221 v. Chr. – 220 n. Chr.
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46 Die große Mauer<br />
N<br />
Mauerbau: Qin- und Han-Dynastie (<strong>221</strong> v. <strong>Chr</strong>. <strong>–</strong> <strong>220</strong> n. <strong>Chr</strong>.)<br />
XIANBI<br />
Han Period<br />
XIONGNU<br />
Han Period<br />
Liao<br />
XIONGNU<br />
Han-Zeit<br />
Liaodong<br />
Wüste Gobi<br />
Juyan<br />
(Hohhot)<br />
(Beijing)<br />
(Datong)<br />
Yumenguan<br />
(Das Jadetor)<br />
Wuyuan<br />
Golf von Bo Hai<br />
Mayi<br />
Ordos-<br />
Plateau<br />
Dunhuang<br />
Jiuquan<br />
(Taiyuan)<br />
Gelb er Fluss<br />
Nach Zentralasien<br />
und zur<br />
Seidenstraße<br />
Wuwei<br />
Jincheng<br />
Luoyang<br />
Wei<br />
(Nanjing)<br />
Chang’an<br />
(Xi’an)<br />
Mauern der<br />
Qin-Dynastie<br />
Mauern der<br />
Han-Dynastie<br />
(Beijing)In Klammern die<br />
heute gebräuchlichen<br />
Ortsnamen<br />
0 500 km<br />
0 300 Meilen
ZWEITES KAPITEL<br />
Die Lange Mauer<br />
S ima Qian (ca. 145<strong>–</strong>186 v. <strong>Chr</strong>.), der Begründer der chinesischen Geschichtsschreibung,<br />
schilderte in seinen Historischen Aufzeichnungen der Nachwelt<br />
den Ersten Kaiser als wilden Bastard: »Ein Mann mit einer auffälligen Nase, großen<br />
Augen, dem Brustkorb eines Raubvogels und der Stimme eines Schakals; ein<br />
Mann, dem es an Güte mangelt, mit dem Herzen eines Tigers oder einer Wolfes.« 1<br />
Als Historiker, der während der Han-Dynastie schrieb, war Sima Qian zugegebenermaßen<br />
voreingenommen. Die Han-Dynastie, Nachfolger der Qin-Dynastie,<br />
hatte ein starkes Interesse daran, ihren Vorgänger, den Ersten Kaiser, zu diskreditieren.<br />
Und Sima Qian, ein schutzloser Hofbeamter, war sehr daran gelegen, sich<br />
diesem Wunsch zu beugen <strong>–</strong> schließlich hatte er für ein Zerwürfnis mit seinem<br />
Herrscher, dem Han-Kaiser Wu, bereits mit der Kastration gebüßt.<br />
Doch auch unabhängig von einem so einseitigen Urteil verdient der Erste Kaiser,<br />
der ehemalige König der Qin und Architekt des politischen Systems, das China<br />
bis zum 20. Jahrhundert und darüber hinaus als Modell dienen sollte, ohne<br />
Zweifel einen Platz auf der Liste der größten Despoten Chinas. Seit dem Untergang<br />
seiner Dynastie im Jahr 206 v. <strong>Chr</strong>., nur vier Jahre nach seinem Tod und 15<br />
Jahre, nachdem er China geeint hatte, behandeln die Chinesen ihn wie einen<br />
peinlichen Ahnen und prangern seine tyrannischen Exzesse an. Aber von ihm haben<br />
sie einschließlich der ersten Langen Mauer alle Schlüsselelemente ihrer politischen<br />
und kulturellen Landschaft geerbt.<br />
Die Vorstellung von China als einer durch gemeinsame Bräuche und Rituale<br />
definierten kulturellen Einheit nahm etwa um 1000 v. <strong>Chr</strong>. Gestalt an, als das<br />
Zhou-Reich Anspruch auf den Untertanengehorsam der sich um das damalige<br />
Zentralchina scharenden Königreiche erhob. Dies blieb aber rund 800 Jahre lang<br />
eher ein theoretisches Ideal denn eine geografische und politische Realität. Selbst<br />
vor seinem Machtverlust im Jahr 771 v. <strong>Chr</strong>. erstreckte sich das Zhou-Reich nur<br />
über die Nordhälfte des als China bekannten Landes und reichte im Süden nur bis
48 Die große Mauer<br />
zum Jangtsekiang. Und dieses relativ eingegrenzte Gebiet war alles andere als homogen.<br />
Die fantastische Kunst und Literatur des südlichsten chinesischen Staates,<br />
Chu, mit seinen glanzvollen Göttern, Göttinnen und bizarren mythologischen Wesen,<br />
zeugen von einer Zivilisation, die weitaus exotischer und schamanistischer<br />
war als die des vergleichsweise erdverbundenen, weiter nördlich gelegenen Herzlandes<br />
der Zhou. Die Gebiete jenseits von Chu <strong>–</strong> heute Yunnan, Guizhou und die<br />
anderen südlichsten Provinzen des chinesischen Festlandes <strong>–</strong> wurden von Stämmen<br />
bewohnt, die außerhalb der kulturellen Macht jedes locker zusammengehaltenen<br />
chinesischen Reiches existierten. Als die Macht der Zhou schwand, verblasste<br />
auch die Idee der Einheit immer mehr, da das Land während der Zeit der<br />
Streitenden Reiche in sich gespalten blieb: Die einzelnen Staaten schmiedeten Intrigen<br />
und kämpften um die Vorherrschaft, während Berater und Generäle auf der<br />
Suche nach mächtigen, fremden Schutzherren ihr Heimatgebiet verließen, die<br />
Herrscher gegeneinander ausspielten und auf die besten Posten aus waren.<br />
Konfuzius (551<strong>–</strong>479 v. <strong>Chr</strong>.), später von den Han zum bedeutendsten Philosophen<br />
des chinesischen Kaiserreichs erhoben, war ganz ein Sohn seiner Zeit (der<br />
frühen Phase der Streitenden Reiche). Obwohl seine Philosophie die politische<br />
Einigung predigte, spiegelt sein Lebensweg die Gespaltenheit der Ära wider: Er<br />
führte auf der Suche nach dem politischen Posten, den er zu verdienen glaubte,<br />
ein Wanderleben und bekleidete Ämter in verschiedenen Staaten. Konfuzius<br />
sehnte sich nach dem von der Zhou-Dynastie propagierten, verlorenen mythischen<br />
Ideal chinesischer Einheit und moralischer Tugend und hoffte, den Konflikt<br />
und die Gespaltenheit seiner Ära durch eine moralische Erneuerung überwinden<br />
zu können. Wenn jeder Mann (der Konfuzianismus erkennt nur ansatzweise die<br />
gesellschaftliche Existenz von Frauen an) menschliche Güte zeigte, würde das<br />
Land, so glaubte er, auf friedliche Weise wiedervereinigt werden. Der soziale Code,<br />
der dieser moralischen Erneuerung zugrunde lag, war der korrekte Vollzug<br />
von Riten, die alle Formen des öffentlichen und privaten Verhaltens umfassten:<br />
das Sich-Verbeugen, das Betrauern der Eltern, das Tragen der korrekten Reversfarbe,<br />
die Wahl der richtigen Musik, die Verehrung des richtigen Berges, das Engagement<br />
der richtigen Anzahl von Tänzerinnen und so weiter und so weiter.<br />
Konfuzius’ große Neuerung bestand darin, dass er seine politische Philosophie in<br />
der überschaubaren, leicht verdaulichen Analogie von Familienbeziehungen darlegte.<br />
Er setzte das Band zwischen Vater und Sohn mit dem zwischen Herrscher<br />
und Untertan gleich. Gute Väter und Söhne sind gute Herrscher und Untertanen;<br />
gute Herrscher und Untertanen werden China in den ihm angemessenen Zustand<br />
friedlicher, von Wohlstand geprägter Einheit zurückversetzen. Pflegt euren Familiengarten,<br />
predigte er, und das Land wird gedeihen; füllt eure gesellschaftliche<br />
Rolle richtig aus, und alles andere wird sich harmonisch zusammenfügen.<br />
Zu Konfuzius’ Lebzeiten wurde nichts aus seinem Plan, das China der Streitenden<br />
Reiche, eine Welt opportunistischer Herrscher, ehrgeiziger Parvenüs, rück-
Die Lange Mauer 49<br />
sichtsloser Generäle und Komplotte schmiedender Minister zu einen, indem man<br />
die Söhne lehrte, gehorsam zu sein, die Reversfarbe festlegte und die richtige Anzahl<br />
von Tänzerinnen engagierte. Es gelang Konfuzius nicht, einen König zu<br />
überzeugen, dass er ihm den einflussreichen Ministerposten gab, der es ihm erlaubt<br />
hätte, seine Vorstellungen in die Praxis umzusetzen, und so starb er arm, beschäftigungslos<br />
und außerhalb seines Kreises von Schülern unbekannt. Es bedurfte<br />
der unermüdlichen Anstrengungen eines Schakal-Habicht-Tiger-Wolfs aus<br />
dem »barbarischen« nordwestlichen Grenzgebiet, des ersten Qin-Kaisers, die<br />
Fragmente des chinesischen Staates zu einen: einer Persönlichkeit, die nicht davor<br />
zurückschreckte, auf dem Weg zum Kaiserthron Hunderttausende Menschenleben<br />
zu opfern. Und sobald er sein Ziel erreicht hatte, war China mehr oder<br />
weniger klar definiert, sowohl nach innen als auch nach außen hin. Der Qin-Kaiser<br />
vereinheitlichte Chinas politische Institutionen, verband das Land durch ein<br />
Netzwerk von Straßen, lieferte die etymologische Wurzel, von der später westliche<br />
Namen für sein Reich (China, Chine, usw.) abgeleitet wurden, und errichtete<br />
die erste durchgängige Lange Mauer.<br />
Bevor das Qin-Reich die chinesische Welt kontrollierte, erstreckte es sich bis zur<br />
heutigen nordwestlichen Provinz Shaanxi. Mit den Stämmen der Rong und der Di<br />
in den Grenzgebieten im Westen und Norden waren die Qin stark von ihren nichtchinesischen<br />
Nachbarn beeinflusst. Um ihre rein chinesische Herkunft zu betonen,<br />
behaupteten die Herrscher der späten Qin-Zeit, die Enkelin eines entfernten Nachkommen<br />
des Gelben Kaisers habe den Gründer ihres Staates geboren, nachdem sie<br />
ein schwarzes Vogelei verschluckt habe. Einer weniger romantischen, aber plausibleren<br />
Version der frühen Qin-Geschichte zufolge war der Gründer der Dynastie ein<br />
in der barbarischen Kunst der Pferdezucht erfahrener Häuptling, dem der Zhou-König<br />
897 v. <strong>Chr</strong>. ein kleines abhängiges Gebiet überlassen hatte, wo er für ihn Pferde<br />
züchten sollte. Dieses Geschenk erwies sich als gewaltiger historischer Fehler, da es<br />
letztlich zur Niederlage der kränkelnden Zhou-Dynastie im Jahr 256 v. <strong>Chr</strong>. führte.<br />
Vor der Einigung des Reiches erprobte der Staat Qin seinen Regierungs- und<br />
Militärapparat in Intrigen und Kriegen mit den Rong und Di. Als Ergebnis galt er<br />
bei den weniger erfolgreichen Streitenden Reichen als ausgesprochen barbarisch<br />
und »un-chinesisch«. »Die Qin haben die gleichen Bräuche wie die Rong und die<br />
Di«, berichtete ein hoher Adliger der Wei seinem König 266 v. <strong>Chr</strong>. »Traditionelle<br />
Umgangsformen, anständige Beziehungen und tugendhaftes Verhalten sind ihnen<br />
unbekannt.« Schlimmer noch, das Volk machte nicht einmal auf zivilisierte<br />
Weise Musik, und das war Konfuzius zufolge ein entscheidendes Merkmal des<br />
moralischen Anstands. »Sie schlagen auf irdene Krüge, auf Töpfe...und auf Knochen,<br />
dabei singen sie ›Woo! Woo!‹ und schreien«, krittelte Li Si, der zukünftige
50 Die große Mauer<br />
Kanzler des Qin-Reiches. »Ja, dergestalt war die Musik der Qin.« 2 Statt sich in den<br />
feinen Künsten der Chinesen zu üben, spezialisierten die Qin sich auf militärische<br />
Brutalität. Dazu passt, dass König Wu, der ein paar Generationen vor dem Ersten<br />
Kaiser regierte, 307 v. <strong>Chr</strong>. an den Verletzungen starb, die er sich bei einem Wettbewerb<br />
im Stemmen von bronzenen Dreifußgefäßen zugezogen hatte. Sima Qian<br />
berichtet knapp, die Qin-Armeen hätten in den 25 Jahren vor der Thronbesteigung<br />
des Ersten Kaisers im Jahr 247 v. <strong>Chr</strong>. in Kriegen den Tod von bis zu 756 000<br />
ausländischen Soldaten und Zivilisten verschuldet. Die Zahl der Toten, die er für<br />
die Jahre 364<strong>–</strong>234 v. <strong>Chr</strong>. angibt, beläuft sich auf unfassbare 1,5 Millionen. Allerdings<br />
wird diese Zahl heute von Historikern angezweifelt.<br />
Lebenslang zeigte der Erste Kaiser einen Hang zur Barbarei, der seinen grausamen<br />
Vorfahren mehr als gerecht wurde. Abgesehen davon, dass so viele Menschen<br />
in seinen Feldzügen vor der Reichseinigung ihr Leben lassen mussten, er zwang<br />
auch Hunderttausende Chinesen zur Arbeit an seinen monumentalen Bauwerken:<br />
Straßen, Kanälen, Palästen, Mauern. Allein zu den Arbeiten an seinem Mausoleum<br />
und seinem Grab (mit denen er begann, als er im Alter von 13 Jahren König der Qin<br />
wurde, und deren Fertigstellung gut 40 Jahre dauerte) wurden rund 700 000 Sträflinge<br />
herangezogen. Um Lage und Inhalt des Grabes geheim zu halten, wurden<br />
nach Abschluss der Arbeit viele dieser Unglücklichen getötet. Bei der Liquidierung<br />
seiner Erbauer ging man tatsächlich so gründlich vor, dass aus den historischen Dokumenten<br />
nichts über die Größe des Mausoleums zu erfahren war. 1974 förderten<br />
dann ein paar chinesische Bauern, die 30 Kilometer östlich des heutigen Xi’an Brunnen<br />
gruben, einige Terrakotta-Arme und -Beine zutage. Bei weiteren Grabungen<br />
stieß man auf drei riesige unterirdische Höhlen <strong>–</strong> die größte maß 12 500 Quadratmeter<br />
<strong>–</strong>, gefüllt mit Tausenden zerbrochenen Figurinen von Soldaten, Pferden und<br />
Streitwagen: den mittlerweile weltberühmten Terrakottakriegern.<br />
Seit frühester Zeit glauben die Chinesen, dass das Leben nach dem Tod in allen<br />
entscheidenden Punkten dem Erdenleben gleicht. Deswegen haben sie dafür<br />
gesorgt, dass sie, wenn möglich, zusammen mit den Dingen (entweder in ihrer<br />
ursprünglichen Form oder als Modell) begraben werden, die sie zu Lebzeiten<br />
nützlich fanden und voraussichtlich im nächsten Leben benötigen werden. Die<br />
Zahl der Soldaten (schätzungsweise 8000; noch wurden nicht alle Einzelteile zusammengefügt),<br />
die der Erste Kaiser mitzunehmen wünschte, zeigt, welch große<br />
Armee er zu Lebzeiten zu seinem eigenen Schutz um sich scharte und welche<br />
Größenordnung seine Bauprojekte hatten. Die unterirdischen Höhlen, in denen<br />
man seine Terrakottakrieger fand, waren zudem nur die äußeren Kammern des<br />
Mausoleums; das Grab selbst, das sagenhafte Reichtümer zu enthalten verspricht,<br />
ist nie ganz geöffnet worden. (Daran wollen sich die Archäologen erst<br />
wagen, wenn sie ganz sicher sind, dass ihre Konservierungstechniken ausreichen,<br />
um die dort befindlichen Schätze zu schützen. Als die Terrakottakrieger ausgegraben<br />
und dem Licht ausgesetzt wurden, verblassten die ursprünglich leuchten-
Die Lange Mauer 51<br />
den Farben innerhalb von Minuten.) Über den Inhalt des Grabes gibt uns in erster<br />
Linie Sima Qian Auskunft. Er beschreibt es als genial versteckte Schatzhöhle,<br />
verschlossen mit Bronzetüren und gefüllt mit kostbaren Raritäten. »Mit Quecksilber<br />
wurden die Wasserwege des Reiches, der Jangtsekiang und der Gelbe Fluss,<br />
ja sogar der große Ozean geschaffen, und zwar so, dass sie mechanisch fließen<br />
und zirkulieren...Lampen wurden mit Walöl angezündet, damit sie für immer<br />
brennen und nie verlöschen.« Als Sicherheitsmaßnahme wurden die Handwerker<br />
schließlich »angewiesen, Selbstschussanlagen aus Armbrüsten zu installieren,<br />
damit Eindringlinge abgewehrt werden«. 3<br />
Wenn der Erste Kaiser nicht baute, dann vernichtete er, und das in gleichem<br />
Umfang. Nachdem er sich das gesamte Reich unterworfen hatte, entwaffnete er<br />
es, ließ alle konfiszierten Waffen einschmelzen und daraus Bronzeglocken und -<br />
statuen gießen. Mit einer anderen Tat besiegelte er seinen künftigen Ruf als infamer<br />
Herrscher: Er ließ Bücher verbrennen und Gelehrte ermorden. Als Antwort<br />
auf das Ansuchen eines konfuzianischen Gelehrten, der Kaiser möge wieder Könige<br />
einsetzen und zum Lehnswesen zurückkehren, was eine Demontage des neu<br />
geeinten, zentralisierten Qin-Reichs bedeutet hätte, befahl der Kaiser, alle<br />
Exemplare der konfuzianischen Klassiker (Geschichte, Dichtkunst, Philosophie)<br />
zu verbrennen und jeden »auf dem Marktplatz« hinzurichten, der diese Werke<br />
diskutierte. Die einzigen Bücher, die seine Säuberungsaktion überlebten, waren<br />
Werke der »Heilkunde, Weissagung und Gartenbaukunst«. 4<br />
Das politische Instrument, das es dem Kaiser ermöglichte, seinen Kontrollwahn<br />
auszuleben, war der Legalismus, eine rationalistische, utilitaristische philosophische<br />
Richtung, welche die Grundlagen der zukünftigen chinesischen Staatskunst<br />
schuf: eine zentralisierte Bürokratie und ein einheitliches Rechtssystem. Im<br />
Unterschied zu Konfuzius, der glaubte, der Mensch sei im Grunde gut und man<br />
brauche nur die ihm angeborene Güte hervorzulocken, waren die Legalisten der<br />
Meinung, der Mensch sei von Natur aus schlecht und könne nur durch Gesetze in<br />
Schach gehalten werden. Der führende Vertreter des Legalismus war Shang Yang,<br />
im 4. Jahrhundert einer der ersten Minister des Staates Qin. Shang Yang stellte sicher,<br />
dass jeder Haushalt des Staates registriert wurde, was das Eintreiben von<br />
Steuern sowie die Einberufung zum Heeresdienst und zur Fronarbeit erleichterte,<br />
und der Rechtsprechung eines zentral eingesetzten Magistrats unterstand. Die<br />
gesamte Bevölkerung war in Zehner- und Fünfergruppen aufgeteilt, jedes Mitglied<br />
der einzelnen Gruppen war verpflichtet, kriminelle Handlungen anderer<br />
Mitglieder zu melden. Die harten Strafen für Missetaten galten »auch für die Großen<br />
und Mächtigen«. 5 Jeder, der ein von einem anderen Mitglied der Gruppe begangenes<br />
Verbrechen nicht meldete, »wurde an der Taille in zwei Stücke gehackt«.<br />
6 Shang Yang wurde schließlich Opfer seines eigenen Erfolgs: Nachdem er<br />
das Gesetz auch auf einen Lehrer des gesetzlichen Erben angewandt hatte, bestrafte<br />
der, sobald er an der Macht war, seinen eifrigen Minister auf die brutalste
52 Die große Mauer<br />
von ihm selbst festgelegte Weise: Er ließ ihn durch Streitwagen in Stücke reißen. 7<br />
Aber die Vorteile, die Shang Yangs Reformen dem Regime einbrachten, Steuereinnahmen<br />
und Zwangsarbeit, versetzten die Qin in die Lage, die rivalisierenden<br />
Streitenden Mächte zu vernichten.<br />
Sobald der erste Qin-Kaiser die chinesische Welt geeint hatte, wandte er<br />
Shang Yangs Reformen auf das gesamte Reich an. Spätere Historiker fällten kein<br />
gutes Urteil über ihn (die wenigen berühmten Persönlichkeiten unter seinen Bewunderern,<br />
darunter Mao Zedong, der wahrscheinlich schlimmste Diktator Chinas,<br />
haben nicht gerade dazu beigetragen, sein Image zu verbessern), aber wir<br />
müssen ihm zubilligen, dass er die Grundlagen des modernen, geeinten, bürokratischen<br />
chinesischen Staates schuf: Er vereinheitlichte die Währung, die Gewichts-<br />
und Maßeinheiten, die Gesetze und die Schrift, führte harte Polizeikontrollen<br />
ein und unterstellte die Bauernschaft der Regierung. Würden heutige<br />
chinesische Politiker das Qin-System mit dem ihren vergleichen, würden sie<br />
wahrscheinlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede entdecken. Und natürlich<br />
erfreuen sich die Chinesen heute gerne einer weiteren Errungenschaft des Qin-<br />
Staates: einer changcheng, einer langen Grenzmauer, deren Bau von Qins großem<br />
General Meng Tian geleitet wurde.<br />
Die Erfolgsgeschichten von Meng Tian und seinen männlichen Verwandten<br />
waren archetypisch für ihre Zeit. Meng Tians Großvater war einer von vielen<br />
tüchtigen Soldaten und Beratern, die, wie Konfuzius, ihren Heimatstaat, in diesem<br />
Fall Qi, verließen, um sich in den Dienst eines anderen Staates, Qin, mit besseren<br />
Aufstiegsmöglichkeiten zu stellen. Die Mitglieder des Meng-Clans, eine Familie<br />
äußerst kompetenter und unbarmherziger Militärs, wurden die Wachhunde<br />
von Qin und bissen jeden, den zu beißen man ihnen befahl: die Staaten Zhao,<br />
Han, Wei und Chu. Schließlich vernichtete Meng Tian, offensichtlich nicht von<br />
Skrupeln gegenüber dem Staat seiner Vorfahren geplagt, Qi im Jahr <strong>221</strong> v. <strong>Chr</strong>.,<br />
dem Jahr der Einigung des Qin-Reiches. Anschließend betraute ihn der Qin-Kaiser,<br />
der nun keinerlei Zweifel mehr an Meng Tians Loyalität hatte, mit der<br />
schwersten aller Aufgaben: dem Bau seiner Grenzmauer.<br />
Doch bevor der Erste Kaiser seiner großen Leidenschaft, die chinesischen Massen<br />
zu gewaltigen Bauprojekten heranzuziehen, freien Lauf ließ, frönte er seinem<br />
zweitliebsten Zeitvertreib: der Zerstörung. Einer Inschrift aus dem Jahr 215<br />
v. <strong>Chr</strong>. zufolge ließ er als Erstes die alten Staatsmauern abreißen:<br />
Er hat die inneren und äußeren Mauern der Städte zerstört.<br />
Er hat die Ufer der Flüsse durchbrochen.<br />
Er hat die Bollwerke bei Gebirgspässen dem Erdboden gleich gemacht. 8
Die Lange Mauer 53<br />
Und nachdem er das geschafft hatte, organisierte er den Bau seiner eigenen Mauer.<br />
In einem Eintrag zum Jahr 214 v. <strong>Chr</strong>. schreibt Sima Qian:<br />
Nachdem Qin die Welt vereint hatte, erhielt Meng Tian das Kommando über dreihunderttausend<br />
Mann, um die Rong und die Di aus den Grenzgebieten des Nordens<br />
zu vertreiben. Er entriss ihnen das Gebiet südlich des [Gelben] Flusses und<br />
baute eine Lange Mauer, die dem jeweiligen Oberflächenterrain angepasst wurde.<br />
Sie begann in Lintao und erstreckte sich bis Liaodong, über eine Strecke von über<br />
zehntausend li. 9<br />
Es war ein großes Vorhaben: ein gewaltiger Feldzug, gefolgt vom Bau einer<br />
über 4000 Kilometer langen Mauer in extremen Klimazonen und häufig auf unzugänglichem<br />
Terrain. Sie führte vom unebenen Sandboden in Lintao (dem<br />
heutigen Gansu) im äußersten Nordwesten Chinas durch das Ordos-Plateau in<br />
der Schleife des Gelben Flusses hinein in die trockenen, kalten, für den Ackerbau<br />
ungeeigneten Steppen der Inneren Mongolei und schließlich bis in die<br />
nordöstliche Region Liaodong in der Nähe der Mandschurei, deren lange, bittere<br />
Winter sich kaum vom Klima in der mongolischen Steppe unterscheiden, die<br />
sie im Westen begrenzt. Zudem hat man es in der Inneren Mongolei und im äußersten<br />
Norden von Shanxi und Shaanxi, Chinas nördlichsten Provinzen, die in<br />
die Schleife des Gelben Flusses eingebettet sind, mit einem sehr gebirgigen,<br />
zwischen 2000 und 3000 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Landstrich<br />
zu tun, was den Mauerbau zu einer noch größeren Herausforderung machte.<br />
Das gewaltige Bauwerk wurde durch die »Gerade Straße«, die sich rund 800 Kilometer<br />
von der Inneren Mongolei über den Gelben Fluss bis in die Nähe der<br />
Qin-Hauptstadt Xianyang nahe dem heutigen Xi’an erstreckte, mit dem weiter<br />
südlich gelegenen Machtzentrum des Herrschers verbunden. Es war der beeindruckendste<br />
Abschnitt des ausgedehnten Straßennetzes, das Kolonnen von<br />
Fronarbeitern für ihren Qin-Herrscher bauten und das insgesamt rund 6800 Kilometer<br />
abdeckte <strong>–</strong> mehr als die 6000 Kilometer Straße, die nach Gibbons<br />
Schätzungen die Römer bauten. 10<br />
Welche Beziehung besteht nun aber zwischen dieser erstaunlichen Meisterleistung<br />
und dem heute als Große Mauer bekannten Bauwerk? Als Macartney und seine<br />
Gesandtschaft im späten 18. Jahrhundert vor der (Ming-)Mauer standen, nahmen<br />
sie automatisch an, dass sie die legendäre 2000 Jahre alte Mauer des<br />
Qin-Kaisers vor sich sahen. Während der langen Glanzzeit der Mauer im 19. und<br />
20. Jahrhundert haben Chinesen wie Bewohner der westlichen Welt, seriöse Historiker<br />
wie Populärwissenschaftler diese Version der Geschichte beharrlich wiederholt.<br />
»Die Mauer ist das Werk der Chin [sic]«, verkündete William Geil, der im<br />
Jahr 1909 einen exzentrischen Bericht über eine Odyssee entlang der Großen<br />
Mauer verfasste. 11 1932 verbreitete Robert Ripley, der Illustrator und Journalist,