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Durchgangslager Friedland | Janne Teller - Pony

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Der Berg der Bedeutung<br />

disKussionsstoFF Vom Objekt pädagoischer Entrüstung zur Schullektüre: »Nichts«, der<br />

Roman der dänischen Autorin <strong>Janne</strong> <strong>Teller</strong>, handelt von Schülern in einer Spirale<br />

der Fanatisierung.<br />

Michael Saager<br />

zweite Augustwoche, die großen Ferien sind gerade vorüber. Pierre Anthon ist<br />

Schüler der 7A in einer ganz normalen Schule in Täring, dem Vorort einer dänischen<br />

Provinzstadt. Er ist überzeugt, etwas Wichtiges begriffen zu haben:<br />

»Nichts bedeutet irgendetwas. Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich<br />

nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.«<br />

Kaum hat Pierre Anthon die Sätze ausgesprochen, verlässt er Klassenzimmer<br />

und Schule und klettert auf einen Baum auf dem Grundstück seiner Eltern,<br />

von dem er so schnell nicht mehr herabsteigen wird. Was tun seine Klassenkameraden?<br />

Nein, sie schütteln nicht den Kopf, erklären Pierre Anthon für einen<br />

ausgemachten Spinner und lassen ihn auf seinem blöden Baum verschimmeln.<br />

So würde das wohl im echten Leben laufen. Aber das echte Leben bekommt ja<br />

auch keinen Luchs-Preis, einen der renommiertesten Kinder- und Jugendliteraturpreise<br />

Deutschlands. Das echte Leben ist kein Roman.<br />

»Nichts. Was im Leben wichtig ist«, das Debüt der 1964 in Kopenhagen geborenen<br />

Schriftstellerin <strong>Janne</strong> <strong>Teller</strong>, hat eine bemerkenswerte Karriere hinter<br />

sich. Im Jahr 2000 erschienen, war es an dänischen Schulen zunächst verboten,<br />

weil zahlreiche Lehrer und Lehrerinnen Sturm dagegen liefen. Kurze Zeit später<br />

wendete sich das Blatt und das Buch wurde mit Preisen im In- und Ausland überhäuft.<br />

Inzwischen ist es nicht nur ein dänischer Jugendbuchklassiker, sondern<br />

auch Abiturprüfungsstoff und Lektüre im Konfirmandenunterricht. Die deutsche<br />

Übersetzung ließ ein bisschen länger auf sich warten. Warum auch immer.<br />

Sandalen, Zöpfe, Goldhamster<br />

Natürlich erzählt »Nichts« mehr als nur die Geschichte von einem intelligenten<br />

naseweisen Jungen, der aus luftiger Höhe reife Victoria-Pflaumen auf seine<br />

Mitschüler und Mitschülerinnen schleudert. Realistisch oder nicht: Die Kinder<br />

nehmen sich Pierre Anthons Sätze zu Herzen. Intuitiv erkennen sie darin eine<br />

dunkle existenzialistische, ungemein nihilistische Wahrheit. Der Sinn ihres Lebens<br />

steht auf dem Spiel. »Aus uns sollte etwas werden«, heißt es an einer Stelle.<br />

Aber wenn Nichts etwas bedeutet? Wozu sollte dann das, was da noch kommen<br />

könnte, gut sein?<br />

Pierre Anthon provoziert munter weiter: »Die Erde ist Milliarden Jahre alt.<br />

Wir werden doch gerade mal hundert.« Oder: »Ich frage mich, warum es so<br />

wichtig sein soll, sich fürs Essen zu bedanken und für den Besuch und Danke<br />

gleichfalls zu sagen und Guten Tag und Wie geht es, wenn schon bald keiner von<br />

uns noch irgendwohin geht und das alle auch wissen und man stattdessen hier<br />

sitzen und Pflaumen essen und den Gang der Erde um die Sonne beobachten<br />

und sich darin üben kann, ein Teil von nichts zu werden?«<br />

16 Große Texte<br />

Was tun? Schließlich haben sie alle Angst, Pierre Anthon könnte recht haben.<br />

<strong>Janne</strong> <strong>Teller</strong>s Protagonisten, die durch die Bank leider etwas blass um ihre Nasen<br />

bleiben, eher zweidimensionale Funktionserfüllungsgehilfen dieser modernen<br />

Parabel sind als facettenreiche Charaktere, beschließen, Pierre Anthon das<br />

Gegenteil zu beweisen. In einem alten Sägewerk beginnen Ich-Erzählerin Agnes<br />

und ihre Klassenkameraden, Dinge aufzutürmen. Dinge, die ihnen viel bedeuten.<br />

Ein beweiskräftiger »Berg der Bedeutung« soll so entstehen. Das Projekt<br />

beginnt recht harmlos. Doch einer Lieblingspuppe, einem Tagebuch und<br />

einem Paar schicker Sandalen folgen rasch Dinge, die mehr Opferbereitschaft<br />

verlangen: Riekes Zöpfe werden abgeschnitten, Gerdas Goldhamster muss sterben,<br />

ein Kindersarg samt Leiche und der Gebetsteppich eines strenggläubigen<br />

muslimischen Jungen landen auf dem Berg. Tränen fließen, aber immerhin: Der<br />

Berg wächst und wächst.<br />

Nichts als ein toter Haufen<br />

»Nichts. Was im Leben wichtig ist« folgt einer absehbaren Logik der Steigerung.<br />

Deshalb ist das Buch auch ein bisschen zäh und nur passagenweise wirklich<br />

spannend. Man ahnt schnell, dass das alles sehr schlimm enden wird. Sogar<br />

als der Kreislauf aus Zwang, Rachsucht und Gewalt immer härtere Kurven<br />

nimmt, Sofie die Unschuld verliert und der talentierte Gitarrist Johan seinen<br />

Zeigefinger einbüßt, ist die letzte Stufe der Eskalation noch nicht erreicht. Gegen<br />

Ende des Buches kommt die Polizei dazu, schließlich nimmt die Weltpresse<br />

Notiz, und zum Schluss ist jemand tot. Und der Berg der Bedeutung? Ist, was<br />

er ist: ein Berg aus abgetrennten, kaputten, vor sich hinfaulenden Dingen – ein<br />

toter Haufen ohne nennenswerte Bedeutung.<br />

Die tragische Dimension von »Nichts. Was im Leben wichtig ist« liegt weniger<br />

im vergeblichen Bemühen, echte Bedeutung anzuhäufen. Auf die Idee, dass<br />

es stets kluge oder gemeine Einwände gegen die Bedeutung des Lebens geben<br />

kann, sofern man nur willens ist, sie zu formulieren, kommen die Schüler der 7A<br />

nicht. Dafür sind sie vielleicht zu jung. Das Tragische ist, dass sie im Zuge ihrer<br />

Fanatisierung Dinge tun, an deren Konsequenzen sie verdammt lange zu knabbern<br />

haben werden – sie haben in einen Abgrund geschaut, haben soziale und<br />

intime Werte preisgegeben, Freundschaften zerstört, einander Gewalt angetan<br />

und einen Menschen totgeschlagen – im Grunde für nichts.<br />

Zum Glück handelt es sich bloß um ein Buch. Gleichwohl zeigt die Diskussion,<br />

die es vor Jahren in Dänemark darum gab, wie nah manchem Lehrer und mancher<br />

Lehrerin diese Geschichte gegangen sein muss. Sie zeigt auch, dass einige<br />

der pädagogischen Leser das Buch offensichtlich nicht verstehen wollten. Die<br />

Geschichte ist ja gerade kein Plädoyer für die Sinnlosigkeit des Lebens, keine Bestätigung<br />

seiner Bedeutungslosigkeit. Das sagt auch die Autorin. <strong>Janne</strong> <strong>Teller</strong>s<br />

Buch stellt kluge Fragen und übt unter der Hand Kritik an Gleichgültigkeit und<br />

Ignoranz. Antworten auf Fragen nach dem Sinn des Lebens gibt das Buch keine.<br />

Wie könnte es auch? Wohl aber lädt es möglicherweise dazu ein, auf behutsame<br />

Weise Sinn im Leben zu finden. »Nichts. Was im Leben wichtig ist« ist ein<br />

Plädoyer für offenes Fragen und für offene Antworten, erzählt mit den Mitteln<br />

einer drastischen Parabel mit schrecklichem Ausgang.<br />

<strong>Janne</strong> <strong>Teller</strong> spricht<br />

am 28.3. um 19:00<br />

Uhr als Gast des<br />

Lit. Zentrums im<br />

Alten Rathaus mit<br />

der Philosophin Michaela<br />

Rehm über<br />

ihr Buch »Nichts.<br />

Was im Leben wichtig<br />

ist« (Hanser<br />

2010, 139 Seiten,<br />

12.90 EUR). Die DT-<br />

Schauspielerin Paula<br />

Hans leiht Agnes,<br />

der Erzählerin<br />

des Romans, ihre<br />

Stimme.<br />

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