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Neue Szene Augsburg 2014-11

Das Stadtmagazin für Augsburg und Umgebung. Aktuelle Info und Veranstaltungskalender unter www.neue-szene.de

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Vor 25 Jahren, am 09. November 1989, fiel die Berliner<br />

Mauer, am Ende stand die Wiedervereinigung. Wächst seitdem<br />

wirklich zusammen, was zusammengehört? Sind sich<br />

Ost- und Westdeutsche noch immer fremd, nach 25 Jahren deutscher<br />

Einheit? Wir haben bei einem <strong>Augsburg</strong>er aus dem Osten<br />

Deutschlands und einer <strong>Augsburg</strong>erin, die jetzt in Dresden lebt,<br />

nach Antworten gesucht.<br />

Von Marcus Ertle<br />

37<br />

Berlin, 9. November 1989. Internationales Pressezentrum<br />

Günther Schabowski, Mitglied des SED-Zentralkomitees,<br />

ist sichtlich nervös. Er wird gleich vor internationalen<br />

Pressevertretern verkünden, dass die Mauer<br />

für ständige Ausreisen geöffnet werden soll. Das ist<br />

das Ende des „Antifaschistischen Schutzwalls“ und<br />

später auch der DDR. Irrtümlich erklärt Schabowski<br />

nach mehrmaligen Nachfragen, dass die Öffnung sofort<br />

in Kraft tritt.<br />

Schabowski: „Nach meiner Kenntnis… ist das sofort,<br />

unverzüglich.“<br />

Daraufhin strömen die Berliner aus Ost und West zu<br />

hunderttausenden in Richtung Mauer. Die überraschten<br />

Grenzpolizisten lassen die Massen passieren. In<br />

ihren Gesichtern sieht man Fassungslosigkeit, die<br />

Grenze, die bisher am schärfsten bewachte der Welt,<br />

hat ihren Sinn verloren. Millionen sitzen vor ihren<br />

Fernsehgeräten und sehen, wie sich fremde Menschen<br />

in den Armen liegen.<br />

Am Rand von <strong>Augsburg</strong>, 9. November 1989<br />

Vivian Wagner, neun Jahre alt, sitzt mit ihren Eltern<br />

vor dem Fernseher. Irgendetwas Besonderes passiert.<br />

Die Eltern schauen gebannt auf die Bilder aus Berlin.<br />

Eigentümlich altmodische Autos, später werden sie<br />

„Trabis“ genannt, fahren durch ein Spalier begeisterter<br />

Menschen, die auf die Plastikdächer klopfen, viele<br />

weinen vor Freude. Hinter ihnen liegt die Grenze der<br />

zwei deutschen Staaten, eine Grenze, die in diesen<br />

Momenten fällt. In den nächsten Tagen und Wochen<br />

werden Menschen in ganz Westdeutschland, später<br />

„alte Bundesländer“ genannt, freundlich winken,<br />

wenn ein Trabi an ihnen vorbeifährt.<br />

Bald darauf hat Vivian die ersten Kontakte zu ostdeutschen<br />

Mitbürgern, die man später abwertend als<br />

„Ossis“ bezeichnen wird. Ihr Vater arbeitet in einer<br />

Firma, die kurz nach der Wende viele Techniker aus<br />

dem Osten anstellt, manchmal rufen diese daheim an<br />

und wollen den Vater sprechen.<br />

Vivian: „Ich habe den Hörer dann immer schnell an<br />

meine Eltern weitergereicht, weil ich den sächsischen<br />

Dialekt nicht verstanden habe.“<br />

Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, 9. November<br />

1989<br />

David Jahnke, 13 Jahre alt, kann es nicht fassen, er<br />

sitzt alleine im Wohnzimmer und sieht wahrscheinlich<br />

dieselben Bilder wie Vivian Wagner 300 Kilometer<br />

weiter westlich. Sein Bruder ist noch in der Nacht in<br />

den Westen gefahren, als er am nächsten Morgen zurückkommt,<br />

hält er begeistert den leeren Trinkbecher<br />

einer Fastfoodkette in der Hand.<br />

David: „Alles, was ich bis dahin in der Schule gelernt<br />

hatte, war von einem auf den anderen Tag null und<br />

nichtig.“<br />

<strong>Augsburg</strong>, Dezember 1990<br />

Chemnitz ist eine Textilstadt, deren Industrie nicht<br />

konkurrenzfähig ist. Reihenweise schließen die Fabriken.<br />

Werden „plattgemacht“, wie es David formuliert.<br />

Seine Eltern verlieren bald nach der Wende ihre Arbeit,<br />

in Chemnitz sehen sie keine Perspektive mehr.<br />

Sie ziehen in den Westen, in eine andere Textilstadt:<br />

<strong>Augsburg</strong>. Einen Kulturschock will er nicht erlitten<br />

haben.<br />

David: „Warum auch, wir haben in der DDR ja nicht<br />

hinter dem Mond gelebt. Und so besonders war die<br />

alte BRD ja auch nicht. Außer, dass es im Westen eben<br />

mehr Konsumgüter gab.“<br />

Am Rand von Dresden, Oktober <strong>2014</strong><br />

Vivian lebt mit ihrer Familie seit zwei Monaten in Dresden.<br />

Sie ist Kommunikationsdesignern, verheiratet,<br />

hat zwei Kinder und heißt jetzt mit Nachnamen Breithardt.<br />

Am liebsten wären sie und ihr Mann ins Ausland<br />

gezogen. Dann bekommt er zwei Jobangebote,<br />

eines in Stuttgart, das andere in Dresden. Sie entscheiden<br />

sich für Dresden.<br />

Vivian: „Dresden fanden wir viel spannender als Stuttgart,<br />

der Osten war für uns anfangs so was wie ein<br />

weißer Fleck auf der Karte. Der sächsische Dialekt hat<br />

mich anfangs am meisten abgeschreckt, aber jetzt<br />

finde ich, dass er was Warmes hat.“<br />

Ein weißer Fleck auf der Karte ist der Osten auch für<br />

manche Freunde von Vivian, denen sie von ihren Umzugsplänen<br />

erzählt. „In den Osten wollt ihr ziehen?<br />

Da, wo der Soli hinfließt?“<br />

Andere Freunde, namentlich die, die schon einmal im<br />

Osten waren, reagieren positiver.<br />

„Ihr zieht nach Dresden? Das ist eine der schönsten<br />

Städte in Deutschland.“<br />

Vivian: „Man hat da eben dieses verzerrte Bild von<br />

Ostdeutschland im Kopf. Graue Häuser, Nazis, Verfall,<br />

tote Hose. Dabei ist gerade in den großen Städten viel<br />

passiert, da gibt es keinen großen Unterschied mehr<br />

zu Städten im Westen. Dieses Ossi-Wessi-Ding ist vor<br />

allem bei älteren Leuten ausgeprägt, je jünger und<br />

gebildeter, desto weniger spielt das eine Rolle.“<br />

Chemnitz, <strong>2014</strong><br />

Die Zeit schreitet voran, oft ungnädig. In <strong>Augsburg</strong>,<br />

in Chemnitz, früher Karl-Marx-Stadt. Die Volkseigenen<br />

Betriebe, kurz VEB, sind verfallen. Mit den Häusern<br />

und den Fabriken verschwinden im Osten oft auch die<br />

Koordinaten der eigenen Biographie.<br />

David: „Wo früher das Haus stand, in dem ich großgeworden<br />

bin, ist jetzt ein Lidl-Parkplatz.“<br />

<strong>Augsburg</strong>, Oktober <strong>2014</strong><br />

David Jahnke lebt jetzt seit fast 25 Jahren in <strong>Augsburg</strong>.<br />

Er betreibt mit Partnern ein Vinylschnittstudio und ein<br />

Plattenlabel. Mentalitätsunterschiede zwischen Ostund<br />

Westdeutschen sieht er keine mehr.<br />

David: „Das wäre mir viel zu pauschal, man kann das<br />

nicht verallgemeinern, das Ossi-Wessi-Ding sehe ich<br />

bei jüngeren, gebildeteren Leuten nicht mehr so ausgeprägt.“<br />

Dresden, Oktober <strong>2014</strong><br />

Aber was ist mit den Vorurteilen, den Bildern im Kopf,<br />

die Vivian Breithardt beschrieben hat? Gibt es nicht<br />

verschiedene Mentalitäten, wenn Gesellschaften mehr<br />

als vierzig Jahre durch zwei verschiedene Staatsformen<br />

geprägt werden?<br />

Vivian: „Ich glaube, die Menschen gehen hier offen<br />

aufeinander zu, stapeln eher tiefer und prahlen weniger<br />

als die Leute im Westen. Aber Mentalitätsunterschiede<br />

gibt es ja auch im Westen, z.B. zwischen<br />

Hessen, Bayern und Hamburgern. Mich fragen in<br />

Dresden natürlich auch noch ab und zu Leute, wieso<br />

ich denn vom Westen in den Osten gezogen bin. Aber<br />

ich glaube, dass auch das irgendwann ganz normal<br />

sein wird.“

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