Kaktus Herbst 2010 - Grüne Solingen
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Das Kopftuch – Debatten um Symbole<br />
verschleiern die Realität<br />
Ein Debattenbeitrag zum Thema Kopftuch<br />
(erster Beitrag von Gisela Weih in der Sommer-Ausgabe dieser Zeitung)<br />
Das hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes wohl kaum<br />
erwartet: Nicht der 1949 revolutionäre Artikel 3,2 zur Gleichberechtigung<br />
ist heute umstritten, sondern der in jeder demokratischen<br />
Verfassung selbstverständliche Artikel 4 zur Religionsfreiheit.<br />
Und beide stehen für viele im Widerspruch zueinander.<br />
In einem säkularisierten und zugleich multireligiösen Staat wie<br />
dem unseren sind die Menschen- und Bürgerrechte der unabdingbare<br />
gesellschaftliche Wertekonsens, darin bin ich mit Gisela einig.<br />
In zwei Punkten muss ich ihr allerdings widersprechen, nämlich<br />
was die Rolle der Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft<br />
und das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Raum angeht.<br />
Die Rolle der Religionen<br />
Rationalität und Aufklärung auf der einen, Religion und Irrationalität<br />
auf der anderen Seite: Holzschnittartige Beschreibungen<br />
dieser Art treffen nicht die Realität der fast 50 Millionen ProtestantInnenn<br />
und KatholikInnen in Deutschland, darunter viele Grüne<br />
und Grün-WählerInnen, deren Aufgeklärtheit hoffentlich nicht in<br />
Zweifel gezogen wird. Auf Kirchentagen und in den meisten Gemeinden<br />
ist „anstrengende eigene Denkarbeit“ der Normalfall,<br />
Ökumene wird nicht „taktisch“ gesehen und der „Alleinseligmachungsanspruch“<br />
wurde schon vom 2. Vatikanischen Konzil relativiert<br />
(Zitate aus dem Text von Gisela Weih.) Wir leben nicht mehr<br />
in den 50er Jahren, von einem Teil des katholischen Klerus mal<br />
abgesehen. Hatte die Aufklärung, bei aller berechtigten Kirchenkritik,<br />
nicht vor allem Toleranz und Respekt gegenüber Andersund<br />
Nichtgläubigen zum Ziel Selbst der Agnostiker Habermas betont<br />
inzwischen den Wert der Religionen für unsere Gesellschaft.<br />
Über das deutsche System der Trennung von Kirche und Staat<br />
kann man sicher streiten, auch viele ChristInnen haben da Vorbehalte.<br />
Wer es abschafft, sollte sich aber vorher überlegen, wie die<br />
kirchlichen sozialen Einrichtungen weitergeführt werden sollen, allein<br />
das diakonische Werk beschäftigt weit über 400.000 Mitarbeitende.<br />
Ich fände es dringlicher, die strukturelle Benachteiligung<br />
von MuslimInnen abzubauen (z.B. beim Religionsunterricht) als<br />
die strikte französische Trennung von Kirche und Staat zu übernehmen.<br />
Von vielen europäischen Modellen ist es eins, das Konflikte<br />
mit dem Islam eher zuspitzt, bisher ohne nennenswerten Integrationserfolg.<br />
Da sehe ich den pragmatischen englischen Ansatz<br />
– jeder bedeckt seinen Kopf wie er/sie will – eher als Vorbild<br />
an.<br />
Das Kopftuch im öffentlichen Raum<br />
„Nur ein Stückchen Stoff“ ist es sicher nie gewesen, ein politisches<br />
oder religiöses Symbol ist es erst seit kurzem. Erhöht nicht<br />
gerade die emotionale Diskussion den Symbolwert des Kopftuchs<br />
Ich gestehe, dass ich bei diesem Thema seit Jahren gespalten bin.<br />
Das auf wenige Koransuren zurückgehende Verhüllungsgebot spiegelt<br />
für mich eine patriarchalische Gesellschaftsordnung wider, die<br />
auch im christlichen Europa bis in die Neuzeit fortgewirkt hat, was<br />
unsere Sprache noch in sprichwörtlichen Wendungen wie „unter<br />
die Haube kommen“ spiegelt. Es hat harter Kämpfe bedurft sich<br />
davon zu befreien. Wahrscheinlich ist es deshalb für uns schwer zu<br />
ertragen, Zeichen dieser Tradition auch nur mit anzusehen.<br />
Andererseits möchte ich das Recht auf ungestörte Religionsausübung<br />
und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (GG Art. 2,1)<br />
selbst da nicht eingeschränkt wissen, wo es sich in einem freiwilligen<br />
Verzicht auf freiheitliche Kleidung ausdrückt, Selbstbestimmung<br />
und die Achtung der Rechte anderer immer vorausgesetzt.<br />
Anregend finde ich in diesem Zusammenhang die These der Ethnologin<br />
Ingrid Thurner: „Die Muslimin wird dringend benötigt, nämlich<br />
zur Verhüllung des Dilemmas, dass in dieser aufgeklärten Gesellschaft<br />
Frauen zwar beinahe nackt herumlaufen dürfen, aber<br />
sonst wie eh und je wenig zu entscheiden haben.“ (s. Süddeutsche:<br />
I. Thurner, Der nackte Zwang, 22.06.10, S.11)<br />
Ich möchte die Diskussion aber nicht in eine andere Richtung<br />
lenken, für mich liegt die Problematik eher darin, dass Verbote das<br />
Kopftuch mit einer religiösen Bedeutung aufladen, die ihm nicht<br />
zukommt. Es geht nicht um den religiösen Kern des Islam, sondern<br />
um eine – m.E. zeitbedingte – Verhaltensvorschrift. Die Asche der<br />
Tradition von der religiösen Glut zu blasen ist in allen Religionen<br />
immer wieder notwendig. Das geht aber nicht von außen, schon<br />
gar nicht mit Vorschriften und Erlassen. Die innerislamische Debatte<br />
ist längst im Gange.<br />
So sagt Hilal Sezgin im islamischen Wort zum Freitag des SWR<br />
(Mai <strong>2010</strong>): „ Bei allem was über die fünf Säulen hinausgeht,<br />
glaube ich nicht, dass Verhaltensvorschriften den Kern des Islam<br />
ausmachen.“ Der Zentralrat der Muslime in Deutschland betont in<br />
einer Stellungnahme vom 28.06.05 zwar die Pflicht zum Kopftuchtragen,<br />
schreibt aber auch: „ Das Nichttragen des Kopftuchs bedeutet<br />
nicht die Abkehr vom Islam und gilt für sich allein nicht<br />
als Maßstab für die Frömmigkeit des Einzelnen.“