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Jahresbericht 2012 - Klinik Wysshölzli

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14<br />

Die Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch andauernde<br />

Beschäftigung mit Körpergewicht, Ernährung<br />

und Figur, dazu kommen regelmässige Kontrollverluste<br />

mit Essanfällen mit kompensatorischem<br />

Verhalten, meist Erbrechen. Dieses kompensatorische<br />

Verhalten fehlt bei der Binge Eating Störung, die<br />

häufig zu Übergewicht oder Adipositas führt. Eine<br />

der neueren Essstörung mit Zwangscharakter ist die<br />

Orthorexie, welche seit Mitte der 90er Jahre bekannt<br />

geworden ist. Sie zeichnet sich durch ein komplexes<br />

und zeitintensives Ernährungsmanagement aus, bei<br />

dem der vermutete Gesundheitswert des Essens prioritär<br />

ist. Es kommt zu zunehmendem Verzicht auf<br />

eine grosse Anzahl von Speisen, oft muss eine Überlebensration<br />

der erlaubten Lebensmittel mitgeführt<br />

werden. Bei Verletzung der selbstauferlegten Regeln<br />

kommt es zu intensiven Versagens- und Schuldgefühlen,<br />

die Konsequenz ist eine vermehrte Selbstbestrafung<br />

mit einem noch rigiderem Diätregime. Allen<br />

Essstörungen gemeinsam ist ein charakteristisches<br />

Dichotomes oder Schwarz-Weiss-Denken. Bei alldem<br />

muss jedoch immer im Auge behalten werden, dass<br />

Handlungen, die selbstzerstörerisch zu sein scheinen,<br />

sich fast immer als eine Art der Anpassung erweisen,<br />

als Versuch mit der Welt zurecht zu kommen. Diese<br />

Definition der Funktionalität von Essverhaltensstörungen<br />

stammt von Susie Orbach.<br />

Die ganze Diskussion rund um Essstörungen im<br />

Zusammenhang mit Übergewicht und Binge-Eating<br />

muss vor dem Hintergrund der sozialen Abwertung<br />

des Überessens, der Völlerei, gesehen werden. Die<br />

Völlerei (lat. Gula) galt im Früh- und Hochmittelalter<br />

als eine der sieben Todsünden, welche mit der<br />

Verbannung in die Hölle und dem Erleiden ewiger<br />

Schmerzen bestraft wurde. Unter diesem Vorurteil<br />

haben adipöse Menschen auch heute noch zu leiden.<br />

Adipöse Menschen zeichnen sich häufig durch eine<br />

Tendenz zum Überessen bei Stress und emotional<br />

belastenden Situationen aus. Sie haben die Tendenz<br />

eher ungünstig zu bewältigen, indem sie den Stress<br />

in sich hineinfressen oder hinunterschlucken, statt<br />

ihn external zu eliminieren. Adipöse Menschen üben<br />

eine sogenannte kognitive Zügelung des Essverhaltens<br />

aus, d. h. sie versuchen ständig, sich zurückzuhalten,<br />

verlieren dadurch eher häufiger die Kontrolle.<br />

Charakteristisch ist auch eine verzögerte Sättigung,<br />

im Laufe der Mahlzeit sowie ein Under-Reporting der<br />

Nahrungsaufnahme.<br />

Die Frage, warum wir uns allgemein damit so schwer<br />

tun, uns beim Essen zurückzuhalten und dauerhaft an<br />

Gewicht abzunehmen ist in der menschlichen Evolution<br />

zu suchen. Unser Organismus wurde über Jahrtausende<br />

von einer Nahrungsknappheit geprägt. In<br />

dieser Zeit galt, wenn immer möglich zu essen und<br />

dann möglichst viele und energiedichte Nahrungsmittel.<br />

Ausserdem bewegte man sich nur in Notsituationen.<br />

Heute gilt genau die gegenteilige Devise, für<br />

die unser Organismus biologisch jedoch nicht bereit<br />

ist.<br />

Sportliche Betätigung, sicher eine der zentralen Strategien<br />

in der Bekämpfung des Übergewichtes, birgt<br />

jedoch auch Risikofaktoren für die Entstehung von<br />

klassischen Essstörungen. Eine rigide Gewichts- und<br />

Ernährungskontrolle wird in verschiedenen Sportarten<br />

propagiert und gefördert, so z. B. bei Ausdauersportarten<br />

(Langstreckenlauf und Triathlon), bei<br />

kompositorischen Sportarten (Kunstturnen, Eiskunstlauf),<br />

bei Sportarten, die in Gewichtsklassen<br />

ausgeübt werden (Boxen, Ringen, Gewichtheben,<br />

Rudern) sowie bei Sportarten in denen Leichtgewichtigkeit<br />

ein Erfolgsfaktor ist (Hochsprung, Skispringen,<br />

Radfahren ). Während in früheren Jahren dieses<br />

Phänomen v. a. bei Kunstturnerinnen, Eiskunstläuferinnen<br />

und Langstreckenläuferinnen (sogenannte<br />

FAT: Female Athletes Triad) zu beobachten war, sind<br />

heute auch vermehrt Männer von Essverhaltensstörungen<br />

betroffen, die sonst allgemein immer noch in<br />

der Minderheit sind. Es gilt für Trainer und Sportler<br />

selbst zu bemerken, wann der Sport zu einer Purging-<br />

Strategie oder zu einem Zwang wird. Dies ist dann<br />

zu beobachten, wenn Ausdauersport das zentrale<br />

Motiv im Leben geworden ist, wenn bei Vermeiden<br />

der sportlichen Aktivität Entzugssymptome und Erledigungszwang<br />

auftreten, wenn die Beanspruchung<br />

ständig gesteigert werden muss um noch die gleiche<br />

Wirkung zu erzielen, wenn körperliche Signale<br />

und Verletzungen missachtet werden und wenn das<br />

soziale Leben neben dem Sport mehr und mehr zerfällt.

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