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Journal 2013.2014Die jährliche Hauszeitschrift der Konzertdirektion

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Noch wenig bekannt ist die beeindruckende, teils umschweifige Entstehungsgeschichte<br />

<strong>der</strong> Touring Organ – jenes neuesten Mitglieds <strong>der</strong> Familie <strong>der</strong> weltbedeutenden Orgeln<br />

– als innovative, anpassungsfähige und grenzüberschreitende Vereinigung aller positiven<br />

Eigenschaften einer Pfeifenorgel; doch dies wird sich än<strong>der</strong>n. Die Entstehung einer<br />

humanistischen Technologie aus dem Herzen des Bösen (die digitale Orgel von Marshall<br />

& Ogletree wurde entwickelt, um die Pfeifenorgel in <strong>der</strong> Trinity Church in <strong>der</strong> New Yorker<br />

Wall Street zu ersetzen, die am 11. September 2001 zerstört wurde), die geradezu berauschende<br />

Infragestellung von wissenschaftlichen sowie religiösen Konzepten zur Orgel<br />

und die erneute Überprüfung all dessen, was wir über digitalen Klang, Klanginstallationen<br />

und Klangverstärker wissen, sind nur einige <strong>der</strong> zahlreichen Aspekte, die dieses<br />

bemerkenswerte Ereignis kennzeichnen. Es steht exemplarisch dafür, was es bedeutet,<br />

die Welt <strong>der</strong> klassischen Musik in <strong>der</strong> Gegenwart zu verän<strong>der</strong>n – nicht erst in einer vagen<br />

Zukunft, die in einem sicheren Abstand jenseits <strong>der</strong> Kartenvorverkäufe und Konzertplanungen<br />

für die nächste Saison liegt. Diese Verän<strong>der</strong>ung bedarf <strong>der</strong> gleichen Zutaten<br />

wie eine gelungene Improvisation: Vision, Risikobereitschaft und gute Planung. Dass<br />

eine Firma dieses Risiko für einen Künstler übernimmt, wird immer seltener, doch die<br />

<strong>Konzertdirektion</strong> Schmid ist immer noch so visionär, wie sie es schon seit Jahrzehnten<br />

gewesen ist.<br />

Die Orgel wird oft als König (o<strong>der</strong> Königin) <strong>der</strong> Instrumente bezeichnet, doch heute wäre<br />

es zutreffen<strong>der</strong>, sie als „die Klassische Musik <strong>der</strong> Instrumente“ zu betrachten. Ebenso<br />

wie diese verän<strong>der</strong>t sie sich nur sehr langsam, ist teuer, schottet sich gegenüber an<strong>der</strong>en<br />

Genres ab und lebt von Traditionen, die erst allmählich infrage gestellt werden. Ihre<br />

Korridore – o<strong>der</strong> sind es Kreuzgänge? – werden argwöhnisch bewacht. Doch die wechselnden<br />

kulturellen Strömungen, die Abschottung <strong>der</strong> Orgel-Gemeinde und die Voreingenommenheit<br />

und Teilnahmslosigkeit des Mainstream-Publikums erweisen sich als<br />

nie dagewesener Zerberus <strong>der</strong> Probleme, den die wenigsten Organisten zu überwinden<br />

wissen. Wie sollten sie auch: Wenn wir unter „Orgel“ nur „Pfeifenorgel“ verstehen, ist es<br />

fast unmöglich für einen Organisten, eine Markenidentität aufzubauen, mit <strong>der</strong> er auf <strong>der</strong><br />

Weltbühne wettbewerbsfähig ist.<br />

dieser Infrastruktur zu werden, sind so elementar mit dem Instrument verwoben, dass<br />

schon die bloße Erwähnung jener Probleme de facto die Pfeifenorgel selbst kritisiert.<br />

Freilich gibt es diese Probleme. Erstens sind alle Pfeifenorgeln <strong>der</strong>art unterschiedlich,<br />

dass es je<strong>der</strong> Beschreibung spottet. Als Beispiel seien die vier Orgeln angeführt, die ich<br />

diesen Herbst in <strong>der</strong> Auckland Town Hall, <strong>der</strong> Davies Hall des San Francisco Symphony,<br />

im Kennedy Center in Washington und in <strong>der</strong> Berliner Philharmonie spielen werde und<br />

die sich nicht nur im Hinblick auf ihren Klang, ihre Größe und ihre Persönlichkeit,<br />

son<strong>der</strong>n auch in ihren konkreten mechanischen und tonerzeugenden Systemen <strong>der</strong>art<br />

unterscheiden, dass man sie kaum als Mitglie<strong>der</strong> ein und <strong>der</strong>selben Instrumentenfamilie<br />

erkennen kann. Per Definition ist es unmöglich, die Vision eines Musikstücks perfekt<br />

umzusetzen o<strong>der</strong> gar die Magie des Abends im Gedächtnis aller Zuschauer zu verankern,<br />

wenn das Instrument, um das es geht, jedes Mal wie<strong>der</strong> völlig an<strong>der</strong>s ist. Schwerer<br />

zu ermessen und sogar noch nervenaufreiben<strong>der</strong> ist jedoch <strong>der</strong> Zeit- und Energieaufwand,<br />

<strong>der</strong> notwendig ist, um Nacht für Nacht ein neues Instrument zu erlernen, Werke<br />

immer wie<strong>der</strong> zu bearbeiten mit immer neuem und meist nicht sehr zufriedenstellendem<br />

Material – und das alles innerhalb eines engen und schonungslosen Termin- und Tourneeplans.<br />

Zweitens ist eine Pfeifenorgel ab einer bestimmten Größe unbeweglich; und<br />

diese physische Unbeweglichkeit steht sinnbildlich für ihre Weigerung, sich zu verän<strong>der</strong>n:<br />

Sie bewegt sich im wahrsten Sinne des Wortes nirgendwo hin.<br />

Das MaSS an Kontrolle über Klang, Ansprache, Rhythmus<br />

und tausend weitere Ausdrucksparameter ist bei diesem<br />

Instrument <strong>der</strong>art greifbar, dass die Orgelbauer des frühen<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts dafür mit Freude ihre Seele verkauft hätten.<br />

Wenn wir unter „Orgel“ nur „Pfeifenorgel“ verstehen, ist es<br />

fast unmöglich für einen Organisten, eine Markenidentität<br />

aufzubauen, mit <strong>der</strong> er auf <strong>der</strong> Weltbühne wettbewerbsfähig ist.<br />

Ich liebe die Pfeifenorgel seit ich vier Jahre alt bin, und ich spiele sie seit fast 28 Jahren<br />

– angefangen mit dem winzigen Instrument in meiner Heimatstadt Pennsylvania, das<br />

schon hun<strong>der</strong>t Jahre alt war, als ich 1985 die Tasten das erste Mal berührte, bis hin zu<br />

den großen Orgeln im Opernhaus in Sydney, in <strong>der</strong> Royal Albert Hall, <strong>der</strong> Disney Hall, <strong>der</strong><br />

Berliner Philharmonie, dem Mozarteum und vielen an<strong>der</strong>en großen Konzertsälen. Aber<br />

es ist wie im Leben selbst: Man kann etwas nicht dadurch än<strong>der</strong>n, dass man es liebt,<br />

und die Pfeifenorgel bleibt inkompatibel mit <strong>der</strong> heutigen, auf Relevanz und kommerziell<br />

Verwertbares ausgerichteten Musiklandschaft.<br />

Die kommerzielle Infrastruktur in <strong>der</strong> Musikszene dreht sich um starke Marken und wird<br />

in zunehmendem Maße von ihnen abhängen – insbeson<strong>der</strong>e im Falle <strong>der</strong> Solisten. Die<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen, vor die die Pfeifenorgel jeden Organisten stellt, <strong>der</strong> hofft, ein Teil<br />

Mich schmerzt es nicht, zu schreiben, dass die Orgel meiner Träume keine Pfeifenorgel<br />

son<strong>der</strong>n eine digitale Orgel ist. An dieser Stelle treffe ich gewöhnlich auf das indignierte<br />

Hüsteln und den ungläubigen Blick des ergrauten Skeptikers, <strong>der</strong> die klassische Ideologie<br />

–„akustischer Klang ist gut, verstärkter Klang ist schlecht“ – mit Vehemenz vertritt.<br />

Aus <strong>der</strong> Kreuzgang-Perspektive <strong>der</strong> traditionellen Orgel betrachtet ist das Ketzerei.<br />

Davon muss man sich freimachen, denn wenn man die jahrhun<strong>der</strong>telange Geschichte<br />

<strong>der</strong> Orgelbaukunst betrachtet, ist die digitale Orgel eher Verbündete denn Feind <strong>der</strong><br />

Tradition. Der Fortschritt, den uns die „eklektische“, zeitgenössische Pfeifenorgel gebracht<br />

hat (d. h. Disney Hall, Suntory Hall, Berliner Philharmonie etc.), ist undenkbar<br />

ohne den Einsatz eines Computers, <strong>der</strong> die von einem Organisten gespielte Musik<br />

erzeugt. Mit „Erzeugung“ ist dabei sowohl das System gemeint, durch das die Luft in<br />

Schwingung versetzt wird, als auch das System zur Steuerung <strong>der</strong> Tasten und Register,<br />

also <strong>der</strong> Rück wirkung auf den Orgelspieler. Kaum eine Orgel in einem bedeutenden<br />

Konzertsaal in Europa o<strong>der</strong> Amerika kommt ohne digitales Spieltisch-Steuerungssystem<br />

aus – sogar bei quasi-historischen Orgeln wie <strong>der</strong> im Mozarteum ist es unverzichtbar<br />

– und die musikalischen Möglichkeiten, die sich hierdurch ergeben, sind ein<br />

unverzichtbarer Bestandteil <strong>der</strong> Orgeltechnik, die seit Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre in vielen<br />

Konservatorien gelehrt wird. Mit 32 bin ich alt genug, um den Wi<strong>der</strong>willen <strong>der</strong> musikalischen<br />

Welt gegen die Entwicklung <strong>der</strong> digitalen Orgel in weiten Teilen miterlebt zu haben.<br />

Doch gemessen an <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Orgel während <strong>der</strong> letzten 200 o<strong>der</strong> sogar 1800

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