36 Zoom SIND WIR WIRKLICH EIN VOLK? 25 JAHRE NACH DEM MAUERFALL
Vor 25 Jahren, am 09. November 1989, fiel die Berliner Mauer, am Ende stand die Wiedervereinigung. Wächst seitdem wirklich zusammen, was zusammengehört? Sind sich Ost- und Westdeutsche noch immer fremd, nach 25 Jahren deutscher Einheit? Wir haben bei einem <strong>Augsburg</strong>er aus dem Osten Deutschlands und einer <strong>Augsburg</strong>erin, die jetzt in Dresden lebt, nach Antworten gesucht. Von Marcus Ertle 37 Berlin, 9. November 1989. Internationales Pressezentrum Günther Schabowski, Mitglied des SED-Zentralkomitees, ist sichtlich nervös. Er wird gleich vor internationalen Pressevertretern verkünden, dass die Mauer für ständige Ausreisen geöffnet werden soll. Das ist das Ende des „Antifaschistischen Schutzwalls“ und später auch der DDR. Irrtümlich erklärt Schabowski nach mehrmaligen Nachfragen, dass die Öffnung sofort in Kraft tritt. Schabowski: „Nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.“ Daraufhin strömen die Berliner aus Ost und West zu hunderttausenden in Richtung Mauer. Die überraschten Grenzpolizisten lassen die Massen passieren. In ihren Gesichtern sieht man Fassungslosigkeit, die Grenze, die bisher am schärfsten bewachte der Welt, hat ihren Sinn verloren. Millionen sitzen vor ihren Fernsehgeräten und sehen, wie sich fremde Menschen in den Armen liegen. Am Rand von <strong>Augsburg</strong>, 9. November 1989 Vivian Wagner, neun Jahre alt, sitzt mit ihren Eltern vor dem Fernseher. Irgendetwas Besonderes passiert. Die Eltern schauen gebannt auf die Bilder aus Berlin. Eigentümlich altmodische Autos, später werden sie „Trabis“ genannt, fahren durch ein Spalier begeisterter Menschen, die auf die Plastikdächer klopfen, viele weinen vor Freude. Hinter ihnen liegt die Grenze der zwei deutschen Staaten, eine Grenze, die in diesen Momenten fällt. In den nächsten Tagen und Wochen werden Menschen in ganz Westdeutschland, später „alte Bundesländer“ genannt, freundlich winken, wenn ein Trabi an ihnen vorbeifährt. Bald darauf hat Vivian die ersten Kontakte zu ostdeutschen Mitbürgern, die man später abwertend als „Ossis“ bezeichnen wird. Ihr Vater arbeitet in einer Firma, die kurz nach der Wende viele Techniker aus dem Osten anstellt, manchmal rufen diese daheim an und wollen den Vater sprechen. Vivian: „Ich habe den Hörer dann immer schnell an meine Eltern weitergereicht, weil ich den sächsischen Dialekt nicht verstanden habe.“ Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, 9. November 1989 David Jahnke, 13 Jahre alt, kann es nicht fassen, er sitzt alleine im Wohnzimmer und sieht wahrscheinlich dieselben Bilder wie Vivian Wagner 300 Kilometer weiter westlich. Sein Bruder ist noch in der Nacht in den Westen gefahren, als er am nächsten Morgen zurückkommt, hält er begeistert den leeren Trinkbecher einer Fastfoodkette in der Hand. David: „Alles, was ich bis dahin in der Schule gelernt hatte, war von einem auf den anderen Tag null und nichtig.“ <strong>Augsburg</strong>, Dezember 1990 Chemnitz ist eine Textilstadt, deren Industrie nicht konkurrenzfähig ist. Reihenweise schließen die Fabriken. Werden „plattgemacht“, wie es David formuliert. Seine Eltern verlieren bald nach der Wende ihre Arbeit, in Chemnitz sehen sie keine Perspektive mehr. Sie ziehen in den Westen, in eine andere Textilstadt: <strong>Augsburg</strong>. Einen Kulturschock will er nicht erlitten haben. David: „Warum auch, wir haben in der DDR ja nicht hinter dem Mond gelebt. Und so besonders war die alte BRD ja auch nicht. Außer, dass es im Westen eben mehr Konsumgüter gab.“ Am Rand von Dresden, Oktober <strong>2014</strong> Vivian lebt mit ihrer Familie seit zwei Monaten in Dresden. Sie ist Kommunikationsdesignern, verheiratet, hat zwei Kinder und heißt jetzt mit Nachnamen Breithardt. Am liebsten wären sie und ihr Mann ins Ausland gezogen. Dann bekommt er zwei Jobangebote, eines in Stuttgart, das andere in Dresden. Sie entscheiden sich für Dresden. Vivian: „Dresden fanden wir viel spannender als Stuttgart, der Osten war für uns anfangs so was wie ein weißer Fleck auf der Karte. Der sächsische Dialekt hat mich anfangs am meisten abgeschreckt, aber jetzt finde ich, dass er was Warmes hat.“ Ein weißer Fleck auf der Karte ist der Osten auch für manche Freunde von Vivian, denen sie von ihren Umzugsplänen erzählt. „In den Osten wollt ihr ziehen? Da, wo der Soli hinfließt?“ Andere Freunde, namentlich die, die schon einmal im Osten waren, reagieren positiver. „Ihr zieht nach Dresden? Das ist eine der schönsten Städte in Deutschland.“ Vivian: „Man hat da eben dieses verzerrte Bild von Ostdeutschland im Kopf. Graue Häuser, Nazis, Verfall, tote Hose. Dabei ist gerade in den großen Städten viel passiert, da gibt es keinen großen Unterschied mehr zu Städten im Westen. Dieses Ossi-Wessi-Ding ist vor allem bei älteren Leuten ausgeprägt, je jünger und gebildeter, desto weniger spielt das eine Rolle.“ Chemnitz, <strong>2014</strong> Die Zeit schreitet voran, oft ungnädig. In <strong>Augsburg</strong>, in Chemnitz, früher Karl-Marx-Stadt. Die Volkseigenen Betriebe, kurz VEB, sind verfallen. Mit den Häusern und den Fabriken verschwinden im Osten oft auch die Koordinaten der eigenen Biographie. David: „Wo früher das Haus stand, in dem ich großgeworden bin, ist jetzt ein Lidl-Parkplatz.“ <strong>Augsburg</strong>, Oktober <strong>2014</strong> David Jahnke lebt jetzt seit fast 25 Jahren in <strong>Augsburg</strong>. Er betreibt mit Partnern ein Vinylschnittstudio und ein Plattenlabel. Mentalitätsunterschiede zwischen Ostund Westdeutschen sieht er keine mehr. David: „Das wäre mir viel zu pauschal, man kann das nicht verallgemeinern, das Ossi-Wessi-Ding sehe ich bei jüngeren, gebildeteren Leuten nicht mehr so ausgeprägt.“ Dresden, Oktober <strong>2014</strong> Aber was ist mit den Vorurteilen, den Bildern im Kopf, die Vivian Breithardt beschrieben hat? Gibt es nicht verschiedene Mentalitäten, wenn Gesellschaften mehr als vierzig Jahre durch zwei verschiedene Staatsformen geprägt werden? Vivian: „Ich glaube, die Menschen gehen hier offen aufeinander zu, stapeln eher tiefer und prahlen weniger als die Leute im Westen. Aber Mentalitätsunterschiede gibt es ja auch im Westen, z.B. zwischen Hessen, Bayern und Hamburgern. Mich fragen in Dresden natürlich auch noch ab und zu Leute, wieso ich denn vom Westen in den Osten gezogen bin. Aber ich glaube, dass auch das irgendwann ganz normal sein wird.“