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Kaktus Herbst 2010 - Grüne Solingen

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grün & bündig<br />

16<br />

Das Kopftuch – Debatten um Symbole<br />

verschleiern die Realität<br />

Ein Debattenbeitrag zum Thema Kopftuch<br />

(erster Beitrag von Gisela Weih in der Sommer-Ausgabe dieser Zeitung)<br />

Das hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes wohl kaum<br />

erwartet: Nicht der 1949 revolutionäre Artikel 3,2 zur Gleichberechtigung<br />

ist heute umstritten, sondern der in jeder demokratischen<br />

Verfassung selbstverständliche Artikel 4 zur Religionsfreiheit.<br />

Und beide stehen für viele im Widerspruch zueinander.<br />

In einem säkularisierten und zugleich multireligiösen Staat wie<br />

dem unseren sind die Menschen- und Bürgerrechte der unabdingbare<br />

gesellschaftliche Wertekonsens, darin bin ich mit Gisela einig.<br />

In zwei Punkten muss ich ihr allerdings widersprechen, nämlich<br />

was die Rolle der Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft<br />

und das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Raum angeht.<br />

Die Rolle der Religionen<br />

Rationalität und Aufklärung auf der einen, Religion und Irrationalität<br />

auf der anderen Seite: Holzschnittartige Beschreibungen<br />

dieser Art treffen nicht die Realität der fast 50 Millionen ProtestantInnenn<br />

und KatholikInnen in Deutschland, darunter viele Grüne<br />

und Grün-WählerInnen, deren Aufgeklärtheit hoffentlich nicht in<br />

Zweifel gezogen wird. Auf Kirchentagen und in den meisten Gemeinden<br />

ist „anstrengende eigene Denkarbeit“ der Normalfall,<br />

Ökumene wird nicht „taktisch“ gesehen und der „Alleinseligmachungsanspruch“<br />

wurde schon vom 2. Vatikanischen Konzil relativiert<br />

(Zitate aus dem Text von Gisela Weih.) Wir leben nicht mehr<br />

in den 50er Jahren, von einem Teil des katholischen Klerus mal<br />

abgesehen. Hatte die Aufklärung, bei aller berechtigten Kirchenkritik,<br />

nicht vor allem Toleranz und Respekt gegenüber Andersund<br />

Nichtgläubigen zum Ziel Selbst der Agnostiker Habermas betont<br />

inzwischen den Wert der Religionen für unsere Gesellschaft.<br />

Über das deutsche System der Trennung von Kirche und Staat<br />

kann man sicher streiten, auch viele ChristInnen haben da Vorbehalte.<br />

Wer es abschafft, sollte sich aber vorher überlegen, wie die<br />

kirchlichen sozialen Einrichtungen weitergeführt werden sollen, allein<br />

das diakonische Werk beschäftigt weit über 400.000 Mitarbeitende.<br />

Ich fände es dringlicher, die strukturelle Benachteiligung<br />

von MuslimInnen abzubauen (z.B. beim Religionsunterricht) als<br />

die strikte französische Trennung von Kirche und Staat zu übernehmen.<br />

Von vielen europäischen Modellen ist es eins, das Konflikte<br />

mit dem Islam eher zuspitzt, bisher ohne nennenswerten Integrationserfolg.<br />

Da sehe ich den pragmatischen englischen Ansatz<br />

– jeder bedeckt seinen Kopf wie er/sie will – eher als Vorbild<br />

an.<br />

Das Kopftuch im öffentlichen Raum<br />

„Nur ein Stückchen Stoff“ ist es sicher nie gewesen, ein politisches<br />

oder religiöses Symbol ist es erst seit kurzem. Erhöht nicht<br />

gerade die emotionale Diskussion den Symbolwert des Kopftuchs<br />

Ich gestehe, dass ich bei diesem Thema seit Jahren gespalten bin.<br />

Das auf wenige Koransuren zurückgehende Verhüllungsgebot spiegelt<br />

für mich eine patriarchalische Gesellschaftsordnung wider, die<br />

auch im christlichen Europa bis in die Neuzeit fortgewirkt hat, was<br />

unsere Sprache noch in sprichwörtlichen Wendungen wie „unter<br />

die Haube kommen“ spiegelt. Es hat harter Kämpfe bedurft sich<br />

davon zu befreien. Wahrscheinlich ist es deshalb für uns schwer zu<br />

ertragen, Zeichen dieser Tradition auch nur mit anzusehen.<br />

Andererseits möchte ich das Recht auf ungestörte Religionsausübung<br />

und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (GG Art. 2,1)<br />

selbst da nicht eingeschränkt wissen, wo es sich in einem freiwilligen<br />

Verzicht auf freiheitliche Kleidung ausdrückt, Selbstbestimmung<br />

und die Achtung der Rechte anderer immer vorausgesetzt.<br />

Anregend finde ich in diesem Zusammenhang die These der Ethnologin<br />

Ingrid Thurner: „Die Muslimin wird dringend benötigt, nämlich<br />

zur Verhüllung des Dilemmas, dass in dieser aufgeklärten Gesellschaft<br />

Frauen zwar beinahe nackt herumlaufen dürfen, aber<br />

sonst wie eh und je wenig zu entscheiden haben.“ (s. Süddeutsche:<br />

I. Thurner, Der nackte Zwang, 22.06.10, S.11)<br />

Ich möchte die Diskussion aber nicht in eine andere Richtung<br />

lenken, für mich liegt die Problematik eher darin, dass Verbote das<br />

Kopftuch mit einer religiösen Bedeutung aufladen, die ihm nicht<br />

zukommt. Es geht nicht um den religiösen Kern des Islam, sondern<br />

um eine – m.E. zeitbedingte – Verhaltensvorschrift. Die Asche der<br />

Tradition von der religiösen Glut zu blasen ist in allen Religionen<br />

immer wieder notwendig. Das geht aber nicht von außen, schon<br />

gar nicht mit Vorschriften und Erlassen. Die innerislamische Debatte<br />

ist längst im Gange.<br />

So sagt Hilal Sezgin im islamischen Wort zum Freitag des SWR<br />

(Mai <strong>2010</strong>): „ Bei allem was über die fünf Säulen hinausgeht,<br />

glaube ich nicht, dass Verhaltensvorschriften den Kern des Islam<br />

ausmachen.“ Der Zentralrat der Muslime in Deutschland betont in<br />

einer Stellungnahme vom 28.06.05 zwar die Pflicht zum Kopftuchtragen,<br />

schreibt aber auch: „ Das Nichttragen des Kopftuchs bedeutet<br />

nicht die Abkehr vom Islam und gilt für sich allein nicht<br />

als Maßstab für die Frömmigkeit des Einzelnen.“

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