April 2013 - Theater St. Gallen
April 2013 - Theater St. Gallen
April 2013 - Theater St. Gallen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Trug und Selbstbetrug<br />
Terzett im <strong>April</strong><br />
«Kassandra, die Ahnungsvolle, die scheinbar<br />
Warnende und nutzlos Warnende, ist sie immer<br />
ganz unschuldig an dem Unheil, das sie<br />
vorausklagt?», fragt Max Frisch in seinem<br />
Tagebuch. «Irgendeine fixe Meinung unsrer<br />
Freunde, unsrer Eltern, unserer Erzieher,<br />
auch sie lastet auf manchem wie ein altes<br />
Orakel. Ein halbes Leben steht unter der<br />
heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt<br />
es sich nicht? Mindestens die Frage ist uns<br />
auf die <strong>St</strong>irne gebrannt, und man wird ein<br />
Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung<br />
bringt. Dabei muss es sich durchaus nicht im<br />
geraden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch<br />
zeigt sich der Einfluss, darin, dass man so<br />
nicht sein will, wie der andere uns einschätzt.<br />
Man wird das Gegenteil, aber man wird es<br />
durch den andern.»<br />
So kämpfen die Söhne von Willy Loman<br />
im Tod eines Handlungsreisenden verzweifelt<br />
gegen das Bild an, das sich der Vater einst<br />
von ihnen gemacht hat. Längst in die Jahre<br />
gekommen, sollen Biff und Happy noch immer<br />
den unerfüllten Traum vom Erfolg einlösen.<br />
Für jede Diskussion über die triste<br />
Wirklichkeit ist in dieser Familie kein Platz.<br />
Längst werden Erfolge mit ganz anderen<br />
Werten gemacht als mit jenen, an die Willy<br />
Loman glaubt. Sinnbild der vergangenen<br />
Zeit ist seine Gartenoase, die er liebevoll zu<br />
retten versucht: Inzwischen werfen die Betonhochhäuser<br />
der Umgebung ihre langen<br />
Schatten in die einstige Idylle, hier wächst<br />
schon lange nichts mehr. Irgendwo zwischen<br />
Lüge und Selbstbetrug wird in diesem modernen<br />
Klassiker zur veränderten Wirtschaftslage<br />
der 1950er-Jahre eine ganze Familie<br />
zerstört.<br />
«Wir sind noch lange nicht bereit, unsere<br />
Vorstellungen aufzugeben. Wir selber sind<br />
die letzten, die sie verwandeln. Wir halten<br />
uns für den Spiegel und ahnen nur selten,<br />
wie sehr der andere seinerseits eben der<br />
Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes<br />
ist, unser Erzeugnis, unser Opfer», schreibt<br />
Max Frisch weiter in seinem Tagebuch.<br />
In unserer zweiten Schauspielproduktion,<br />
die im <strong>April</strong> Premiere haben wird,<br />
droht dem Käthchen von Heilbronn ebenfalls<br />
die Gefahr, Opfer erstarrter Vorstellungen<br />
zu werden.<br />
In der Figur der scheinbar reinen Unschuld<br />
verbirgt sich jedoch ein durchaus<br />
kämpferischer Charakter: Allen Schmerzen<br />
zum Trotz folgt das Mädchen einer Liebe, die<br />
ihr im Traum erschienen ist. Immer neue<br />
Schläge muss sie ertragen, wenn sie dem angebeteten<br />
Menschen begegnet; nur im halbwachen<br />
Zustand ist eine Annäherung möglich.<br />
Bis Graf Wetter vom <strong>St</strong>rahl erkennt,<br />
wen er da vor sich hat. Aber erkennt er sie<br />
wirklich?<br />
Für Max Frisch birgt die Illusion der Liebe<br />
meist schon die Katastrophe in sich:<br />
«‹Du bist nicht›, sagt der Enttäuschte<br />
oder die Enttäuschte, ‹wofür ich dich gehalten<br />
habe.› Und wofür hat man sich denn gehalten?<br />
Für ein Geheimnis, das der Mensch<br />
ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das<br />
auszuhalten wir müde geworden sind. Man<br />
macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose,<br />
der Verrat.»<br />
Karoline Exner<br />
Schauspieldramaturgin<br />
—<br />
4 In der Lokremise<br />
Das Käthchen von Heilbronn<br />
6 Tanz-Premiere<br />
Lovesongs – kein Kuschelrock!<br />
8 Ariadne auf Naxos<br />
Oper von Richard <strong>St</strong>rauss<br />
9 Festspieldetail 4°<br />
11 Kleinveranstaltungen<br />
12 Aus dem Blickwinkel der Presse<br />
15 <strong>Theater</strong> zum Mitmachen<br />
16 Sinfonieorchester<br />
Schweizer Musik(er)<br />
18 Kunstverein<br />
Filipa César – Single Shot Films<br />
20 Veranstaltungsübersicht<br />
—<br />
Titelbild: Daniel Corrales Alvarez und Cecilia Wretemark im getanzten Schauspiel<br />
Die <strong>St</strong>unde da wir nichts voneinander wussten.<br />
Foto: T+T Fotografie / Tanja Dorendorf<br />
3