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Qindie-Mag Traum und Trauma.pdf

Das erste Qindie-Magazin Herbst 2014

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Herbst 2014

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konnte, ob er lachen oder einen seiner endlosen Vorträge halten sollte, die mit<br />

»Ich verstehe dich nicht«, begannen <strong>und</strong> mit »Ich verstehe dich einfach nicht«<br />

endeten. Er entschloss sich ür Möglichkeit drei <strong>und</strong> ignorierte, was ich gesagt<br />

hatte.<br />

»Was gibt’s zu essen?«, fragte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr <strong>und</strong><br />

verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, in seinem Hobbykeller. Dort würde<br />

er bleiben, bis ich ihn zu Tisch rief. Ich fragte mich, was wohl passieren würde,<br />

wenn ich ihn einfach nicht riefe. Käme er von alleine wieder raus oder bliebe er<br />

einfach dort unten, bis er verhungert wäre? Ich sah Werner nach.<br />

Und wieder war er da, ganz schemenhaft nur, kaum zu spüren. Er hüpfte von<br />

Grashalm zu Grashalm. Plusterte sich auf <strong>und</strong> machte sich klein. Zog sich in die<br />

Länge, schnalzte mit einem fröhlichen Plopp an den Birnbaumstamm, prallte ab<br />

<strong>und</strong> kugelte in die Kirchgasse. Er wollte, dass ich ihn wiederfinde. Unbedingt.<br />

Es heißt, wenn man etwas verloren hat, soll man dorthin zurückgehen, wo<br />

man es das letzte Mal bewusst gesehen hat. Ich hatte ihn hier im Garten verloren,<br />

aber wo war er das letzte Mal greifbar gewesen? Also ging ich zurück. Und<br />

ich ging nicht nur zurück, ich ging rückwärts. Zuerst hatte ich etwas Probleme<br />

damit, die Richtung zu halten, aber mit ein wenig Übung klappte das ganz<br />

hervorragend.<br />

Am Ende der Kirchgasse begegnete mir Frau Rössel. Sie trug einen vollen<br />

Einkaufskorb <strong>und</strong> schien ziemlich gestresst zu sein, ihren geröteten Wangen<br />

nach zu urteilen.<br />

»Sophie? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie mich, mit einem Blick auf<br />

meine roten Hausschuhe <strong>und</strong> die Blümchenschürze. Und ich lachte <strong>und</strong> winkte<br />

<strong>und</strong> beteuerte ihr, dass es mir nie besser gegangen war. Und das stimmte auch.<br />

Es war ein merkwürdiges Erlebnis, sich rückwärts zu bewegen. Man ging nicht<br />

auf die Häuser <strong>und</strong> Menschen zu, man entfernte sich von ihnen <strong>und</strong> doch ging<br />

man immer weiter. Ich ging immer weiter, die anderen blieben zurück. Die Stadt<br />

blieb zurück.<br />

Ich gelangte auf den Marktplatz, ging zum Gemüsestand, an dem ich am<br />

Morgen Tomaten <strong>und</strong> Wirsing gekauft hatte, <strong>und</strong> blieb vor der Auslage stehen.<br />

Ich wartete, ob er sich zeigt. Ob er sich hier versteckt hatte. Ich stocherte in den<br />

Kohlköpfen <strong>und</strong> stapelte Äpfel, Birnen <strong>und</strong> Tomaten von links nach rechts. Von<br />

oben nach unten. Nichts.<br />

Die Marktfrau schnaubte theatralisch <strong>und</strong> setzte an, mich zu schelten, ihr<br />

Obst <strong>und</strong> Gemüse nicht zu zerdrücken.<br />

»Ich kann ihn nicht finden«, sagte ich <strong>und</strong> sah sie hilfesuchend an.<br />

»Was denn?«, fragte sie. »Haben Sie etwas verloren?«<br />

»Einen Gedanken. Ich hatte ihn fast <strong>und</strong> dann war er weg.«<br />

»Geht’s Ihnen gut?« Ihre Stimme klang jetzt wirklich ein wenig besorgt. »Soll<br />

ich vielleicht jemanden ür Sie anrufen?«

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