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ROAD TRIP<br />
meine Arme und Beine zappelten ständig<br />
in der Luft, um die hinter mir fahrende<br />
Amanda vor irgendetwas zu warnen.<br />
Als Neu-Delhi bereits weit hinter uns<br />
lag, pendelte sich unsere<br />
Reisegeschwindigkeit bei etwa 50 Meilen<br />
in der Stunde ein. Wir kamen gut voran,<br />
und darum konnten wir es uns erlauben,<br />
ein paar Fotos von den vielen kleinen<br />
Tempeln zu schießen, die wir entlang<br />
der Straße sahen. Wo auch immer wir<br />
anhielten, wurden wir sofort von einer<br />
Traube junger Männer umringt, die unsere<br />
Bikes aus der Nähe sehen wollten. Shige<br />
schaltete die Stereoanlage seiner Street<br />
Glide ein. Amanda und ein kleiner Junge<br />
begrüßten sich mit einem „High Five“.<br />
Und ein paar von uns hatten Ihre erste<br />
Begegnung mit einer indischen<br />
Tankstellentoilette…<br />
Nach ein paar Stunden auf der<br />
verstopften und chaotischen Straße<br />
näherten wir uns schließlich Agra. Es<br />
wurde immer heißer, und in der Luft<br />
hingen Staubwolken. Etwas früher als<br />
geplant und auf besseren Straßen als<br />
erwartet passierten wir um 9:45 Uhr die<br />
große Tafel mit der Aufschrift „Agra“.<br />
Keine fünf Meilen mehr bis zum<br />
Eingang des Tadsch Mahal! Und doch<br />
war es fast schon Mittag, als wir endlich<br />
dort ankamen.<br />
Das größte Hindernis zum Palast war<br />
die Stadt selbst. Während das Bild des<br />
Tadsch Mahal Assoziationen wie Ruhe,<br />
Anmut, Schönheit und symmetrische<br />
Vollendung hervorruft, ist Agra –<br />
zumindest für jemand, der die Stadt<br />
schnell mit seiner <strong>Harley</strong> passieren<br />
möchte – das genaue Gegenteil. Während<br />
wir uns den Weg durch das Chaos aus<br />
Menschen, Tieren und Maschinen<br />
bahnten und dabei versuchten, in dem<br />
Gewimmel nicht den Anschluss an das<br />
Lotsenfahrzeug zu verlieren, kamen<br />
wir uns vor wie echte Straßenkämpfer.<br />
Unsere erste Schlacht von Agra dauerte<br />
fast eine ganze Stunde.<br />
Als wir etwa eine Meile vor dem<br />
Tadsch von unseren Bikes stiegen,<br />
glaubten wir, wir hätten es geschafft.<br />
Aber die nächste große Herausforderung<br />
wartete schon auf uns – in Gestalt<br />
unzähliger indischer Fremdenführer,<br />
die ihre eigene Schlacht austrugen: die<br />
Schlacht um unsere Brieftaschen. Der<br />
Aufruhr, den wir mit unseren Bikes<br />
und durch die Anwesenheit einer<br />
motorradfahrenden Frau mit blonder<br />
Kurzhaarfrisur verursachten, ließ uns<br />
fürchten die Situation könne jeden<br />
Augenblick außer Kontrolle geraten.<br />
Schnell verschwanden wir im Eingang<br />
eines westlichen Hotels.<br />
Schmutzig und staubig wie wir<br />
waren, saßen wir auf weißen Stühlen<br />
in der Empfangshalle mit weißem<br />
Marmorboden, edlen Wandverhängen<br />
und Glasvitrinen mit sündhaft teurem<br />
Schmuck und nuckelten schweißgebadet<br />
an unseren Colas.<br />
Mittlerweile war es 11 Uhr. Wir<br />
erinnerten uns daran, dass wir vor<br />
Einbruch der Dunkelheit wieder in<br />
Neu-Delhi sein wollten, und wir<br />
wussten, dass wir dazu die zweite<br />
Schlacht von Agra überstehen mussten.<br />
Aber das Tadsch war nur eine Meile<br />
entfernt, und aufgeben wollten wir nicht.<br />
Ein weiteres Mal stürzten wir uns in das<br />
Verkehrsgewimmel von Agra, nun aber<br />
nicht auf unseren <strong>Harley</strong>s, sondern die<br />
letzte Meile legten wir in einem winzigen<br />
gasbetriebenen Dreiradtaxi zurück.<br />
Die riesigen Eingangstore und Plätze<br />
rund um das Tadsch Mahal sind so<br />
angelegt, dass sie das mystische Bauwerk<br />
genau bis zum letzten Moment vor den<br />
Blicken der Besucher verbergen. Als wir<br />
das aus rotem Stein gebaute Tor<br />
passierten, fühlte es sich an wie ein<br />
Zeitsprung in die Vergangenheit – und<br />
wir waren Zeitreisende in verschwitzten<br />
<strong>Harley</strong> T-Shirts. Endlich rückte die riesige<br />
Kuppel mit ihren Türmchen in unser<br />
Blickfeld. Wir waren überwältigt von<br />
ihrem Anblick.<br />
Was dem Betrachter zuerst auffällt,<br />
ist die enorme Helligkeit des Gebäudes.<br />
Der 450 Jahre alte Bau sieht so sauber<br />
und strahlend aus, als hätte man ihn eben<br />
erst errichtet. Wir liefen ihm entgegen,<br />
kreuz und quer durch Gärten, an Teichen<br />
vorbei, die absolut symmetrisch und<br />
unbewegt den strahlend weißen Palast<br />
und seine Minarette widerspiegeln. Als<br />
wir ihn schließlich betraten, waren wir<br />
von seiner Schlichtheit mehr als<br />
beeindruckt: ein für die beiden Särge von<br />
Mutter und Kind geschaffenes Grabmal<br />
aus weißem Marmor, das im Vergleich<br />
zur imposanten Fassade des Bauwerks<br />
geradezu intim wirkt, ein Ort, an dem<br />
Zeit keine Rolle mehr spielt.<br />
54 HOG ® Herbst 2010