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Aristoteles in Stichworten

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Rph II 1<br />

WS 05/06<br />

Prof. Dr. D. Klesczewski<br />

Quellentexte<br />

<strong>Aristoteles</strong><br />

1. „Jedes praktische Können … strebt nach e<strong>in</strong>em Gut, … Da es aber viele Formen des Handelns,<br />

des praktischen Könnens und des Wissens gibt, ergibt sich auch e<strong>in</strong>e Vielzahl von Zielen …<br />

Überall nun, wo solche »Künste« e<strong>in</strong>em bestimmten Bereich untergeordnet s<strong>in</strong>d …, da ist<br />

durchweg das Ziel der übergeordneten Kunst höheren Ranges als das der untergeordneten: um<br />

des ersteren willen wird ja das letztere verfolgt. (…) Wenn es nun wirklich für die<br />

verschiedenen Formen des Handelns e<strong>in</strong> Endziel gibt, das wir um se<strong>in</strong>er selbst willen erstreben,<br />

…, dann ist offenbar dieses Endziel »das Gute« und zwar das oberste Gut.“ Nikomachische<br />

Ethik, Buch I, Kapitel 1, NE I 1.<br />

2. „Wenden wir uns nun wieder zurück zu dem Gut, dem unser Fragen gilt, und suchen se<strong>in</strong><br />

Wesen zu bestimmen. … Welches ist nun das eigentliche Gut e<strong>in</strong>er Jeden? … Es gibt<br />

offenkundig mehrere Ziele. Manche wählen wir um weiterer Ziele willen, z.B. Geld, Flöten,<br />

überhaupt Werkzeuge. Nicht alle Ziele also s<strong>in</strong>d Endziele. Das oberste Gut aber ist zweifellos<br />

e<strong>in</strong> Endziel. … Und als vollkommen schlechth<strong>in</strong> bezeichnen wir das, was stets re<strong>in</strong> für sich<br />

gewählt wird und niemals zu e<strong>in</strong>em anderen Zweck. Als solches Gut aber gilt <strong>in</strong><br />

hervorragendem S<strong>in</strong>ne das Glück.“ NE I. 5.<br />

3. „Vielleicht ist aber die Gleichsetzung von Glück und oberstem Gut nur e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>platz und es<br />

wird e<strong>in</strong>e noch deutlichere Antwort auf die Frage nach se<strong>in</strong>em Wesen gewünscht. Dem kann<br />

entsprochen werden, <strong>in</strong>dem man zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigentümliche<br />

Leistung ist. (…) Die bloße Funktion des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen<br />

eigen. (…)Als nächstes käme dann das Leben als S<strong>in</strong>nesempf<strong>in</strong>dung. Doch teilen wir auch<br />

dieses geme<strong>in</strong>sam mit … jeglichem Lebewesen. So bleibt schließlich nur das Leben als Wirken<br />

des rationalen Seelenteils. (…)… setzen wir als … Inhalt e<strong>in</strong> Tätigse<strong>in</strong> und Wirken der Seele,<br />

gestützt auf e<strong>in</strong> rationales Element, als Leistung des hervorragenden Menschen dasselbe, aber <strong>in</strong><br />

vollkommener und bedeutender Weise, und nehmen wir an, daß alles se<strong>in</strong>e vollkommene Form<br />

gew<strong>in</strong>nt, wenn es sich im S<strong>in</strong>ne se<strong>in</strong>es eigentümlichen Wesensvorzugs entfaltet, so gew<strong>in</strong>nen<br />

wir schließlich als Ergebnis: das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als e<strong>in</strong><br />

Tätigse<strong>in</strong> der Seele im S<strong>in</strong>ne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit.“ NE I. 6.<br />

4. „Nachdem das Glück e<strong>in</strong> Tätigse<strong>in</strong> der Seele ist im S<strong>in</strong>ne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit,<br />

haben wir nunmehr die »Tüchtigkeit« zu betrachten. (…) »Tüchtigkeit des Menschen« bedeutet<br />

nicht die des Leibes, sondern die der Seele … (…) E<strong>in</strong> Teil nun des Irrationalen ist (allem<br />

Lebenden) geme<strong>in</strong>sam und hat vegetative Wirksamkeit, ich me<strong>in</strong>e die Ursache von Ernährung<br />

und Wachstum, … (…) Nun gibt es aber e<strong>in</strong>e zweite Naturanlage der Seele, irrational auch sie,<br />

aber irgendwie doch teilhabend an dem rationalen Element. Wir treffen sie an bei dem<br />

beherrschten wie auch bei dem unbeherrschten Menschen. (…) Geradeso ist es bei der Seele: da<br />

wenden sich die Triebe des Unbeherrschten <strong>in</strong> die dem Rationalen entgegengesetzte Richtung.<br />

(…) Am Rationalen sche<strong>in</strong>t auch dieses teilzuhaben, … Jedenfalls leistet es beim beherrschten<br />

Menschen dem rationalen Elemente Gehorsam. (…) So hat sich denn erwiesen, daß (gleich der<br />

ganzen Seele) auch das Irrationale zweifacher Art ist: da ist erstens die vegetative Grundlage,<br />

die ke<strong>in</strong>erlei Anteil hat am Rationalen, und zweitens das Begehrungsvermögen … Dieses hat <strong>in</strong><br />

bestimmter Weise Anteil am rationalen Element … Nach dieser Unterscheidung wird nun auch<br />

die sittliche Trefflichkeit unterteilt. Wir sprechen nämlich teils von Vorzügen des Verstandes<br />

(dianoёtsche), teils von Vorzügen des Charakters (ethische). Die Weisheit (des Philosophen),<br />

Intelligenz und sittliche E<strong>in</strong>sicht s<strong>in</strong>d Verstandesvorzüge, Großzügigkeit und Besonnenheit s<strong>in</strong>d<br />

Charakterwerte.“ NE I. 13.<br />

5. „Der Teil der Philosophie, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht wie die anderen re<strong>in</strong><br />

theoretisch - wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei,<br />

sondern um wertvolle Menschen zu werden. Sonst wäre dieses Philosophieren ja nutzlos. Daher<br />

müssen wir unser Augenmerk auf das Gebiet des Handelns richten …. (…) Als erste Erkenntnis<br />

nun ist festzuhalten die, daß alles was irgendwie e<strong>in</strong>en Wert darstellt, se<strong>in</strong>er Natur nach durch<br />

e<strong>in</strong> Zuviel oder e<strong>in</strong> Zuwenig zerstört werden kann. (…) Übermaß <strong>in</strong> Speise und Trank richtet<br />

die Gesundheit ebenso zugrunde wie Unterernährung, während e<strong>in</strong> richtiges Maß sie erzeugt,<br />

steigert und erhält. Dasselbe ist nun der Fall bei der Besonnenheit, der Tapferkeit und den<br />

übrigen Wesensvorzügen. Wer vor allem davonläuft und sich fürchtet und nirgends ausharrt,


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wird e<strong>in</strong> Feigl<strong>in</strong>g. Wer überhaupt vor nichts Angst hat und auf alles losgeht, der wird e<strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>nloser Draufgänger. (…) So meidet also jeder Sachkundige das Übermaß und das Zuwenig<br />

und sucht nach dem Mittleren und dieses wählt er, allerd<strong>in</strong>gs nicht das re<strong>in</strong> quantitativ Mittlere,<br />

sondern das Mittlere <strong>in</strong> der Beziehung auf uns. So ist denn die sittliche Tüchtigkeit e<strong>in</strong>e Art von<br />

Mitte, <strong>in</strong>sofern sie eben wesenhaft auf das Mittlere abzielt.“ NE II. 2.<br />

6. „Es genügt jedoch nicht diese allgeme<strong>in</strong>e Feststellung: man muß sie auch auf den E<strong>in</strong>zelfall<br />

anwenden. Denn bei ethischen Diskussionen s<strong>in</strong>d allgeme<strong>in</strong>e Aussagen verhältnismäßig leer,<br />

während die konkreten der Wahrheit näherkommen. Denn das Handeln besteht aus E<strong>in</strong>zelakten<br />

und mit diesen müssen die Aussagen im E<strong>in</strong>klang se<strong>in</strong>. (…) Bei der Gerechtigkeit … wollen wir<br />

nach der Untersuchung dieser D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>e Begriffsteilung vornehmen und dann von beiden<br />

Formen der Gerechtigkeit sagen, <strong>in</strong>wiefern sie Mitte s<strong>in</strong>d. Ähnlich sollen dann auch die<br />

Vorzüge des Verstandes untersucht werden.“ NE II. 7<br />

7. „Nachdem die sittliche Tüchtigkeit … sich im Bereiche der irrationalen Regungen und des<br />

Handelns entfaltet und nachdem es Lob und Tadel nur bei dem gibt, was freiwillig geschieht, …<br />

so ist es … notwendig, die Begriffe »freiwillig« und »unfreiwillig« gegene<strong>in</strong>ander abzugrenzen.<br />

Als unfreiwillig gilt, was unter Zwang oder aus Unwissenheit geschieht. Gewaltsam ist e<strong>in</strong><br />

Vorgang, dessen bewegendes Pr<strong>in</strong>zip von außen her e<strong>in</strong>greift, und zwar so, daß bei se<strong>in</strong>em<br />

E<strong>in</strong>wirken die handelnde oder die erleidende Person <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise mitwirkt: wenn z. B.<br />

jemand durch e<strong>in</strong>en Sturmw<strong>in</strong>d irgendwoh<strong>in</strong> entführt wird oder durch Menschen, <strong>in</strong> deren<br />

Gewalt er sich bef<strong>in</strong>det. Taten aber, die aus Angst vor noch größerem Unheil oder für e<strong>in</strong> edles<br />

Ziel ausgeführt werden - wenn z. B. e<strong>in</strong> Tyrann jemandem e<strong>in</strong> Verbrechen zu tun befiehlt,<br />

dessen Eltern und K<strong>in</strong>der er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gewalt hat, und wenn diesen im Falle der Ausführung der<br />

Tat das Leben geschenkt, sonst aber verwirkt wäre - lassen die Streitfrage entstehen, ob sie<br />

unfreiwillig oder freiwillig s<strong>in</strong>d. Ähnlich ist es, wenn im Seesturm Teile der Ladung über Bord<br />

geworfen werden, denn an sich wirft man Güter nicht aus freien Stücken weg. Jedoch um sich<br />

und die anderen zu retten, tut es jeder, der e<strong>in</strong>en gesunden Menschenverstand hat. Solche<br />

Handlungen haben also e<strong>in</strong>en Mischcharakter, stehen aber näher dem Freiwilligen, denn im<br />

Augenblick des Vollzugs besteht die Freiheit der Wahl, und das Ziel der Handlung wechselt je<br />

nach den Umständen. (…) So ist denn dieses Handeln freiwillig.“ NE III. 1.<br />

8. „(a) Was aus Unwissenheit geschieht, gehört se<strong>in</strong>em ganzen Umfang nach zum<br />

»Nichtfreiwilligen«, »unfreiwillig« aber ist es nur dann, wenn sich danach Mißbehagen und<br />

Bedauern e<strong>in</strong>stellt. Denn wer irgend etwas aus Unwissenheit getan hat und dann ke<strong>in</strong>erlei<br />

unangenehmes Gefühl wegen der Tat empf<strong>in</strong>det, hat es gewiß nicht freiwillig getan, da ihm gar<br />

nicht bewußt war, was er tat - aber andererseits auch nicht unfreiwillig, <strong>in</strong>sofern jedenfalls, als<br />

sich ke<strong>in</strong> nachträgliches Mißbehagen e<strong>in</strong>stellte. (…) (b) Sodann s<strong>in</strong>d zwei verschiedene D<strong>in</strong>ge<br />

das Handeln auf Grund von Unwissenheit und das Handeln <strong>in</strong> (vermeidbarem) Nichtwissen.<br />

Denn e<strong>in</strong> Betrunkener z. B. oder e<strong>in</strong> Zorniger handelt nicht - so nehmen wir an - auf Grund von<br />

Unwissenheit, sondern auf Grund eben von Trunkenheit oder Zorn, aber nicht mit Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

sondern ohne e<strong>in</strong> Wissen zu haben (von dem was er tut).“ NE III. 2.<br />

9. „Und selbst auf Unwissenheit steht Strafe, wenn angenommen werden kann, daß jemand an<br />

dieser Unwissenheit nicht unschuldig ist. So wird dem Betrunkenen das Strafmaß verdoppelt,<br />

denn das bewegende Pr<strong>in</strong>zip ist <strong>in</strong> ihm selbst: es stand ganz bei ihm, sich nicht zu betr<strong>in</strong>ken.<br />

(…) Auch die Unkenntnis e<strong>in</strong>er gesetzlichen Bestimmung, die man kennen müßte und die ke<strong>in</strong>e<br />

schwierige Materie betrifft, wird bestraft. Und ähnlich ist es auch sonst, wenn angenommen<br />

werden darf; daß die Unkenntnis durch Fahrlässigkeit verschuldet war. Man setzt eben voraus,<br />

daß es bei dem Schuldigen gestanden hätte, die Unwissenheit zu vermeiden, denn es hatte ihm<br />

freigestanden, achtsam zu se<strong>in</strong>. Aber vielleicht ist der Schuldige eben e<strong>in</strong> Mensch, dem es nicht<br />

gegeben ist achtsam zu se<strong>in</strong>. Gewiß, aber daß es soweit gekommen ist, das haben sie selbst<br />

verschuldet, und zwar durch ihr unbeherrschtes Leben … Denn die wiederholten<br />

E<strong>in</strong>zelhandlungen bewirken e<strong>in</strong>en entsprechenden Grundzustand. (…) Wer also nicht weiß, daß<br />

aus den wiederholten E<strong>in</strong>zelhandlungen die festen Grundhaltungen hervorgehen, ist e<strong>in</strong>fach<br />

stupide.“ NE III. 7.<br />

10. „Bei Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben wir zu prüfen, im Bereiche welcher Handlungen<br />

sie sich entfalten, ferner, welche Art von Mitte die Gerechtigkeit ist und zu welchen Extremen<br />

das Gerechte e<strong>in</strong> Mittleres bildet. (…) Nun, wir sehen, daß man allgeme<strong>in</strong> unter<br />

»Gerechtigkeit« jene Grundhaltung verstanden wissen will, von der her die Menschen die


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Fähigkeit haben, gerechte Handlungen zu vollziehen, von der aus sie (de facto) gerecht handeln<br />

und e<strong>in</strong> festes Verlangen nach dem Gerechten haben. (…)Unsere Untersuchung soll nach<br />

derselben Methode geschehen wie bisher.“ NE V. 1.<br />

11. „Nehmen wir … als Ausgangspunkt die verschiedenen Bedeutungen der Aussage, daß e<strong>in</strong><br />

Mensch ungerecht sei. Als ungerecht gilt, (A) wer die Gesetze, (B) wer die gleichmäßige<br />

Verteilung der Güter, die bürgerliche Gleichheit, mißachtet, und somit gilt offenbar als gerecht,<br />

(A) wer Gesetz und (B) wer bürgerliche Gleichheit achtet. Das Gerechte ist folglich die<br />

Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit, das Ungerechte die Mißachtung von Gesetz<br />

und bürgerlicher Gleichheit.“ NE V. 2.<br />

12. „(A´) (…) Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten <strong>in</strong>n etwas Gerechtes. Was nämlich<br />

durch e<strong>in</strong>en gesetzgeberischen Akt verfügt wird, hat gesetzliche Geltung, und jede solche<br />

Verfügung ist, wie wir sagen, gerecht. Die Gesetze nun treffen Bestimmungen über den ganzen<br />

Lebensbereich. Ihr Ziel dabei ist der geme<strong>in</strong>same Vorteil für das gesamte Volk oder nur für die<br />

Adelsgeschlechter oder nur für die Gruppe, die ausschlaggebend ist entweder gemäß ihrer<br />

persönlichen Trefflichkeit oder nach sonst e<strong>in</strong>em ähnlichen Wertmaßstab. Wir bezeichnen also<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht als gerecht e<strong>in</strong> Handeln, welches den Zweck hat, das Glück sowie dessen<br />

Komponenten für das Geme<strong>in</strong>wesen hervorzubr<strong>in</strong>gen und zu erhalten. (…) Gerechtigkeit <strong>in</strong><br />

diesem S<strong>in</strong>n ist allerd<strong>in</strong>gs Trefflichkeit <strong>in</strong> vollkommener Ausprägung - aber nicht ohne jede<br />

E<strong>in</strong>schränkung, sondern: »<strong>in</strong> ihrer Bezogenheit auf den Mitbürger«. Die Gerechtigkeit <strong>in</strong> diesem<br />

S<strong>in</strong>n ist also nicht e<strong>in</strong> Teil der ethischen Werthaftigkeit, sondern die Werthaftigkeit <strong>in</strong> ihrem<br />

ganzen Umfang.“ NE V. 3.<br />

13. „(B') (Das alles hat se<strong>in</strong>e Richtigkeit), abr das, was wir suchen, ist jedenfalls die Gerechtigkeit,<br />

<strong>in</strong>sofern sie e<strong>in</strong>e Teilersche<strong>in</strong>ung der ethischen Trefflichkeit ist. Denn e<strong>in</strong>e solche Gerechtigkeit<br />

gibt es, wie wir behaupten.“ NE V. 4.<br />

14. „Daß es also mehr als e<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ungsform der Gerechtigkeit und außer der alles<br />

umfassenden Trefflichkeit noch e<strong>in</strong>e besondere Form gibt, ist klar. Wir müssen nun deren<br />

Wesen und die unterscheidenden Wesensmerkmale zu fassen versuchen. Es hat sich uns e<strong>in</strong>e<br />

zweifache Gliederung ergeben. Wir unterschieden beim Ungerechten Verletzung des Gesetzes<br />

(A) und Verletzung der Gleichheit (B) und beim Gerechten die Achtung vor dem Gesetz und die<br />

Achtung vor der Gleichheit. Es entspricht also die zuvor erwähnte Ungerechtigkeit (A) der<br />

Verletzung des Gesetzes. Da aber Verletzung der Gleichheit und Verletzung des Gesetzes nicht<br />

identisch s<strong>in</strong>d, sondern sich zue<strong>in</strong>ander verhalten wie der Teil zum Ganzen - jede Verletzung<br />

der Gleichheit ist nämlich e<strong>in</strong>e Verletzung des Gesetzes, aber nicht jede Verletzung des<br />

Gesetzes ist e<strong>in</strong>e Verletzung der Gleichheit -, so Ist auch das Ungerechte und die<br />

Ungerechtigkeit (B) mit der ersteren Art (A) nicht identisch, sondern von ihr verschieden wie<br />

Teil und Ganzes, denn Ungerechtigkeit <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n (B) ist e<strong>in</strong> Teil der umfassenden<br />

Ungerechtigkeit (A) und entsprechend die Gerechtigkeit <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n (B) e<strong>in</strong> Teil der<br />

Gerechtigkeit im anderen S<strong>in</strong>n (A). (…) Die Gerechtigkeit als Teilersche<strong>in</strong>ung und das<br />

entsprechende Gerechte weist zwei Grundformen auf: die e<strong>in</strong>e (A) ist wirksam bei der<br />

Verteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten, die den Bürgern<br />

e<strong>in</strong>es geordneten Geme<strong>in</strong>wesens zustehen. Hier ist es nämlich möglich, daß der e<strong>in</strong>e das gleiche<br />

wie der andere oder nicht das gleiche zugeteilt erhält. E<strong>in</strong>e zweite (B) Grundform ist die, welche<br />

dafür sorgt, daß die vertraglichen Beziehungen von Mensch zu Mensch rechtens s<strong>in</strong>d. Sie hat<br />

zwei Unterteile: die vertraglichen Beziehungen von Mensch zu Mensch zerfallen nämlich <strong>in</strong> (l)<br />

freiwillige und (2) unfreiwillige. Freiwillige s<strong>in</strong>d z.B. Verkauf und Kauf … Die unfreiwilligen<br />

Beziehungen s<strong>in</strong>d (a) teils heimlich, wie Diebstahl, Ehebruch, … Meuchelmord, falsches<br />

Zeugnis. Zu e<strong>in</strong>em anderen Teil (b) s<strong>in</strong>d sie gewaltsamer Art, z.B. Mißhandlung,<br />

Freiheitsberaubung, … üble Nachrede … (…) Nachdem aber das Gleiche e<strong>in</strong> Mittleres ist, muß<br />

das Gerechte wohl e<strong>in</strong> Mittleres se<strong>in</strong>. Nun setzt aber das Gleiche m<strong>in</strong>destens zwei Glieder<br />

voraus. Folglich muß das Gerechte e<strong>in</strong> Mittleres und Gleiches se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>e Beziehung<br />

aufweisen, und zwar auf bestimmte Personen. Und sofern es e<strong>in</strong> Mittleres ist, muß es Mittleres<br />

von etwas se<strong>in</strong>, nämlich zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig liegen; sofern es e<strong>in</strong> Gleiches<br />

ist, muß es dies für zwei Glieder, sofern es aber e<strong>in</strong> Gerechtes ist, muß es dies für bestimmte<br />

Personen se<strong>in</strong>. Also muß das Gerechte e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destzahl von vier Gliedern aufweisen, denn die<br />

Menschen, für die es das Gerechte darstellt, s<strong>in</strong>d zwei, und die … (zu verteilenden) Objekte …<br />

s<strong>in</strong>d zwei. Und zwar wird die Gleichheit dieselbe se<strong>in</strong> für die <strong>in</strong> Frage stehenden Personen und


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für die Sachen. Denn so wie die letzteren … zue<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verhältnis stehen, so auch die<br />

Personen. Denn wenn die Personen nicht gleich s<strong>in</strong>d, so werden sie nicht gleiche Anteile haben<br />

können … Ferner wird dies klar aus dem Begriff der »Angemessenheit«. Denn das Gerechte bei<br />

den Verteilungen muß nach e<strong>in</strong>er bestimmten Angemessenheit <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten; dar<strong>in</strong><br />

stimmen alle übere<strong>in</strong>. Aber gerade unter dieser Angemessenheit verstehen nicht alle dasselbe:<br />

die Vertreter des demokratischen Pr<strong>in</strong>zips me<strong>in</strong>en die Freiheit, die des oligarchischen den<br />

Reichtum oder den Geburtsadel und die Aristokraten den hohen Manneswert. Das Gerechte ist<br />

also etwas Proportionales - das Proportionale ist ja nicht nur der Zahl eigen, die aus (abstrakten)<br />

E<strong>in</strong>heiten besteht, sondern der Zahl überhaupt -, Proportion, ist nämlich Gleichheit der<br />

Verhältnisse und setzt m<strong>in</strong>destens vier Glieder voraus. Daß die »getrennte« Proportion vier<br />

Glieder hat, ist klar, doch bei der »stetigen« ist es genauso. Denn hier wird e<strong>in</strong> G1ied für zwei<br />

gebraucht und zweimal gesetzt. Wie sich z. B. die L<strong>in</strong>ie A zur L<strong>in</strong>ie B verhält, so die L<strong>in</strong>ie B<br />

zur L<strong>in</strong>ie C. Hier ist also die L<strong>in</strong>ie B zweimal genannt, so daß, wenn die L<strong>in</strong>ie B zweimal<br />

gesetzt wird, vier Proportionsglieder vorhanden s<strong>in</strong>d. Und auch das Gerechte weist e<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong>destzahl von vier Gliedern auf, und das Verhältnis ist das gleiche, denn es ist <strong>in</strong> ähnlicher<br />

Weise nach Personen und Sachen aufgegliedert. Das heißt also: wie sich das Glied A zu B<br />

verhält, so C zu D. Und folglich mit Vertauschung der Stellen: wie A zu C, so verhält sich B zu<br />

D. Folglich steht auch das e<strong>in</strong>e Ganze zum anderen Ganzen im selben Verhältnis. Das ist die<br />

Verb<strong>in</strong>dung, welche durch die Zuteilung zustande gebracht wird, und wenn sie die Glieder <strong>in</strong><br />

dieser Weise zusammenstellt, so ist die Verb<strong>in</strong>dung gerecht.“ NE V. 5.<br />

15. „So bedeutet denn die Verb<strong>in</strong>dung des Gliedes A mit C und die des Gliedes B mit D das<br />

Gerechte, wie es bei der Verteilung <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt. Und dieses Gerechte bedeutet das<br />

Mittlere … Diese Art der Proportion nennen die Mathematiker e<strong>in</strong>e geometrische, denn <strong>in</strong> der<br />

geometrischen Proportion trifft es zu, daß das Ganze sich zum Ganzen verhält wie das e<strong>in</strong>e<br />

Glied zum andern. Diese Proportion ist nicht stetig, denn hier gibt es nicht e<strong>in</strong> Person und Sache<br />

vertretendes e<strong>in</strong>ziges, mit sich identisches Glied. Dies also ist die e<strong>in</strong>e Art des Gerechten. Es<br />

bleibt (B') noch die zweite, die »regelnde«. Sie entsteht im Bereich der … Beziehungen von<br />

Mensch zu Mensch … Das Gerechte <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n sieht anders aus als das vorige. Denn das<br />

Gerechte, welches geme<strong>in</strong>sames Gut verteilt, verfährt stets nach der erwähnten geometrischen<br />

Proportion. (…) Doch das Gerechte bei den … Beziehungen der Menschen bedeutet zwar e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Gleichheit …, aber es hält sich nicht an jene Proportion, sondern an die<br />

arithmetische. Denn es liegt nichts daran; ob der Gute den Schlechten um etwas betrogen hat<br />

oder der Schlechte den Guten …: das Gesetz schaut nur auf den Unterschied zwischen Höhe<br />

(des Unrechts und) des Schadens, es betrachtet die Partner als gleich …“ NE V. 7.<br />

16. „Manchen gilt auch die Wiedervergeltung schlechth<strong>in</strong> als gerecht. So lehrten die Pythagoreer,<br />

<strong>in</strong>dem sie das Gerechte schlechth<strong>in</strong> bestimmten als das Erleiden dessen, was man e<strong>in</strong>em<br />

anderen angetan hatte. … (…) … <strong>in</strong> den … Beziehungen der Menschen, da zeigt diese Form<br />

des Rechts e<strong>in</strong>e zusammenhaltende Kraft … diese aber im S<strong>in</strong>ne der Proportion verstanden,<br />

nicht <strong>in</strong> dem der mechanischen Gleichheit. Denn proportionale Vergeltung ist es, die den<br />

Zusammenhalt des Geme<strong>in</strong>wesens gewährleistet. Die Bürger suchen nämlich Böses mit Bösem<br />

zu vergelten …. oder sie suchen Gutes mit Gutem zu vergelten und wenn sie es nicht können, so<br />

kommt ke<strong>in</strong>e Gegenseitigkeit- zustande. (…)“ NE V. 8.<br />

17. Deshalb muß alles, was ausgetauscht wird, irgendwie vergleichbar se<strong>in</strong>. Dafür nun ist das Geld<br />

auf den Plan getreten: es wird <strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>n zu e<strong>in</strong>er Mittel<strong>in</strong>stanz, denn alles läßt sich an<br />

ihm messen, auch das Zuviel also und das Zuwenig, wie viel Schuhe denn etwa e<strong>in</strong>em Haus<br />

oder Nahrungsmitteln gleichwertig s<strong>in</strong>d. Dem Unterschied von Baumeister und Schuhmacher<br />

muß also der Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er bestimmten Anzahl von Schuhen und e<strong>in</strong>em Haus<br />

entsprechen … (…) Es müssen sich also alle D<strong>in</strong>ge durch e<strong>in</strong>e bestimmte E<strong>in</strong>heit messen lassen<br />

… Nun, diese E<strong>in</strong>heit ist <strong>in</strong> Wahrheit der Bedarf: er hält alles zusammen - hatten die Bürger<br />

überhaupt ke<strong>in</strong>en Bedarf oder nicht <strong>in</strong> gleicher Weise, so könnte es e<strong>in</strong>en Austausch überhaupt<br />

nicht geben oder er liefe nicht auf Gleichheit h<strong>in</strong>aus - als e<strong>in</strong>e Art austauschbarer Stellvertreter<br />

des Bedarfs aber ist das Geld geschaffen worden, auf Grund gegenseitiger Übere<strong>in</strong>kunft. Und es<br />

trägt den Namen »Geld« (nomisma), weil es se<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> nicht der Natur verdankt, sondern weil<br />

man es als »geltend« gesetzt (nomos) hat und es bei uns steht, ob wir es ändern oder außer Kurs<br />

setzen wollen. Was aber künftigen Austausch betrifft, so ist uns das Geld gleichsam e<strong>in</strong> Garant,<br />

daß der Austausch im Bedarfsfall immer stattf<strong>in</strong>den wird … (…) Geld also ist jenes D<strong>in</strong>g, das


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als Wertmesser Meßbarkeit durch e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Maß und somit Gleichheit schafft. Denn<br />

ohne Austausch gäbe es ke<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft, ohne Gleichheit ke<strong>in</strong>en Austausch und ohne<br />

Meßbarkeit ke<strong>in</strong>e Gleichheit. Daß so sehr verschiedene D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Wahrheit durch e<strong>in</strong> gleiches<br />

Maß meßbar werden, ist allerd<strong>in</strong>gs unmöglich, doch im H<strong>in</strong>blick auf die Bedarfsfrage läßt es<br />

sich ausreichend verwirklichen.“ NE V. 8<br />

18 „Als wir die Vorzüge der Seele zergliederten, haben wir Vorzüge des Charakters (ethische) und<br />

solche des Verstandes (dianoёtische) unterschieden. (…) Jetzt wollen wir bei dem rationalen<br />

Element ebenfalls e<strong>in</strong>e Unterteilung vornehmen und so gelte als Grundlage, daß beim rationalen<br />

Element zwei Teile vorhanden s<strong>in</strong>d: e<strong>in</strong> Teil, mit dem wir jene Formen des Seienden betrachten,<br />

deren Se<strong>in</strong>sgrund Veränderung nicht zuläßt, und e<strong>in</strong> Teil, mit dem wir veränderliches Se<strong>in</strong><br />

betrachten. Drei Vermögen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Seele, die das Handeln und die Erkenntnis des Richtigen<br />

steuern: die S<strong>in</strong>neswahrnehmung, der Verstand und das Streben. Von diesen dreien kann die<br />

S<strong>in</strong>neswahrnehmung nicht Ursprung e<strong>in</strong>es Handelns werden, was sich daraus ergibt, daß die<br />

Tiere zwar mit den S<strong>in</strong>nen wahrnehmen, aber ke<strong>in</strong>en Anteil am Handeln haben können. Was<br />

nun beim Denken Bejahung und Verne<strong>in</strong>ung ist, das ist beim Streben das entschlossene<br />

Verfolgen und das Meiden. Da aber die Trefflichkeit des Charakters e<strong>in</strong>e feste; auf<br />

Entscheidung umgeordnete Haltung ist und die Entscheidung e<strong>in</strong> von Überlegung gesteuertes<br />

Streben darstellt, so folgt also, daß die abwägende Reflexion zutreffend und das Streben richtig<br />

se<strong>in</strong> muß, falls die Entscheidung gut ausfallen soll, und daß das Objekt des Strebens identisch<br />

se<strong>in</strong> muß mit dem, was die abwägende Reflexion bejaht. Wir sehen: dieses (überlegende)<br />

Denken und dieses Erfassen des Richtigen zielen letztlich auf e<strong>in</strong> Handeln.“ NE VI. 2.<br />

19. „Wir setzen nun von vorne e<strong>in</strong> und wollen erneut von ihnen (den Grundhaltungen) sprechen. Es<br />

gelte die Annahme, daß die Grundformen, durch welche die Seele, bejahend oder verne<strong>in</strong>end,<br />

die Erkenntnis des Richtigen vollzieht, fünf an der Zahl s<strong>in</strong>d, nämlich: praktisches Können,<br />

wissenschaftliche Erkenntnis, sittliche E<strong>in</strong>sicht, philosophische Weisheit und <strong>in</strong>tuitiver<br />

Verstand. (…)“NE VI. 3.<br />

20. „Bei dem, was Veränderung zuläßt, ist die Möglichkeit des Hervorbr<strong>in</strong>gens und die des<br />

Handelns zu unterscheiden. Hervorbr<strong>in</strong>gen und Handeln s<strong>in</strong>d zwei verschiedene Tätigkeiten …<br />

weshalb auch die auf e<strong>in</strong> Handeln abzielende reflektierende Grundhaltung etwas anderes ist als<br />

die auf e<strong>in</strong> Hervorbr<strong>in</strong>gen abzielende reflektierende Grundhaltung. (…)NE VI. 4.<br />

21 „Über die sittliche E<strong>in</strong>sicht können wir dann e<strong>in</strong>en klaren Begriff gew<strong>in</strong>nen, wenn wir erwägen,<br />

welche Menschen wir als Träger dieser E<strong>in</strong>sicht bezeichnen. Nun, als Merkmal des Menschen<br />

mit sittlicher E<strong>in</strong>sicht gilt, daß er fähig ist, Wert oder Nutzen für se<strong>in</strong>e Person richtig<br />

abzuwägen, und zwar … <strong>in</strong> dem umfassenden S<strong>in</strong>n: Mittel und Wege zum guten und<br />

glücklichen Leben. (…) Folglich gilt auch dem umfassenden S<strong>in</strong>n: sittliche E<strong>in</strong>sicht hat der,<br />

welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegung besitzt. Nun stellt aber niemand Überlegungen an<br />

über das, was ke<strong>in</strong>e Veränderung zuläßt … Nachdem also wissenschaftliche Erkenntnis auf<br />

zw<strong>in</strong>gendem Schlußverfahren beruht, es aber bei D<strong>in</strong>gen, deren Grundvoraussetzungen<br />

veränderlich s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> zw<strong>in</strong>gendes Schlußverfahren nicht gibt … so kann die sittliche E<strong>in</strong>sicht<br />

nicht wissenschaftliche Erkenntnis se<strong>in</strong> und auch nicht praktisches Können … (…) Denn das<br />

Hervorbr<strong>in</strong>gen hat e<strong>in</strong> Endziel außerhalb se<strong>in</strong>er selbst, beim Handeln aber kann dies nicht so<br />

se<strong>in</strong>, denn wertvolles Handeln ist selbst Endziel. So ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die<br />

sittliche E<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit<br />

ist, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt, die dem Menschen erreichbar s<strong>in</strong>d.“<br />

NE VI. 5.<br />

22. „Daß sittliche E<strong>in</strong>sicht nicht wissenschaftliche Erkenntnis ist, wissen wir nun. (…) Denn der<br />

<strong>in</strong>tuitive Verstand hat es mit den obersten begrifflichen Setzungen zu tun, die e<strong>in</strong>e weitere<br />

Erklärung nicht mehr zulassen, die sittliche E<strong>in</strong>sicht dagegen geht auf das letztlich gegebene<br />

E<strong>in</strong>zelne, von dem es ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Wahrnehmung gibt -<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht so, wie bestimmte S<strong>in</strong>ne auf spezielle Objekte beschränkt s<strong>in</strong>d, sondern so, wie<br />

wir <strong>in</strong> der Mathematik wahrnehmen, daß dieses letztlich Gegebene e<strong>in</strong> Dreieck ist. Denn auch<br />

hier (bei diesem H<strong>in</strong>absteigen zum letztlich Gegebenen …) wird man an e<strong>in</strong>en Haltepunkt<br />

kommen.“ NE VI. 8.<br />

23 NE VII. 2. „Nun gilt (a) <strong>in</strong> der Tat Beherrschtheit … als etwas Hochwertiges und<br />

Anzuerkennendes, Unbeherrschtheit aber … als etwas M<strong>in</strong>derwertiges und Abzulehnendes. (…)<br />

Und der Unbeherrschte weiß, daß se<strong>in</strong> Handeln verwerflich ist, und handelt - unter dem E<strong>in</strong>fluß


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der Leidenschaft - doch so, während der Beherrschte weiß, daß se<strong>in</strong> Begehren verwerflich ist,<br />

und ihm daher - unter dem E<strong>in</strong>fluß der reflektierenden Kraft - nicht Folge leistet.“ NE VII. 2.<br />

24. „Nun kann man fragen, wie jemand e<strong>in</strong> richtiges Urteil haben und doch e<strong>in</strong> unbeherrschtes<br />

Leben führen könne. Nun, bei klarer Erkenntnis, so sagen manche, sei dies unmöglich, denn es<br />

sei unfaßbar, so me<strong>in</strong>te Sokrates, daß klare Erkenntnis Im Menschen se<strong>in</strong> und dann doch etwas<br />

anderes die Oberhand über sie gew<strong>in</strong>nen … könne. (…) Nun, diese Theorie widerspricht ganz<br />

augensche<strong>in</strong>lich den Erfahrungstatsachen … (…) Nun, (1) unsere erste Frage muß lauten:<br />

handelt der Unbeherrschte wissentlich oder nicht, und <strong>in</strong> welchem S<strong>in</strong>ne wissentlich? Aber (a)<br />

wir verstehen ja den Begriff »Wissen« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em doppelten S<strong>in</strong>n: wer es hat, aber nicht<br />

gebraucht, wie auch wer es gebraucht, wird als wissend bezeichnet -und so wird doch e<strong>in</strong><br />

Unterschied se<strong>in</strong>, ob jemand, wenn er das Ungehörige tut, e<strong>in</strong> Wissen hat, es aber nicht wirksam<br />

werden läßt, oder ob er es hat und auch wirksam werden läßt. Denn letzteres ersche<strong>in</strong>t<br />

unbegreiflich, nicht aber das erstere: wenn er also handelt, ohne das Wissen wirksam werden zu<br />

lassen. (b) Ferner: es gibt zwei Arten von Vordersatz (Obersatz und Untersatz). Nun kann es<br />

ohne weiteres geschehen, daß jemand beide gegenwärtig hat und doch entgegen se<strong>in</strong>em Wissen<br />

handelt: <strong>in</strong>dem er wohl von dem allgeme<strong>in</strong>en (dem Obersatz) Gebrauch macht, nicht aber von<br />

dem besonderen (dem Untersatz). Gegenstand des Handelns ist ja jeweils das letztlich<br />

E<strong>in</strong>zelgegebene. Aber auch beim Allgeme<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d zwei Arten zu unterscheiden: das e<strong>in</strong>e<br />

betrifft die handelnde Person, das andere die Sache. Zum Beispiel »Trockene Nahrung ist gut<br />

für jeden Menschen« und »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Mensch«, oder »Diese so beschaffene Nahrung ist<br />

trocken«. Indes, ob »diese bestimmte Nahrung e<strong>in</strong>e solche Beschaffenheit hat« - davon hat der<br />

Unbeherrschte entweder ke<strong>in</strong>e Kenntnis oder er läßt sie nicht wirksam werden. Es muß also<br />

zunächst, diesen verschiedenen Formen der Vordersätze entsprechend, e<strong>in</strong>en beträchtlichen<br />

Unterschied (<strong>in</strong> den Arten des Wissens) geben, weshalb es nicht unverständlich ersche<strong>in</strong>t, wenn<br />

der Unbeherrschte <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n »weiß«, während es ganz merkwürdig wäre, wenn er e<strong>in</strong><br />

Wissen <strong>in</strong> dem anderen S<strong>in</strong>n hätte. (c) Und ferner besteht für die Menschen außer den schon<br />

genannten noch e<strong>in</strong>e weitere Art und Weise Wissen zu haben. Denn In Fällen, wo jemand e<strong>in</strong><br />

Wissen hat, es aber nicht gebraucht, sehen wir, daß dieses »Haben« e<strong>in</strong>en ganz anderen S<strong>in</strong>n<br />

hat: es ist <strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> »Haben« und zugleich e<strong>in</strong> »Nicht-haben«. Beispiel: der<br />

Schlafende, der Wahns<strong>in</strong>nige und der Betrunkene. Gerade <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Zustande aber<br />

bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der Tat die Menschen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Leben der Leidenschaft versunken s<strong>in</strong>d. (d)<br />

Weiterh<strong>in</strong> aber läßt sich die Ursache (der Unbeherrschtheit) auch <strong>in</strong> ihren natürlich-seelischen<br />

Gegebenheiten betrachten, und zwar so: es gibt e<strong>in</strong>erseits die Me<strong>in</strong>ung, die auf das Allgeme<strong>in</strong>e<br />

geht, und andererseits die, welche das E<strong>in</strong>zelgegebene umfaßt - wo bereits die<br />

S<strong>in</strong>neswahrnehmung <strong>in</strong> ihre Rechte tritt. Wenn sich aus beiden Formen der Me<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zige ergibt, so muß die Seele <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en Fall (bei theoretischem Verhalten) notwendig das<br />

zustande gekommene Ergebnis bejahen, dagegen <strong>in</strong> dem anderen Fall, wo die Me<strong>in</strong>ung auf das<br />

Handeln zielte es augenblicklich <strong>in</strong> die Tat umsetzen. Wenn z.B. gilt: »Von allem Süßen muß<br />

man kosten«, und wenn gilt »Dies hier - als E<strong>in</strong>zelgegenstand - ist süß«, so muß, wer dazu <strong>in</strong><br />

der Lage und nicht geh<strong>in</strong>dert ist, dies gleichzeitig auch <strong>in</strong> die Tat umsetzen. Wenn sich nun <strong>in</strong><br />

unserem Inneren die auf das Allgeme<strong>in</strong>e gehende Me<strong>in</strong>ung f<strong>in</strong>det, welche uns h<strong>in</strong>dern möchte<br />

vom Süßen zu kosten, und wenn daneben e<strong>in</strong>e zweite Me<strong>in</strong>ung ist: »Alles Süße ist angenehm« -<br />

mit dem Untersatz »dies hier ist süß« - und diese zweite Me<strong>in</strong>ung wirksam wird: und wenn<br />

außerdem <strong>in</strong> unserem Inneren gerade e<strong>in</strong>e Begierde ist -, so fordert die e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung von uns<br />

dies zu meiden, während die Begierde, die ja die Kraft hat, jedes unserer Organe zu bewegen,<br />

uns treibt. So ist das Ergebnis: man gerät <strong>in</strong> das unbeherrschte Verhalten unter der Wirkung,<br />

wenn man so will, e<strong>in</strong>es überlegenden Elementes - und e<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung. Und zwar steht diese<br />

Me<strong>in</strong>ung nicht an sich - denn es ist die Begierde, die den wahren Gegensatz bildet, nicht die<br />

Me<strong>in</strong>ung -, sondern nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er akzidentellen Weise im Gegensatz zur richtigen Planung. Der<br />

letzte Vordersatz e<strong>in</strong>es Schlußverfahrens hat als Inhalt e<strong>in</strong>e »Me<strong>in</strong>ung« über das s<strong>in</strong>nlich<br />

Wahrnehmbare und gibt zugleich unserem Handeln Anstoß und Richtung. Somit hat jemand,<br />

wenn er <strong>in</strong> der Leidenschaft befangen ist, diese »Me<strong>in</strong>ung« überhaupt nicht <strong>in</strong> sich, oder er<br />

»hat« sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Form, <strong>in</strong> der dieses »Haben« nicht, wie oben gesagt, e<strong>in</strong> Wissen bedeutet,<br />

sondern nur e<strong>in</strong> Sprechen, wie wenn e<strong>in</strong> Betrunkener Empedokles rezitiert. Und da das letzte<br />

Glied des Schlusses nichts Allgeme<strong>in</strong>es aussagt und nicht <strong>in</strong> ähnlicher Weise <strong>in</strong> den Bereich


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wissenschaftlicher Erkenntnis zu gehören sche<strong>in</strong>t wie das allgeme<strong>in</strong> aussagende Glied, so<br />

sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Tat das herauszukommen, was Sokrates zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen versucht hat.“<br />

NE VII. 3.<br />

25. NE VII. 6. „Da nun, wo die Ursache <strong>in</strong> der Naturanlage liegt, wird niemand von<br />

Unbeherrschtheit sprechen. (…) Nun wollen wir unser Augenmerk darauf richten, daß<br />

Unbeherrschtheit weniger verabscheuenswert ist, wenn sie sich auf den Zorn als wenn sie sich<br />

auf die Begehrlichkeit bezieht, (1) Es läßt sich nämlich beobachten, daß der Zorn <strong>in</strong> gewissem<br />

Grad auf die Stimme sachlicher Reflexion h<strong>in</strong>hört, aber sie nicht richtig hört.“ NE VII. 6.<br />

26. „Der zuchtlose Mensch hat …. ke<strong>in</strong>e Fähigkeit se<strong>in</strong> Tun zu bedauern; denn er bleibt bei se<strong>in</strong>er<br />

Entscheidung. Dagegen ist der Unbeherrschte stets zu nachdenklichem Bedauern fähig. (…) Der<br />

Unbeherrschte jagt se<strong>in</strong>er Natur entsprechend dem übermäßigen, der richtigen Planung<br />

entgegengesetzten S<strong>in</strong>nengenuß nach, ist aber dabei nicht grundsätzlich überzeugt, der<br />

Zuchtlose dagegen tut es aus grundsätzlicher Überzeugung …“ NE VII. 9.<br />

27. „In allen ungleichartigen Freundschaften schafft das proportionale Verfahren den Ausgleich und<br />

erhält die Freundschaft … (…) Soviel nun ist allerd<strong>in</strong>gs klar, daß man nicht jedem Menschen<br />

gegenüber dieselben Verpflichtungen hat … Sondern, da Eltern, Brüder, Freunde und Wohltäter<br />

jeweils verschiedenes zu beanspruchen haben, so muß man jedem das bieten, was se<strong>in</strong>er<br />

Eigenart entspricht und zusagt.“ NE IX. 1.<br />

28. „Auch die E<strong>in</strong>tracht stellt sich als freundschaftliches Verhältnis dar. Sie bedeutet daher nicht<br />

e<strong>in</strong>e Gleichheit nur <strong>in</strong> (irgendwelchen) Me<strong>in</strong>ungen … Auch spricht man nicht von E<strong>in</strong>tracht,<br />

wenn es nur irgende<strong>in</strong>e beliebige Tatsache ist, worüber die Leute das Gleiche denken, …,<br />

sondern man sagt: <strong>in</strong> Polisgeme<strong>in</strong>den ist E<strong>in</strong>tracht, wenn die Bürger über die geme<strong>in</strong>samen<br />

Interessen e<strong>in</strong>es S<strong>in</strong>nes s<strong>in</strong>d, wenn sie sich zu e<strong>in</strong>mütigem Handeln entschließen und die<br />

geme<strong>in</strong>samen Beschlüsse durchführen. (…) Wir haben zu Anfang ausgesprochen: Glück ist<br />

Tätigse<strong>in</strong>; Tätig-se<strong>in</strong> aber ist offenbar etwas Werdendes … Wenn sich aber (a) das Glück im<br />

Dase<strong>in</strong> und Wirken entfaltet, das Wirken des wertvollen Menschen aber, wie zu Anfang gesagt,<br />

gut und <strong>in</strong> sich lustvoll ist und wenn weiterh<strong>in</strong> (b) auch das <strong>in</strong> unserem Wesen Verankerte etwas<br />

Lustvolles ist, wir aber (c) leichter den anderen als uns selbst und leichter dessen Handlungen<br />

<strong>in</strong>s volle Bewußtse<strong>in</strong> heben können als die eigenen, und wenn schließlich (d) für gute Menschen<br />

die Handlungen hochstehender Menschen, eben ihrer Freunde, etwas Lustvolles bedeuten …, so<br />

muß der vollendet Glückliche Freunde solcher Art haben … (…) Freundschaft der Guten … ist<br />

etwas Gutes: sie wächst stetig durch den vertrauten Umgang. Und wie die Erfahrung zeigt,<br />

nehmen die Freunde zu an sittlichem Gehalt: es ist e<strong>in</strong>e Freundschaft der Tat und der<br />

gegenseitigen Vervollkommnung.“ NE. IX. 6.<br />

29. „Wir haben gesagt: das Glück ist ke<strong>in</strong> Zustand (der Ruhe) … Wenn … das Glück vielmehr …<br />

als e<strong>in</strong> Tätig-se<strong>in</strong> zu bestimmen ist, die Formen dieses Tätig-se<strong>in</strong>s aber teils notwendig und als<br />

Mittel zum Zweck wählenswert, teils an sich wählenswert s<strong>in</strong>d, so ist das Glück offenbar unter<br />

die an sich ... wählenswerten Tätigkeiten zu setzen, denn das Glück ist frei von Mangel: es<br />

genügt sich selbst. Nun ist aber jenes Tätigse<strong>in</strong> wählenswert an sich, dem man außer der<br />

Funktion des Tätigse<strong>in</strong>s nichts weiter abverlangt. Als solches aber gilt das ethisch wertvolle<br />

Handeln, denn das Edle und Wertvolle tun, das gehört zu den Werten, die wählenswert an sich<br />

s<strong>in</strong>d.“ NE X. 6.<br />

30. „Wenn das Glück e<strong>in</strong> Tätigse<strong>in</strong> … ist, so darf darunter mit gutem Grund die höchste<br />

Trefflichkeit verstanden werden: das aber kann nur die der obersten Kraft <strong>in</strong> uns se<strong>in</strong>. Mag nun<br />

… etwas … diese Kraft se<strong>in</strong>, die man sich gewiß als … auf edle und göttliche Gegenstände<br />

gerichtet vorstellt … das Wirken dieser Kraft gemäß der ihr eigentümlichen Trefflichkeit ist das<br />

vollendete Glück. Daß dieses Wirken aber e<strong>in</strong> geistiges Schauen ist, … daß diese Tätigkeit des<br />

Geistes die e<strong>in</strong>zige ist, die um ihrer selbst willen geliebt wird, denn außer dem Vollzug der<br />

geistigen Schau erwartet man von ihr nichts weiter, während wir vom praktischen Wirken mehr<br />

oder m<strong>in</strong>der großen Gew<strong>in</strong>n noch neben dem bloßen Handeln haben. Ferner gilt, daß das Glück<br />

Muße voraussetzt. (…) Alle praktische Trefflichkeit nun entfaltet ihre Aktivität entweder <strong>in</strong> den<br />

Aufgaben des öffentlichen Lebens oder den Aufgaben des Kriegs. Das Handeln <strong>in</strong> diesem<br />

Bereiche verträgt sich aber erfahrungsgemäß nicht mit der Muße …“ NE X. 7.<br />

31. „In e<strong>in</strong>er zweitrangigen Weise ist das Leben im S<strong>in</strong>ne der anderen Formen werthaften Tuns e<strong>in</strong><br />

glückliches Leben. Denn e<strong>in</strong> Tätigse<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n hält sich im Bereiche des Menschlichen.<br />

Gerechtigkeit … und die anderen ethischen Werte verwirklichen wir von Mensch zu Mensch,


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<strong>in</strong>dem wir <strong>in</strong> Geschäftssachen, <strong>in</strong> der Stunde der Not <strong>in</strong> den verschiedenartigsten Situationen<br />

und auch bei den Regungen des Irrationalen das beachten, worauf jeder billigerweise Anspruch<br />

hat. (…) Aber auch die sittliche E<strong>in</strong>sicht ist mit der Tüchtigkeit des Charakters untrennbar<br />

verbunden und diese wiederum mit der sittlichen E<strong>in</strong>sicht … Indem aber die Tüchtigkeit des<br />

Charakters (mit der sittlichen E<strong>in</strong>sicht und) auch mit den Regungen des Irrationalen<br />

zusammenhängt, gehört sie <strong>in</strong> den Bereich unserer zusammengesetzten Natur. Deren<br />

Wesensvorzüge aber halten sich im Bereiche des Menschlichen. Und dies gilt dann auch von<br />

e<strong>in</strong>em Leben und e<strong>in</strong>em Glück, das auf der Tüchtigkeit des Charakters beruht. Der Geist aber<br />

hat se<strong>in</strong>en Rang <strong>in</strong> der Absonderung …“ NE X. 8.<br />

32. „Es wird aber auch die Gunst der äußeren Umstände vonnöten se<strong>in</strong>, da wir Menschen s<strong>in</strong>d.<br />

Denn unsere Natur ist für sich alle<strong>in</strong> nicht ausreichend, die geistige Schau zu verwirklichen. Es<br />

ist auch Gesundheit des Leibes vonnöten sowie Nahrung und sonstige Pflege. Indes braucht<br />

man sich nicht vorzustellen, daß e<strong>in</strong> beträchtlicher Aufwand erforderlich ist, um glücklich zu<br />

werden, … Denn nicht e<strong>in</strong> Übermaß ist für allseitige Unabhängigkeit und für das Handeln<br />

vorausgesetzt, … auch von e<strong>in</strong>er maßvollen Grundlage aus kann man wertvoll handeln.“<br />

NE. X. 9.<br />

33. „Und auch bei den ethischen Werten reicht es nicht aus, von ihnen zu wissen, sondern man muß<br />

versuchen, sie … <strong>in</strong> die Tat umzusetzen ... Indes, von Jugend auf e<strong>in</strong>e richtige Führung zu<br />

ethischer Höhe zu bekommen, ist schwer, wenn man nicht unter e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Gesetzgebung aufwächst, … Daher muß schon die früheste Erziehung und müssen die<br />

Beschäftigungen festgelegt werden durch das Gesetz … Es genügt aber wohl kaum, nur <strong>in</strong> der<br />

Jugend die richtige Erziehung und Betreuung zu erhalten, sondern: da man auch als Mann diese<br />

D<strong>in</strong>ge treiben und mit Ihnen vertraut werden muß, brauchen wir Gesetze, die auch dieses regeln<br />

… Daher s<strong>in</strong>d manche der Ansicht, die Gesetzgeber sollten zur Trefflichkeit auffordern und<br />

anregen. (…) Am besten wäre es nun, wenn e<strong>in</strong>e öffentliche, und zwar e<strong>in</strong>e zweckgerechte<br />

Vorsorge getroffen werden und wenn die Aufgabe bewältigt werden könnte. (…)Wir haben<br />

hernach nun <strong>in</strong>s Auge zu fassen, von welcher Grundlage aus und mit welchen Mitteln man<br />

gesetzgeberische Fähigkeiten <strong>in</strong> sich entwickeln kann. Denn die <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>zelheiten erfahrenen<br />

Fachleute haben das richtige Urteil über e<strong>in</strong> Werk, und sie verstehen, durch welche Mittel oder<br />

auf welche Weise e<strong>in</strong> Werk vollendet wird … Die Gesetze aber s<strong>in</strong>d sozusagen »Werke« der<br />

Staatskunst. Und auf Grund dieser .»Werke« sollte man sich zum Gesetzgeber entwickeln oder<br />

beurteilen können, welches die besten Gesetze s<strong>in</strong>d. (…) Und so mögen gewiß die Sammlungen<br />

von Gesetzen und Polisverfassungen recht wohl für solche brauchbar se<strong>in</strong>, die befähigt s<strong>in</strong>d, sie<br />

zu studieren und kritisch zu sichten…: wer aber solche Bücher ohne festbegründete (kritische)<br />

Haltung liest, dem wird, vom re<strong>in</strong>en Zufallstreffer natürlich abgesehen, e<strong>in</strong> richtiges Urteil<br />

versagt bleiben …Da uns nun die früheren Denker die Fragen der Gesetzgebung unerforscht<br />

h<strong>in</strong>terlassen haben, so ist es wohl am zweckmäßigsten, wenn wir selbst sie genauer <strong>in</strong>s Auge<br />

fassen und uns mit dem Problem der Polisverfassung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em ganzen Umfang beschäftigen<br />

…“ NE X. 10.<br />

34. „Da wir sehen, dass jeder Staat e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft ist und jede Geme<strong>in</strong>schaft um e<strong>in</strong>es Gutes<br />

willen besteht …, so ist es klar, daß zwar alle Geme<strong>in</strong>schaften auf irgende<strong>in</strong> Gut zielen, am<br />

meisten aber und auf das unter allen bedeutendste Gut jene, die von allen Geme<strong>in</strong>schaften die<br />

bedeutendste ist und alle übrigen <strong>in</strong> sich umschließt. Diese ist der sogenannte Staat und die<br />

staatliche Geme<strong>in</strong>schaft.“ Politik, Buch 1, Kapitel 1<br />

35. „ Die beste Methode dürfte hier wie bei den anderen Problemen se<strong>in</strong>, daß man die Gegenstände<br />

verfolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln. Als Erstes ist es notwendig, daß sich jene<br />

Wesen verb<strong>in</strong>den, die ohne e<strong>in</strong>ander nicht bestehen können, e<strong>in</strong>erseits das Weibliche und das<br />

Männliche der Fortpflanzung wegen …, anderseits das naturgemäß Regierende und Regierte um<br />

der Lebenserhaltung willen. Denn was mit dem Verstand vorauszuschauen vermag, ist von<br />

Natur das Regierende und Herrschende, was aber mit se<strong>in</strong>em Körper das Vorgesehene<br />

auszuführen vermag, ist das von Natur Regierte und Dienende. Darum ist auch der Nutzen für<br />

Herrn und Diener derselbe. (…) Aus diesen beiden Geme<strong>in</strong>schaften entsteht zuerst das Haus.<br />

(…) Die erste Geme<strong>in</strong>schaft, die aus mehreren Häusern und nicht nur um des augenblicklichen<br />

Bedürfnisses willen besteht, ist das Dorf. (…) Endlich ist die aus mehreren Dörfern bestehende<br />

vollkommene Geme<strong>in</strong>schaft der Staat. Er hat gewissermaßen die Grenze der vollendeten<br />

Autarkie erreicht, zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden, dann aber um des


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vollkommenen Lebens willen bestehend. Darum existiert auch jeder Staat von Natur, da es ja<br />

schon die ersten Geme<strong>in</strong>schaften tun. Er ist das Ziel von jenen, und das Ziel ist eben der<br />

Naturzustand. Denn den Zustand, welchen jedes E<strong>in</strong>zelne erreicht, wenn se<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

zum Abschluß gelangt ist, nennen wir die Natur jedes E<strong>in</strong>zelnen, wie etwa des Menschen, des<br />

Pferdes, des Hauses. (…) Außerdem ist der Zweck und das Ziel das Beste. Die Autarkie ist aber<br />

das Ziel und das Beste. Daraus ergibt sich, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört<br />

und daß der Mensch von Natur e<strong>in</strong> Staatenbildendes Lebewesen ist. (…) Der Staat ist denn auch<br />

von Natur ursprünglicher als das Haus oder jeder E<strong>in</strong>zelne von uns. Denn das Ganze muß<br />

ursprünglicher se<strong>in</strong> als der Teil. Wenn man nämlich das Ganze wegnimmt, so gibt es auch<br />

ke<strong>in</strong>en Fuß oder ke<strong>in</strong>e Hand. (…) Alle Menschen haben also von Natur den Drang zu e<strong>in</strong>er<br />

solchen Geme<strong>in</strong>schaft … Wie nämlich der Mensch, wenn er vollendet ist, das beste der<br />

Lebewesen ist, so ist er abgetrennt von Gesetz und Recht das schlechteste von allen. (…) Die<br />

Gerechtigkeit dagegen ist der staatlichen Geme<strong>in</strong>schaft eigen. Denn das Recht ist die Ordnung<br />

der staatlichen Geme<strong>in</strong>schaft, und die Gerechtigkeit urteilt darüber, was gerecht sei. Politik I. 2.<br />

35. „Sprechen wir nun zuerst über die Hausverwaltung. (…) Die Teile der Hausverwaltung s<strong>in</strong>d<br />

wiederum jene, aus denen sich das Haus zusammensetzt. Das vollständige Haus setzt sich aus<br />

Sklaven und Freien zusammen.“ Politik I. 3.<br />

36. „Da nun der Besitz e<strong>in</strong> Teil des Hauses ist … und da wie für die e<strong>in</strong>zelnen bestimmten Künste<br />

die zugehörigen Werkzeuge vorhanden se<strong>in</strong> müssen, wenn die Aufgabe erfüllt werden soll …,<br />

so ist auch für den Hausverwalter der Besitz im e<strong>in</strong>zelnen e<strong>in</strong> Werkzeug zum Leben und im<br />

ganzen e<strong>in</strong>e Sammlung solcher Werkzeuge und der Sklave e<strong>in</strong> beseelter Besitz … (…) Welches<br />

die Natur und die Fähigkeit des Sklaven ist, wird hieraus klar. Der Mensch, der se<strong>in</strong>er Natur<br />

nach nicht sich selbst, sondern e<strong>in</strong>em anderen gehört, ist von Natur e<strong>in</strong> Sklave; e<strong>in</strong>em ändern<br />

Menschen gehört, wer als Mensch e<strong>in</strong> Besitzstück ist, das heißt e<strong>in</strong> für sich bestehendes, dem<br />

Handeln dienendes Werkzeug.“ Politik I. 4.<br />

37. „Auf dieselbe Weise muß es sich nun auch bei den Menschen im allgeme<strong>in</strong>en verhalten.<br />

Diejenigen, die so weit vone<strong>in</strong>ander verschieden s<strong>in</strong>d wie die Seele vom Körper und der<br />

Mensch vom Tier …, diese s<strong>in</strong>d Sklaven von Natur, und für sie ist es, wie bei den vorh<strong>in</strong><br />

genannten Beispielen, besser, auf die entsprechende Art regiert zu werden. (…) Es ist also klar,<br />

daß es von Natur Freie und Sklaven gibt und daß das Dienen für diese zuträglich und gerecht<br />

ist.“ Politik I. 5.<br />

38. „Daß aber auch jene, die das Gegenteil behaupten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gewissen Weise recht haben, ist<br />

nicht schwer e<strong>in</strong>zusehen. Denn Sklaverei und Sklave werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em doppelten S<strong>in</strong>ne<br />

verstanden. Es gibt nämlich auch Sklaven und Sklaverei gemäß dem Gesetz. (…) Die Ursache<br />

dieser Differenz, die bewirkt, daß die Argumente h<strong>in</strong> und her gehen, ist die, daß die Tüchtigkeit,<br />

wenn sie die Mittel besitzt, <strong>in</strong> gewisser Weise auch am leichtesten anderes zu überwältigen<br />

vermag und daß das Siegende stets auch e<strong>in</strong>e Überlegenheit an irgende<strong>in</strong>em Gute aufweist. Also<br />

sche<strong>in</strong>t die Gewalt nicht ohne Tüchtigkeit zu bestehen. Der Streit betrifft nur die rechtmäßige<br />

Ausübung der Gewalt; so sche<strong>in</strong>t nämlich den e<strong>in</strong>en die Gerechtigkeit im Wohlwollen zu<br />

bestehen, den ändern aber gerade die Herrschaft des Stärkeren gerecht zu se<strong>in</strong>. Wenn man<br />

<strong>in</strong>dessen diese Begriffe vone<strong>in</strong>ander trennt, so hat die erste Behauptung, daß nämlich das an<br />

Tüchtigkeit Bessere herrschen und regieren solle, weder Gewicht noch Glaubwürdigkeit. (…)<br />

Aber wenn sie so reden, suchen sie nichts anderes als das naturgemäße Sklaventum, von dem<br />

wir am Anfang gesprochen haben. Denn man muß sagen, daß es Menschen gibt, die unter allen<br />

Umständen Sklaven s<strong>in</strong>d, und solche, die es niemals s<strong>in</strong>d. (…) Daß also der Streit e<strong>in</strong>en Grund<br />

hat und nicht alle Menschen e<strong>in</strong>fach von Natur Freie oder Sklaven s<strong>in</strong>d, ist klar, aber auch, daß<br />

dieser Unterschied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen tatsächlich besteht, wo es denn für den e<strong>in</strong>en zuträglich und<br />

gerecht ist zu dienen, und für den anderen zu herrschen; und zwar muß jedes <strong>in</strong> der Art regiert<br />

werden oder regieren, wie es se<strong>in</strong>er Natur entspricht, was denn auch zum Herrenverhältnis<br />

führen kann.“ Politik I. 6.<br />

39. „Daß nun die Hausverwaltung mit der Erwerbskunst nicht identisch ist, ist klar; die e<strong>in</strong>e schafft<br />

herbei, die andere verwendet. Denn welche Wissenschaft soll die D<strong>in</strong>ge im Hause verwenden,<br />

wenn nicht die Hausverwaltungskunst? (…) Es gibt <strong>in</strong>dessen viele Arten der Ernährung,<br />

weshalb es denn auch viele Lebensformen von Tieren und Menschen gibt. (…) So ist denn e<strong>in</strong>e<br />

Art der Erwerbskunst der Natur nach e<strong>in</strong> Teil der Hausverwaltungskunst. Sie muß vorhanden<br />

se<strong>in</strong> oder beschafft werden, damit von den Gütern, die <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft des Staates oder des


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Hauses für das Leben notwendig und nützlich s<strong>in</strong>d, diejenigen zur Verfügung stehen, die aufgespeichert<br />

werden können.“ Politik I. 8.<br />

40. „Es gibt <strong>in</strong>dessen noch e<strong>in</strong>e andere Art von Erwerbskunst, die man vorzugsweise und mit Recht<br />

als die Kunst des Gelderwerbs bezeichnet; im H<strong>in</strong>blick auf sie sche<strong>in</strong>t ke<strong>in</strong>e Grenze des …<br />

Erwerbs zu bestehen. (…) Beg<strong>in</strong>nen wir die Untersuchung über sie mit folgendem: für jedes<br />

Besitzstück gibt es e<strong>in</strong>e doppelte Verwendung. Jede ist Verwendung des D<strong>in</strong>gs als solchen, aber<br />

nicht <strong>in</strong> derselben Weise, sondern die e<strong>in</strong>e ist dem D<strong>in</strong>g eigentümlich, die andere nicht, so etwa<br />

beim Schuh das Anziehen und die Verwendung zum Tausch. Beides ist Verwendung des<br />

Schuhs. Auch wer den Schuh um Geld oder Nahrungsmittel jemandem gibt, der ihn nötig hat,<br />

verwendet den Schuh als Schuh, aber nicht zu dem ihm eigentümlichen Gebrauche. (…) Der<br />

Tausch ist bei allem möglich, anknüpfend an die naturgemäße Tatsache, daß die Menschen von<br />

den notwendigen Gütern hier zuviel und dort zuwenig haben. (…) E<strong>in</strong> derartiger Tauschhandel<br />

ist weder gegen die Natur, noch ist er e<strong>in</strong>e besondere Form der Erwerbskunst …; aber allerd<strong>in</strong>gs<br />

entsteht folgerichtig aus ihm jene andere Kunst. Denn durch die E<strong>in</strong>fuhr dessen, was man<br />

entbehrte, und die Ausfuhr des Überschusses dehnte sich die Hilfeleistung über die<br />

Landesgrenzen h<strong>in</strong>aus aus, und so ergab sich mit Notwendigkeit die Verwendung von Geld.<br />

Denn nicht alle naturgemäß notwendigen Güter s<strong>in</strong>d leicht zu transportieren. Also kam man<br />

übere<strong>in</strong>, beim Tausch gegenseitig e<strong>in</strong>e Sache zu nehmen und zu geben, die selbst nützlich und<br />

im täglichen Verkehr handlich war, wie Eisen, Silber usw. (…) Als nun schon das Geld aus den<br />

Bedürfnissen des Tauschverkehrs geschaffen war, entstand die zweite Art der Erwerbskunst, die<br />

Kaufmannskunst … (…) So sucht man e<strong>in</strong>e andere Bestimmung des Reichtums und der<br />

Erwerbskunst, und mit Recht. Denn die rechte Erwerbskunst ist etwas anderes und ebenso der<br />

naturgemäße Reichtum; es ist die Hausverwaltungskunst. Die Kaufmannskunst dagegen<br />

produziert zwar Vermögen, aber nicht schlechth<strong>in</strong>, sondern nur durch den Umsatz von<br />

Gegenständen; und nur sie sche<strong>in</strong>t sich um das Geld zu drehen. (…) Darum ist der Reichtum,<br />

der von dieser Erwerbskunst kommt, allerd<strong>in</strong>gs unbegrenzt. (…) Ursache dieser Verfassung ist,<br />

daß man sich um das Leben, aber nicht um das vollkommene Leben bemüht. Politik I. 9.<br />

41. „Da es aber e<strong>in</strong>e doppelte Erwerbskunst gibt, … die des Kaufmanns und die des<br />

Hausverwalters, und da diese notwendig und lobenswert ist, die Tauschkunst dagegen mit Recht<br />

getadelt wird …, so ist erst recht der Wucher hassenswert, der aus dem Geld selbst den Erwerb<br />

zieht … und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen<br />

erfunden worden, … (…) Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.“<br />

Politik I. 10.<br />

42. „Da wir nun drei Teile der Hausverwaltungslehre unterschieden haben, das Herrenverhältnis,<br />

von dem vorh<strong>in</strong> gesprochen wurde, das Vaterverhältnis und drittens das eheliche Verhältnis<br />

…,Denn das Männliche ist von Natur zur Leitung mehr geeignet als das Weibliche … und<br />

ebenso das Ältere und Erwachsene mehr als das Jüngere und Unerwachsene.“ Politik I. 12.<br />

43. Es ist also klar, daß die Aufmerksamkeit der Hausverwaltung sich mehr auf die Menschen<br />

richten wird als auf den unbeseelten Besitz, und mehr auf die Tüchtigkeit von jenen als auf den<br />

Vorzug des Besitzes, den man Reichtum nennt, und mehr auf die Tugend der Freien als auf die<br />

der Sklaven. (…) E<strong>in</strong> Vorbild dafür haben wir gleich an der Seele. Denn <strong>in</strong> ihr gibt es e<strong>in</strong> von<br />

Natur Herrschendes und e<strong>in</strong> Dienendes, und jedes von beiden, das Vernunftbegabte und das<br />

Vernunftlose, hat se<strong>in</strong>e eigene Tugend. Offensichtlich verhält es sich so auch beim anderen.<br />

Also gibt es von Natur mehrere Arten von Herrschendem und Dienendem. (…) Der Sklave besitzt<br />

das planende Vermögen überhaupt nicht, das Weibliche besitzt es zwar, aber ohne<br />

Entscheidungskraft, das K<strong>in</strong>d besitzt es, aber noch unvollkommen. Ebenso muß es sich auch mit<br />

den ethischen Tugenden verhalten. Alle müssen an ihnen teilhaben, aber nicht auf dieselbe<br />

Weise, sondern soviel e<strong>in</strong> jedes für se<strong>in</strong>e besondere Aufgabe braucht. So muß der Regent die<br />

ethische Tugend vollkommen besitzen … und von den anderen jedes so viel, als ihm zukommt.<br />

Also gehört die ethische Tugend allen Genannten, doch ist die Besonnenheit des Mannes und<br />

der Frau nicht dieselbe und auch nicht die Tapferkeit und die Gerechtigkeit, wie Sokrates<br />

me<strong>in</strong>te, sondern das e<strong>in</strong>e ist e<strong>in</strong>e regierende Tapferkeit, das ändere e<strong>in</strong>e dienende und so<br />

weiter.“ Politik I. 13.<br />

44. „Wir müssen mit dem beg<strong>in</strong>nen, was der naturgemäße Anfang e<strong>in</strong>er solchen Prüfung ist.<br />

Notwendigerweise haben alle Bürger entweder alles geme<strong>in</strong>sam …, oder e<strong>in</strong>iges. Das sie nichts<br />

geme<strong>in</strong>sam ist offenbar unmöglich. Denn der Staat ist e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft, und es ist als erstes


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notwendig, den Raum geme<strong>in</strong>sam zu haben.“ Politik II. 1. „Was sehr vielen geme<strong>in</strong>sam gehört,<br />

dafür wird am wenigsten Sorge getragen. Am meisten denkt man an die eigenen<br />

Angelegenheiten an die gemenínsamen … nur soweit, als sie den e<strong>in</strong>zelnen berühren. Denn …<br />

man nimmt die Sache <strong>in</strong> diesem Fall leichter, weil man denkt, e<strong>in</strong> anderer werde schon dafür<br />

sorgen …“ Politik II. 3. „Es ist mit Worten nicht zu sagen. Welche eigenartige Befriedigung es<br />

gewährt, wenn man etwas se<strong>in</strong> eigen nennt. Sicherlich nicht von ungefähr hat jeder e<strong>in</strong>en<br />

Selbsterhaltungstrieb, vielmehr ist er uns von Natur e<strong>in</strong>gepflanzt. (…) Erfahrungsgemäß<br />

bekommen Menschen, die etwas geme<strong>in</strong>sam … nutzen, viel mehr Streit mite<strong>in</strong>ander als die<br />

Inhaber von Privateigentum.“ Politik II. 5.<br />

45. „Wir suchen aber jenen, der schlechth<strong>in</strong> Staatsbürger ist ohne e<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>schränkung … Der<br />

Staatsbürger schlechth<strong>in</strong> läßt sich nun durch nichts anderes genauer bestimmen als dadurch, daß<br />

er am Gerichte und an der Regierung teilnimmt. (…) So existiert der Bürger, wie wir ihn<br />

bestimmt haben, vor allem <strong>in</strong> der Demokratie, <strong>in</strong> den anderen Verfassungen kann er existieren,<br />

muß es aber nicht. (…)“ Politik III. 1.<br />

46. „Da nämlich der Staat e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft ist, und zwar e<strong>in</strong>e solche von Staatsbürgern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Verfassung, so sche<strong>in</strong>t auch der Staat nicht mehr derselbe se<strong>in</strong> zu können, wenn die<br />

Verfassung ihrer Art nach e<strong>in</strong>e andere wird und sich wandelt. Wie wir e<strong>in</strong>en tragischen und<br />

e<strong>in</strong>en komischen Chor vone<strong>in</strong>ander unterscheiden, obschon es vielfach dieselben Menschen<br />

s<strong>in</strong>d, so wird jede Geme<strong>in</strong>schaft und Zusammensetzung e<strong>in</strong>e andere se<strong>in</strong> … Wenn es sich so<br />

verhält, so wird man offenbar dann am ehesten von der Kont<strong>in</strong>uität e<strong>in</strong>es Staates reden können,<br />

wenn man von der Verfassung ausgeht.“ Politik III. 3.<br />

47. „Im Zusammenhang mit dem Gesagten steht die Frage, ob die Tugend des tüchtigen Mannes<br />

und die des tüchtigen Bürgers dieselbe sei oder nicht. (…) Wie nun der Seemann zur<br />

Schiffsgeme<strong>in</strong>schaft gehört, so steht es auch mit dem Bürger. Die Funktion der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Seeleute ist e<strong>in</strong>e verschiedene (der e<strong>in</strong>e ist Ruderer, der an den Steuermann, der dritte<br />

Vordersteuermann usw.), und so wird offenbar die genaueste Bestimmung jedes E<strong>in</strong>zelnen von<br />

der ihm eigentümlichen Leistung ausgehen. Gleichzeitig wird es e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Bestimmung<br />

geben, die auf sie alle paßt. Denn die Erhaltung des Schiffes auf der Fahrt ist ihr geme<strong>in</strong>same<br />

Werk … So ist denn auch bei der Bürgern, … die Erhaltung der Geme<strong>in</strong>schaft ihr geme<strong>in</strong>sames<br />

Werk …Also muß die Tugend des Bürgers an der Staatsverfassung orientiert se<strong>in</strong>. … (…) … es<br />

gibt auch e<strong>in</strong>e Herrschaft, <strong>in</strong> der man über Gleichartige und Freie regiert. Diese nennen wir die<br />

politische Herrschaft. Sie muß der Regent lernen dadurch, daß er regiert wird: Reiterführer wird<br />

er, <strong>in</strong>dem er als Reiter dient, Feldherr, <strong>in</strong>dem er als Soldat dient, … Darum wird auch mit Recht<br />

gesagt, daß ke<strong>in</strong>er gut regieren kann, der nicht sich gut hat regieren lassen. Hier handelt es sich<br />

um verschiedene Tugenden; der gute Bürger aber muß sich sowohl regieren lassen, wie auch<br />

regieren können, und dies ist die Tugend des Bürgers: die Regierung von Freien <strong>in</strong> beiden<br />

Richtungen zu verstehen.“ Politik III. 4.<br />

48. „E<strong>in</strong>e Verfassung ist e<strong>in</strong>e Ordnung des Staates h<strong>in</strong>sichtlich der verschiedenen Ämter … Das<br />

wichtigste ist überall die Regierung des Staates, und diese Regierung repräsentiert eben die<br />

Verfassung. Ich me<strong>in</strong>e es so: <strong>in</strong> der Demokratie regiert das Volk, <strong>in</strong> der Oligarchie umgekehrt<br />

die Wenigen, und so kennen wir auch noch andere Staatsformen. (…) Wir müssen zuerst als<br />

Voraussetzung feststellen, um welchen Zweckes willen der Staat entstanden ist, und wie viele<br />

Formen der Regierung es gibt im H<strong>in</strong>blick auf den Menschen und die Lebensgeme<strong>in</strong>schaft. (…)<br />

Man kann nun leicht die genannten Arten von Regierung ause<strong>in</strong>anderhalten. (…) Die Despotie<br />

etwa regiert … vorzugsweise zum Nutzen des Herrn und nur beiläufig zu demjenigen des<br />

Sklaven, sofern nämlich die Despotie nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn der Sklave<br />

zugrunde geht. Dagegen vollzieht sich die Herrschaft über die K<strong>in</strong>der, die Frau und das ganze<br />

Haus, die wir die Hausverwaltung nennen, entweder dem Beherrschten zum Nutzen, oder zum<br />

geme<strong>in</strong>samen Nutzen beider … (…) Darum achtet man auch darauf, daß die Staatsämter, soweit<br />

sie auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger aufgebaut s<strong>in</strong>d, immer abwechselnd<br />

besetzt werden, so daß e<strong>in</strong>er, wie es sich gehört, zuerst der Gesamtheit dient und dann wieder<br />

se<strong>in</strong>en eigenen Nutzen wahrnimmt … (…) Soweit also die Verfassungen das Geme<strong>in</strong>wohl<br />

berücksichtigen, s<strong>in</strong>d sie im H<strong>in</strong>blick auf das schlechth<strong>in</strong> Gerechte richtig; diejenigen aber, die<br />

nur das Wohl der Regierenden im Auge haben, s<strong>in</strong>d allesamt verfehlt und weichen von den<br />

richtigen Verfassungen ab.“ Politik III. 6.


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49. „Da nun die Staatsverfassung und die Staatsregierung dasselbe me<strong>in</strong>en und die Staatsregierung<br />

das ist, was den Staat beherrscht, so wird dieses Beherrschende E<strong>in</strong>es oder E<strong>in</strong>ige oder die<br />

Mehrheit se<strong>in</strong> müssen. Wenn nun der E<strong>in</strong>e oder die E<strong>in</strong>igen oder die Vielen im H<strong>in</strong>blick auf das<br />

Geme<strong>in</strong>wohl regieren, dann s<strong>in</strong>d dies notwendigerweise richtige Staatsformen, verfehlte aber<br />

jene, wo nur der eigene Nutzen des E<strong>in</strong>en, der E<strong>in</strong>igen oder der Vielen bezweckt wird. (…) Wir<br />

nennen nun von den Monarchien jene, die auf das Geme<strong>in</strong>wohl schaut, das Königtum, von den<br />

Regierungen E<strong>in</strong>iger, also mehrerer …, die entsprechende die Aristokratie … Wenn aber die<br />

Menge zum allgeme<strong>in</strong>en Nutzen regiert, so wird dies mit dem geme<strong>in</strong>samen Namen aller<br />

Verfassungen, nämlich Politie benannt. (…) Verfehlte Formen im genannten S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d für das<br />

Königtum die Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die Demokratie.<br />

Denn die Tyrannis ist e<strong>in</strong>e Alle<strong>in</strong>herrschaft zum Nutzen des Herrschers, die Oligarchie e<strong>in</strong>e<br />

Herrschaft zum Nutzen der Reichen und die Demokratie e<strong>in</strong>e solche zum Nutzen der Armen.“<br />

Politik III. 7.<br />

50. Zuerst gilt es, die Theorien der Oligarchie und Demokratie ... richtig zu beschreiben. Denn alle<br />

haben es mit irgende<strong>in</strong>er Gerechtigkeit zu tun, aber nur bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grade und nicht<br />

mit der ganzen und eigentlichen Gerechtigkeit. So sche<strong>in</strong>t etwa die Gleichheit gerecht zu se<strong>in</strong>,<br />

und sie ist es auch, aber nicht unter allen, sondern nur unter den Ebenbürtigen. (…) Da also die<br />

Gerechtigkeit ihrem Wesen nach e<strong>in</strong>e Beziehung darstellt, und zwar <strong>in</strong> derselben Weise e<strong>in</strong>e<br />

Beziehung auf Sachen und auf Menschen, wie früher <strong>in</strong> der Ethik gesagt wurde, so geben die<br />

Leute zwar die Gleichheit <strong>in</strong> den Sachen zu, streiten aber h<strong>in</strong>sichtlich der Menschen. (…)<br />

Offensichtlich ist also der Staat nicht bloß e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft … um des Handels willen. …<br />

aber auch wenn all das vorhanden ist, ist noch ke<strong>in</strong> Staat vorhanden, sondern dieser beruht auf<br />

der Geme<strong>in</strong>schaft des edlen Lebens <strong>in</strong> Häusern und Familien um e<strong>in</strong>es vollkommenen und<br />

selbständigen Lebens willen. (…) Ziel des Staates ist also das edle Leben, und jenes andere ist<br />

um dieses Zieles willen da. (…) Dieses endlich ist, wie wir betonen, das glückselige und edle<br />

Leben. (…) Wer darum zu e<strong>in</strong>er solchen Geme<strong>in</strong>schaft am meisten beiträgt, der hat auch e<strong>in</strong>en<br />

größeren Anteil an dem Staate als jene, die an Freiheit und Abkunft gleich oder sogar überlegen<br />

s<strong>in</strong>d, … oder jene, die an Reichtum hervorragen, an Tugend aber zurückstehen.“ Politik III. 9.<br />

51. „Gefragt wird nun, was das Entscheidende im Staate se<strong>in</strong> soll: die Menge, die Reichen, die<br />

Anständigen, der E<strong>in</strong>e, der der beste von allen wäre, oder der Tyrann?“ Politik III. 10.<br />

52. Daß aber die Entscheidung eher bei der Menge als bei der ger<strong>in</strong>gen Zahl der Besten zu liegen<br />

habe, das sche<strong>in</strong>t … sich verteidigen zu lassen … Denn die Menge … sche<strong>in</strong>t doch <strong>in</strong> ihrer<br />

Gesamtheit besser se<strong>in</strong> zu können als jene Besten … Denn es s<strong>in</strong>d viele, und jeder hat e<strong>in</strong>en<br />

Teil an Tugend und E<strong>in</strong>sicht. Wenn sie zusammenkommen, so wird die Menge wie e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger<br />

Mensch, der viele Füße, Hände und Wahrnehmungsorgane hat und ebenso, was den Charakter<br />

und den Intellekt betrifft. (…) So übertragen ihnen Solon und e<strong>in</strong>ige andere Gesetzgeber die<br />

Wahl der Beamten und deren Rechenschaftsabnahme, aber selbständig regieren lassen sie sie<br />

nicht. Denn wenn sie alle zusammenkommen, haben sie genügend Verstand, und wenn sie mit<br />

Besseren zusammen s<strong>in</strong>d, so nützen sie dem Staate, so wie die unre<strong>in</strong>e Nahrung, wenn sie der<br />

re<strong>in</strong>en beigemischt wird, das Ganze nahrhafter macht, als wenn es nur wenig wäre. Für sich<br />

alle<strong>in</strong> ist aber der E<strong>in</strong>zelne unfähig zu entscheiden.“ Politik III. 11.<br />

53. „Da nun <strong>in</strong> allen Wissenschaften und Künsten das Gute das Ziel ist, so gilt dies am meisten und<br />

vor allem <strong>in</strong> … der Kunst des Staatsmannes. Das politische Gute ist das Gerechte, und dieses ist<br />

das, was der Allgeme<strong>in</strong>heit zuträglich ist. Das Gerechte sche<strong>in</strong>t nun Gleichheit für alle zu se<strong>in</strong>.<br />

(…) Man könnte sagen, daß die Ämter je nach dem Vorrang <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em Gute ungleich<br />

verteilt werden müßten … Denn wo überhaupt Unterschiede vorhanden s<strong>in</strong>d, da ist auch die<br />

Gerechtigkeit und die Würdigkeit e<strong>in</strong>e andere. (…) Man muß also vielmehr <strong>in</strong> den D<strong>in</strong>gen<br />

wetteifern, die den Staat konstituieren, und so bewerben sich vernünftigerweise die Edlen,<br />

Freien und Reichen um die Ämter. … (nur aus Armen kann e<strong>in</strong> Staat ebensowenig bestehen wie<br />

nur aus Sklaven), und wenn dies notwendig ist, dann ist es auch die Gerechtigkeit und die<br />

kriegerische Tugend.“ Politik III. 12.<br />

54. „Das gleichmäßig Richtige bezieht sich auf den Nutzen des ganzen Staates und auf die<br />

Geme<strong>in</strong>schaft der Bürger. Bürger ist im allgeme<strong>in</strong>en der, der am Regieren und Regiertwerden<br />

beteiligt ist, <strong>in</strong> jeder Verfassung e<strong>in</strong> anderer, <strong>in</strong> der besten aber derjenige, der fähig und willens<br />

ist, zu regieren und sich regieren zu lassen im S<strong>in</strong>ne des tugendgemäßen Lebens. (…) Im<br />

vollkommenen Staate besteht jedoch die große Schwierigkeit nicht im Übermaß <strong>in</strong> … Gütern,


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wie dem E<strong>in</strong>fluß, dem Reichtum und den Beziehungen, sondern dar<strong>in</strong>, was geschehen soll,<br />

wenn e<strong>in</strong>er an Tüchtigkeit hervorragt. Man wird doch e<strong>in</strong>en solchen nicht verbannen und<br />

entfernen und noch weniger über e<strong>in</strong>en solchen regieren wollen. Denn das wäre, als wollte man<br />

über Zeus regieren und die Herrschaft reihum gehen lassen. Es bleibt also, was ja auch das<br />

Natürliche sche<strong>in</strong>t, daß alle e<strong>in</strong>em solchen willig gehorchen, so daß diese <strong>in</strong> ihren Staaten<br />

Könige auf Lebenszeit werden.“ Politik III. 13.<br />

55. „Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob es besser ist, vom vollkommenen<br />

Menschen oder von den vollkommenen Gesetzen beherrscht zu werden. Jene, die e<strong>in</strong>e<br />

Königsherrschaft vorziehen, glauben, daß die Gesetze nur das Allgeme<strong>in</strong>e sagen, aber ke<strong>in</strong>e<br />

Vorschriften von Fall zu Fall geben können. Es ist aber <strong>in</strong> jeder Kunst e<strong>in</strong>fältig, sich nach<br />

Geschriebenem zu richten … Aus demselben Grunde wird also auch die auf Geschriebenes und<br />

auf Gesetze aufgebaute Verfassung nicht die beste se<strong>in</strong> können. (…) Was aber das Gesetz …<br />

nicht richtig regeln kann, soll da der E<strong>in</strong>e als der Beste regieren oder Alle? (…) Jeder für sich<br />

alle<strong>in</strong> ist vielleicht, verglichen mit den andern, schlechter. Aber der Staat besteht aus vielen, so<br />

wie e<strong>in</strong> Festessen, wo viele beitragen, schöner ist als e<strong>in</strong>s, das e<strong>in</strong>er für sich alle<strong>in</strong> bestellt. Und<br />

so wird die Menge vieles besser beurteilen können als e<strong>in</strong> beliebiger E<strong>in</strong>zelner. (…) Wenn man<br />

also die Herrschaft von Mehreren, die alle tüchtig s<strong>in</strong>d, als Aristokratie bezeichnen soll und die<br />

des E<strong>in</strong>zelnen als Königtum, so ist offenbar für die Staaten die Aristokratie wünschbarer als das<br />

Königtum, … wenn es nur gel<strong>in</strong>gt, mehrere gleich Tüchtige zu f<strong>in</strong>den.“ Politik III. 15.<br />

56. „In e<strong>in</strong>igen Fällen mag dies richtig se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> andern wohl weniger. Denn es gibt Menschen, die<br />

von Natur unter despotischer, andere, die unter königlicher Herrschaft stehen müssen, und<br />

andere, für die e<strong>in</strong>e Politie gerecht und zuträglich ist. (…) Aus dem Gesagten ergibt sich<br />

sicherlich, daß es bei Ebenbürtigen und Gleichen nicht zuträglich und gerecht ist, daß E<strong>in</strong>er<br />

Herr über alle sei. (…) Zuvor … ist zu bestimmen, was die königliche, die aristokratische und<br />

die politische Regierungsform ist. Königlich regiert ist e<strong>in</strong>e solche Menge, die ihrer Natur nach<br />

e<strong>in</strong> an Tugend hervorragendes Geschlecht <strong>in</strong> der politischen Führung akzeptiert, aristokratisch<br />

e<strong>in</strong>e Menge, die als e<strong>in</strong>e freie durch die <strong>in</strong> der Tugend Hervorragenden <strong>in</strong> politischen<br />

Beamtenstellen regiert werden kann, und endlich politisch e<strong>in</strong>e solche, wor<strong>in</strong> abwechselnd<br />

Regieren und Regiertwerden stattf<strong>in</strong>det gemäß e<strong>in</strong>em Gesetz, das <strong>in</strong> richtiger Weise die Ämter<br />

verteilt.“ Politik III. 17.<br />

57. „Von der Demokratie ist die erste die, <strong>in</strong> der die Gleichheit am vollkommensten verwirklicht ist.<br />

Der Gleichheitsgrundsatz liegt <strong>in</strong> der Satzung e<strong>in</strong>er solchen Demokratie dar<strong>in</strong>, daß jeder, ob arm<br />

oder reich, nicht mehr ist als der andere und ke<strong>in</strong>er Herr ist … (…) Da das Volk nun <strong>in</strong> der<br />

Mehrzahl ist und das gilt, was der mehrzahl recht sche<strong>in</strong>t, so muß diese Form e<strong>in</strong>e wirkliche<br />

Volksherrschaft se<strong>in</strong>.“ Politik IV. 2.<br />

58. In allen Staaten gibt es drei Klassen von Bürgern: sehr reiche, sehr arme und drittens solche, die<br />

zwischen beiden <strong>in</strong> der Mitte stehen. Da die Voraussetzung gilt, daß … das Mittlere das beste<br />

ist, so sieht man, daß auch <strong>in</strong> bezug auf die Vermögensverhältnisse der mittlere Besitz von allen<br />

der beste ist … (…) Zudem besitzen Leute, die sich e<strong>in</strong>es Übermaßes von Glücksgütern …<br />

erfreuen, weder die Neigung noch die E<strong>in</strong>sicht, anderen zu gehorchen …-umgekehrt s<strong>in</strong>d<br />

Menschen, die an diesen D<strong>in</strong>gen über die Maßen Mangel leiden, allzu unterwürfig. (…) Das<br />

ergibt e<strong>in</strong> Staat von Knechten und Herren, … und damit e<strong>in</strong>en Zustand, der zu Freundschaft und<br />

staatlicher Geme<strong>in</strong>schaft im größten Gegensatz steht. (…) Es ist daher klar, daß sich die<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, die sich auf den Mittelstand gründet, die beste ist … Politik IV. 11.<br />

59. „Es gibt im ganzen drei Bestandteile der Verfassung … (…) Von diesen drei Stücken ist e<strong>in</strong>es<br />

die über die geme<strong>in</strong>samen Angelegenheiten beratende Gewalt, e<strong>in</strong> zweites betrifft die<br />

Verwaltung … drittens muß erwogen werden, wer mit der Rechtsprechung zu betrauen ist.“<br />

Politik IV. 14.<br />

60. „Das wichtigste Erfordernis für jede Verfassung ist, sie … so e<strong>in</strong>zurichten, daß die Behörden<br />

aus ihrer Stellung ke<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n ziehen.“ Politik IV. 18.<br />

61. „Den Männern, welche die obersten Staatsämter bekleiden sollen, s<strong>in</strong>d dreierlei Eigenschaften<br />

vonnöten: erstens Liebe zur bestehenden Verfassung, zweitens die größte Befähigung für die<br />

Aufgaben des Amtes, drittens Tugend und Gerechtigkeit gemäß der jeweiligen Verfassung.“<br />

Politik V. 9.<br />

62. „Grundvoraussetzung der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. (…) E<strong>in</strong> Stück der<br />

Freiheit besteht dar<strong>in</strong>, daß man abwechselnd gehorcht und befiehlt. Für das demokratische


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Recht ist es wesentlich, daß alle völlige Gleichheit genießen, wobei es alle<strong>in</strong> auf die Zahl, nicht<br />

auf die Verdienste ankommt.“ Politik VI. 2.<br />

63. Die extremste Demokratie, <strong>in</strong> der alle ohne Unterschied im Genusse der staatsbürgerlichen<br />

Rechte s<strong>in</strong>d, kann nicht jeder Staat ertragen, und sie kann sich auf Dauer nicht leicht behaupten,<br />

wenn ihr nicht Gesetz und Sitte festen Halt verleihen.“ Politik VI. 4.<br />

64. „Wenn nun die Natur nichts unvollkommen und nichts zwecklos macht, so muß die Natur all<br />

dies um der Menschen willen gemacht haben. Darum ist auch die Kriegskunst von Natur e<strong>in</strong>e<br />

Art von Erwerbskunst …, die man anwenden muß gegen … jene Menschen, die vom Natur zum<br />

dienen bestimmt s<strong>in</strong>d und dies doch nicht wollen. Denn e<strong>in</strong> solcher Krieg ist von Natur<br />

gerecht.“ Politik I. 8.<br />

65. „Daß die Staatsverfassung die beste ist, bei deren E<strong>in</strong>richtung sich jedermann … glücklich lebt,<br />

liegt auf der Hand. Daraus ergibt sich, daß man alle auf den Krieg berechneten E<strong>in</strong>richtungen<br />

zwar als gut und recht bezeichnen muß, nicht aber als absolut höchsten Zweck.“ Politik VII. 2.

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