Jahresbericht 2012 - Klinik Wysshölzli
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Die Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch andauernde<br />
Beschäftigung mit Körpergewicht, Ernährung<br />
und Figur, dazu kommen regelmässige Kontrollverluste<br />
mit Essanfällen mit kompensatorischem<br />
Verhalten, meist Erbrechen. Dieses kompensatorische<br />
Verhalten fehlt bei der Binge Eating Störung, die<br />
häufig zu Übergewicht oder Adipositas führt. Eine<br />
der neueren Essstörung mit Zwangscharakter ist die<br />
Orthorexie, welche seit Mitte der 90er Jahre bekannt<br />
geworden ist. Sie zeichnet sich durch ein komplexes<br />
und zeitintensives Ernährungsmanagement aus, bei<br />
dem der vermutete Gesundheitswert des Essens prioritär<br />
ist. Es kommt zu zunehmendem Verzicht auf<br />
eine grosse Anzahl von Speisen, oft muss eine Überlebensration<br />
der erlaubten Lebensmittel mitgeführt<br />
werden. Bei Verletzung der selbstauferlegten Regeln<br />
kommt es zu intensiven Versagens- und Schuldgefühlen,<br />
die Konsequenz ist eine vermehrte Selbstbestrafung<br />
mit einem noch rigiderem Diätregime. Allen<br />
Essstörungen gemeinsam ist ein charakteristisches<br />
Dichotomes oder Schwarz-Weiss-Denken. Bei alldem<br />
muss jedoch immer im Auge behalten werden, dass<br />
Handlungen, die selbstzerstörerisch zu sein scheinen,<br />
sich fast immer als eine Art der Anpassung erweisen,<br />
als Versuch mit der Welt zurecht zu kommen. Diese<br />
Definition der Funktionalität von Essverhaltensstörungen<br />
stammt von Susie Orbach.<br />
Die ganze Diskussion rund um Essstörungen im<br />
Zusammenhang mit Übergewicht und Binge-Eating<br />
muss vor dem Hintergrund der sozialen Abwertung<br />
des Überessens, der Völlerei, gesehen werden. Die<br />
Völlerei (lat. Gula) galt im Früh- und Hochmittelalter<br />
als eine der sieben Todsünden, welche mit der<br />
Verbannung in die Hölle und dem Erleiden ewiger<br />
Schmerzen bestraft wurde. Unter diesem Vorurteil<br />
haben adipöse Menschen auch heute noch zu leiden.<br />
Adipöse Menschen zeichnen sich häufig durch eine<br />
Tendenz zum Überessen bei Stress und emotional<br />
belastenden Situationen aus. Sie haben die Tendenz<br />
eher ungünstig zu bewältigen, indem sie den Stress<br />
in sich hineinfressen oder hinunterschlucken, statt<br />
ihn external zu eliminieren. Adipöse Menschen üben<br />
eine sogenannte kognitive Zügelung des Essverhaltens<br />
aus, d. h. sie versuchen ständig, sich zurückzuhalten,<br />
verlieren dadurch eher häufiger die Kontrolle.<br />
Charakteristisch ist auch eine verzögerte Sättigung,<br />
im Laufe der Mahlzeit sowie ein Under-Reporting der<br />
Nahrungsaufnahme.<br />
Die Frage, warum wir uns allgemein damit so schwer<br />
tun, uns beim Essen zurückzuhalten und dauerhaft an<br />
Gewicht abzunehmen ist in der menschlichen Evolution<br />
zu suchen. Unser Organismus wurde über Jahrtausende<br />
von einer Nahrungsknappheit geprägt. In<br />
dieser Zeit galt, wenn immer möglich zu essen und<br />
dann möglichst viele und energiedichte Nahrungsmittel.<br />
Ausserdem bewegte man sich nur in Notsituationen.<br />
Heute gilt genau die gegenteilige Devise, für<br />
die unser Organismus biologisch jedoch nicht bereit<br />
ist.<br />
Sportliche Betätigung, sicher eine der zentralen Strategien<br />
in der Bekämpfung des Übergewichtes, birgt<br />
jedoch auch Risikofaktoren für die Entstehung von<br />
klassischen Essstörungen. Eine rigide Gewichts- und<br />
Ernährungskontrolle wird in verschiedenen Sportarten<br />
propagiert und gefördert, so z. B. bei Ausdauersportarten<br />
(Langstreckenlauf und Triathlon), bei<br />
kompositorischen Sportarten (Kunstturnen, Eiskunstlauf),<br />
bei Sportarten, die in Gewichtsklassen<br />
ausgeübt werden (Boxen, Ringen, Gewichtheben,<br />
Rudern) sowie bei Sportarten in denen Leichtgewichtigkeit<br />
ein Erfolgsfaktor ist (Hochsprung, Skispringen,<br />
Radfahren ). Während in früheren Jahren dieses<br />
Phänomen v. a. bei Kunstturnerinnen, Eiskunstläuferinnen<br />
und Langstreckenläuferinnen (sogenannte<br />
FAT: Female Athletes Triad) zu beobachten war, sind<br />
heute auch vermehrt Männer von Essverhaltensstörungen<br />
betroffen, die sonst allgemein immer noch in<br />
der Minderheit sind. Es gilt für Trainer und Sportler<br />
selbst zu bemerken, wann der Sport zu einer Purging-<br />
Strategie oder zu einem Zwang wird. Dies ist dann<br />
zu beobachten, wenn Ausdauersport das zentrale<br />
Motiv im Leben geworden ist, wenn bei Vermeiden<br />
der sportlichen Aktivität Entzugssymptome und Erledigungszwang<br />
auftreten, wenn die Beanspruchung<br />
ständig gesteigert werden muss um noch die gleiche<br />
Wirkung zu erzielen, wenn körperliche Signale<br />
und Verletzungen missachtet werden und wenn das<br />
soziale Leben neben dem Sport mehr und mehr zerfällt.