Kunst braucht Raum. - Müller Steeneck
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Neulich in Indien<br />
Ein Straßeninterview von Hansjörg Fröhlich, z.Zt. in Bombay unterwegs<br />
Rajiv, ein rüstiger 30-jähriger zeichnet seit drei<br />
Jahren Portraits von Reisenden aller Nationen. Er<br />
hält sich vorwiegend an den Touristenspots in<br />
Bombays Süden auf und ist ständig auf der<br />
Flucht vor der Polizei. Am Abend des Interviews<br />
stand er unweit des Gateway of India in Colaba,<br />
Bombay-South.<br />
HJF: Rajiv, wie lange stehst du nun schon hier?<br />
RAJIV: Seit zwei Stunden, ohne einen Kunden<br />
gehabt zu haben.<br />
Bist du schon in anderen Städten gewesen.<br />
Ich war immer in Bombay, mein ganzes Leben bin<br />
ich nie über die Stadtgrenze hinaus gekommen.<br />
Geht das anderen Straßenkünstlern auch so?<br />
Ich habe keinen Kontakt zu anderen Künstlern,<br />
wir leben im ständigen Konflikt miteinander,<br />
weisst du. Die Konkurrenz. Sie sind fast schlimmer<br />
als die Bullen. Manchmal, wenn sie durch<br />
Spitzel erfahren haben, dass ich ein paar Sachen<br />
POOL<br />
verkauft habe, kommen sie und rauben mich aus.<br />
Ich kenne aber noch ein paar mir Wohlgesonnene<br />
aus Uni-Zeiten, die hängen durch oder machen<br />
eben kleine Aufträge für die Filmindustrie.<br />
Was nimmst du für ein Potrait?<br />
Ich brauche etwa eine halbe Stunde und verlange<br />
100 Rupies (2 Euro)<br />
Kaufen die Touristen auch andere Sachen von dir?<br />
Du meinst Dope oder Gefälligkeiten?<br />
Nein, ich meinte andere Arbeiten von dir. Deine<br />
Öl- oder Aquarell-Arbeiten.<br />
Ganz selten, die werden nur von gebildeten<br />
Leuten gekauft und sind natürlich auch teurer, so<br />
ab 5000 Rs (100 Euro) aufwärts.<br />
Machst du die teuren Sachen auch auf Bestellung?<br />
Ja, ist aber langweilig. Die meisten der Kunden<br />
wollen nur, dass ich ihre Frau oder ihr Auto male.<br />
Richtig frische Sachen wollen nur die hiesigen<br />
Andreas Schäfauer: Straßenszene in Indien<br />
<strong>Kunst</strong>dandys, die Leute von den Hilforganisationen<br />
aus Europa oder die Schwulen und Lesben.<br />
Aber Bombay ist schon eine gute Stadt für<br />
Künstler, oder?<br />
Bombay ist die beste Stadt für <strong>Kunst</strong> in ganz Indien.<br />
Alle kommen hierher. Die Maharashtraleute<br />
(Bombay ist Hauptstadt der Region Maharashtra)<br />
haben Sinn für <strong>Kunst</strong>.<br />
Weil die mehr Geld haben?<br />
Nein die Maharathis sind meist arme Leute, doch<br />
sie besuchen fast alle eine Schule, daher kennen<br />
sie <strong>Kunst</strong>, wissen sie zu schätzen.<br />
Deine Portraitkunden, wo kommen die her?<br />
Von überall, die ganze Welt kommt nach<br />
Bombay. Darum sitze ich hier. Ich brauche nicht<br />
zu reisen. Europäer, Araber, Japaner, Chinesen,<br />
Afrikaner, alle sind schon hier gesessen.<br />
Wie unterscheiden die sich?<br />
Die Euros wissen in der Regel etwas über <strong>Kunst</strong>,<br />
reden viel und machen einen auf verständnisvoll.<br />
Die Araber haben keine Ahnung, in ihrem Land<br />
gibt es ja keine öffentliche <strong>Kunst</strong>. Sie halten mich<br />
wahrscheinlich für durchgeknallt, aber sie haben<br />
Kohle und meist auch eine Frau oder ein Auto<br />
das ich malen kann. Die Japaner sind sehr<br />
nervös, aber auch ganz geduldig beim Sitzen. Sie<br />
handeln nie um den Preis, sie zahlen was ich<br />
verlange.<br />
Du malst nur nachts, ja?<br />
Ja, weil die Bullen tagsüber alle paar Minuten hier<br />
vorbeikommen. Wenn sie mich schnappen, schlagen<br />
sie meine Ausrüstung und die paar Arbeiten,<br />
die ich zum Vorzeigen dabei habe, kaputt. Nach<br />
20 Uhr ist dann ihr Dienstschluss und es<br />
kommen nur noch selten ein paar betrunkene<br />
Cops, die sich ihr Schmiergeld abholen wollen.<br />
Wie lange machst du schon Portraits?<br />
Seit 15 Jahren. Anfangs habe ich nur Skizzen<br />
gezeichnet, so in ein, zwei Minuten. Die hab ich<br />
dann den Touristen geschenkt.<br />
Wenn ein Kunde kommt, wie gehst du vor?<br />
Zuerst schaue ich mir sein Gesicht lange und<br />
genau an. Ich präge mir etwa 25 markante<br />
Stellen seines Gesichts ein und beginne dann zu<br />
zeichnen.<br />
Du hast das Portrait im Kopf und zeichnest aus<br />
der Erinnerung?<br />
Kann man so sagen. Ist oft auch nötig, denn viele<br />
Kunden werden nach fünf Minuten schon ungeduldig,<br />
laufen zum Eisverkäufer rüber oder<br />
werden von Bettlern in Beschlag genommen.<br />
Kinder sind da relaxter. Sie sitzen meist ruhig da<br />
und beobachten mich.<br />
Kommen mehr Frauen oder Männer zu dir?<br />
Auf der Straße sind es mehr Männer. Manchmal<br />
werde ich auch zu Hochzeiten eingeladen. Dort<br />
können sich die Gäste gratis ein Portrait anfertigen<br />
lassen. Bezahlt werde ich vom Gastgeber. Auf<br />
Hochzeiten zeichne ich fast nur Frauen und Kinder.<br />
Wie haben deine Eltern reagiert als sie erfuhren,<br />
dass du Künstler wirst.<br />
Ich habe es ihnen verheimlicht. Studiere<br />
Geschichte hab ich ihnen gesagt und munter<br />
ihre bescheidenen Geldgaben kassiert. Als sie<br />
nach ein paar Jahren mein Diplom sehen wollten<br />
hab ich den Kontakt zu ihnen abgebrochen.<br />
Demnach haben deine Eltern keine hohe<br />
Meinung von <strong>Kunst</strong>.<br />
Das Lustige ist, dass ich durch meinen Vater zur<br />
<strong>Kunst</strong> gekommen bin. Er stellt Kuhhalsbänder<br />
und Tiefbrunneneimer aus Leder her. Um sich<br />
von seinen vielen Mitkonkurrenten abzusetzen<br />
schlug er eines Tages vor, ich solle feine Ornamente<br />
zeichnen, die er dann mit einen heissen Eisen<br />
auf die Kuhhalsbänder überträgt. So kamen ich<br />
und mein älterer Bruder zum Zeichnen.<br />
Dein Bruder ist auch Portraitist?<br />
Nein, der macht immer noch Kuhhalsbänder und<br />
Tiefbrunneneimer.<br />
Tut mir leid ich muss jetzt los. Ich wohne im<br />
Tilaknagar-Stadtteil und habe noch zwei Stunden<br />
Zugfahrt bis dorthin.<br />
thanks, Rajiv<br />
good night. hjf<br />
POOL<br />
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