eisefreude ¡ BAILAMOS! Alle Ungereimtheiten, die verborgenen und offenen Sehnsüchte, die Nöte, die Fragen nach dem Woher, die nie erfüllten Träume und die wirre politische Geschichte der Stadt vereinen sich im Tango. Wie Paris den Eiffelturm, Rom das Kolosseum, Wien das Riesenrad und den Donauwalzer als Wahrzeichen haben, so hat, nein ist Buenos Aires – Tango. Die Nacht gehört den Tangotänzern. Sinnlichkeit und Erotik entstehen im Augenblick des Tanzes und verflüchtigen sich mit dem letzten Takt. 106 UBI BENE UBI BENE 107
eisefreude Buenos Aires posiert nicht, lockt nicht, macht sich nicht dem touristischen Blick gefällig. Die Stadt fasziniert: mit welcher Selbstverständlichkeit sie Rationalität, Hektik, Brutalität mit südlich inspirierter Lebensart und Erotik mischt, wie sie nach Kunst giert und gleichzeitig im banalen, schmutzigen Alltag erstickt. In der Stadt triumphieren die Kontraste: Auf noble Villen des französischen Klassizismus schauen kühle Bürotürme oder einfallslose Wohnnadeln, um einen riesigen Park mit uralten Ficusbäumen führen sechs- und mehrspurige Straßen und die Abgaswolken verblauen Blick und Luft. Die Stadt stellt ihre Schönheit dauernd in Frage, scheint sie zerstören zu wollen, um sie im nächsten Augenblick neu zu schaffen. Hoch und niedrig, Dekor und Schmucklosigkeit, Prunk und Armut, Grau und Farbenfreude mischen sich zu einem ständig sich ändernden Kaleidoskop. Auge und Hirn haben keine Zeit, fixe Bilder oder Vorstellungen festzumachen. Die Menschen rennen, schwellen zu rollenden Wogen an, verharren kurz an Kreuzungen, stehen geduldig Schlange vor Bushaltestellen und Bankschaltern, wirken ungeschützt wie Ameisen. Die Stadt dehnt sich weit in die Pampa hinaus, die Ränder fransen aus. Zwölf Millionen Menschen nennen sich „Portenos“, Bewohner von Buenos Aires. La Caminada – das Gehen Buenos Aires kommt nie zur Ruhe, auch nicht in der Nacht. Der Puls der Stadt rast vierundzwanzig Stunden auf Hochtouren. In keinem Lokal wird vor 21 Uhr serviert, man sitzt bis Mitternacht und isst, dann gehen die Tanzlustigen in eine Milonga, wie sie die Tangolokale nennen, tanzen bis drei Uhr morgens, nehmen ein frühes Frühstück im Café Las Violetas oder Dorrego, ein kurzer Schlaf, und schon stürzt man sich in den nächsten Tag. Eduardo Saucedo zählt zu den besten Tangotänzern von Buenos Aires. Zugleich ist er auch ein einfühlsamer und geduldiger Lehrer. Mit ihm den Tango tanzen heißt, vieles über Bord zu werfen, was man sich landläufig unter Tango vorstellt. Keine ruckartigen Bewegungen, ruhiger werden, die Pausen spüren, mit fließenden, langen Schritten gehen, seinem Körper folgen. Er spricht vom Gleichgewicht, dem inneren und äußeren, der Balance. „Tango ist wie miteinander schwimmen, miteinander im Gehen verschmelzen. In der Caminada erobern wir uns den Raum, gestalten uns die Welt“, interpretiert er seine Tango- und Weltsicht, die eng miteinander verknüpft sind: „Wer Buenos Aires kennen lernen will, der muss die endlosen Straßen abgehen. Mit weit ausholenden Schritten, aus der Hüfte heraus, den Oberkörper gerade.“ Gehen durch die Avenida 9 de Julio. Durch die breiteste Straße der Welt. Immer beherrschen Reklameschilder den Blick. Zwischen Hotelhochbauten, Cafés und Schnellimbiss hie und da eine Villa im französischen Stil. Mitten in den sechzehn Fahrspuren der Obelisk, das Symbol der Freiheit. Von der Terrasse des Hotels „Panamericano“ im 23. Stock hat man einen grandiosen Überblick und beginnt etwas von den ungeheuren Dimensionen und der Dynamik dieser La Boca, einst das Armenviertel der Emigranten aus Europa, hat sich zum Tourismushighlight entwickelt. Palermo (rechte Seite) ist eines der ältesten Stadtviertel von Buenos Aires. Stadt zu ahnen. Ein strahlendes Abendlicht legt sich über die Monsterstadt und verwandelt die Konturen der Hochhäuser zu scharfen, in den Himmel stechenden Skulpturen, Riesennadeln, zwischen denen sich die kleineren Häuser zu behaupten versuchen. Und im Süden der braunsilbrige Rio de la Plata, ohne Horizont. Ein Fluss breit wie ein Meer. Wenn die Sonne untergeht, werden die Reklameschilder in der schwarzen Silhouette der Stadt zu leuchtenden Dekors. Darüber tiefrote Wolkenfetzen. Die Stadt der Heimatlosen „Tango ist Mystik, in ihm vermischt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart. Er ist die Heimat für uns, die wir alle aus verschiedenen Heimaten kommen. Im Tango spielen die Gauchos ihre Melodien aus der Pampa, die Einwanderer ihre Erinnerungen an Europa. Tango ist die Sehnsucht nach unseren Wurzeln und Inspiration für Neues“, beschreibt Eduardo den Tango und die Stadt. Wer den Tango begreift, begreift das zentrale Thema aller Portenos. Es ist die Frage nach der Herkunft. Sie stellt sich im Tango, in der bildenden Kunst und in der Architektur. Die Antworten sind so verschieden wie die einzelnen Viertel der Stadt: Da gibt es Palermo, das heimelige Quartier der Italiener, Jungdesigner und Revoluzzerjuppies. Oder Retiro mit seinen kühnen, in die Höhe strebenden Bürotürmen, Zeichen eines sehr schwankenden wirtschaftlichen Aufstieges. Ricoleta, faszinierend wegen seiner Mischung aus Billigtrödel, ausgebreitet auf den Holztischen im großen Park vor dem Friedhof, und Edeltrödel mit Prada-, Gucci- oder Armani- Emblem. La Boca, das zur Tourismusattraktion aufgestylte Viertel der Armen. San Telmo, wo die passionierten Tangueros auf der Plaza Dorrego tanzen. Ein Spiegelbild der in sich so disparaten Stadt ist La Boca. In diesem Viertel hatten die ersten Auswanderer aus Italien gelebt, ihr Leben als Hafenarbeiter gefristet, aus Wellblech ihre Hütten gebaut und mit buntem Schiffslack bestrichen. Ihr mieses Leben malten sie auf die Wände und tanzten ihre Sehnsucht und Traurigkeit im Tango aus. An Straßenecken, in Cafés und Wirtshäusern. Aus dieser Vergangenheit hatten tüchtige Geschäftemacher eine bunte, geisterbahnähnliche Touristenattraktion gemacht. Im „Caminito“, der vielleicht berühmtesten Tangobar der Stadt, posieren Tangueros für Geld. Der von allen verehrte Tangosänger Carlos Gardel winkt von einem Balkon, neben ihm Evita Peron und Maradona, alle aus Gips. Maler produzieren gefällige Tangobilder, aus den Cafés klingen flehende Tangos. Hinter den von Polizisten gut bewachten Straßen beginnt das andere La Boca. Da ist das Leben, wie es immer war und ist: quirlig, prall, laut, mit Kinderlachen und Frauentratschen, und Männern, die schweigen, Männern, die auf Arbeit warten, Jugendlichen, die nach fremden Geldbörsen schielen. Tango und Gardel? – Nein, hier nicht, sie haben andere Sorgen. Buenos Aires lebt in einer kulturellen Diskontinuität und hat noch keine eigene Richtung gefunden. Diesen Stilmix kann man als „ Wenn Sie uns fragen, ist bei Kunst eigentlich alles erlaubt. Nur keine Langeweile. “ arthea Karl Schwarzenberg Numerische Reihen 1998 (Detail), Öl auf Leinwand 200 x 200 cm arthea galerie am rosengarten Dorothea Gänzler Stresemannstraße 4 68165 Mannheim fon 0621 | 1679292 fax 0621 | 1679293 mail@arthea.de www.arthea.de Di, Do, Fr 14 bis 18.30 Uhr Sa 12 bis 16 Uhr 108 UBI BENE UBI BENE 109