Emmaus International: gelebte Solidarität - La France en Suisse

MINISTÈRE DES AFFAIRES ÉTRANGÈRES ET EUROPEENNES
Nr. 14 – Mai 2010
Emmaus International: gelebte Solidarität
Emmaüs in Italien
© Sébastien Gracco de Lay, Emmaüs International
Runde Brillengläser, eine
schwarze, abgetragene Sutane, ein grau
melierter Bart, Kurzhaarschnitt: Henri
Grouès, bekannt als Abbé Pierre, war
lange Zeit die beliebteste Persönlichkeit
der Franzosen. In seiner Entrüstung über
die zum Teil katastrophalen Bedingungen
der "Schlecht Behausten" gründet er
1949 für und mit den am stärksten
benachteiligten Gruppen die Emmaus-
Gemeinschaften. In Frankreich gibt es
heute 175 aktive Gemeinschaften, wobei
oft vergessen wird, dass die Emmaus-
Initiative in die ganze Welt ausstrahlt. Es
gibt heute über 308 örtliche
Organisationen weltweit, die alle
denselben Solidaritätswerten folgen.
Im Nordosten von Bangladesch erstreckt sich entlang des Ganges das Dorf Thanapara. Plötzlich ertönt
ein Schrei, der Ruf des öffentlichen Ankündigers der örtlichen Emmaus-Gruppe. Er proklamiert die
Frauenrechte und erinnert daran, dass Kinderehen verboten sind. Ein sicheres und wirksames Mittel, um diese
solide Gemeinschaft zu sensibilisieren. Und dennoch blick Thanapara auf einen langen Weg zurück: Während
der Unruhen, die 1971 mit der Erlangung der Unabhängigkeit des Landes einhergingen, wurden alle Männer des
Dorfes massakriert und ließen ihre Frauen und Kinder ohne Einkommen und Schutz zurück. Zunächst nahm
sich eine schwedische NRO, dann Emmaus, des Dorfes an. Die Frauen organisierten sich untereinander und
nahmen eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit auf. Heute arbeiten 250 Menschen in ihrer eigenen Fabrik für
ethisch korrekte Kleidung. Die wirtschaftliche Stabilisierung der Familien ermöglicht es nunmehr, andere
Probleme anzugehen: an erster Stelle die eheliche Gewalt, aber auch die Begleitung der Gesundheitsfürsorge,
die Trinkwasserversorgung (Arsenkontamination) oder die Einrichtung von Mikrokrediten zwischen
Dorfbewohnern. Es wurde eine Schule eröffnet, wo heute 600 Kinder unterrichtet werden. Schließlich haben die
Bauern auf biologische Landwirtschaft umgestellt, sodass die Bereitstellung von Saatgut und Dünger gesichert
ist. Eine Erfahrung, die inzwischen auf benachbarte Dörfer ausstrahlt, die von der Autonomie und Solidarität
Thanaparas tief beeindruckt sind.
"Hilf zuerst den Ärmsten"
"In dieser Gruppe findet man die ganze Emmaus-Philosophie ", erklärt Catherine Tittelein von Emmaus
International, "zuerst den Ärmsten helfen, wer es auch sei, ohne irgendeine Form der Diskriminierung und vor
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Ort, gemeinsam mit den Ärmsten, wirtschaftliche Tätigkeiten schaffen, um auf diese Weise jedem Einzelnen
den Zugang zu den Grundrechten zu gewährleisten". Fünf Programme: Zugang zu Trinkwasser, zum
Gesundheitswesen, zur Bildung, aber auch ethisch korrekte Finanzierungen und die Rechte der Migranten
dienen allen Emmaus-Gruppen in der ganzen Welt als Wegweiser. "Jede Gruppe hat ihre Besonderheit und
stellt sich auf die spezifischen Bedürfnisse vor Ort ein", erklärt Catherine Tittelein. So hat zum Beispiel die
spanische Gruppe in San Sebastian ein leistungsstarkes Eingliederungs- und Recyclingunternehmen mit 100
Beschäftigten gegründet. Aus ihren Überlegungen zur Wegwerfgesellschaft und ihren Folgen wurde die Idee
eines künstlerischen Wettbewerbs zum Thema "Wiederverwertung" geboren. Im Sommer werden an
verschieden Punkten der Stadt mit Büchern gefüllte Kühlschränke aufgestellt. Als sich im Nachkriegs-Bosnien-
Herzegowina Flüchtlingslager bildeten, sahen sich ältere oder isoliert lebende Menschen sowie vollkommen
orientierungslose geistig Behinderte plötzlich ihrem Schicksal überlassen. Die junge und dynamische Emmaus-
Ortsgruppe gründete eine Bäckerei und eine Imkerei, in der diese Menschen, die den "Anschluss verpasst
haben", Aufnahme finden. "Die Idee besteht darin, diesen Menschen einen Rahmen zu geben, der ihren
Tagesablauf strukturiert, aber auch die Mittel, die ihnen wieder ein würdiges Leben ermöglichen", führt Majda
Buchanin, die Missionsbeauftragte von Emmaus International, aus. "Die wirtschaftliche Tätigkeit ist nicht das
eigentliche Ziel, sie hilft jedoch sich zu mobilisieren, um dann anderen helfen zu können."
"Hilf anderen, um Dir selbst zu helfen"
In Benin zum Beispiel finanzieren sozial schwache Jugendliche, die weit von der Hauptstadt entfernt
betreut werden, mit ihrem Gemüseanbau die Schulbildung von Kindern in Cotonou. Die kleinen Schüler werden
in den Räumlichkeiten von Emmaus schulisch betreut, während ihre Mütter die Kleidung sortieren, die von
europäischen Emmaus-Gruppen in Containern geschickt wurde. Nach Schulschluss verkaufen die Mütter die
Secondhand-Kleidung auf Märkten und können somit für den täglichen Lebensunterhalt ihrer Familie
aufkommen.
Die Emmaus-Gruppen handeln nach dem genialen Gedanken von Abbé Pierre, der davon ausging, dass
man, "indem man andere rettet, sich selbst rettet". Abbé Pierre ist einem Mann begegnet, der sich das Leben
nehmen wollte. Er konnte ihn schließlich überzeugen, dass er trotz seiner Armut, durch den Bau von
Notunterkünften für Obdachlose, für andere Menschen nützlich sein kann. Dieser Mann, der erste Emmaus-
Gefährte, hat auf diese Weise einen neuen Lebensinhalt gefunden.
Einzigartige Gruppen
Nach der positiven Entwicklung der Emmaus-Gemeinschaften in Frankreich begann Abbé Pierre
Vortragsreisen ins Ausland, vor allem nach Lateinamerika, zu machen. Auf diese Weise weckte er ab 1971 bei
vielen den Wunsch, ähnliche Gruppen in ihren Ländern ins Leben zu rufen. Eine einzigartige Mischung aus
gutem Willen und Erfahrung: Jugendlager, in denen Jugendliche aus allen Ländern der Welt ein paar Wochen
ihrer Sommerferien Emmaus-Gruppen widmen, um diese bei bestimmten Projekten zu unterstützen.
Gleichzeitig lernen sie den Geist der Emmaus-Bewegung kennen. Obwohl Emmaus von einem katholischen
Priester gegründet wurde, ist die Bewegung unpolitisch und an keine Konfession gebunden. Wird eine Initiative
geboren, analysieren die Gruppen des betreffenden Kontinents den Vorschlag und bieten ggf. ihre
Unterstützung des Projekts über mehrere Jahre an. Erst dann wird das Projekt definitiv in die Bewegung
integriert. "Jede Emmaus-Gruppe hat ihr eigenes Profil", erklärt Catherine Tittelein. "Die Besonderheiten
der Aktivitäten und der Funktionsweise machen den Reichtum der Bewegung aus. Allen gemein
jedoch ist der ihr zugrunde liegende Geist: die bedingungslose Aufnahme von Bedürftigen, die
Achtung der Menschenwürde, die Anerkennung der Fähigkeit jedes Einzelnen, Akteur des eigenen
Lebens zu sein und für sich selbst zu sorgen, die Solidarität gegenüber den Schwächsten." Emmaus ist
basisdemokratisch und vollkommen dezentral organisiert. Die Bewegung wird eher von gemeinsamen
Impulsen und einem Erfahrungsaustausch getragen, die es jeder Gruppe ermöglichen, auf die
spezifischen Herausforderungen vor Ort angemessen zu reagieren. Weltweit sind heute über 200 000
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Menschen in Emmaus-Gruppen engagiert tätig, Millionen von Menschen profitieren jedoch von ihren
Solidaritätsaktionen. Das Erbe des Abbé Pierre, der 2007 verstarb, ist lebendig und stellt sich beherzt
den Ereignissen, die die Welt erschüttern.
Informationen über die Emmaus-Jugendlager:
http://www.emmaus-europe.org/spip.phprubrique30
http://emmaus-international.org/index.php
Pascale Bernard
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