Über Christoph Marthalers Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Schauspielhaus Zürich 2001.
LMU München - Hauptseminar Theaterwissenschaft "Inszenierungsanalyse" - 2004/05
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Es fallen einem gegen das Theater genauso viele Gründe ein,<br />
wie gegen den Staat. Und Dr<strong>am</strong>atiker ist sowieso, wer den<br />
falschen Feind hat. Ich kann keine Noten lesen, hasse<br />
Schauspieler und bin kein Dr<strong>am</strong>atiker. Also: <strong>Was</strong> spricht für das<br />
Theater Wäre das Theater ein Ort, wo man ungestraft, nur so<br />
zum Spaß, eine Theorie durch die Praxis zerstören könnte, ohne<br />
gleich die ganze Welt einzureißen; und wäre das Theater der Ort,<br />
wo man endlich mal keine Weltbilder entwerfen müsste,<br />
stattdessen mit dem Modell eines szenischen Torsos da<strong>von</strong> sich<br />
<strong>am</strong>üsieren dürfte; und wäre schließlich das Theater ein Ort, wo<br />
man pausenlos Formen der Unvollkommenheit erfände, um<br />
auszuprobieren, wie man <strong>am</strong> besten auf dem Grat der<br />
<strong>Über</strong>flüssigkeit sicherhielte (sic!) –: Ja, dann würde es mir nicht<br />
nur scheinen, sondern ich wäre mir ziemlich sicher, dass dies ein<br />
Theater mit Musik wäre! 38<br />
Musik hat die Kraft, verborgene Potenzen ans Tageslicht zu bringen. Es ist erstaunlich,<br />
welche akrobatischen Künste Bleichenwang beim Spielen der Luftgitarre entwickelt. Ist<br />
er doch sonst kaum in der Lage, aufrecht zu stehen. Auf diese Weise leistet der<br />
Einsatz musikalischer Mittel auch einen Beitrag zur Figurencharakterisierung.<br />
Die Synchronisation optischer und akustischer Zeichen hebt die<br />
Künstlichkeit der Figuren hervor. Hinzu kommt, dass Marthaler<br />
mit der Realitätserfahrung und Realitätswahrnehmung des<br />
Zuschauers spielt: menschliche Bewegungen können Geräusche<br />
verursachen, doch die benutzten Geräusche verursachen<br />
normalerweise keine menschlichen Bewegungen. [...] Das<br />
Subjekt hat seine Autonomie und Handlungsfreiheit eingebüßt.<br />
Der Automatismus des Vorgangs hat zum einen eine komische<br />
Wirkung, zeigt die Körper aber auch als leblose Hüllen.<br />
Belustigung und Unbehagen halten sich die Waage. 39<br />
Dieser Vorgang wird bei der akustisch untermalten Prügelei <strong>am</strong> deutlichsten; und diese<br />
künstliche Dr<strong>am</strong>atisierung der Schläge hat zur Folge, dass Viola Sir Toby schlagen<br />
kann. Kraft wird so eine vom Körper unabhängige Größe. Es liegt „Mechanisches als<br />
Kruste über Lebendigem“ 40 .<br />
Neben der emotionalisierenden Wirkung strukturiert das gemeins<strong>am</strong>e Singen die<br />
<strong>Inszenierung</strong>. Vor allem der Song life-line wirkt wegen des wiederholten regelmäßigen<br />
Einsatzes wie eine Zwischenaktmusik oder ein Appell.<br />
38 Körner, „Fünf Gründe für ein Theater mit Musik“, S. 55f.<br />
39 Schulz, Figur, S. 77.<br />
40 Bergson, Das Lachen, S. 26.<br />
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