Frühlings Erwachen - Deutsch mit Herz, Hirn und Händen
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Schuld. Und wäre es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst<br />
das alles besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte<br />
sein. Aber ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod<br />
jagen lassen!<br />
Herr Gabor Das hängt nicht von uns ab, Fanny. – Das ist ein Risiko, das wir<br />
<strong>mit</strong> unserm Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch<br />
ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn<br />
das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!<br />
Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, solange die Vernunft<br />
Mittel weiß. – Dass man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine<br />
Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch<br />
seine Schuld nicht! – Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige<br />
Tändelei, wo es sich um Gr<strong>und</strong>schäden des Charakters handelt. Ihr<br />
Frauen seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer das<br />
schreiben kann, was Melchior schreibt, der muss im innersten Kern<br />
seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs<br />
ges<strong>und</strong>e Natur lässt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine<br />
Heiligen; jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift<br />
hingegen vertritt das Prinzip. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen<br />
gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert <strong>mit</strong> schaudererregender<br />
Deutlichkeit den aufrichtig gehegten Vorsatz, jene natürliche<br />
Veranlagung, jenen Hang zum Unmoralischen, weil es das<br />
Unmoralische ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige<br />
Korruption, die wir Juristen <strong>mit</strong> dem Ausdruck »moralischer Irrsinn«<br />
bezeichnen. – Ob sich gegen seinen Zustand etwas ausrichten lässt,<br />
vermag ich nicht zu sagen. Wenn wir uns einen Hoffnungsschimmer<br />
bewahren wollen, <strong>und</strong> in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als<br />
die Eltern des Betreffenden, so ist es Zeit für uns, <strong>mit</strong> Entschiedenheit<br />
<strong>und</strong> <strong>mit</strong> allem Ernste ans Werk zu gehen. – Lass uns nicht länger<br />
streiten, Fanny! Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, dass du ihn<br />
vergötterst, weil er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei<br />
stärker als du! Zeig dich deinem Sohne gegenüber endlich einmal<br />
selbstlos!<br />
Frau Gabor Hilf mir Gott, wie lässt sich dagegen aufkommen! – Man muss<br />
ein Mann sein, um so sprechen zu können! Man muss ein Mann sein,<br />
um sich so vom toten Buchstaben verblenden lassen zu können! Man<br />
muss ein Mann sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu<br />
sehn! – Ich habe gewissenhaft <strong>und</strong> besonnen an Melchior gehandelt<br />
vom ersten Tag an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung<br />
empfänglich fand. Sind wir denn für den Zufall verantwortlich? Dir kann<br />
morgen ein Dachziegel auf den Kopf fallen, <strong>und</strong> dann kommt dein<br />
Fre<strong>und</strong> – dein Vater, <strong>und</strong> statt deine W<strong>und</strong>e zu pflegen, setzt er den Fuß<br />
auf dich! – Ich lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden.<br />
Dafür bin ich seine Mutter. – Es ist unfassbar! Es ist gar nicht zu<br />
glauben. Was schreibt er denn in aller Welt! Ist's denn nicht der<br />
eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für<br />
seine kindliche Unberührtheit, dass er so etwas schreiben kann! – Man