von sneakerqueen.de.<br />

Die Turnschuhsammlerin und<br />

Bloggerin hat ebenfalls schon ihren<br />

eigenen Schuh für Adidas designt. Wir<br />

haben die 32-Jährige zum Interview<br />

getroffen, um uns von ihr die Verbundenheit<br />

von Adidas zum Musikgeschäft<br />

erklären zu lassen.<br />

Julia, wie hat sich Adidas in der<br />

Musikszene etabliert?<br />

Adidas musste zunächst gar nichts<br />

dafür tun, die HipHop-Gruppe Run<br />

DMC hat in den 80er-Jahren von sich<br />

aus angefangen, die Marke als eine Art<br />

Uniform zu tragen. Ein Look, der<br />

eben nicht von den Schönen und<br />

Reichen inspiriert war, sondern<br />

direkt von der Straße kam: Double -<br />

Goose-Jacken, Adidas-Sneaker,<br />

Kangol-Caps und Cazal-Brillen. Das<br />

alles war die Uniform, die um die<br />

Subkultur HipHop entstanden ist. Der<br />

Streetstyle spielt bis heute in dieser<br />

Jugendkultur eine große Rolle.<br />

Dementsprechend war es ein Geniestreich<br />

von Adidas, dann mit Run<br />

DMC einen offiziellen Werbedeal<br />

abzuschließen. Damit hat Adidas zum<br />

ersten Mal das Lifestyle-Marketing für<br />

sich entdeckt. Dank Run DMC hat die<br />

Marke den Einstieg in die Musikszene<br />

geschafft.<br />

Kostenlose PR ohne großen Marketingaufwand.<br />

Von solch freiwilligem<br />

Product Placement träumt wohl<br />

jedes Label, oder?<br />

Genau. Zuerst produzierte Run DMC<br />

den Song „My Adidas“. In den Lyrics<br />

geht es um das Tragen von Adidas-Sneakern.<br />

Die Jungs haben quasi<br />

dazu aufgefordert. Das Video von<br />

damals kann man sich immer noch<br />

auf Youtube ansehen. Run DMC<br />

sitzen gemeinsam in einem Raum und<br />

sprechen Adidas direkt an: „Wir<br />

repräsentieren euch und tragen eure<br />

Schuhe und Klamotten.“ Sie zeigen<br />

„BESS<strong>ER</strong>E PR<br />

KANN MAN<br />

SICH GAR NICHT<br />

WÜNSCHEN“<br />

wie wild auf ihre Klamotten und zum<br />

Ende des Videos sagen sie: „Give us<br />

one million dollars.“ Dieser Spruch ist<br />

in die Geschichte eingegangen.<br />

Letztendlich bekamen sie tatsächlich<br />

einen Millionen-Dollar-Deal und<br />

Adidas produzierte mit ihnen eine<br />

eigene Run-DMC-Kollektion.<br />

Dadurch hatte Adidas natürlich die<br />

Möglichkeit, sich einem bestimmten<br />

Publikum mit einem gewissen Style zu<br />

präsentieren. Bei Auftritten riefen<br />

Run DMC ihrem Publikum zu:<br />

„Haltet eure Sneaker in die Luft!“ Und<br />

plötzlich war da dieses Meer aus<br />

Adidas-Schuhen über den Köpfen der<br />

Zuschauer. Eine bessere PR kann sich<br />

ein Unternehmen gar nicht wünschen.<br />

Ab diesem Zeitpunkt war Musik<br />

fester Bestandteil der<br />

Marketing-Maschinerie?<br />

Ja, und wie. Inzwischen hat Adidas<br />

eine sehr starke Basis in der Musikszene.<br />

Gerade im HipHop. Künstler wie<br />

Missy Elliott, Snoop Dogg oder eben<br />

Run DMC haben die Musikszene<br />

geprägt und stehen auch für die<br />

Marke. Einen Adidas-Tracksuit oder<br />

Julia Schoierer im Adidas-<br />

Icon-Store No 74. Sie<br />

trägt ein Original-Run-<br />

DMC-Shirt von 1986,<br />

eine Jogging hose aus der<br />

aktuellen Linie und ihre<br />

selbst designten Adidas-<br />

Sneakerqueen-Schuhe<br />

eine Track-Jacke zu tragen, hat heute<br />

immer noch Old-School-Flavour –<br />

und zwar nicht wegen des Sports,<br />

sondern wegen der Musik. Aber auch<br />

die langen Beziehungen zu Ian Brown<br />

(britischer Rock-Musiker, Anm. d.<br />

Red.) und zur Reggae-Legende Bob<br />

Marley gehören dazu. Sie haben sich<br />

auch privat gerne im Adidas-Dress<br />

fotografieren lassen. Brown designte<br />

zudem ebenfalls für Adidas.<br />

Aktuell launchen Pharell Williams<br />

und Rita Ora eine Linie. Wenn du es<br />

dir aussuchen könntest – mit<br />

welchem Musikkünstler sollte<br />

Adidas unbedingt zusammenarbeiten<br />

und warum?<br />

Wenn ich es mir aussuchen könnte,<br />

hätte ich gern eine Kollaboration mit<br />

Michael Jackson gesehen. Der Zug ist<br />

ja leider abgefahren. Wer ein gutes<br />

Stilempfinden hat und sicherlich auch<br />

gut zu Adidas passen würde, wäre<br />

Björk. Das wäre eine spannende<br />

Sache. Vielleicht sogar Björk mit<br />

Jeremy Scott (lacht). Ich weiß zwar<br />

nicht, ob es Sachen wären, die ich<br />

selbst tragen würde, da es auch zu<br />

flashy oder extravagant wirken<br />

könnte. Aber bei Björk mag ich<br />

einfach die Tatsache, dass sie verrückt<br />

und mutig an Sachen herangeht. Auch<br />

wenn das dann wirklich nur für den<br />

Moment bestimmt ist – wer braucht<br />

schon ein Kleidungsstück für die<br />

Ewigkeit?<br />

ALEXAND<strong>ER</strong> VETT<strong>ER</strong><br />

74 Werk VI 75


Johanna Top: Martin Niklas Wieser. Hose: Tata Christiane<br />

Vincent Longshirt: Mads Dinesen<br />

Ihr Revier ist die Großstadt, ihr Stil gibt Bewegungsfreiheit:<br />

In aktueller Streetwear ist man für den kommenden Herbst gewappnet<br />

URBAN<br />

WARRIORS<br />

FOTOS J E SSI C A WOLFELS B<strong>ER</strong>G<strong>ER</strong><br />

PRODUKTION L E O NIE VOLK & ALEXAND<strong>ER</strong> L A GUMA<br />

M ODEL J O HANNA & VINC ENT/ MEGA MODEL AGENCY<br />

H AARE/M AKE-UP O LGA P OZN YA S HEVA/CREATIVE BEAU T Y COMPANY USING M A C<br />

FOTOASSISTENZ TORBEN AV<strong>ER</strong>KO RN<br />

76 Werk VI 77


Hemd & Hose: Sadak. Schuhe: Adidas<br />

Body: Medima. Rock: Topshop<br />

78 Werk VI 79


Sweatshirt: Diesel Black Gold. Hose: Mads Dinesen. Schuhe: Adidas<br />

Bauchfreies Tanktop: Topshop. Hose mit Rockteil: Zara<br />

80 Werk VI 81


Vincent Hemd: Sadak<br />

Johanna Pullover: & Other Stories<br />

Hose: Sadak. Schuhe: Adidas<br />

82 Werk VI 83


Top: Ethel Vaughn. Leggins: Vintage<br />

Werk VI 85


D<strong>ER</strong><br />

GLAUBENSBRUD<strong>ER</strong><br />

Die katholische Kirche ist als weltfremd, dekadent und<br />

überflüssig verschrien. Ein junger Mann erklärt,<br />

warum er trotzdem in ihre Dienste tritt<br />

V O N A NNIKA L Ö SCH<br />

FOT OS: LE O P O LD ACHILLES<br />

Ob Gott ein Mann ist? Dominik Mutschler<br />

lacht über diese Frage. Wir sitzen in seinem<br />

Wohnzimmer in der nordrhein-westfälischen<br />

Großstadt Herne.<br />

Hier im Ruhrpott soll es noch echte Männer geben, werben<br />

die Ansichtskarten am nahegelegenen Bahnhof. Dominik,<br />

der in Witten aufwuchs, scheint einer von ihnen zu sein:<br />

bunt tätowierte Arme, Vollbart, kräftige Statur. In der Küche<br />

reihen sich leere Bierflaschen, auf dem Kühlschrank<br />

thronen Nahrungsergänzungsmittel für das Krafttraining.<br />

Die Hände des 26-Jährigen sind groß, sie scheinen wie geschaffen<br />

für Arbeit, bei der richtig zugepackt werden muss.<br />

Stattdessen falten sie sich zum Gebet, verteilen die Krakenkommunion,<br />

basteln mit Grundschülern und Firmlingen.<br />

Dominiks Arbeitgeber ist das Erzbistum Paderborn, sein<br />

Chef der örtliche Pfarrer. Als angehender<br />

Gemeindereferent arbeitet er<br />

hauptsächlich mit dem Kopf. Und<br />

mit seinem Herzen – das merkt<br />

man, wenn er über seinen Beruf<br />

spricht. „Ich habe mich nicht zu verstecken.<br />

Ich habe ganz viel zu geben“,<br />

sagt Dominik. Aber muss man<br />

für die Kirche arbeiten, um seinen<br />

Mitmenschen etwas geben zu können?<br />

Nein, und Dominik ist weit<br />

entfernt von dem mittelalterlichen<br />

Denken, sein Glaube wäre der einzig<br />

richtige. Er ist sich bewusst über das negative Bild, das viele<br />

von der Kirche haben. Seit Jahrzehnten sinkt die Zahl der<br />

Mitglieder in Deutschland, 2010 verzeichnete die zweithöchste<br />

Zahl an Kirchenaustritten: Über 300 Missbrauchsfälle<br />

kamen ans Licht, die an Schutzbefohlenen katholischer<br />

Einrichtungen verübt worden waren. Im Oktober<br />

2013 traten in München doppelt so viele Katholiken aus<br />

der Kirche aus wie im Vormonat, in Paderborn sogar dreimal<br />

so viele. Auslöser: der Bauskandal um den Limburger<br />

Bischof Tebartz-van Elst. Hinzu kommt das immer wieder<br />

mit Kopfschütteln betrachtete Zölibat. Jeder weiß, dass katholische<br />

Geistliche schon Kinder gezeugt haben – auch<br />

wenn in Deutschland erst eines davon offiziell anerkannt<br />

wurde. Dominik kann die Vorwürfe nachvollziehen. Für<br />

ihn ist gerade das ein Antrieb, seinen Mitmenschen zu zeigen:<br />

„Die Kirche besteht nicht nur aus Negativschlagzeilen.<br />

Hier gibt es so viele bunte, engagierte Leute, die Bock haben,<br />

Zukunft zu gestalten.“<br />

Draußen auf dem Balkon tröpfelt der Regen in einen<br />

Wok, in dem noch einzelne Asia-Nudeln von Dominiks<br />

Mittagessen kleben. Er erzählt, wie es dazu kam, dass er<br />

selbst einer dieser engagierten Menschen wurde. Wie sein<br />

optischer Auftritt ist auch sein Werdegang nicht unbedingt<br />

typisch für Vertreter seiner „Branche“. Katholisch<br />

erzogen, verlief seine Jugend trotzdem turbulent – inklusive<br />

Sitzenbleiben, eigener Rockband und haarscharf bestandenem<br />

Abi: „Eine Zeit, in der alles wichtiger war als<br />

Schule und Zukunft.“ Den Zivildienst,<br />

den Dominik in einem Altersheim<br />

leistete, sieht er als Zäsur,<br />

die ihn ein großes Stück erwachsener<br />

gemacht hat. „Ich war plötzlich<br />

mit Themen wie Vereinsamung, Armut,<br />

Krankheit und Tod konfrontiert.“<br />

Er lernte, dass es „andere<br />

Menschen mit anderen Problemen“<br />

gibt. Dominik wollte auch in Zukunft<br />

für andere etwas tun. Sein<br />

Glaube hatte ihm schon immer Halt<br />

gegeben, er bewundert seine Eltern,<br />

die sich seit Jahrzehnten in ihrer Kirchengemeinde engagieren.<br />

Er bewarb sich für das Studium der Religionspädagogik<br />

in Paderborn.<br />

Im Gegensatz zu seinem Abitur hat er den Bachelor mit<br />

Bravour bestanden. Eine 1,1 ziert das Abschlusszeugnis<br />

des angehenden Gemeindereferenten. Schon jetzt übernimmt<br />

Dominik viele der Aufgaben, die früher eigentlich<br />

ein Pfarrer erledigte. In Zeiten, in denen Pfarrer aufgrund<br />

der abnehmenden Anzahl geweihter Nachwuchskräfte –<br />

im Jahr 1962 gab es 557 Neupriester in Deutschland, 2012<br />

waren es nur noch 76 – bis zu drei Kirchengemeinden auf<br />

einmal betreuen, ist die Funktion der Gemeindereferenten<br />

Dominik ist stolz auf seine<br />

Tattoos. Für ihn sind sie<br />

Ausdruck seines Glaubens<br />

86 Werk VI 87


vielfältiger geworden. Dominik hält Gottesdienste, unterrichtet<br />

Religion in der Grundschule, betreut Firmlinge.<br />

„Auch ohne Priester zu sein, kann ich so viel tun“, sagt er.<br />

Während des Studiums hat er überlegt, Pfarrer zu werden.<br />

Er dürfte dann auch die Sakramente spenden – Taufe,<br />

Firmung, Eucharistie, Beichte, Krankensalbung, Priesterweihe,<br />

Ehe. Und er müsste die drei Gelübde ablegen: das<br />

Gelübde der Armut, das Gelübde der Gehorsamkeit und<br />

das Gelübde der Keuschheit. Gehorsamkeit ist etwas, womit<br />

Dominik wenig Probleme hat. Das bedeutet nicht, dass<br />

er jede Anweisung unreflektiert ausführt. Aber: „Ich halte<br />

mich selbst nicht für die Ultima Ratio. Ich kann viel von<br />

anderen Menschen lernen. Wenn man das begriffen hat,<br />

befreit das auch von dem Druck, sich ständig zu beweisen<br />

und selbst darzustellen“, erklärt Dominik. Er findet es<br />

männlich, wenn man sich selbst auch mal hinten anstellen<br />

kann, Dinge im Raum stehen lassen kann. „Ganz im Gegenteil<br />

zu dem gängigen Klischee, ein Mann müsste immer<br />

das letzte Wort haben“, sagt er.<br />

Die beiden anderen Gelübde haben Dominik von einer<br />

Priesterweihe abgehalten. Ein Gang durch seine Wohnung<br />

macht klar, dass hier kein Asket zu Hause ist. Digitaluhren,<br />

Gürtel und Schuhe populärer Streetwear-Labels<br />

zieren die Garderobe.<br />

Vier E-Gitarren, Skateboards und<br />

viel Computerschnickschnack sind<br />

im Schlafzimmer verstaut. „Luxusschwein“<br />

steht in goldenen Lettern<br />

auf einer Spardose. Wie andere junge<br />

Männer gibt Dominik gern Geld<br />

für seine Hobbys aus, legt Wert auf<br />

sein Äußeres.<br />

Und wie viele andere junge Männer<br />

möchte er nicht auf Frauen verzichten.<br />

„Ich will später mal eine Familie<br />

gründen und Kinder haben“,<br />

sagt er. Dominik kritisiert das Konzept<br />

des Zölibats nicht, macht aber<br />

deutlich, dass es ihm eine Laufbahn<br />

als Geistlicher unmöglich gemacht<br />

hat. Die katholische Kirche muss<br />

umdenken, überholte Regeln müssen<br />

an den gesellschaftlichen und<br />

kulturellen Wandel angeglichen<br />

werden. Nur so wird sie es schaffen,<br />

auch durch Menschen wie Dominik, jetzige und kommende<br />

Generationen zu erreichen. Sein untypisches Äußeres<br />

wirkt oft als Aufhänger, der es ihm einfach macht, mit<br />

Menschen in Dialog zu treten. „Es gab einen Vater, der<br />

selbst viele Tätowierungen hatte und das immer ein bisschen<br />

verstecken wollte, weil er unter den anderen Eltern<br />

damit auffiel. Als er mich kennengelernt und erfahren hat,<br />

dass ich einer von ‚denen‘ bin, war er sehr erleichtert. Es hat<br />

ihm das Selbstbewusstsein gegeben, zu seinen Tattoos zu<br />

stehen.“ Als Dominik den Kindergottesdienst in einer<br />

evangelischen Kirche leitete, lobten Eltern danach seine lockere<br />

Art, was sie von einem Mitarbeiter der katholischen<br />

Kirche nicht erwartet hätten.<br />

Dominik widerspricht nicht nur durch sein Äußeres<br />

dem Klischee des weltfremden Gottesmannes mit dem<br />

stets erhobenen Zeigefinger. Auch ist er keiner der Jesus-Freaks,<br />

die man auf dem Gymnasium wegen ihrer<br />

Taizé-T-Shirts belächelt hat. Seine Einstellung zu Gott ist<br />

nicht in abschreckendem Fanatismus begründet. Er lebt<br />

einfach die Liebe und Nähe zu den Menschen, denen er<br />

täglich als einer von ihnen begegnet.<br />

Ein Kruzifix sucht man in Dominiks Wohnung übrigens<br />

vergeblich. An den Wänden hängen moderne Stencil-<br />

Motive, Fotos von Familie und Freunden reihen sich im<br />

Regal. „Ich brauche das auch gar nicht so dringend“, sagt<br />

er. „Die Symbole, die mir wichtig sind, kann ich jeden<br />

Morgen unter der Dusche sehen.“ Er zieht sich sein Shirt<br />

über den Kopf. Auf dem Arm, der Brust und an der Seite<br />

des Oberkörpers ist Dominik großzügig tätowiert. Alle<br />

Motive sind durch seinen Glauben inspiriert. 2005 ließ er<br />

sich auf der Wade sein erstes Tattoo stechen, es sind Dürers<br />

„Betende Hände“. Es folgte ein Fisch – ein uraltes Christussymbol<br />

– auf der rechten Flanke, der altgriechische Spruch<br />

„Öffne dich“ aus der Taufliturgie quer über der Brust,<br />

„Wort Gottes“ in arabischen Lettern auf der Innenseite des<br />

linken Unterarms. Dominik sieht diese Bilder als Wegmarken,<br />

die die Entwicklung seiner Person nachzeichnen. So<br />

ist die Idee für den arabischen<br />

Schriftzug nach einer langen Diskussion<br />

mit einem Islamwissenschaftler<br />

entstanden: „Sowohl im Islam als<br />

auch im Christentum ist ‚Wort Gottes‘<br />

ein Titel für Jesus. Ich habe<br />

Hochachtung vor dieser Religion.<br />

Sie ist im Kern höchst friedlich und<br />

menschenfreundlich.“<br />

Sein neuestes Tattoo ist gerade erst<br />

fertig geworden. Es zeigt ein Löwensymbol,<br />

das für den Evangelisten<br />

Markus steht. Ein Stier, ein Adler und<br />

ein Engel sollen folgen, sie stehen für<br />

die übrigen drei Evangelisten.<br />

Die Kinder, die er in der Grundschule<br />

unterrichtet, stellen viele Fragen:<br />

„Hat das weh getan? Darf ich<br />

mal anfassen?“ Dominik freut sich<br />

über ihre Neugier. „Die katholische<br />

Kirche verfügt über eine reiche Symbolsprache,<br />

aber wer außer einem<br />

Theologen weiß noch, dass der Löwe<br />

ein Symbol für den Evangelisten Markus und die Auferstehung<br />

ist? Meine Schüler wissen das“, sagt er lachend. Als er<br />

sich in der Ausbildung zum Gemeindereferent befand, sicherte<br />

er sich wegen seiner Tattoos trotzdem lieber ab. „Ich<br />

habe einen Brief an den Generalvikar geschrieben, um mir<br />

bestätigen zu lassen, dass es in Ordnung ist.“<br />

Heute passen seine Nike „Air Max“, die er oft zum Gottesdienst<br />

trägt, farblich zu seinem orange-rot-bunt leuchtenden<br />

Sleeve am linken Arm. In Zeiten, wo Deutschland zu<br />

einem Missionsland wird, braucht es Menschen wie Dominik,<br />

die am Puls der Zeit leben und deshalb ihre Mitmenschen<br />

erreichen. Er will mit anderen Menschen teilen, was<br />

ihm der Glaube gibt. „Gott ist kein Mann, auch keine Frau.<br />

Gott ist eine Präsenz, eine Beziehung, die du im Gegenüber<br />

erleben kannst.“<br />

Für Dominik schließen<br />

sich Kirche und modernes<br />

Leben nicht aus<br />

88 Werk VI 89


BEZIEHUNGS-<br />

WEISEN<br />

Was ist Liebe? Was macht eine moderne Beziehung aus?<br />

Wie kann man gemeinsam den Alltag bewältigen,<br />

ohne sich dabei zu langweilen? Drei Berliner Paare sprechen<br />

über ihre ganz persönliche Art des Zusammenlebens<br />

I NT<strong>ER</strong>VIEWS: JULIA KÜST<strong>ER</strong><br />

FOT OS: STEFAN KORTE<br />

gerade in eine gemeinsame Wohnung<br />

gezogen. Die große Party mit Freunden<br />

holen wir dieses Jahr nach.<br />

Christophe (l.) und Tobias in ihrer gemeinsamen<br />

Wohnung. Die Schmetterlingssammlung<br />

hängt im Wohnzimmer<br />

empfinde. Es ist sehr wertvoll, jemanden<br />

gefunden zu haben, der in<br />

gewissen Momenten für dich da ist.<br />

Ich möchte nicht sagen, dass wir<br />

nur dafür gemacht sind, ein Pärchen -<br />

dasein zu leben, aber es gibt<br />

nichts Schöneres im Leben, als die<br />

Liebe seines Lebens zu treffen.<br />

CHRISTOPHE & TOBI<br />

Tobias Frericks (35) ist Fashion<br />

Director bei dem Männermagazin<br />

„GQ“ in München, sein Ehemann<br />

ist der französische Künstler<br />

Christophe Chemin (37). Die<br />

beiden sind seit 2010 ein Paar und<br />

haben Ende 2013 geheiratet.<br />

Sie leben in einem Loft in Berlin-<br />

Mitte. Ein Gespräch über<br />

bedingungsloses Vertrauen, Sex<br />

und die Liebe zu Prada.<br />

Wo habt ihr euch kennengelernt?<br />

Tobias: Im Freundeskreis. Ich hatte<br />

Christophe schon öfter beim Ausgehen<br />

gesehen und fand ihn interessant.<br />

Aber irgendwie war nie der richtige<br />

Moment da, um sich kennenzulernen.<br />

Bis zu dem Geburtstag eines gemeinsamen<br />

Freundes.<br />

Christophe: Ich hatte den Sommer<br />

in einer winzigen Wohnung in<br />

Kreuzberg verbracht und wollte im<br />

Herbst nach New York ziehen.<br />

Aber dann habe ich Tobi kennengelernt<br />

und meine Koffer wieder<br />

ausgepackt.<br />

T: Er ist bereits nach drei Wochen<br />

bei mir eingezogen und bis heute<br />

geblieben. Und wir haben es nie bereut,<br />

weil es perfekt harmoniert.<br />

Hattet ihr so was wie ein erstes Date?<br />

T: Wir hatten ausgemacht, zusammen<br />

die Gegend um den Teufelssee im<br />

Grunewald zu erkunden, aber ich<br />

habe dann nichts mehr von ihm gehört<br />

und dachte mir nur: was für ein<br />

Reinfall! Später kam aber eine SMS mit<br />

der Info, dass er mit einer Mittelohrentzündung<br />

im Krankenhaus sei. Ich<br />

hielt das für eine lahme Ausrede.<br />

C: Mir ging es wirklich total schlecht,<br />

ich hatte hohes Fieber und wahnsinnige<br />

Schmerzen. Als Tobi mich dann<br />

fragte, ob er sich zu Hause um mich<br />

kümmern soll, war ich sehr froh.<br />

T: Das war dann unser erstes Date.<br />

Christophe, was macht Tobias für<br />

dich so besonders?<br />

C: Er hat eine unglaublich positive<br />

Energie, die eine immense Auswirkung<br />

auf mein eigenes Befinden hat. Ich<br />

konnte viele Jahre lang mit niemandem<br />

zusammen sein, aber mit Tobi<br />

funktioniert es total selbstverständlich.<br />

Ich akzeptiere einfach alles an ihm.<br />

Das ist etwas, was ich noch nie vorher<br />

empfunden habe. Zudem weiß er,<br />

wie er mit mir umgehen muss, obwohl<br />

ich keine einfache Person bin. Es ist<br />

eine Energie zwischen uns, die<br />

unbeschreiblich und einzigartig ist.<br />

T: Ich würde auch sagen, dass sich<br />

unsere unterschiedlichen Wesen<br />

sehr gut ergänzen. Die meisten<br />

Menschen würden auf den ersten Blick<br />

nie denken, dass es zwischen uns<br />

funktioniert.<br />

C: Ich wusste von Anfang an, dass<br />

Tobi die Person ist, die ich im Leben<br />

brauche. Ich musste mich nie anstrengen,<br />

damit es funktioniert. Die<br />

meisten Menschen stören mich,<br />

wenn sie mir zu nah kommen. Ich<br />

gehe selten aus und meide Menschenmassen.<br />

Aber ich fühle mich immer<br />

wohl, wenn Tobi in meiner Nähe ist.<br />

T: Ich hatte eigentlich immer langjährige<br />

Beziehungen, aber es war auch<br />

immer klar, dass es nichts für die<br />

Ewigkeit ist. Bei Christophe ist es zum<br />

ersten Mal so, dass ich nichts in Frage<br />

stelle. Ich möchte mit ihm bis zum<br />

Ende meines Lebens zusammen sein.<br />

Deshalb habt ihr euch entschieden<br />

zu heiraten?<br />

T: Ja, wir haben im Dezember letzten<br />

Jahres im kleinen Kreis in Berlin<br />

geheiratet. Wir hatten zu der Zeit<br />

beruflich viel zu tun und sind zudem<br />

Wer hat wem den Antrag gemacht?<br />

T: Christophe hat mich gefragt und<br />

dann haben wir ausgiebig über<br />

das Thema gesprochen, weil wir<br />

eigentlich beide keine großen Fans<br />

der Ehe sind.<br />

C: Für mich ist es vor allem wichtig<br />

gewesen zu heiraten, weil wir auch<br />

das Recht dazu haben. Es hat einfach<br />

gewisse Vorteile, die sollten homosexuelle<br />

Paare auch ausnutzen.<br />

T: Es ist auch eine Frage von Sicherheit.<br />

Wir haben uns gemeinsam<br />

eine Wohnung gekauft, zudem ist<br />

Christophe hier in einem fremden<br />

Land. Wenn einem von uns vor der<br />

Heirat etwas passiert wäre, hätte<br />

der andere keine Rechte gehabt, sich zu<br />

kümmern. Schon ein Krankenhausbesuch<br />

wäre schwierig gewesen.<br />

Warum sind langjährige Beziehungen<br />

unter Homosexuellen eher selten?<br />

T: Ich denke, dass Männer von Natur<br />

aus einfach sexuellere Wesen sind,<br />

die Sex öfter und mit unterschiedlichen<br />

Partnern haben und sich nicht so gern<br />

festlegen. Nach dem Motto: Es könnte<br />

ja noch jemand Besseres kommen.<br />

Für Frauen ist es eine größere Sache,<br />

mit jemandem zu schlafen.<br />

C: Eigentlich hat es nichts damit<br />

zu tun, ob man homo- oder heterosexuell<br />

ist. Am Ende streben<br />

„ICH FÜHLE MICH<br />

WOHL BEI DEM<br />

GEDANKEN, ÄLT<strong>ER</strong><br />

ZU W<strong>ER</strong>DEN“<br />

CHRISTOPHE CHEMIN<br />

wir doch alle nach dem Gleichen.<br />

T: Männer warten einfach länger<br />

darauf, bis ihnen der perfekte Partner<br />

über den Weg läuft. Die Zwischenzeit<br />

überbrücken sie mit vielen falschen.<br />

C: Generell ist Perfektion ein großes<br />

Thema bei Männern, obwohl es<br />

vollkommen absurd ist. Denn am Ende<br />

ist die Person, mit der du wahre<br />

Liebe erlebst, nie die, die du dir vorher<br />

jahrelang in deinem Kopf vorgestellt<br />

hast.<br />

Was bedeutet Liebe für euch?<br />

C: Die Antwort darauf ist wohl dieselbe<br />

wie auf die Frage, warum ich mein<br />

Leben mit Tobi teilen möchte, obwohl<br />

ich auch allein und frei sein könnte? Es<br />

ist bedingungsloses Vertrauen, was ich<br />

Möchtet ihr Kinder haben?<br />

C: Wir haben schon oft darüber nach -<br />

gedacht, Eltern zu werden. Es ist<br />

etwas kompliziert, weil wir beruflich<br />

viel unterwegs sind. Dabei wäre ich<br />

liebend gern Vater. Ich hätte einem<br />

Kind viel zu geben. Aber ich bin auch<br />

ein Künstler und ich gebe Menschen<br />

etwas auf einer anderen Ebene.<br />

Ich würde also nicht so sehr leiden,<br />

sollten wir keine Kinder haben.<br />

T: Ich bin noch nicht bereit dazu, weil<br />

mein Job es nicht erlaubt. Ich bin nie<br />

eine komplette Woche in Berlin und<br />

möchte nicht einer dieser Väter sein,<br />

die nie da sind. Aber wir werden uns<br />

bald einen kleinen Welpen anschaffen<br />

– als ersten Familienzuwachs. (lacht)<br />

Tobias, du arbeitest in München.<br />

Christophe, du hast lange Zeit in<br />

Paris gelebt. Wieso habt ihr euch für<br />

Berlin als Basis entschieden?<br />

C: Als Franzose schätze ich Paris<br />

natürlich sehr. Es ist hübsch dort, aber<br />

es ist auch eine sehr schnelle Stadt.<br />

Berlin hat für mich gleichermaßen etwas<br />

Unvollkommenes, Zerstörerisches und<br />

Wunderschönes. Auch die historische<br />

Vergangenheit der Stadt fasziniert<br />

mich sehr. Viele meiner Freunde aus<br />

aller Welt sind vor Jahren nach Ostberlin<br />

geströmt. Es war wie eine Welle,<br />

die dann auch mich erfasst hat.<br />

90 Werk VI 91


T: Für mich ist Berlin einfach<br />

die einzig interessante Stadt in<br />

Deutschland.<br />

Christophe, welchen Bezug hast<br />

du zu Mode?<br />

C: Wir Franzosen haben ein gutes<br />

Modebewusstsein. Aber ich denke,<br />

jeder Mensch hat einen Bezug zu Mode,<br />

denn auch wenn man sie ablehnt,<br />

kleidet man sich und drückt automatisch<br />

etwas damit aus. Was ich an Mode<br />

mag ist, dass sie sich kontinuierlich<br />

ändert – obwohl ich Prada so sehr liebe,<br />

dass ich beinahe Angst habe, dass es<br />

nächste Saison anders sein könnte.<br />

Was fasziniert dich so an Prada?<br />

C: Miuccia Prada schafft es, Maskulinität<br />

und Kunst mit Bequemlichkeit<br />

zu verbinden. Man erkennt sofort,<br />

woher sie ihre Inspirationen nimmt,<br />

und das macht es für mich so tragbar.<br />

Diesen Sommer inszeniert sie einen<br />

Urlaubstrip nach Hawaii. Simpel, aber<br />

umwerfend. Man könnte alle ihre<br />

Kollektionen zusammenlegen und die<br />

Teile miteinander mixen.<br />

Ist Mode für dich Kunst?<br />

C: Nein. Es gibt Parallelen, denn Mode<br />

und Kunst inspirieren sich mittlerweile<br />

gegenseitig. Vor ein paar Jahren<br />

durfte man sich als Künstler nicht<br />

für Mode interessieren, man wäre sonst<br />

nicht ernst genommen worden. Mode<br />

wurde in der Kunst als vollkommen<br />

irrelevant angesehen. Heute ist es sehr<br />

wichtig, dass du alles, was du tust,<br />

kommunizierst. Und Mode ist dafür<br />

ein sehr wichtiges Mittel. Aber die<br />

Tatsache, dass Mode alle sechs Monate<br />

neu erfunden werden muss, widerspricht<br />

der Kunst.<br />

Wie stellt ihr es euch vor, gemeinsam<br />

alt zu werden?<br />

C: Ich fühle mich wohl bei dem<br />

Gedanken, älter zu werden, das war<br />

für mich noch nie ein Problem.<br />

Das Wichtigste ist, an einem Ort zu<br />

sein, an dem ich glücklich bin.<br />

T: Ich bin niemand, der etwas plant,<br />

denn am Ende kommt immer alles<br />

anders, als man denkt. Hauptsache ist,<br />

dass wir auch in 40 Jahren noch<br />

glücklich zusammen sind – unabhängig<br />

davon, ob wir in Berlin leben,<br />

egal, ob ich noch in der Mode oder<br />

Christophe als Künstler arbeitet.<br />

CHRISTIANE & MARCUS<br />

Die Herausgeberin des Magazins<br />

„I Love You“ Christiane<br />

Bördner (43) und der Fotograf<br />

Marcus Gaab (44) sind seit<br />

20 Jahren ein Paar – privat wie<br />

beruflich. Sie leiten gemeinsam<br />

die Kommunikationsagentur<br />

The Gaabs und leben mit ihren<br />

Kindern Aaron (14) und Zara<br />

(7) in einer 250 Quadratmeter<br />

großen Wohnung im Prenzlauer<br />

Berg. Zum Gespräch über<br />

das Geheimnis einer jahrzehntelangen<br />

Beziehung öffnen die<br />

beiden die Tür zu ihrem Studio.<br />

Wie habt ihr euch kennengelernt?<br />

Christiane: Ganz klassisch auf der<br />

Erstsemesterparty. Wir haben zusammen<br />

an der Folkwangschule in Essen<br />

Kommunikationsdesign studiert.<br />

Wo war euer erstes Date?<br />

Marcus: Mann, ist das lange her!<br />

Weißt du das noch, Christiane?<br />

C: Tja, Marcus hatte damals noch<br />

eine Freundin …<br />

M: Toll, jetzt ist es raus!<br />

C: Aber wir haben uns dann trotzdem<br />

verabredet. Bei einem Freund in<br />

Wiesbaden. Ich komme aus Frankfurt<br />

am Main und Marcus aus Mannheim,<br />

da lag das in der Mitte.<br />

Marcus, was hast du gedacht,<br />

als du Christiane zum ersten Mal<br />

gesehen hast?<br />

M: Erst mal gar nichts. Wir streiten<br />

auch immer darüber, wer den ersten<br />

Schritt gemacht hat.<br />

C: Ich habe ihn auf seinen Dialekt<br />

angesprochen. Das Besondere zwischen<br />

mir und Marcus war, dass von Anfang<br />

an alles klar war. Es gab nie dieses<br />

„Wer ruft wen zuerst an“-Spielchen.<br />

Was ist das Geheimnis eurer Liebe?<br />

C: Liebe ist Arbeit, Arbeit, Arbeit!<br />

Wir sind definitiv kein frisch verliebtes<br />

Pärchen mehr. Wir haben ein<br />

Business zusammen, Kinder und<br />

bestreiten unseren Alltag gemeinsam.<br />

Manche Dinge müssen wir nicht<br />

infrage stellen – und dazu gehört<br />

unsere Beziehung. Es funktioniert<br />

einfach.<br />

M: Am Ende ist es wohl Vertrauen und<br />

Leidenschaft. Wenn es keine Überraschungen<br />

gibt, keine Entwicklungen<br />

und keinen Energieaustausch mehr,<br />

dann wäre es komisch.<br />

C: Ja, Vertrauen ist wohl das Wichtigste<br />

bei uns.<br />

Marcus, was schätzt du an<br />

Christiane?<br />

M: Disziplin, Konsequenz und<br />

Leidenschaft.<br />

Und was nervt?<br />

M: Disziplin, Konsequenz und<br />

Leidenschaft.<br />

Und du, Christiane?<br />

C: Großzügigkeit, Mut und seinen<br />

geilen Body! (lacht) Sein angstfreies<br />

Wesen ist das, was mich am meisten<br />

beeindruckt. Es sind immer die Dinge,<br />

die man selbst nicht hat, die einen<br />

komplettieren. Marcus denkt immer<br />

sehr risikobereit, während ich sehr<br />

ängstlich bin.<br />

Gegensätze ziehen sich also<br />

wirklich an?<br />

M: Schon, aber ein paar Charakterzüge<br />

muss man einfach teilen. Wenn man<br />

gemeinsam an Projekten arbeitet, muss<br />

man an einem Strang ziehen. Wenn es<br />

am Ende hart auf hart kommt, sind wir<br />

lustigerweise auch immer einer<br />

Meinung.<br />

„LEUTE GEHEN<br />

DAVON AUS,<br />

DASS MARCUS D<strong>ER</strong><br />

CHEF IST.<br />

EINFACH, WEIL <strong>ER</strong><br />

EIN MANN IST“<br />

CHRISTIANE BÖRDN<strong>ER</strong><br />

Ihr leitet gemeinsam die Agentur The<br />

Gaabs. Wer übernimmt welchen<br />

Part?<br />

M: Ich bin als Fotograf für Fotos und<br />

Filme zuständig. Christiane macht die<br />

Art Direktion, also alles, was mit<br />

Grafikdesign zu tun hat – für Print und<br />

Online. Christiane ist aber auch für den<br />

redaktionellen Part zuständig. Sie<br />

schreibt oder überwacht die Texte.<br />

Da fliegen sicher auch mal die<br />

Fetzen?<br />

C: Sehr oft. Das bleibt nicht aus bei<br />

einem Leben mit Firma und Kindern.<br />

Meistens streiten wir uns aber über<br />

finanzielle Dinge. Wenn wir angespannt<br />

sind und beide nicht weiterwissen.<br />

Das Gute ist, dass wir uns<br />

gegenseitig so sehr vertrauen, dass wir<br />

uns nicht in die Bereiche des anderen<br />

einmischen. Jeder hat seine eigene<br />

Entscheidungsgewalt und das wird<br />

akzeptiert. Schlimm wurde es allerdings,<br />

als ich „I Love You“ gegründet<br />

habe. Damit war Marcus anfangs<br />

überhaupt nicht einverstanden. Er<br />

wollte kein eigenes Magazin machen.<br />

Er fürchtete, das würde den Eindruck<br />

machen, dass er als Fotograf keinen<br />

Erfolg hat und ein eigenes Medium<br />

für seine Arbeit braucht. Da gab es<br />

richtig Streit und unsere Beziehung<br />

stand eine Zeitlang wirklich auf der<br />

Kippe.<br />

Wie habt ihr diesen Konflikt gelöst?<br />

C: Ich habe es einfach durchgezogen<br />

und er musste es akzeptieren.<br />

Wie trennt ihr Privates vom<br />

Beruflichen?<br />

C: Das kann man nicht trennen. Wir<br />

knutschen aber nicht im Büro.<br />

Wie ist es mit Freiräumen?<br />

C: Wir sehen uns zwar rund um die<br />

Uhr, aber immerhin haben wir uns nach<br />

20 Jahren immer noch etwas zu sagen.<br />

Außerdem sind wir auch für ein paar<br />

Tage auf anderen Jobs, da genießt man<br />

die Zeit auch. Hätten wir keine gemeinsame<br />

Firma, würde sich bei unseren<br />

Jobs immer einer beschweren, dass der<br />

andere nicht zum Abendessen da ist.<br />

Und wer hat letztendlich die Hosen<br />

an in der Agentur?<br />

C: Es kommt öfter vor, dass Leute<br />

davon ausgehen, dass Marcus der Chef<br />

ist. Einfach, weil er ein Mann ist.<br />

Darüber kann ich aber nur lachen.<br />

M: In Führungssituationen teilen wir<br />

uns charakterlich gut auf. Ich sage<br />

immer: Christiane ist der Innenminister<br />

und ich der Außenminister. Ich<br />

bin immer der erste und letzte, der mit<br />

Kunden kommuniziert und viel<br />

unterwegs ist, während Christiane<br />

diejenige ist, die das Vertrauen<br />

zwischendurch aufbaut und Dinge<br />

intern viel schneller entscheiden kann.<br />

Christiane und Marcus haben ihre<br />

Agentur sehr wohnlich ausgestattet –<br />

inklusive Bibliothek, Küche und Tiermasken<br />

an den Wänden<br />

Wie bekommt man so ein Berufsleben<br />

hin mit zwei Kindern?<br />

C: Aaron ist schon 14 und sehr<br />

selbständig. Er geht nach der Schule<br />

alleine nach Hause, macht sich was zu<br />

essen. Aber früher mussten die Kinder<br />

natürlich schon immer mit ins Büro.<br />

Außerdem bekommen wir großartige<br />

Unterstützung von unseren Eltern und<br />

den Babysittern.<br />

Bleibt auch Zeit zum Ausgehen?<br />

C: Wir sind berufsbedingt auf so vielen<br />

Events, dass ich an freien Abenden<br />

nicht das Bedürfnis habe, mit Marcus<br />

auszugehen, sondern lieber die Füße<br />

hochlege. Wenn es draußen regnet,<br />

machen wir total gern einen Gammeltag<br />

und gucken den ganzen Tag Filme<br />

mit den Kindern. Das genießen wir<br />

dann alle gemeinsam.<br />

Es ist das Jahr 2044. Wie lebt ihr?<br />

M: Ähnlich wie jetzt, nur mit mehr<br />

Freiheiten. Und mit Enkelkindern<br />

vielleicht.<br />

C: Und wir reisen ganz viel, haben<br />

keinen festen Wohnsitz und kein Auto<br />

mehr. Vielleicht arbeiten wir auch<br />

noch und bringen Bücher über unsere<br />

Reisen raus.<br />

M: Bücher gibt es dann nicht mehr.<br />

C: Dann eben iPad-Lektüren.<br />

92 Werk VI 93


KIRSTEN & STEPHAN<br />

Pauly Saal, Berlin-Mitte:<br />

Kirsten Hermann (41), ihre<br />

Tochter Puki und Stephan<br />

Landwehr (55) sitzen an der<br />

Bar, um mit uns über eine<br />

moderne Patchwork-Beziehung<br />

zu sprechen. Seit acht Jahren<br />

sind die Stylistin und Inhaberin<br />

der Galerie für moderne<br />

Fotografie und der Gastronom<br />

(Pauly Saal, Grill Royal,<br />

King Size Bar), Bilderrahmer<br />

und Kunstsammler ein Paar.<br />

Die 13-jährige Puki stammt aus<br />

Kirstens vorheriger Beziehung.<br />

Wie seid ihr euch zum ersten Mal<br />

begegnet?<br />

Kirsten: Wir saßen uns bei der<br />

Hochzeit einer gemeinsamen Freundin<br />

gegenüber. Meinen Tischnachbarn<br />

habe ich über Stephan ausgefragt,<br />

weil ich ihn interessant fand.<br />

Stephan, was hast du gedacht, als du<br />

Kirsten gegenüber sitzen sahst?<br />

Stephan: Ich fand sie sehr attraktiv.<br />

Später saßen wir ja dann auch<br />

neben einander, und nach der Hoch -<br />

zeit haben wir uns immer öfter<br />

Kirsten, Stephan und Puki in der Bar des<br />

Pauly Saals, die wie ein zweites<br />

Wohnzimmer für die Patchwork-Familie ist<br />

getroffen und unsere Freundschaft<br />

verfestigt. (lacht)<br />

Was versteht ihr unter einer<br />

modernen Beziehung?<br />

S: Dass ich auch mal in Ruhe gelassen<br />

werde und machen kann, was ich will.<br />

K: Freiheit, würde ich sagen!<br />

Wohnt ihr zusammen?<br />

K: Nein, wir leben zwar an den<br />

Wochenenden auf dem Land nordöstlich<br />

von Berlin zusammen in<br />

einem Haus, aber hier in Berlin haben<br />

wir zwei getrennte Wohnungen.<br />

S: Ansonsten haben wir auch zwei<br />

Autos, zwei Bankkonten und<br />

zwei Telefonanschlüsse.<br />

Was schätzt ihr aneinander?<br />

S: Ein gutes Händchen für Hausarbeit,<br />

Abwasch und Wäsche waschen!<br />

K: Immer bist du so böse!<br />

S: Nein. Aber maximale Rückendeckung<br />

in Bezug auf meinen Beruf ist<br />

mir wichtig!<br />

K: Also mir ist meine eigene Unabhängigkeit<br />

sehr wichtig, Loyalität und<br />

auf jeden Fall Humor!<br />

Wann habt ihr denn das letzte<br />

Mal gemeinsam gelacht?<br />

K: Eigentlich lachen wir ständig.<br />

Humor ist das, was uns verbindet.<br />

S: Stimmt – wir lachen sehr oft.<br />

Am meisten lache ich über meine<br />

eigenen Witze über Kirsten.<br />

Puki: Und wenn wir alle zu lauter<br />

Musik tanzen. Dann lachen wir auch<br />

immer viel.<br />

Wie sieht ein typischer Sonntag<br />

bei euch aus?<br />

S: Da sind wir meistens in unserem<br />

Landhaus in Brandenburg. Ich stehe<br />

ganz früh auf, während Kirsten und<br />

Puki lieber länger schlafen. Dann<br />

wandere ich um die zwei Seen vor<br />

unserer Haustür und gehe dann im<br />

eiskalten Wasser schwimmen. Anschließend<br />

bereite ich ein Frühstück<br />

für uns drei vor: zwei Eier im Glas<br />

mit Schnittlauch, Chili und Meersalz.<br />

Du kochst also gern, was sollte<br />

man in deinen Restaurants unbedingt<br />

probieren?<br />

S: Die Speisekarte im Pauly Saal ist<br />

sehr saisonal, weil wir die Produkte<br />

hauptsächlich aus dem Umland<br />

beziehen. Wild ist sehr beliebt, weil<br />

es das beste Bioprodukt ist, was<br />

man haben kann. Wir kaufen es bei<br />

unserem Nachbarn auf dem Land,<br />

der Jäger ist, und transportieren es<br />

dann nach Berlin. Und im Grill Royal<br />

den frischen Fisch.<br />

Wie sehen eure Arbeitszeiten aus?<br />

S: Von acht Uhr morgens bis ein Uhr<br />

nachts.<br />

P: Aber du bist doch nicht um acht<br />

Uhr im Büro!<br />

S: Wer hat heutzutage schon ein Büro?<br />

Wenn ich um acht Uhr einen Anruf<br />

kriege, muss ich natürlich rangehen.<br />

K: Unsere Arbeitszeiten sind sehr<br />

unterschiedlich. Dadurch, dass er<br />

Chef ist und ich freiberuflich arbeite,<br />

sind wir sehr flexibel. Einerseits<br />

kann man sich seine Zeit gut einteilen,<br />

aber auf der anderen Seite muss man<br />

rund um die Uhr erreichbar sein.<br />

Arbeitet ihr auch gemeinsam an<br />

Projekten?<br />

K: Momentan bauen wir das<br />

Landhaus aus. Es sind eher gemeinsame<br />

Hobbys, die wir haben. Es ist<br />

nicht so, dass wir eine Firma haben,<br />

aber irgendwie vermischt es sich<br />

ja doch alles. Man unterhält sich über<br />

anstehende Projekte, tauscht Ideen<br />

aus, spricht über Kunst. Unterstützt<br />

sich, aber nervt sich auch, wenn<br />

man mal etwas besser weiß als der<br />

andere.<br />

Knallt es dann auch mal?<br />

S: Über Kunst kann man nicht streiten.<br />

Man kann zwar verschiedener Meinung<br />

sein, was gut oder schlecht ist,<br />

aber das kann am Ende nur akzeptiert<br />

werden. Ich kann niemandem vorschreiben,<br />

die Kunst gut zu finden, die<br />

ich gut finde. Aber Kirsten und mein<br />

Geschmack ergänzen sich ganz gut.<br />

Kirsten, nach welchen Kriterien<br />

suchst du die Künstler für deine<br />

Galerie aus?<br />

K: Das ist tatsächlich sehr intuitiv. Ich<br />

mag besonders die Porträt- und<br />

Aktfotografie. Fotografen wie Ute<br />

Mahler oder Günter Rössler, die in der<br />

DDR gearbeitet haben, interessieren<br />

mich ganz besonders. Das hat mit<br />

meinem eigenen Background zu tun,<br />

ich bin in Rostock aufgewachsen.<br />

„ÜB<strong>ER</strong> KUNST<br />

KANN MAN SICH<br />

NICHT STREITEN“<br />

STEPHAN LANDWEHR<br />

Was hältst du von Plattformen wie<br />

Instagram – da ist ja quasi jeder<br />

Fotokünstler?<br />

K: Ich finde Instagram inspirierend<br />

und ein wichtiges Mittel unserer Zeit,<br />

das man nicht einfach so ignorieren<br />

kann. Ich bin allerdings eher zögerlich,<br />

aus allem gleich eine Ausstellung zu<br />

machen.<br />

Stephan, ist Mode für dich auch<br />

Kunst?<br />

S: Nein, auf keinen Fall. Kann es gar<br />

nicht sein, weil es schlichtweg ein<br />

Gebrauchsgegenstand ist. Architektur<br />

ist schließlich auch keine Kunst.<br />

K: Aber findest du nicht, dass die<br />

Kreation dahinter eine Form der Kunst<br />

ist? Wenn du dir z. B. die Entwürfe<br />

von Alexander McQueen anschaust,<br />

das sind doch unfassbare Skulpturen!<br />

S: Kunst dient aber nicht, während<br />

Kleidung nützlich ist. In Paris waren<br />

wir in der Alaïa-Austellung, die war<br />

schon beeindruckend. Diese Zeitdokumente,<br />

losgelöst von Körper und<br />

Mensch, könnte man als Kunst<br />

betrachtet. Im historischen Rückblick<br />

funktioniert es schon. Aber dann<br />

könnte auch ein Auto aus den<br />

70er-Jahren Kunst sein. Da hört man<br />

dann automatisch die Musik, die<br />

darin wahrscheinlich gespielt wurde,<br />

und wird für einen Moment schwach.<br />

Dieses Gefühl ist Kunst.<br />

Was bedeutet dir die Kleidung,<br />

die du trägst?<br />

S: Ich habe keinerlei Beziehung zu<br />

Mode.<br />

K: Das würde ich nicht sagen,<br />

schließlich trägst du ausschließlich<br />

maßgeschneiderte Anzüge – genau<br />

das ist Mode!<br />

S: Das liegt daran, dass ich es hasse,<br />

in Läden einzukaufen.<br />

Was macht guten Stil bei einem Mann<br />

aus?<br />

K: Er muss einfach seine Kleidung<br />

füllen. Das können auch Jeans und<br />

T-Shirt sein, aber es muss authentisch<br />

sein und die Ausstrahlung muss von<br />

innen kommen. Stephan scheint für<br />

mich im Anzug geboren zu sein.<br />

Wichtig ist auch, dass die Kleidung gut<br />

sitzt – egal ob Anzug oder Baggy-Jeans.<br />

Euch trennen 14 Jahre – ist der<br />

Altersunterschied ein Thema?<br />

K: Das Positive daran sind Stephans<br />

spannende Geschichten, insbesondere<br />

vom Berlin der 80er-Jahre. Er kam<br />

1983 nach Westberlin und hat die<br />

ganze Entwicklung der Stadt mitbekommen.<br />

Negativ ist, dass er immer<br />

so früh aufstehen muss.<br />

Puki, findest du es auch mal schwierig,<br />

in einer Patchwork-Familie zu leben?<br />

P: Nö!<br />

K: Erzähl mal, wie du lebst, Puki.<br />

P: Ich bin eine Woche bei Mama<br />

und eine Woche bei Papa, und am<br />

Wochenende bin ich meistens mit<br />

Stephan und Mama auf dem Land.<br />

Manchmal komm ich aber auch nicht<br />

mit, wenn ich keine Lust habe.<br />

Ist dein Verhältnis zu Stephan<br />

väterlich oder freundschaftlich?<br />

P: Auf jeden Fall väterlich.<br />

S: Braves Mädchen!<br />

K: Das ist aber wirklich so. Ich habe<br />

manchmal sogar das Gefühl,<br />

dass ich etwas außen vor bin, weil<br />

die beiden sich so gut verstehen.<br />

P: Am Anfang hatte ich noch Angst<br />

vor ihm, weil er so groß ist und so<br />

einen speziellen Humor hat. Aber jetzt<br />

ist alles super.<br />

Stephan, hast du dir eigene Kinder<br />

gewünscht?<br />

S: Es war nie so ein Thema für mich.<br />

Ausgeschlossen habe ich es nie,<br />

aber natürlich gehört auch immer<br />

die richtige Beziehung dazu.<br />

Was versucht ihr, Puki mit auf den<br />

Weg zu geben?<br />

K: Mir sind gute Umgangsformen<br />

wichtig. Wie sie ihr Besteck hält, dass<br />

sie gerade sitzt und beim Begrüßen<br />

aufsteht. Ansonsten versuche ich, ihr<br />

viele Freiheiten zu geben, weil ich<br />

selbst sehr unkonventionell aufgewachsen<br />

bin. Ich bin keine Mutter, die sagt:<br />

„Nicht soviel fernsehen!“ Ich finde,<br />

man sollte Kindern eher beibringen,<br />

Verantwortung zu übernehmen und<br />

herauszufinden, was gut für sie ist.<br />

S: Und keine Männer, bis sie 16 ist!<br />

94 Werk VI 95


AMORS<br />

HELF<strong>ER</strong><br />

Flirten. Für manche die einfachste Sache der Welt, für andere<br />

eine unlösbare Hürde auf der Suche nach der großen Liebe.<br />

Für Männer, die Frauen aus Fleisch und Blut kennenlernen wollen,<br />

es aber nicht schaffen, bietet die Flirtuniversity in Köln<br />

ein Wochenendseminar an. Wir waren dabei<br />

TEXT: ELSA SONNTAG<br />

ILLUSTRATION: TABEA BECK<strong>ER</strong><br />

Johann rennt über die Straße und erreicht die junge<br />

Frau gerade noch, bevor sie im Hauseingang verschwindet.<br />

„Hallo, ich heiße Johann. Ich hab dich<br />

gesehen und fand dich unglaublich süß. Ich musste<br />

dir das jetzt einfach mal sagen.“ Eine Situation wie aus einem<br />

Hollywood-Liebesfilm: Frau läuft nichtsahnend durch die<br />

Stadt und plötzlich taucht ihr Traumprinz auf und spricht sie<br />

an. Ganz so spontan war das bei Johann allerdings nicht. Er<br />

befindet sich mitten in einem Flirtcoaching-Seminar und hat<br />

vorher genau gesagt bekommen, was er tun muss. Er ist mit<br />

einem Mikrofon ausgestattet und wird heimlich gefilmt.<br />

Flirtcoaching-Seminar? Was bitte soll das denn sein? Wozu<br />

gibt es Tinder, Facebook und Parship? In Zeiten, in denen es<br />

völlig normal ist, seinen Partner mittels Onlinedating zu finden,<br />

scheint so eine Taktik völlig veraltet. Heute schickt man<br />

dem oder der Angebeteten eine Freundschaftseinladung oder<br />

schreibt eine Nachricht. Wenn nichts zurückkommt, dann war<br />

die Zurückweisung wenigstens digital und nicht echt. Doch<br />

was ist, wenn man keine Lust auf Onlinedating hat? Wenn<br />

man es ausprobiert hat und nur enttäuscht wurde? So geht es<br />

den sieben Männern, die an einem heißen Juniwochenende in<br />

Köln zusammenkommen, um das Flirten zu lernen.<br />

Gegründet wurde die Flirtuniversity 2012 von Alex Pareto<br />

und Horst Wenzel in Essen. Wenzel war vorher jüngster<br />

SPD-Ortsvereinschef in Westerfilde, Nordrhein-Westfalen.<br />

Er hat seine politische Karriere für den Job als Flirtcoach an<br />

den Nagel gehängt. Pareto hat bereits als Student eine eigene<br />

Internetfirma gegründet. Neben seiner Tätigkeit an der<br />

Flirtuniversity coacht er u. a. Mitarbeiter in großen Unternehmen<br />

im Bereich Persönlichkeitsentwicklung. Inzwischen<br />

bieten die beiden deutschlandweit an mindestens drei Wochenenden<br />

im Monat Flirtcoaching-Seminare an. Auch<br />

Stimmtraining, Einzel- und Stylecoaching kann man zusätzlich<br />

buchen. Pareto und Wenzel haben für ihre University<br />

ein klares Ziel definiert: den Männern und Frauen auf dieser<br />

Welt zu mehr „Liebe im Leben“ zu verhelfen. Potenzielle<br />

Kunden gibt es genug. Rund 20 Millionen Singles leben in<br />

Deutschland. 2013 hat das Online-Partnerportal elitepartner.de<br />

insgesamt 4.147 Alleinstehende nach dem Grund ihres<br />

Singlelebens befragt. Die Frauen gaben an, zu oft auf beziehungsunfähige<br />

Männer zu treffen. Und Männer sind<br />

schlichtweg zu schüchtern, um die richtige Frau anzusprechen.<br />

Diesen Männern wollen Pareto und Wenzel auf die<br />

Sprünge helfen.<br />

HINT<strong>ER</strong> JEDEM FLIRT<br />

STECKT EIN ABENTEU<strong>ER</strong><br />

„Natürlich begeistern“ lautet der Titel des Seminars in Köln.<br />

Vormittags um halb elf treffen die Teilnehmer in den Konferenzräumen<br />

ein. Alle sieben haben ein Problem: Frauen stellen<br />

immer höhere Ansprüche! Sie wollen einen Superman,<br />

der charmant, gutaussehend und auch noch erfolgreich im<br />

Beruf ist! Michael ist 47 und Kinderarzt. Eine gute Partie,<br />

könnte man meinen. Aber er schafft es einfach nicht, aus seiner<br />

Komfortzone, die aus Freunden, Familie und Beruf besteht,<br />

auszubrechen und Frauen kennenzulernen. Er sei kein<br />

Typ, der Frauen ansprechen kann, sagt er. Als er im Internet<br />

auf die Flirtuniversity stieß, dachte er sich, was soll schon<br />

passieren, einen Versuch ist es wert. Ralf, 32, erfolgreicher Ingenieur,<br />

findet sich immer wieder in der sogenannten Friendzone<br />

wieder: laut Wikipedia eine platonische Beziehung, in<br />

der eine Person, meist der Mann, sich irgendwann auch nach<br />

Romantik und Sex sehnt. Die andere Person jedoch nicht. „Es<br />

ist eine verkappte Männervorstellung, dass man mit einer<br />

Frau befreundet sein kann, bevor sie sich in einen verliebt“,<br />

sagt Coach Wenzel. Das passiere nur selten. „Mann muss seine<br />

Intention klar machen!“<br />

Patricks größter Wunsch wäre es, überhaupt mal in der<br />

Nähe einer Friendzone zu landen. Er ist 36, hatte noch nie<br />

eine Freundin und bisher nur Sex mit Prostituierten. Und der<br />

war nicht mal gut. Er packt offen sein Problem auf den Tisch.<br />

Patrick wünscht sich endlich Zufriedenheit in seinem Leben.<br />

„Was dich glücklich macht, sind deine Gedanken! Frauen<br />

merken eine positive Ausstrahlung. Wir werden das an diesem<br />

Wochenende bei euch schaffen“, versprechen die<br />

Coaches.<br />

ÜBEN AN D<strong>ER</strong> FALSCHEN<br />

FÜR DIE RICHTIGE<br />

Was alle sieben Männer gemeinsam haben, ist die Angst vor<br />

der Zurückweisung. Die Panik, abgelehnt zu werden, lähmt<br />

sie bei dem Versuch, Frauen anzusprechen. „Vor mir sitzen<br />

sieben Ferraris, aber ihr wisst es noch nicht!“, sagt Wenzel.<br />

Patrick unterbricht: „Ich will aber lieber ein Bugatti sein!“ An<br />

Motivation mangelt es nicht. Wäre auch fehl am Platz. Mit<br />

knapp 600 Euro ist die Teilnahme am Flirtseminar kein<br />

Schnäppchen. Wer das Geld ausgibt, macht also besser richtig<br />

mit. Nun geht es darum, Frauen in alltäglichen Situationen<br />

anzusprechen. „Motion creates emotion“, sagt Wenzel.<br />

„Und Frauen lieben Emotionen, denn sie handeln aus dem<br />

Bauch heraus.“ Schafft es der Mann, der Frau ein positives<br />

Gefühl zu geben, ist das Ziel des ersten Seminartages schon so<br />

gut wie erreicht: ihre Handynummer. „Der verbale Inhalt<br />

beim Ansprechen einer Frau wird total überschätzt. Viel<br />

wichtiger ist die Energie“, behauptet Wenzel. An diesem Wochenende<br />

werden die Männer also keine vorgefertigten Sprüche<br />

oder Fünf-Schritte-zum-Date-Formeln erhalten. Sie sollen<br />

ihre innere Einstellung ändern. „Wenn du denkst, dass<br />

das, was du sagst, das Coolste auf der Welt ist, dann ist es das<br />

Coolste auf der Welt!“, prophezeit Pareto.<br />

Wenn man ihn so sprechen hört, glaubt man ihm das auch.<br />

Er ist 31 Jahre jung, attraktiv, mit seinem Zahnpastalächeln<br />

bringt er sicher viele zum Grinsen. Ebenso Wenzel: Der<br />

26-Jährige könnte selbst den kältesten Eisblock zum Schmelzen<br />

bringen. Die beiden haben vereint einen Charme, der<br />

schon allerhand Frauenherzen gebrochen haben muss. Aber<br />

die Flirtprofis sind in festen Beziehungen. Offenen festen Beziehungen,<br />

wie sie betonen.<br />

Tag eins: Auf der Ehrenstraße, einer großen Fußgängerzone<br />

in Köln, werden die Teilnehmer frei laufen gelassen. Um<br />

warm zu werden, müssen sie in einer Minute so viele High-fives<br />

wie nur möglich sammeln. Danach sollen sie ausschwärmen,<br />

um fremden Menschen ein Kompliment zu machen.<br />

Um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen, sollen sie nun<br />

96 Werk VI 97


gezielt auf Frauen zugehen, ihren Namen herausfinden und<br />

welches Spielzeug sie als Kind am liebsten hatten. Das Coaching<br />

vorab lautet, den Frauen in die Augen zu schauen, sie<br />

anzulächeln und sich mit einem Händeschütteln vorzustellen.<br />

Denn mit einem Händeschütteln habe man schon zehn<br />

Prozent erreicht auf dem Weg zum Kuss. Der Kuss liegt bei<br />

100 Prozent. Für Karsten ein kaum vorstellbares Ziel. Karsten<br />

ist zwei Meter groß und war zehn Jahre Soldat in der<br />

Bundeswehr. Kontrolliert und kühl wirkt er. Nicht gerade<br />

eine anziehende Ausstrahlung. Auch Michael steht etwas<br />

verloren in der Gegend rum. „Je länger du wartest, umso<br />

größer wird die Angst vor der Zurückweisung! Du verpasst<br />

dein Leben“, motiviert Pareto. Michael spricht eine Frau an.<br />

Sie spielte am liebsten mit Barbies.<br />

Im Kopf des Mannes, so lernen die Seminarteilnehmer, arbeiten<br />

drei Menschen beim Flirt. Erstens: der Kreative. Er<br />

überlegt, mit welchem Kompliment oder welchem Satz er<br />

den Fokus der Frau auf sich zieht, zum Beispiel: „Ich habe<br />

dich gerade die Rolltreppe hochfahren sehen und musste dir<br />

jetzt sagen, wie schön du aussiehst.“ Zweitens: der Händler.<br />

Er ergreift die Initiative, wenn die Frau stehen geblieben ist.<br />

„Ein Gespräch ist wie ein Tennisspiel. Du musst immer wieder<br />

die Bälle einwerfen. Der Inhalt ist egal.“ Drittens: der Kritiker.<br />

Er ist in dem Moment der größte Feind. Er ist der innere<br />

Schweinehund: „Es gibt nicht nur einen Weg und es ist<br />

harte Arbeit. Aber jeder von euch kann flirten und jeder von<br />

euch wird Erfolg haben.“ Amen.<br />

SIE HATTE NUR<br />

NOCH SCHUHE AN<br />

Bevor es am Abend des ersten Seminartages auf die Piste<br />

geht, bekommen die Junggesellen ein paar Stylingtipps, die<br />

auch dringend benötigt werden. Der 26-jährige Christian studiert<br />

Maschinenbau. Nach der Trennung von seiner Freundin<br />

hat er 20 Kilo zugenommen. Dass T-Shirts nicht automatisch<br />

mitwachsen, wird ihm nun erklärt. Er macht beim<br />

Seminar mit, weil er nach seiner langjährigen Beziehung<br />

nicht mehr weiß, wie er Frauen ansprechen soll. In seiner Uni<br />

herrscht Männerüberschuss und Onlinedating kommt für<br />

ihn nicht infrage. Er hat nicht einmal ein Smartphone. Auch<br />

Patrick wird nahegelegt, dass seine Dieter-Bohlen-Gedächtnishose<br />

mit auffälligen Ziernähten die meisten Frauen schreiend<br />

in die Flucht schlagen wird.<br />

Gestylt geht es jetzt ins Partytreiben. Plan ist es, von Bar zu<br />

Bar zu ziehen und später in einem Club tanzen zu gehen.<br />

Aufgabe ist es, immer unter Menschen zu sein. Keiner soll<br />

allein in der Ecke stehen. Und natürlich die 100 Prozent: der<br />

Kuss einer Frau. Die Coaches sind jetzt nicht mehr zu halten.<br />

Sie erinnern an die energiegeladenen Häschen aus der Duracell-Werbung.<br />

Die Frau wird anvisiert und erobert – und im<br />

Schlepptau ist immer ein Kursteilnehmer. Starthilfe. Nachts<br />

um drei landet die Gruppe auf einer Schlagerparty. Zu Klassikern<br />

wie „Knallrotes Gummiboot“ oder „Das rote Pferd“<br />

wird auf der Tanzfläche alles gegeben. Doch nicht jeder lässt<br />

sich von der Musik mitreißen. Für Michael war es dann doch<br />

nicht die richtige Zielgruppe, ihm sind die Frauen zu jung.<br />

Ralf ist auf dem Weg verloren gegangen und Patrick traut<br />

sich einfach nicht, die Tanzfläche zu stürmen. Nach einer<br />

kurzen Aufmunterungs-Session der beiden Coaches tanzen<br />

dann doch alle im Kreis zu Mickie Krauses Hit „Sie hatte nur<br />

noch Schuhe an“. Außer Mirko. Am Morgen hatte der<br />

35-Jährige noch erklärt, sein größtes Ziel wäre es, überhaupt<br />

eine Frau anzusprechen. Jetzt hat er die 100 Prozent erreicht.<br />

Zärtlich schmust er auf der Tanzfläche mit einer hübschen<br />

Blondine.<br />

MUTIG SEIN HEISST, ANGST ZU HABEN<br />

UND ES TROTZDEM ZU V<strong>ER</strong>SUCHEN<br />

Sonntag. Am zweiten Tag des Seminars wird es noch mal ernst.<br />

Es geht um Persönlichkeitsentwicklung. Negative Erfahrungen<br />

in der Vergangenheit könnten das Verhalten der Männer gegenüber<br />

Frauen ein ganzes Leben lang beeinflussen, sagt Pareto:<br />

„Dein persönliches Glück kann sich nur durch deine innere<br />

Einstellung ändern.“ Es gehe darum, im Hier und Jetzt zu leben<br />

und seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Jeder müsse<br />

in sich gehen und überlegen: Was genau will ich und was erwarte<br />

ich von einer Frau? „Andere zu erkennen ist Intelligenz.<br />

Sich selbst zu erkennen ist wahre Weisheit.“<br />

Auch die beiden Coaches mussten erst ihre innere Einstellung<br />

ändern, um Erfolg bei Frauen zu haben. Wenzel wurde<br />

lange wegen seines Namens gehänselt, Pareto war als Nerd<br />

verschrien. Ihr Talent, Frauen um den Finger zu wickeln, entstand<br />

durch den Willen, aus diesen Außenseiterrolle auszubrechen.<br />

Wie sie das geschafft haben, wollen sie in ihrer<br />

Flirtuniversity an Bedürftige weitergeben.<br />

Die Teilnehmer haben nun drei Minuten Zeit, um sich zu<br />

überlegen, wie ihr Wunschleben in drei Jahren aussehen soll.<br />

Alle sieben sehen sich mit einer festen Partnerin. Hier wird<br />

noch einmal klar: Diese Männer sehnen sich nach Liebe. Das<br />

Verlangen nach Zweisamkeit treibt sie an. Verkabelt und mit<br />

Kamera ausgestattet startet die Gruppe am Nachmittag nach<br />

draußen, um das Erlernte der letzten 24 Stunden anzuwenden.<br />

Die Kameraaufnahmen dienen der späteren Videoanalyse.<br />

Patrick wird auf eine junge Frau angesetzt, die in den Augen<br />

aller anderen eine „Granate“ ist. Zielstrebig spricht er sie an. In<br />

dem Moment, in dem er nach ihrer Nummer fragt, taucht ihr<br />

Freund auf. Dass Patrick nun überhaupt den Mut besitzt, eine<br />

Frau anzusprechen, grenzt an ein Wunder. Am Ende des Tages<br />

gehen alle mit mindestens einer Handynummer nach<br />

Hause. Außer Johann, der sogar ein Date mit der jungen Frau<br />

hatte, der er hinterherrennen musste. Mehr Liebe im Leben.<br />

Zumindest für zwei Tage haben die Flirtcoaches Wenzel und<br />

Pareto ihr Ziel erreicht.<br />

Flirttrainer Horst<br />

Wenzel (r.)<br />

und Alex Pareto<br />

verhelfen verzweifelten<br />

Singlemännern<br />

zu<br />

neuem Liebesglück<br />

FOTOS: ARTHUT PLUTA<br />

98 Werk VI 99


Torstrasse 74<br />

Berlin Germany<br />

no74-berlin.com<br />

42 Rue de Sévigné<br />

Paris France<br />

no42-paris.com<br />

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