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Die Kadrierung der Macht bei David Lynch

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DIE KADRIERUNG DER MACHT<br />

BEI DAVID LYNCH<br />

Seminar: Michel Foucault<br />

Sommersemester 2010<br />

entstanden <strong>bei</strong>: Prof. Dr. Winfried Marotzki<br />

von Christopher Könitz


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung 1<br />

2 Foucaults Begriff <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> 2<br />

2.1 Überwachen und Strafen 2<br />

2.1.1 Fragestellung und Methodik 2<br />

2.1.2 Was ist <strong>Macht</strong>? 3<br />

2.1.3 Disziplinen und Wissen 4<br />

2.1.4 Der Panoptismus als Technologie <strong>der</strong> Disziplinarmacht 5<br />

2.2 Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen 6<br />

2.2.1 <strong>Die</strong> Repressionshypothese als Ausgangspunkt 6<br />

2.2.2 Sex und Diskurs 7<br />

2.2.3 Perversion und Sexes 8<br />

2.2.4 Ein neuer <strong>Macht</strong>typ - das Dispositiv 9<br />

2.3 Kritik 11<br />

3 Methodik 12<br />

3.1 Das neoformalistische Filmanalysemodell nach Bordwell/Thompson 12<br />

3.2 Im Blickpunkt <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>: <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong> 13<br />

4 <strong>Die</strong> <strong>Kadrierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> <strong>bei</strong> <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong> 15<br />

4.1 Der Elefantenmensch 15<br />

4.1.1 Story 15<br />

4.1.2 Charaktere 16<br />

4.1.3 Narrationsstruktur 18<br />

4.1.4 Setting und Licht 19<br />

i


4.1.5 Acting 20<br />

4.1.6 Kostüme 21<br />

4.1.7 Kinematographie 21<br />

4.1.8 Editing 23<br />

4.1.9 Sound 25<br />

4.2 <strong>Macht</strong>strukturen in „Der Elefantenmensch“ 25<br />

4.2.1 Körperliche Gewalt und Blick 26<br />

4.2.2 Disziplinierung 26<br />

4.2.3 <strong>Die</strong> <strong>Macht</strong> <strong>der</strong> Institution 27<br />

4.2.4 <strong>Die</strong> Menschwerdung von Merrick im Film 28<br />

4.3 Mulholland Drive 31<br />

4.3.1 Story 31<br />

4.3.2 Charaktere 32<br />

4.3.3 Narrationsstruktur 34<br />

4.3.4 Setting und Licht 35<br />

4.3.5 Acting und Kostüme 37<br />

4.3.6 Kinematographie 39<br />

4.3.7 Editing 42<br />

4.3.8 Sound 43<br />

4.3.9 Gefühl und Realität als audiovisuelles Muster 44<br />

4.4 <strong>Macht</strong>strukturen in Mulholland Drive 45<br />

4.4.1 Das System „Hollywood“ o<strong>der</strong>: <strong>Die</strong> Disziplinierung von Adam 45<br />

4.4.2 Betty und Diane – <strong>Macht</strong> und Ohnmacht 46<br />

4.5 Vergleich <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>strukturen 50<br />

4.5.1 Der Wandel <strong>der</strong> Disziplinarmacht 50<br />

4.5.2 Subjekt und Anerkennung 51<br />

ii


5 Zusammenfassung und Fazit 54<br />

5.1 Zusammenfassung 54<br />

5.2 Diskussion <strong>der</strong> Ergebnisse 54<br />

5.2.1 <strong>Die</strong> Unterwerfung als Voraussetzung für die Subjektwerdung 54<br />

5.2.2 <strong>Macht</strong> und Anerkennung 55<br />

5.3 Ausblick – Der foucault'sche <strong>Macht</strong>begriff im pädagogischen Kontext 56<br />

6 Quellenverzeichnis 59<br />

6.1 Literatur 59<br />

6.2 Film- und Bildquellen 59<br />

iii


1 Einleitung<br />

„No hay banda! [...] Es gibt keine Band. <strong>Die</strong>s ist alles eine Bandaufnahme […]<br />

und dennoch hören wir eine Band“ (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:40:47).<br />

In diesem Zitat aus dem Film „Mulholland Drive“ von <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong> (2001) wird deutlich,<br />

wie sehr sich <strong>Lynch</strong> darauf versteht, die Illusionen des Alltags zu brechen und Zuschauer<br />

im Film wie auch außerhalb des Films zu irritieren. Es stellt sich hier<strong>bei</strong> die Frage, was für<br />

den Menschen wirklich ist und was nicht bzw. was er er als wirklich denkt. Doch wie<br />

kommt es zu diesen Wirklichkeiten? <strong>Die</strong>se Ar<strong>bei</strong>t nutzt zur Beantwortung dieser Frage die<br />

machttheoretische Position von Michel Foucault, um diese Frage zu klären. Daher werde<br />

ich im ersten Teil <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t die <strong>bei</strong>den Werke Überwachen und Strafen (Foucault 2008)<br />

und Sexualität und Wahrheit – Der Wille zum Wissen (Foucault 2008a) vorstellen und zent-<br />

rale Begriffe herausar<strong>bei</strong>ten. Abschließend möchte ich im ersten Teil reflektieren, was<br />

Foucault in <strong>bei</strong>den Werken formuliert und wie diese einzuordnen sind. Daran anschlie-<br />

ßend werde ich auf die Methodik <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t eingehen. Hier<strong>bei</strong> werde ich das Filmanaly-<br />

semodell von <strong>David</strong> Bordwell und Kristina Thompson (2008) vorstellen und einen metho-<br />

dologischen Anschluss zu Foucaults Werken herstellen. Zudem möchte ich mit Blick auf<br />

das filmische Schaffen von <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong> meine Filmauswahl begründen.<br />

Im Hauptteil <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t werde die ausgewählten hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Form<br />

nachdem Filmanalysemodell analysieren und damit die <strong>Macht</strong>strukturen herausar<strong>bei</strong>ten.<br />

Dadurch wird es möglich die <strong>Macht</strong>strukturen vergleichbar zu machen.<br />

Nach dem Vergleich werde ich die Ergebnisse <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t in einem Fazit zusammenfassen<br />

und Reflektieren. Hier<strong>bei</strong> soll zudem auch die pädagogische Bedeutung von Foucaults<br />

Theorie über <strong>Macht</strong> herausgestellt werden.<br />

1


2 Foucaults Begriff <strong>der</strong> <strong>Macht</strong><br />

Im Folgenden möchte ich die für diese Ar<strong>bei</strong>t zentralen Werke „Überwachen und Strafen“<br />

(Foucault 2008) und „Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen“ (Foucault<br />

2008b) hinsichtlich <strong>der</strong> Definition und Entwicklung des <strong>Macht</strong>begriffs von Michel Foucault<br />

vorstellen.<br />

2.1 Überwachen und Strafen<br />

2.1.1 Fragestellung und Methodik<br />

Das Werk „Überwachen und Strafen“ leitet Foucault mit einer genealogischen Fragestel-<br />

lung ein:<br />

„Thema dieses Buchs ist eine Korrelationsgeschichte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Seele und einer<br />

neuen Richtgewalt. Eine Genealogie des heutigen Wissenschaft/Justiz-Komplexes, in<br />

welchem die Strafgewalt ihre Stützen, ihre Rechtfertigungen und ihre Regeln findet, ih-<br />

re Wirkungen ausweitet und ihre ungeheure Einzigartigkeit maskiert“ (Foucault 2008,<br />

725).<br />

Zur Erfassung und Rekonstruktion <strong>der</strong> „mo<strong>der</strong>nen Seele im Strafurteil“ entwirft Foucault<br />

in seiner Analyse vier allgemeine Regeln:<br />

„1. <strong>Die</strong> Analyse <strong>der</strong> Strafmechanismen soll nicht in erster Linie an <strong>der</strong>en ‚repressiven‘<br />

Wirkungen als ‚Sanktionen‘ ausgerichtet sein, son<strong>der</strong>n sie in die Gesamtheit ihrer posi-<br />

tiven Wirkungen, auch <strong>der</strong> zunächst marginal erscheinenden, einordnen. <strong>Die</strong> Bestra-<br />

fung soll demnach als eine komplexe gesellschaftliche Funktion betrachtet werden“<br />

(Foucault 2008, 725-726).<br />

Mit diesem ersten Punkt umreißt Foucault bereits seinen <strong>Macht</strong>begriff, <strong>der</strong> nicht als Herr-<br />

schaft gedacht wird, son<strong>der</strong>n als produktive <strong>Macht</strong> bzw. als Mikrokosmos <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>.<br />

Zugleich beschränkt er seine Analyse auf das Justizsystem und die Entwicklung <strong>der</strong> Stra-<br />

fen als Techniken:<br />

„2. <strong>Die</strong> Strafmethoden sollen nicht als bloße Konsequenzen aus Rechtsregeln o<strong>der</strong> In-<br />

dikatoren von Gesellschaftsstrukturen analysiert werden; vielmehr als Techniken, die im<br />

allgemeineren Feld <strong>der</strong> übrigen Gewaltverfahren eine Eigenart haben. <strong>Die</strong> Bestrafungen<br />

sind in <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> politischen Taktik zu betrachten“ (Foucault 2008, 726).<br />

2


Neben <strong>der</strong> Betrachtung dieser Techniken betrachtet Foucault auch das Entstehen an<strong>der</strong>er<br />

Disziplinen, wie die Medizin und die Psychologie, und untersucht ob und wie diese im Zu-<br />

sammenhang mit <strong>der</strong> Entwicklung des juristischen Systems in Verbindung stehen:<br />

„3. <strong>Die</strong> Geschichte des Strafrechts und die Geschichte <strong>der</strong> Humanwissenschaften sol-<br />

len nicht als zwei getrennte Linien behandelt werden, <strong>der</strong>en Überschneidung sich auf<br />

die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e o<strong>der</strong> auf <strong>bei</strong>de störend o<strong>der</strong> för<strong>der</strong>nd auswirkt. Vielmehr soll un-<br />

tersucht werden, ob es nicht eine gemeinsame Matrix gibt und ob nicht <strong>bei</strong>de Ge-<br />

schichten in einem einzigen ‚epistemologisch-juristischen‘ Formierungsprozess hinein-<br />

gehören. <strong>Die</strong> Technologie <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> soll also als Prinzip <strong>der</strong> Vermenschlichung <strong>der</strong><br />

Strafe wie auch <strong>der</strong> Erkenntnis des Menschen gesetzt werden.“ (Foucault 2008, 726)<br />

Im Zuge dieser Vermenschlichung <strong>der</strong> Strafen fragt Foucault abschließend, wie sich durch<br />

diesen Wandel das Verhältnis zwischen <strong>Macht</strong>, Körper und Seele verän<strong>der</strong>t habe:<br />

„4. <strong>Die</strong> Seele tritt auf die Bühne <strong>der</strong> Justiz, und damit wird ein ganzer Komplex ‚wis-<br />

senschaftlichen‘ Wissens in die Gerichtspraxis einbezogen. Zu untersuchen ist, ob dies<br />

nicht dadurch bewirkt wird, daß sich die Art und Weise, in welcher <strong>der</strong> Körper von den<br />

<strong>Macht</strong>verhältnissen besetzt wird, transformiert hat“ (Foucault 2008, 726).<br />

Ausgehend von diesen vier Analyseschwerpunkten Foucaults, möchte ich im folgenden<br />

klären, was <strong>Macht</strong> nach Foucault ist, welche Technologien zum tragen kommen, welche<br />

Rolle hier<strong>bei</strong> die Disziplinen und das Wissen spielen und wie durch diese Elemente <strong>der</strong><br />

Zugriff auf die Seele ermöglicht wird.<br />

2.1.2 Was ist <strong>Macht</strong>?<br />

Ausgehend von den peinlichen Strafen, die Foucault sehr plastisch anhand einer Folter-<br />

prozedur beschreibt (vgl. Foucault 2008, 705f), stellt sich für ihn die Frage, wieso am En-<br />

de des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts eine Strafmil<strong>der</strong>ung in den Rechtssystemen Europas einsetzte<br />

(vgl. Foucault 2008, 710). Den Grund für die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Strafen, sieht Foucault we-<br />

niger in <strong>der</strong> humanistischen Idee, son<strong>der</strong>n vielmehr als eine Zielän<strong>der</strong>ung bzw. einer Ver-<br />

schiebung <strong>der</strong> Ziele in den Strafoperationen (vgl. Foucault 2008, 719). <strong>Die</strong>se Verschie-<br />

bung bestehe darin, dass das Strafsystem nicht mehr den Körper, son<strong>der</strong>n die Seele des<br />

Einzelnen im Blick habe:<br />

3


„Der Sühne, die dem Körper rasende Scherzen zufügt, muß eine Strafe folgen, die in<br />

<strong>der</strong> Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, die Anlagen wirkt. Ein für allemal hat<br />

Mably das Prinzip formuliert: ‚<strong>Die</strong> Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele<br />

treffen als den Körper‘“ (Foucault 2008, 719).<br />

Mit Blick auf diese Feststellung, stellt Foucault in Bezug auf die <strong>Macht</strong> heraus, dass<br />

<strong>Macht</strong> keine Sache sei, die man besitzen könne, son<strong>der</strong>n vielmehr eine Strategie:<br />

„<strong>Die</strong>se <strong>Macht</strong> ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, son<strong>der</strong>n vielmehr etwas,<br />

was sich entfaltet; nicht so sehr das erworbene o<strong>der</strong> bewahrte ‚Privileg‘ <strong>der</strong> herrschen-<br />

den Klasse, son<strong>der</strong>n vielmehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen – eine<br />

Wirkung, welche durch die Position <strong>der</strong> Beherrschten offenbart und gelegentlich er-<br />

neuert wird. An<strong>der</strong>erseits richtet sich diese <strong>Macht</strong> nicht einfach als Verpflichtung o<strong>der</strong><br />

Verbot an diejenigen, welche ‚sie nicht haben‘; sie sind ja von <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> eingegrenzt,<br />

die <strong>Macht</strong> verläuft über sie und durch sie hindurch; sie stützt sich auf sie, ebenso wie<br />

diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, daß sie von <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> durchdrun-<br />

gen sind.“ (Foucault 2008, 729).<br />

<strong>Die</strong>se Durchdringung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> wird nach Foucault durch die Disziplinen realisiert, die<br />

sich zwischen dem 17. Und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t formieren und weiterentwickeln.<br />

2.1.3 Disziplinen und Wissen<br />

Unter dem Begriff <strong>der</strong> Disziplin versteht Foucault zunächst ein komplexes <strong>Macht</strong>system:<br />

„<strong>Die</strong> ‚Disziplin‘ kann we<strong>der</strong> mir einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert<br />

werden. Sie ist ein Typ von macht; eine Modalität <strong>der</strong> Ausübung von Gewalt; ein Kom-<br />

plex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist ei-<br />

ne ‚Physik‘ o<strong>der</strong> eine ‚Anatomie‘ <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>, eine Technologie“ (Foucault 2008, 922).<br />

Foucault stellt fest, dass die Justiz als <strong>Macht</strong>system sich im zunehmenden Maße die Hu-<br />

manwissenschaften wie die Medizin, die Psychologie o<strong>der</strong> die Pädagogik zu nutze mache<br />

(vgl. Foucault 2008, 933f). Das habe zum einen den Effekt, dass sich Wissen formieren<br />

und sich die <strong>Macht</strong> in den Disziplinen gegenseitig steigern würde. Zum an<strong>der</strong>en würde<br />

dieses Wissen dazu benutzt werden, um fallorientiert disziplinieren zu können. Foucault<br />

spricht daher von einem Disziplinarindividuum als Zielscheibe dieser <strong>Macht</strong> (vgl. Foucault<br />

4


2008, 934). Durch diese Mehrung und den Einsatz des Wissens <strong>der</strong> Disziplinen ist nach<br />

Foucault die Unterwerfung, die gleichsam Subjektivierung ist, erst möglich:<br />

„<strong>Die</strong> Disziplinen treten damit über die Schelle <strong>der</strong> ‚Technologie‘. Zunächst das Spital,<br />

dann die Schule, noch später die Werkstatt: sie sind durch die Disziplinen nicht einfach<br />

‚in Ordnung gebracht‘ worden; vielmehr sind sie dank ihnen solchermaßen zu Appara-<br />

ten geworden, daß je<strong>der</strong> Objektivierungsmechanismus darin als Subjektivierung-/Un-<br />

terwerfungsinstument funktioniert und das jede <strong>Macht</strong>steigerung neue Erkenntnisse<br />

ermöglicht“ (Foucault 2008, 930-931).<br />

Daher denkt Foucault das Subjekt machtförmig. Erst durch seine Unterwerfung unter die<br />

Disziplinen, kann es eine <strong>Macht</strong>steigerung erfahren. Daher handele es sich <strong>bei</strong> <strong>Macht</strong> um<br />

einen zweifachen Prozess:<br />

„Es handelt sich also um einen zweifachen Prozeß: um eine epistemologische Ent-<br />

hemmung aufgrund einer Verfeinerung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>beziehungen und um eine Verfeine-<br />

rung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>wirkungen und um eine Vervielfältigung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>wirkungen dank <strong>der</strong><br />

Formierung und Anhäufung neuer Kenntnisse“ (Foucault 2008, 931).<br />

2.1.4 Der Panoptismus als Technologie <strong>der</strong> Disziplinarmacht<br />

Bei <strong>der</strong> Durchsetzung <strong>der</strong> Disziplinen, räumt Foucault dem Panoptismus einen besonde-<br />

ren Stellenwert ein. <strong>Die</strong> Idee des Panoptismus führt Foucault auf Bethams Entwurf des<br />

Panopticons zurück. Hier<strong>bei</strong> handelt es sich um eine Form des Gefängnisses, in <strong>der</strong> ein<br />

Wärter je<strong>der</strong>zeit jede Zelle mit einem Gefangenen einsehen kann, während dieser nicht<br />

weiß, ob <strong>der</strong> Wächter gerade über ihn wacht (vgl. Foucault 2008, 905).<br />

„Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten<br />

und permanenten Sichtbarkeitszustandes <strong>bei</strong>m Gefangenen, <strong>der</strong> das automatische<br />

Funktionieren <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> sicherstellt“ (Foucault 2008, 906).<br />

<strong>Die</strong>se Grundkogik setze sich im Panoptismus fort, <strong>der</strong> neben dem Bereich <strong>der</strong> Bestrafung<br />

auch im Bereich <strong>der</strong> Erziehung, <strong>der</strong> Heilung und <strong>der</strong> Produktion eingesetzt werde (vgl.<br />

Foucault 2008, 912). <strong>Die</strong> Allgegenwärtigkeit des Panoptismus führe zu seiner Inkorporati-<br />

on <strong>bei</strong>m Einzelnen. Mit Hinblick auf das Gefängnis, wird <strong>der</strong> Gefangene sich daher in sei-<br />

nem Verhalten än<strong>der</strong>n. <strong>Die</strong>se Än<strong>der</strong>ung wird durch das Wissen um die eigene permanente<br />

5


Überwachung nachhaltig. Somit werden die Individuen selbst eine Technologie <strong>der</strong><br />

<strong>Macht</strong>:<br />

„Und doch hatte man mit dem Panopticon die abstrakte Formel einer sehr wirklichen<br />

Technologie: <strong>der</strong> Technologie <strong>der</strong> Individuen. Daß man wenig Lobreden darauf ver-<br />

wandte, hat seine Gründe; <strong>der</strong> offensichtlichste Grund […] ist wohl <strong>der</strong>, daß die von ihr<br />

[<strong>der</strong> Technologie, C.K.] eingesetzte und gesteigerte <strong>Macht</strong> eine unmittelbare und physi-<br />

sche macht ist, welche die Menschen gegeneinan<strong>der</strong> ausüben“ (Foucault 2008, 931).<br />

Das Ergebnis dieses Prozesses ist das sich selbst (und an<strong>der</strong>e) kontrollierende Subjekt. In<br />

diesem Sinne wird klar, warum es nach Foucault keine Befreiung des Subjektes geben<br />

kann:<br />

„Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist be-<br />

reits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt<br />

in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück <strong>der</strong> Herrschaft ist, welche die<br />

<strong>Macht</strong> über den Körper ausübt. <strong>Die</strong> Seele: Effekt und Instrument einer politischen Ana-<br />

tomie. <strong>Die</strong> Seele: Das Gefängnis des Körpers.“ (Foucault 2008, 733).<br />

2.2 Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen<br />

2.2.1 <strong>Die</strong> Repressionshypothese als Ausgangspunkt<br />

Der Ausgangspunkt für Foucaults Werk Sexualität und Wahrheit - Der Wille zum Wissen<br />

ist die Repressionshypothese, die besagt, dass die Sexualität im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t mit Be-<br />

ginn <strong>der</strong> Industriegesellschaft verschärft unterdrückt geworden sei (vgl. Foucault 2008a:<br />

1029f).<br />

Foucault entgegnet dieser Hypothese mit drei Einwänden, die er systematisch mit drei<br />

Fragen beantworten möchte:<br />

1. Einwand: „[I]st die Repression des Sexes wirklich historisch evident?“ (Foucault<br />

2008a, 1035)<br />

2. Einwand: „[G]ehört die Mechanik <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> und zumal diejenige, die eine Gesell-<br />

schaft wie die unsrige ins Spiel bringt, tatsächlich im wesentlichen zur Ordnung <strong>der</strong><br />

Unterdrückung?“ (Foucault 2008a, 1035)<br />

6


3. Einwand :„[U]nterbricht <strong>der</strong> gegen die Unterdrückung gerichtete kritische Diskurs<br />

den Lauf eines bis dahin unangefochtenen funktionierenden <strong>Macht</strong>mechanismus, o<strong>der</strong><br />

gehört er nicht vielmehr zu demselben historischen Netz wie das, was er anklagt (und<br />

zweifellos entstellt), indem er es als ‚Unterdrückung‘ bezeichnet?“ (Foucault 2008a,<br />

1035)<br />

Durch diese Fragen möchte Foucault weniger auf die Falsifizierung <strong>der</strong> Hypothese hinar-<br />

<strong>bei</strong>ten, son<strong>der</strong>n vielmehr die Ökonomie <strong>der</strong> Diskurse über den Sex herausar<strong>bei</strong>ten:<br />

„<strong>Die</strong> Einwände, die ich gegen die Repressionshypothese erheben möchte, zielen weni-<br />

ger auf den Nachweis, daß diese Hypothese falsch ist, als vielmehr darauf, sie in einer<br />

allgemeinen Ökonomie <strong>der</strong> Diskurse über den Sex anzusiedeln, wie sie seit dem 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t im Innern <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft herrscht. Warum hat man von <strong>der</strong><br />

Sexualität gesprochen, was hat man davon gesagt? Welche <strong>Macht</strong>wirkungen wurden<br />

von dem Gesagten ausgelöst? Welche Verbindungen gab es zwischen den Diskursen,<br />

den <strong>Macht</strong>wirkungen und den Lüsten, die sie besetzen? Welches Wissen bildete sich<br />

darüber? Kurz, es geht darum, das Regime von <strong>Macht</strong> – Wissen – Lust in seinem Funk-<br />

tionieren und in seinen Gründen zu bestimmen, das unserem Diskurs über die mensch-<br />

liche Sexualität unterliegt.“ (Foucault 2008a, 1036).<br />

Foucault resümiert hier<strong>bei</strong>, dass es darum gehe die polymorphen Techniken <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> zu<br />

erforschen. Somit setzt er das fort, was er in Überwachen und Strafen begonnen hat: eine<br />

genealogische Rekonstruktion <strong>der</strong> Mikrophysik <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>. Jedoch ist <strong>der</strong> Fokus weniger<br />

auf das Strafsystem, son<strong>der</strong>n hauptsächlich auf den Diskurs <strong>der</strong> Sexualität gerichtet.<br />

2.2.2 Sex und Diskurs<br />

Anschließend an die Erkenntnisse Überwachen und Strafen stellt Foucault fest, dass<br />

durch die Disziplinierung <strong>der</strong> Gesellschaft, eine Steigerung <strong>der</strong> Produktivität einsetzt:<br />

„Der Sex wird im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t zu einer Angelegenheit <strong>der</strong> ‚Polizei‘. Allerdings im<br />

vollen und starken Sinne, den das Wort zu dieser Zeit besaß – nicht Unterdrückung <strong>der</strong><br />

Unordnung, son<strong>der</strong>n verordnete Steigerung <strong>der</strong> kollektiven und individuellen Kräfte“<br />

(Foucault 2008a, 1046).<br />

Der Begriff des Sex wird von Foucault hier<strong>bei</strong> als universales Signifikant aufgefasst:<br />

7


„Einmal hat es <strong>der</strong> Begriff ‚Sex‘ möglich gemacht, anatomische Elemente, biologische<br />

Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste in einer künstlichen Einheit<br />

zusammenfassen und diese fiktive Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwärti-<br />

gen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktionieren zu lassen: <strong>der</strong> Sex<br />

als einziger Signifikant und als universales Signifikant“ (Foucault 2008a, 1146-1147).<br />

Foucault sieht die Notwendigkeit <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung und <strong>der</strong> Disziplinierung des Sex<br />

darin begründet, dass mit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t die Bevölkerung als ökonomischen und<br />

politisches Problem auftreten würde. Hieran schließen sich Beobachtungen und Analysen<br />

<strong>der</strong> sexuellen Verhaltensweisen, Determinationen und Wirkungen an (vgl. Foucault 2008a,<br />

1047). Daher sei es für den Staat unerlässlich über den Sex des Volkes (Geburtenrate,<br />

Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Er-<br />

nährungsweise und Wohnverhältnisse) bescheid zu wissen (vgl. Foucault 2008a, 1046f).<br />

In Folge dieses Wissens, resümiert Foucault, sei ein neues Regime <strong>der</strong> Diskurse entstan-<br />

den:<br />

„Man braucht keine binäre Teilung zwischen Gesagtem und Nichtgesagtem vorzuneh-<br />

men; man müßte vielmehr die verschiedenen Arten, etwas nicht zu sagen, zu bestim-<br />

men versuchen, wie sich die, die darüber sprechen können, und die, die es nicht kön-<br />

nen, verteilen, welcher Diskurstyp autorisiert und welche Form <strong>der</strong> Diskretion jeweils<br />

erfor<strong>der</strong>t wird“ (Foucault 2008a, 1048).<br />

Mit Blick auf den dritten Einwand <strong>der</strong> Repressionshypothese stellt Foucault somit heraus,<br />

dass <strong>der</strong> Diskurs auch ein <strong>Macht</strong>mechanismus sei.<br />

2.2.3 Perversion und Sexes<br />

In Folge <strong>der</strong> Diskurse stellt Foucault fest, dass „es zu einer zentrifugalen Bewegung ge-<br />

genüber <strong>der</strong> heterosexuellen Einehe“ (Foucault 2008a, 1057) gekommen sei. Daher würde<br />

das Ehepaar einen Anspruch auf mehr Diskretion besitzen. In Folge dessen werde das<br />

Ehepaar zur Norm und die Sexualität <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Irren, <strong>der</strong> Kriminellen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ho-<br />

mosexuellen trete in den Fokus. Letztlich werden somit im Feld <strong>der</strong> Sexualität eine spezi-<br />

fische Dimension <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>natur erzeugt (vgl. Foucault 2008a, 1057). Hier<strong>bei</strong> hebt<br />

Foucault insbeson<strong>der</strong>e die Gestalt des Perversen hervor:<br />

„Unter dem großen Verbrecher gegen die Regeln <strong>der</strong> Ehe […] steigt eine an<strong>der</strong>e Gestalt<br />

auf: <strong>der</strong> vom dunklen Wahnsinn des Sexes Getroffene. Unter dem Libertin <strong>der</strong> Perver-<br />

8


se. Noch während er entschlossen das Gesetz bricht, führt so etwas wie eine verirrte<br />

Natur ihn weit fort von aller Natur; sein Tod ist <strong>der</strong> Augenblick, in dem die übernatürli-<br />

che Wie<strong>der</strong>kehr von Schuld und Sühne sich mit <strong>der</strong> Flucht in die Wi<strong>der</strong>-Natur kreuzt.<br />

<strong>Die</strong> zwei großen Regelsysteme, die das Abendland verfaßt hat, um den Sex zu regieren<br />

– das Gesetz <strong>der</strong> Ehe und die Ordnung <strong>der</strong> Begehren –, sie <strong>bei</strong>de sind durch die Exis-<br />

tenz Don Juans, <strong>der</strong> an ihrer gemeinsamen Grenzlinie aufgetaucht ist, umgekehrt“<br />

(Foucault 2008a, 1058).<br />

Mit <strong>der</strong> Gestalt des Perversen werde durch den Diskurs <strong>der</strong> Begriff des Sexes eingeführt.<br />

<strong>Die</strong>ser „erlaubt die Vorstellung von den Beziehungen <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> zu Sexualität umzukeh-<br />

ren, so daß diese nicht in ihrer wesenhaften und positiven Beziehung zur <strong>Macht</strong> erscheint,<br />

son<strong>der</strong>n als verankert in einer einzigartigen und selbstständigen und von <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> be-<br />

drohten Instanz“ (Foucault 2008a, 1147).<br />

Der Sexes impliziert daher eine Negation <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>; sie wird zum einen als Gegenteil <strong>der</strong><br />

Freiheit gesehen. <strong>Die</strong>s wie<strong>der</strong>um impliziert den Gedanken, dass sich das Subjekt von <strong>der</strong><br />

<strong>Macht</strong> lösen müsse um frei zu sein. In dieser Logik sieht Foucault eine verstärkte Jagd auf<br />

die peripheren Sexualitäten, die dazu führen, dass es zu einer Einkörperung <strong>der</strong> Perversi-<br />

onen und gleichsam zu einer Spezifizierung <strong>der</strong> Individuen komme (vgl. Foucault 2008a,<br />

1061). Daher wird analog zu den Disziplinen auch <strong>der</strong> Diskurs inkorporiert:<br />

„<strong>Die</strong>se polymorphen Verhaltensweisen sind wirklich aus dem Körper und Lüsten <strong>der</strong><br />

Menschen extrahiert worden – o<strong>der</strong> besser: in ihnen verfestigt, von vielfältigen <strong>Macht</strong>-<br />

dispositiven hervorgerufen worden; sie sind ans Licht gezerrt, isoliert, intensiviert und<br />

einverleibt worden“ (Foucault 2008a: 1065).<br />

2.2.4 Ein neuer <strong>Macht</strong>typ - das Dispositiv<br />

In seiner Rekonstruktion über den Diskurs über die Sexualität, macht Foucault auf einen<br />

neuen <strong>Macht</strong>typ aufmerksam:<br />

„[...] <strong>der</strong> Punkt auf den es ankommt – sichert hier ein Dispositiv, das sich [...] erheblich<br />

vom Gesetz unterscheidet, durch ein Netz untereinan<strong>der</strong> verketteter Mechanismen die<br />

Wucherung und Lustarten und die Vermehrung disparater Sexualitäten“ (Foucault<br />

2008a: 1066).<br />

9


Ähnlich wie die Disziplinen lässt sich dieser <strong>Macht</strong>typ nicht eindeutig eingrenzen. Das Se-<br />

xualitätsdispositiv setzt sich somit in Diskursen, Disziplinen und letztlich auch in den<br />

Technologien <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> fort. Das Ziel dieses Dispositivs formuliert Foucault hier<strong>bei</strong> fol-<br />

gen<strong>der</strong>maßen:<br />

„[D]as Begehren nach Sex: ihn zu haben, zu ihm Zugang zu haben, ihn zu entdecken,<br />

ihn zu befreien, ihn diskursiv zu artikulieren, seine Wahrheit zu formulieren. Das Sexual-<br />

itätsdispositiv hat ,den Sex‘ als begehrenswert konstituiert […] während er [<strong>der</strong> Sexes;<br />

C.K.] uns in Wirklichkeit an das Sexualitätsdispositiv kettet, das aus unserer Tiefe wie<br />

eine Spiegelung, in <strong>der</strong> wir uns zu erkennen meinen, den schwarzen Blitz des Sexes<br />

hat auffahren lassen“ (Foucault 2008a: 1148).<br />

Das Sexualitätsdispositiv ist daher eine <strong>Macht</strong>strategie, die die <strong>Macht</strong> als solches ver-<br />

deckt bzw. unsichtbar machen soll. <strong>Die</strong>se Unsichtbarkeit liegt in <strong>der</strong> Diskursförmigkeit<br />

und <strong>der</strong> Inkorporation dessen begründet. Daher merkt Foucault an:<br />

„Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‚Befreiung‘<br />

geht“ (Foucault 2008a, 1151).<br />

Mit Hinblick auf Foucaults Feststellung, dass <strong>der</strong> Mensch bereits ein Resultat <strong>der</strong> Unter-<br />

werfung sei, ar<strong>bei</strong>tet er mit dem Sexualitätsdispositiv einen <strong>Macht</strong>typ heraus, <strong>der</strong> sein<br />

Konzept <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>, das er als bewegliches System mit unterschiedlichen Kräfteverhält-<br />

nissen, Kämpfen und Wi<strong>der</strong>sprüchen versteht, unterstreicht:<br />

„[D]ie Sexualität ist eine sehr wirkliche historische Figur, die zu ihrem Funktionieren ein<br />

spekulatives Element braucht und auf den Plan gerufen hat: den Begriff des Sexes.<br />

Glauben wir nicht, daß man zur <strong>Macht</strong> nein sagt, indem man zum Sex ja sagt; man<br />

folgt damit vielmehr dem Lauf des allgemeinen Sexualitätsdispositivs. Man muß sich<br />

von <strong>der</strong> Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen <strong>der</strong> Sexualität tak-<br />

tisch umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit gegen die<br />

Zugriffe <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann <strong>der</strong> Stützpunkt<br />

des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, son<strong>der</strong>n die Körper und die Lüste“<br />

(Foucault 2008a, 1149).<br />

Das Subjekt kann sich daher nicht <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> entziehen. Vielmehr for<strong>der</strong>t Foucault auf,<br />

sich <strong>der</strong> eigenen Unterwerfung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> bewusst zu werden, um diese schließlich für<br />

sich zu entfalten.<br />

10


2.3 Kritik<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> <strong>bei</strong>den vorgestellten Werke Foucaults, lassen sich Irritationen und Kritik-<br />

punkte ausmachen, die meiner Meinung nach erläutert werden müssen, um das Werk<br />

Foucaults einordnen zu können. Hier<strong>bei</strong> stellte ich mir zunächst die Frage, was denn <strong>bei</strong>-<br />

de Werke im Kern seien. Der äußeren Struktur nach, handelt es sich um zwei Studien, die<br />

eine Methodik (jedenfalls inhaltlich) aufweisen. <strong>Die</strong>se äußere Struktur täuscht. Hinter dem<br />

Begriff <strong>der</strong> Methode, stehen zunächst nur Fragen, die Foucault beantworten möchte.<br />

Hier<strong>bei</strong> klärt Foucault jedoch nicht die Systematik, wie diese Fragen zustande kommen.<br />

<strong>Die</strong>ses Fehlen <strong>der</strong> Systematik setzt sich auch in Foucaults Beispielen fort, anhand <strong>der</strong>er<br />

er die Fragen versucht zu beantworten. Hinter dem Äußeren <strong>der</strong> „Studie“ verbirgt sich<br />

meiner Meinung nach vielmehr ein Versuch über Deduktion eine Theorie über <strong>Macht</strong> zu<br />

begründen.<br />

Inhaltlich ist diese Theorie in meinen Augen sehr erkenntnisreich, da sie versucht, die Fa-<br />

cetten von <strong>Macht</strong> in ihrer Breite zu erfassen. In diesem Sinne bleibt sie an vielen Stellen<br />

eher allgemein gehalten. Daher soll diese Ar<strong>bei</strong>t einen Beitrag leisten, die foucault’sche<br />

<strong>Macht</strong>theorie anhand des Films empirisch zu respezifizieren. Im folgenden möchte ich<br />

daher die Methodik <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t herausar<strong>bei</strong>ten.<br />

11


3 Methodik<br />

3.1 Das neoformalistische Filmanalysemodell nach Bordwell/Thompson<br />

Mit Hinblick auf die Theorie über <strong>Macht</strong> von Foucault stellt sich die methodologische Fra-<br />

ge, wie man <strong>Macht</strong>strukturen im Film herausar<strong>bei</strong>ten und vergleichen kann. In <strong>der</strong> Film-<br />

theorie gibt es aus <strong>der</strong> historischen Retrospektive heraus zwei Hauptströmungen. Zum<br />

einen sind dies die realistischen Filmtheorien, welche Film als Abbild <strong>der</strong> Wirklichkeit se-<br />

hen. Hierzu zählen Strömungen wie <strong>der</strong> Poststrukturalismus, welche u.a. die Psychoana-<br />

lyse zum Gegenstand haben. <strong>Die</strong> zweite Hauptströmung bilden die formalistischen Film-<br />

theorien. <strong>Die</strong>se beziehen sich auf die Form des Films und gehen daher davon aus, dass<br />

Film immer etwas konstruiertes sei (vgl. Elsaesser/Hagener 2007, 25f). Mit Blick auf die<br />

Denkmodelle von Foucault, lässt sich feststellen, dass es in seinem <strong>Macht</strong>begriff keine<br />

absoluten Wahrheiten bzw. Dogmen gibt. Vielmehr ist die „Wahrheit“ bzw. die „Wirklich-<br />

keit“ ein Produkt von fortlaufenden Prozessen <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> und somit immer auch konstru-<br />

iert. In diesem Sinne entsteht eine epistemologische Eintracht zwischen Foucaults<br />

<strong>Macht</strong>begriff und <strong>der</strong> formalen Filmtheorie hinsichtlich des dekonstruktiven Denkens.<br />

Zwei mo<strong>der</strong>ne Vertreter <strong>der</strong> formalistischen Strömung sind <strong>David</strong> Bordwell und Kristin<br />

Thompson, die dem Neoformalismus zuzuordnen sind. In ihrem Werk Film Art – An Intro-<br />

duction (2008) beschreiben sie ein Filmanalysemodell, welches in dieser Ar<strong>bei</strong>t Verwen-<br />

dung finden soll um Foucaults Theorie über <strong>Macht</strong> empirisch zu respezifizieren. <strong>Die</strong><br />

Grundannahme des Modells ist die Trennung zwischen Plot und Story. Der Plot be-<br />

schreibt hier<strong>bei</strong> alles Seh- und Hörbare im Film, während Story die Rekonstruktion dieser<br />

Elemente <strong>bei</strong>m Rezipienten meint (vgl. ebd., 76). Durch eine Analyse <strong>der</strong> filmsprachlichen<br />

Elemente, den sogenannten Cues, ist es möglich zu rekonstruieren, wie die Sinnzusam-<br />

menhänge zustande kommen. Bordwell und Thompson teilen die filmsprachlichen Ele-<br />

mente, entsprechend den Ebenen <strong>der</strong> Inszenierung, in Mise-en-Scène, Kinematographie,<br />

Editing und Sound auf.<br />

Alles, was vor <strong>der</strong> Kamera geschieht, wird unter dem Begriff <strong>der</strong> Mise-en-Scène (wörtlich<br />

übersetzt: in Szene setzen) zusammengefasst. Dazu zählen das Setting, das Acting,<br />

Kostüme und die Ausleuchtung <strong>der</strong> Szene bzw. das Licht (vgl. ebd., 112f).<br />

<strong>Die</strong> Kinematographie umschreibt dagegen alles, was die Kameraar<strong>bei</strong>t betrifft. Hier<strong>bei</strong><br />

sind zum einen Begriffe aus <strong>der</strong> Fotografie wie Einstellungsgrößen, Bildkomposition, Per-<br />

12


spektive, Tiefenschärfe, Belichtung bzw. Farbe und Farbfilter zentral. Zudem ist auch die<br />

Rahmung (framing) in den einzelnen Szenen wichtig. Hierzu zählen Begriffe wie die Kame-<br />

rabewegung, die Erzählhaltung <strong>der</strong> Kamera, Seitenverhältnisse o<strong>der</strong> <strong>Kadrierung</strong>en (vgl.<br />

ebd., 162f). In meiner Filmauswahl befinden sich nur Filme, die in Schwarz/Weiß gedreht<br />

wurden. Daher entfällt <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Farbe. Es lässt sich lediglich eine Differenzierung<br />

zwischen hell und dunkel durchführen. <strong>Die</strong>se betrachte ich in meinen Analysen unter dem<br />

Gesichtspunkt <strong>der</strong> Beleuchtung <strong>der</strong> Szene.<br />

Durch das Editing bzw. die Montage in Form von Schnitten o<strong>der</strong> Blenden werden Zu-<br />

sammenhänge zwischen einzelnen Einstellungen und den daraus resultierenden Szenen<br />

geschaffen (vgl. ebd., 218f). Das populärste System hier<strong>bei</strong> ist das continuity editing, <strong>bei</strong><br />

welchem durch establishment shots und das Schuss-Gegenschuss-Verfahren eine Re-<br />

dundanz in den Bil<strong>der</strong>n hergestellt wird, mit welchen Schnitte in einer Dialogsituation un-<br />

sichtbar werden (vgl. ebd., 231f). Jedoch sind auch an<strong>der</strong>e Formen wie die „spatial“ o<strong>der</strong><br />

„temporal discontinuity“ möglich, welche Schnitte sichtbar machen und mit Sehgewohn-<br />

heiten brechen können (vgl. ebd., 252f).<br />

Als abschließendes Element ar<strong>bei</strong>ten Bordwell und Thompson den Sound heraus, <strong>der</strong><br />

Töne und Musik im Film umfasst. Der Sound kann im Film <strong>bei</strong>spielsweise in Form von<br />

Offstimmen Orientierung schaffen o<strong>der</strong> durch das Einfügen von Musikstücken bzw. Ge-<br />

räusche Szenen zusätzlich dramatisieren o<strong>der</strong> diese rhythmisch machen (vgl. ebd., 264f).<br />

3.2 Im Blickpunkt <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>: <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong><br />

Empirisch soll diese Ar<strong>bei</strong>t einen Fokus auf das filmische Schaffen von <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong> le-<br />

gen. Mit Blick auf die foucault’sche <strong>Macht</strong>theorie sollen die <strong>Macht</strong>strukturen mit Hilfe des<br />

Filmanalysemodells herausgear<strong>bei</strong>tet werden. Das filmische Schaffen von <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong><br />

erstreckt sich über frühe Experimentalfilme (z.B. Six Figures Getting Sick (1967)), Serien<br />

(z.B. „Twin Peaks“ (1990)) und verschiedene Spielfilme. Zwei dieser Spielfilme möchte in<br />

dieser Ar<strong>bei</strong>t untersuchen und Vergleichen. Zum einen möchte ich den Film „Der Elefan-<br />

tenmensch“ aus dem Jahr 1980 untersuchen. <strong>Die</strong>ser sticht vor allem hinsichtlich seines<br />

historischen Settings im viktorianischen England aus <strong>Lynch</strong>s Spielfilmen heraus. Interes-<br />

sant könnte hier<strong>bei</strong> die Frage sein, wie sich die von Foucault beschriebene historische<br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>technologien im Film entwickeln bzw. inszeniert werden.<br />

13


Als Kontrast zu diesem Film möchte ich den Film „Mulholland Drive“ aus dem Jahr 2001<br />

untersuchen. <strong>Die</strong>ser hat zum einen ein mo<strong>der</strong>nes Setting, welches in <strong>der</strong> heutigen Zeit<br />

spielt. Zum an<strong>der</strong>en ist auch die Komplexität des Films, als Spätwerk von <strong>Lynch</strong>, eine an-<br />

<strong>der</strong>e. Somit bilden diese <strong>bei</strong>den Filme in historischer, wie auch in narrativer Hinsicht einen<br />

starken Kontrast. <strong>Die</strong> Frage ist nun, ob sich dieser Kontrast auch auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> In-<br />

szenierung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>strukturen wie<strong>der</strong>finden lässt o<strong>der</strong> ob es auch Gemeinsamkeiten<br />

gibt.<br />

Im Folgenden möchte ich daher die Filme hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Form unter-<br />

suchen, die <strong>Macht</strong>strukturen herausar<strong>bei</strong>ten und abschließend <strong>bei</strong>de Filme hinsichtlich<br />

dieser vergleichen.<br />

14


4 <strong>Die</strong> <strong>Kadrierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> <strong>bei</strong> <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong><br />

4.1 Der Elefantenmensch<br />

4.1.1 Story<br />

Der Arzt und Anthropologe Treves stößt <strong>bei</strong> einem Besuch auf einem Jahrmarkt auf ein<br />

Wesen, das „Der Elefantenmensch“ genannt wird. Nachdem die Polizei jedoch die Vorfüh-<br />

rung verbietet, trifft sich Treves mit dem Besitzer namens Bytes und macht mit ihm ein<br />

Geschäft: er darf das Wesen untersuchen und <strong>der</strong> Ärzteschaft vorstellen. Es stellt sich he-<br />

raus, dass das Wesen ein Mensch ist, dessen Haut zu 90 Prozent mit Tumoren überwu-<br />

chert ist und sein Name ist John Merrick ist. Treves hält ihn für einen Schwachsinnigen<br />

und bemerkt, dass es in Anbetracht <strong>der</strong> Lebenszustände auch besser so sei.<br />

Als Merrick wie<strong>der</strong> zu Bytes zurückkehrt, wird dieser cholerisch und verprügelt Merrick.<br />

Auf Grund <strong>der</strong> Verletzungen ist Bytes gezwungen, Treves zu rufen. Treves erkennt sofort,<br />

dass Merrick nicht schwer gestürzt sei, wie Bytes behauptet, und lässt ihn in das Hospital<br />

einliefern. Im Hospital versucht er Merricks Aufenthalt zu verheimlichen, was ihm nicht<br />

gelingt. Es kommt die Frage auf, ob Merrick als Mensch mit chronischen Beschwerden<br />

und seiner vermeintlichen geistigen Zurückgebliebenheit überhaupt im Krankenhaus blei-<br />

ben dürfe, da er nicht geheilt werden könne. Treves findet jedoch heraus, dass Merrick<br />

sprechen kann. Als dieser schließlich Bibelverse vor dem Direktor zitiert, wird er als<br />

menschliches Wesen und somit als Patient anerkannt. Bytes, <strong>der</strong> Merrick als Attraktion<br />

unbedingt wie<strong>der</strong>haben will, wird <strong>der</strong> Institution verwiesen; Merrick sei nun Patient und er<br />

habe nicht das Recht ihn einfach mitzunehmen.<br />

15


Merrick erfährt nach und nach gesellschaftliche Anerkennung. So stellt Treves Merrick<br />

seiner Frau vor <strong>bei</strong>m Teetrinken. In dieser neuen Freiheit beginnt Merrick mit dem Bau ei-<br />

nes Kathedralenmodells. Durch Zeitungsmeldungen wird die Schauspielerin Mrs. Candle<br />

auf Merrick aufmerksam und besucht diesen. Sie sieht in ihm nicht nur einen Menschen,<br />

son<strong>der</strong>n auch ein liebenswertes Subjekt. Durch diesen Besuch wird das Zusammensein<br />

mit Merrick zur „Mode“. <strong>Die</strong>s macht eine alte Oberschwester, die anfangs gegenüber<br />

Merrick skeptisch war ihn aber nun voll respektiert, Treves deutlich. <strong>Die</strong> Besuche <strong>der</strong> O-<br />

berschicht seien nichts an<strong>der</strong>es, als die Ausstellung auf dem Jahrmarkt. Treves kommen<br />

Zweifel an seinem Handeln. Er stellt für sich fest, dass er im Grunde nicht besser als<br />

Bytes sei. Am nächsten Morgen erfährt das Krankenhaus Lob von <strong>der</strong> Königin. Hier<strong>bei</strong><br />

wird Merrick ein lebenslanges Wohnrecht zugestanden, womit Merrick kein Patient, son-<br />

<strong>der</strong>n ein freier Mann ist.<br />

Während dieser positiven Ereignisse entdeckt ein Wärter des Krankenhauses Merrick und<br />

will mit ihm als Attraktion Geld machen. Er organisiert von einer Kneipe aus, eine Führung<br />

und terrorisiert Merrick in <strong>der</strong> Nacht. Unter den Besuchern ist auch Bytes <strong>der</strong> seinen<br />

„Schatz“ nach <strong>der</strong> Führung entführt und nach Frankreich mit ihm geht. Treves wird vom<br />

Direktor angehalten nicht nach Merrick zu suchen.<br />

In Frankreich jedoch erfährt die „Attraktion“ Merrick kein Erstaunen. Vielmehr ist das Pub-<br />

likum entsetzt und angewi<strong>der</strong>t von Bytes, <strong>der</strong> ihn auf <strong>der</strong> Bühne quält. Nach <strong>der</strong> Veran-<br />

staltung betrinkt sich Bytes und sperrt Merrick in einen Affenkäfig. An<strong>der</strong>e Artisten verhel-<br />

fen schließlich Merrick zu Flucht und er reist zurück nach England, wo er schließlich wie-<br />

<strong>der</strong> in das Hospital zieht. Treves stellt fest, dass er nicht mehr lange Leben wird. Nach ei-<br />

nem Theaterbesuch, <strong>bei</strong> dem er neben <strong>der</strong> Prinzessin von Wales sitzt und er nach <strong>der</strong><br />

Vorstellung gefeiert wird, vollendet er ein Modell einer Kathedrale. Er packt er die Kissen,<br />

die ihm das Atmen <strong>bei</strong>m Schlafen ermöglichen, aus dem Bett und stirbt schließlich.<br />

4.1.2 Charaktere<br />

Im folgenden möchte ich die Charaktere des Films kurz beschreiben und in Abbildung 1<br />

eine Übersicht über die Personenkonstellation geben.<br />

John Merrick: Leidet von Geburt an tumorartigen Missbildungen. Er wird von Bytes wie<br />

ein Tier gehalten und ausgestellt. Durch Treves erlangt er nach und nach seine Freiheit, in<br />

dem er als Mensch akzeptiert wird. Er fängt an zu sprechen und zu gestalten. Sein Traum<br />

16


ist es ein „vollwertiger“ Mensch zu sein. Nachdem er gesellschaftlich vollends anerkannt<br />

ist, beschließt er für sich, wie ein normaler Mensch schlafen zu wollen, im Wissen das er<br />

durch seine Leiden da<strong>bei</strong> sterben wird.<br />

Dr. Treves: ein Arzt und Anthropologe, <strong>der</strong> Merrick entdeckt. Durch ihn erfährt er viel öf-<br />

fentliche Aufmerksamkeit. Jedoch hinterfragt er sein Handeln und findet in Merrick auch<br />

einen liebenswerten Menschen und Freund.<br />

Bytes: Ein cholerischer, gewalttätiger Mann, <strong>der</strong> viel trinkt und durch Merrick Geld ver-<br />

dient.<br />

Wärter: Ein grober Mann, <strong>der</strong> durch Merrick sich etwas dazu verdienen möchte und ihn im<br />

Krankenhaus terrorisiert.<br />

Direktor: Ein Fürsprecher Merricks, nachdem dieser zeigt, dass er sprechen kann und<br />

nicht schwachsinnig ist. Durch ihn wird auch <strong>der</strong> Königin Merricks Schicksal bekannt und<br />

erhält auf dessen Antrag lebenslanges Wohnrecht im Hospital.<br />

Oberschwester: ist anfangs skeptisch, sieht in Merrick jedoch dann einen vollwertigen Pa-<br />

tienten, dem eine ordentliche Behandlung zusteht. Es entwickelt sich ein freundschaftli-<br />

ches, anerkennendes Verhältnis<br />

Mrs. Candle: ist eine berühmte Theaterschauspielerin. Sie sieht in Merrick nicht nur eine<br />

Sensation, son<strong>der</strong>n auch einen liebenswerten Menschen, dem sie am Ende des Films ihre<br />

Vorstellung widmet. Jedoch wird Merrick durch sie zur „Mode“, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch Mer-<br />

rick keine Rolle mehr spielt.<br />

17


4.1.3 Narrationsstruktur<br />

Abb. 1: Personenkonstellation in „Der Elefantenmensch“<br />

<strong>Die</strong> Erzählstruktur des Films ist chronologisch gehalten. <strong>Die</strong> Chronologie wird mit eine<br />

surrealen Sequenz eingeführt, in <strong>der</strong> Merricks Entstehung visualisiert wird. <strong>Die</strong> Klammer<br />

schließt sich am Ende des Films in einer Sequenz, in <strong>der</strong> Merrick in einer Jenseitserfah-<br />

rung auf seine Mutter trifft. Auch an einigen Stellen im Film werden kurze surreale Ein-<br />

schübe gemacht, die die Vergangenheit von Merricks Mutter metaphorisch und transzen-<br />

dent zeigen. Trotz des chronologischen Verlaufs <strong>der</strong> Erzählung gibt es in <strong>der</strong> erzählten<br />

Zeit Zeitsprünge, <strong>der</strong>en Dauer nicht rekonstruierbar ist. Beispielsweise wird nicht geklärt<br />

wie viel Zeit zwischen Merricks Entführung und Rückkehr vergangen ist.<br />

Abb. 2: Narrationsstruktur in „Der Elefantenmensch“<br />

18


4.1.4 Setting und Licht<br />

Jahrmarkt<br />

Ein wie<strong>der</strong>kehrendes Setting im Film ist <strong>der</strong> Jahrmarkt, auf dem Merrick ausgestellt wird.<br />

Hie<strong>bei</strong> entsteht durch die Anzahl <strong>der</strong> Buden und Besucher eine Unübersichtlichkeit des<br />

Settings. In diesem Setting sind auch an<strong>der</strong>e Schausteller sind zu sehen wie eine bärtige<br />

Dame, Kleinwüchsige o<strong>der</strong> Riesen. Sensation und Elend liegen in diesem Setting nah <strong>bei</strong>-<br />

einan<strong>der</strong>. Während des Films än<strong>der</strong>t sich jedoch auch das Publikum. Ist es in England<br />

noch erstaunt über die Sensation, so ist das Publikum in Frankreich angewi<strong>der</strong>t von <strong>der</strong><br />

menschenverachtenden Haltung von Merrick. <strong>Die</strong> Jahrmärkte werden nur <strong>bei</strong> Nacht ge-<br />

zeigt und sind dementsprechend düster gehalten. „Sensationen“ werden gut ausgeleuch-<br />

tet um diese hervorzuheben.<br />

Slums<br />

<strong>Die</strong> „Hinterbühne“ des Jahrmarkts bilden die Slums, in denen Bytes und Merrick leben.<br />

Der Außenbereich ist feucht, neblig und dreckig. <strong>Die</strong> Straßen sind gesäumt von Menschen<br />

mit schmutzigen Körpern und Kleidung, die an Maschinen ar<strong>bei</strong>ten o<strong>der</strong> Obdachlos sind.<br />

In den Innenbereichen wie Bytes Unterkunft o<strong>der</strong> einer Kneipe, werden die rauen Um-<br />

gangssitten deutlich, die direkt und voll von körperlicher Gewalt sind. Insbeson<strong>der</strong>e Bytes<br />

Unterkunft ist frei von Tageslicht und wird nur durch Gas- und Öllampen beleuchtet, wo-<br />

durch eine Low-Key Beleuchtung in den Innenräumen entsteht. Zudem ist <strong>der</strong> Ort feucht,<br />

was man an den kahlen, steinernen Wänden erkennt.<br />

Hospital<br />

Das Hospital in dem Treves ar<strong>bei</strong>tet und Merrick unterkommt, ist im Gegensatz zum<br />

Jahrmarkt und zu den Slums ein heller, übersichtlicher Ort. Durch Fenster dringt Tages-<br />

licht ins Innere und sorgt für klare Sichtverhältnisse. <strong>Die</strong>ser Klarheit entspricht auch die<br />

Institutionelle Ordnung des Krankenhauses, da tagsüber Schwestern und Ärzte eine Kon-<br />

trollfunktion ausüben. <strong>Die</strong> institutionelle Ordnung wird auch in den geordneten Schlafsä-<br />

len deutlich, in <strong>der</strong> die Patienten in abgetrennten Bereichen an <strong>der</strong> Außenwand liegen,<br />

während ein Bild <strong>der</strong> Königin in <strong>der</strong> Mitte des Raums platziert ist. Auch <strong>der</strong> Empfangsbe-<br />

reich macht durch ein Podest und klar geordnete Sitzplätze die räumliche Strukturiertheit<br />

deutlich (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:15:20). In <strong>der</strong> Nacht jedoch wird die Beleuchtung dunkler, da<br />

die Gasflammen heruntergefahren werden. Zudem macht das Personal Feierabend. Ent-<br />

19


sprechend des Lichts und <strong>der</strong> personalen Unterbesetzung, bringt die Nacht für Merrick<br />

„Unordnung“ bzw. Gefahr in Form des Wärters (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:32:57f) und Bytes<br />

(vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 01:21:29f).<br />

4.1.5 Acting<br />

Abscheu<br />

Räumliche Strukturiertheit als Merkmal <strong>der</strong> Disziplinarmacht<br />

Oft werden Protagonisten (<strong>bei</strong>spielsweise Schwester Nora und Treves Frau) im Film mit<br />

dem ungewöhnlichen Anblick von Merrick konfrontiert und reagieren mit Abscheu. Hier<strong>bei</strong><br />

blicken die Protagonisten zu Boden o<strong>der</strong> richten ihre Blicke seitwärts von ihm abgewandt<br />

und verziehen ihr Gesicht leicht vor Ekel. Durch das Wegdrehen, sieht Merrick davon<br />

nichts und meint nur ehrliche Leute um sich zu haben.<br />

Latenter Wahnsinn<br />

Insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Rolle von Bytes, werden durch Alkoholismus und cholerischen Anfäl-<br />

len ein latenter Wahnsinn durch das Acting sichtbar. Hier<strong>bei</strong> liegt ein Zittern in <strong>der</strong> bemüht<br />

ruhigen Stimme und in <strong>der</strong> Körperspannung von Bytes. Zudem wird er mit unnatürlich<br />

aufgerissenen Augen dargestellt, die den blinden Wahn in seinem Handeln unterstreichen.<br />

Emotionale Anteilnahme<br />

Im Laufe des Films gibt es Szenen, in denen Protagonisten ergriffen sind über Merricks<br />

Schicksal. Hier <strong>bei</strong>spielsweise Mrs. Candle, die in Merrick „Romeo“ aus Romeo und Julia<br />

erkennt und ihn auf die Wange küsst. Auch Treves zeigt im Film emotionale Regungen.<br />

20


Als Merrick verschwindet und er ihn sucht blickt er durch das Fenster von Bytes Unter-<br />

schlupf, <strong>der</strong> leer ist. Sein starrer Blick zeigt hier<strong>bei</strong> seine Anteilnahme. <strong>Die</strong>se äußert sich<br />

am Ende des Films durch die traurigen Blicke, im Wissen das Merrick sterben wird. Es<br />

wird deutlich, dass die besuchte Vorstellung und <strong>der</strong> schöne Abend keine Fortsetzung<br />

haben werden. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist auch Merrick oft emotional ergriffen. Hier<strong>bei</strong> nur<br />

gegenüber den Menschen, die ihm helfen wollen. Durch eine bebende Stimme drückt<br />

Merrick seine tiefe Dankbarkeit aus. Gegenüber seinen Peinigern zeigt er sich dagegen<br />

verschreckt und paralysiert. Er lässt sich ohne Wi<strong>der</strong>stand quälen und verfällt eine Le-<br />

thargie.<br />

4.1.6 Kostüme<br />

Entsprechend <strong>der</strong> zeitlichen Verortung <strong>der</strong> Story, sind die Kostüme an die Kleidung des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts angelehnt. Analog zu den Settings in denen die Protagonisten leben,<br />

sind auch die Kostüme gestaltet. In den Slums sieht man nur dreckige und zerlumpte<br />

Menschen. Im Hospital die Ar<strong>bei</strong>tskleidung und die Anzüge <strong>der</strong> Ärzteschaft. Merricks<br />

Kleidung wandelt sich dieser Logik folgend. Am Anfang des Films trägt er ein kaputtes<br />

Hemd, eine kaputte Hose und eine Maske. Mit <strong>der</strong> Aufnahme im Hospital bekommt er zu-<br />

nächst die Kleidung eines Patienten und mit seinem Aufenthaltsrecht einen feinen Anzug.<br />

Hier<strong>bei</strong> legt er die Maske ab. Als er entführt wird, trägt er wie<strong>der</strong> seine heruntergekom-<br />

mene Kleidung und in <strong>der</strong> Öffentlichkeit seine Maske.<br />

4.1.7 Kinematographie<br />

<strong>Die</strong> Settings im Film werden häufig durch Kamerafahrten eingeführt. Beispielsweise wird<br />

diese Technik eingesetzt, als Treves zum ersten Mal im Film die Slums betritt. Auf <strong>der</strong><br />

Straße bewegt sich die Kamera rückwärts; daher geht Treves in Richtung des Zuschau-<br />

ers. Dadurch kommt es zu einem Überraschungseffekt, da an den Rän<strong>der</strong>nd es Bildes<br />

neue Elemente des Settings, wie Marktkarren o<strong>der</strong> Straßenar<strong>bei</strong>ter sichtbar werden. Tre-<br />

ves bliebt hier<strong>bei</strong> in <strong>der</strong> Bildmitte und blickt an die Rän<strong>der</strong>. Hier<strong>bei</strong> folgt die Kamera sei-<br />

nen Blicken durch kurze Bildeinschübe und zeigen <strong>bei</strong>spielsweise, in einer halbtotalen,<br />

wie Menschen „sklavisch“ mit den Maschinen ar<strong>bei</strong>ten. Durch diese einführenden Kame-<br />

rafahrten wird das Setting zu einem „gelebten“ Ort (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:08:53f).<br />

21


<strong>Die</strong> Disziplinen und ihre Folgen. <strong>Die</strong> zeitliche, räumliche und organisationale Fixierung <strong>der</strong> Körper.<br />

Neben den Kamerafahrten werden im Film auch häufig Zooms eingesetzt. <strong>Die</strong>se werden<br />

immer dann eingesetzt, wenn Emotionen fokussiert werden. <strong>Die</strong>s sieht man <strong>bei</strong>spielswei-<br />

se in <strong>der</strong> Szene, in <strong>der</strong> Treves zum ersten Mal Merrick sieht. Zunächst ist Treves <strong>bei</strong>m An-<br />

blick in einer halbnahen Einstellung zu sehen. Schließlich zoomt die Kamera in eine Groß-<br />

aufnahme des Gesichts, so dass eine perlende Träne von Treves zu sehen ist (vgl. <strong>Lynch</strong><br />

1980, 00:13:56f).<br />

Nahe und halbnahe Einstellung werden im Film auch für die Inszenierung von Gewalt und<br />

Drohungen eingesetzt. So versucht sich Treves im Gespräch mit Bytes sich zurückzuhal-<br />

ten bzw. Sich von ihm zu distanzieren, was über eine räumliche Distanz geschieht. Je-<br />

doch zwingt Bytes Treves zur Nähe, indem er ihn immer wie<strong>der</strong> am Kragen packt, wenn<br />

er mit ihm spricht. Bei diesem Vorgang wechselt die Kamera von einer halbnahen in eine<br />

nahe Einstellung, die eine unangenehme Enge zwischen den <strong>bei</strong>den Protagonisten er-<br />

zeugt. Hier<strong>bei</strong> blickt Bytes Treves direkt und drohend an, während dieser sichtlich unwohl<br />

gen Boden schaut (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:40:36f).<br />

In <strong>der</strong> gleichen Szene kommt mit dem Hinzukommen des Direktors, die Über- und Unter-<br />

sicht als kinematographisches Konzept zur Visualisierung von <strong>Macht</strong>hierarchien zum tra-<br />

gen. Hier<strong>bei</strong> filmt die Kamera aus zwei Positionen in <strong>der</strong> Szene. Der Blick richtet sich über<br />

Treves und Bytes Schultern nach oben zum Direktor. In <strong>der</strong> Gegeneinstellung blickt die<br />

Kamera auf Treves und Bytes herab (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:41:50f).<br />

22


Links: Gewaltausübung von Bytes über räumliche Nähe und Blick. Rechts: <strong>Die</strong> Hervorhebung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> des<br />

Direktors durch eine Untersicht <strong>der</strong> Kamera.<br />

<strong>Die</strong> Machstrukturen im Film werden auch durch entsprechende <strong>Kadrierung</strong>en des Bildes<br />

in Szene gesetzt. In <strong>der</strong> Szene, in <strong>der</strong> über den weiteren Verbleib von Merrick durch das<br />

führende Komitee des Krankenhauses entschieden wird, zeigen sich diese <strong>Macht</strong>gefüge<br />

durch die Haltung <strong>der</strong> Kamera; hier<strong>bei</strong> ist <strong>der</strong> Direktor, als Vorsitzen<strong>der</strong> an einem Kopfen-<br />

de mittig in einer Halbtotalen zu sehen. Sein Wi<strong>der</strong>sacher, <strong>der</strong> Merrick als eine Zumutung<br />

sieht, sitzt am an<strong>der</strong>en Ende des Tisches ebenfalls mittig. <strong>Die</strong> übrigen Ratsmitglie<strong>der</strong> sit-<br />

zen jeweils an den seitlichen Rän<strong>der</strong>n des Tisches. Durch diese vertikalen Bildstrukturen<br />

wird deutlich, dass es ein <strong>Macht</strong>kampf zwischen zwei Protagonisten ist. Als sich jedoch<br />

Prinzessin Alexandra an die Seite des Direktors stellt, kippt das <strong>Macht</strong>gefüge. Bei <strong>der</strong> Ab-<br />

stimmung darüber ob Merrick bleiben darf stimmen alle zu. Hier<strong>bei</strong> ist <strong>der</strong> Direktor durch<br />

eine leicht untersetzte Kameraperspektive gezeigt, die ihn erhöht, während sein Kontra-<br />

hent von oben gefilmt wird und somit auch visuell unterliegt (01:19:19f).<br />

4.1.8 Editing<br />

Im Film sind viele traumartige/surreale Sequenzen zu sehen, die durch das Editing be-<br />

stimmt sind. So wird <strong>der</strong> Film mit einer Sequenz eröffnet, in <strong>der</strong> Merricks Mutter von Ele-<br />

fanten angegriffen wird. Hier<strong>bei</strong> ist anfangs nur eine Kamerafahrt über ein Bild zu sehen.<br />

Anschließend werden seitlich gehende Elefanten durch eine Schwarzblende eingefügt.<br />

Kurz darauf wird die Frau transparent über das Bild <strong>der</strong> Elefanten gelagert. Hier<strong>bei</strong> blickt<br />

sich leicht nach oben, so dass <strong>der</strong> Eindruck entsteht, dass sie zu den Elefanten hinauf<br />

schaut. Durch diese Überlagerung wird daher <strong>der</strong> Blick und das Angeblickte in einem Bild<br />

dargestellt. Nach einer weiteren Schwarzblende kommen die Elefanten zum Zuschauer<br />

hingerannt. <strong>Die</strong> Frau wird umgestoßen und beginnt zu Schreien. Hier<strong>bei</strong> wird auf <strong>der</strong> audi-<br />

tiven Ebene die Geräusche <strong>der</strong> Elefanten über das Schreien <strong>der</strong> Frau gelegt, was die<br />

23


durch weiche Blenden sich abwechselnden Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> schreienden Frau und des Elefan-<br />

ten surreal verbindet (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:01:52f).<br />

<strong>Die</strong> Entstehung des Elefantenmenschen durch eine surreal wirkende Bildmontage<br />

Übergänge zwischen den Szenen werden zum einen mittels Schwarzblenden realisiert.<br />

Dadurch werden längere Zeitabstände zwischen zwei Szenen deutlich gemacht, wie <strong>bei</strong>-<br />

spielsweise in einer Szene, in <strong>der</strong> Treves durch Bytes leere Unterkunft blickt und Merrick<br />

nicht finden kann. Nach einer Schwarzblende, wird <strong>der</strong> Jahrmarkt in Frankreich gezeigt,<br />

<strong>der</strong> räumlich wie auch zeitlich von <strong>der</strong> vorherigen Szene getrennt ist (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980,<br />

01:31:27f). Neben den Schwarzblenden werden an<strong>der</strong>erseits auch Schnitte für Szenen-<br />

übergänge genutzt. Hier<strong>bei</strong> ist die zeitliche Distanz zwischen den Szenen geringer. Nach<br />

dem Ende einer entsprechenden Szene kommt es zum Schnitt und ein ähnliches Objekt<br />

o<strong>der</strong> ein zunächst irritierendes Objekt erscheint. <strong>Die</strong>se Objekte sind immer Detailaufnah-<br />

men, so dass <strong>der</strong> Zuschauer zunächst nicht weiß, wo er sich befindet. Durch eine Kame-<br />

rafahrt o<strong>der</strong> einen Zoom wird in das Setting nach und nach eingeführt. So spricht Bytes<br />

am Anfang mit Merrick, nachdem die Polizei die Veranstaltung auflöst. Nach einem harten<br />

Schnitt ist ein Ofen zu sehen, in dem eine starke Flamme lo<strong>der</strong>t und dadurch, weil er kei-<br />

nen Bildanschuss darstellt, irritiert. Nach einer Kamerafahrt wird deutlich, dass sich <strong>der</strong><br />

Ofen in Treves OP-Saal befindet (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:06:43f).<br />

Es kommt im Film auch zu Kombinationen in den Übergängen. So bittet Treves am An-<br />

fang des Films seine Kopfbedeckung abzunehmen. Darauf erfolgt eine schwarze Aus-<br />

blendung des Bildes. In <strong>der</strong> nächsten Einstellung, die ohne Blende erscheint, sieht man<br />

ein helles Licht. Nach einer Kamerafahrt, wird deutlich, dass es <strong>der</strong> Scheinwerfer ist, mit<br />

dem Merrick vor <strong>der</strong> Ärzteschaft angeleuchtet wird (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:20:15f).<br />

24


4.1.9 Sound<br />

<strong>Die</strong> Soundkulisse des Films zeichnet sich innerhalb von Häusern (<strong>bei</strong>spielsweise Hospital<br />

o<strong>der</strong> Bytes Unterschlupf) durch Gasgeräusche aus, die von den Lampen ausgehen. Da-<br />

durch wird im Raum eine latent unheimliche Atmosphäre erzeugt. Ähnliche Geräusche,<br />

wie das des Gases, gehen auch von Öfen und Hochöfen aus, die im Film vorkommen. <strong>Die</strong><br />

Bedrohung in diesem Geräusch wird im Film vor allem über Szenen und Einstellungen<br />

vermittelt, in denen Menschen unter unmenschlichen Bedingungen an Maschinen schuf-<br />

ten. Im Geräusch schwingt daher immer das „Dreckige“ mit; <strong>der</strong> schwere Gasgeruch.<br />

Ein markantes auditives Muster bildet die Jahrmarktsmusik. <strong>Die</strong>se ertönt auf dem Jahr-<br />

markt, in Traumsequenzen und im Krankenhaus als <strong>der</strong> Wächter mit den Schaulustigen<br />

kommt (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 01:23:24f). Eingeleitet wird dieses für Merrick traumatische<br />

Klangmuster durch ein Klopfen, welches den „Vorstellungsbeginn“ darstellt. So fürchtet<br />

sich Merrick am Anfang im Hospital, als man an seine Tür klopft. Der Wärter hält die Erin-<br />

nerung immer wie<strong>der</strong> wach, und verhält sich analog zu Bytes. Hinsichtlich Bytes ist das<br />

Klopfen auch mit Schlägen durch seinen Gehstock verbunden. Nach dem Klopfen kommt<br />

eine beunruhigende Klangkulisse aus Streichmusik auf. Der Zuschauer wird somit über<br />

die Musik auf das Schreckliche vorbereitet, das sich dann zusammen mit <strong>der</strong> Jahr-<br />

marktsmusik manifestiert (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 01:10:52f). Durch dieses auditive Muster wird<br />

letztlich die Dramatik auf das, was kommen wird, erhöht.<br />

Neben dieser eher verstörenden und kargen Klangkulisse, bildet das Ende des Films eine<br />

Ausnahme. Hier setzt das bekannte Stück „Adagio for Strings, op.11“ von Samuel Barber<br />

ein, welches den Sterbevorgang von Merrick bewegend und melodisch begleitet (vgl.<br />

<strong>Lynch</strong> 1980, 01:50:29). <strong>Die</strong>ses Stück bildet zusammen mit den Bil<strong>der</strong>n (Nahaufnahmen<br />

seines Kathedralenmodells, Einschlafen, Weg ins Jenseits) ein Requiem, das Ende von<br />

Merricks leiden.<br />

4.2 <strong>Macht</strong>strukturen in „Der Elefantenmensch“<br />

Mit Blick auf Foucaults <strong>Macht</strong>begriff möchte ich zunächst drei Perspektiven auf <strong>der</strong> Mak-<br />

roebene des Films eröffnen:<br />

1. Körperliche Gewalt und Blick,<br />

2. die <strong>Macht</strong> <strong>der</strong> Institutionen im Film und<br />

25


3. Disziplinierung durch die Mo<strong>der</strong>ne<br />

4.2.1 Körperliche Gewalt und Blick<br />

Im Film wird vor allem in <strong>der</strong> Unterschicht das Thema <strong>der</strong> körperlichen Gewalt themati-<br />

siert und inszeniert. Neben <strong>der</strong>ben Sprüchen ist körperliche Gewalt ein Artikulations-<br />

merkmal <strong>der</strong> im Film dargestellten Unterschicht, zu <strong>der</strong> letztlich auch Bytes zählt. <strong>Die</strong>ser<br />

wendet gegenüber Merrick Schläge an, um diesen gefügig zu machen. <strong>Die</strong>se peinlichen,<br />

unmittelbaren Strafen, sieht Foucault als eine Strafzeremonie an (vgl. Foucault 2008, 711).<br />

Mit Blick auf den Film findet diese jedoch nur in einem kleinen Kreis statt. Somit kann sich<br />

Bytes zum einen Merrick gefügig machen und gleichzeitig den Jungen, <strong>der</strong> <strong>bei</strong> ihm lebt<br />

einschüchtern. <strong>Die</strong>se Einschüchterung kommt vor allem in jener Szene zum Eindruck, als<br />

Treves den von Bytes geschlagenen Merrick untersucht. Als sein Blick auf den des Jun-<br />

gen neben Bytes trifft, schaut dieser verängstigt (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:24:43f).<br />

Jedoch beschränkt sich diese <strong>Macht</strong>strategie seitens Bytes nicht nur auf seinen „Elefan-<br />

tenmenschen“ und den Jungen. Immer wie<strong>der</strong> packt er auch Treves am Kragen und ver-<br />

sucht diesen somit einzuschüchtern <strong>Die</strong>se Einschüchtern wird im Film vor allem durch<br />

nahe Einstellungen inszeniert, die somit unmittelbar wirken. Hier<strong>bei</strong> sind die Blicke von<br />

Bytes immer starr auf seinen Gegenüber gerichtet, um die Ernsthaftigkeit des Anliegens<br />

deutlich zu machen. <strong>Die</strong> körperliche Gewalt im Film funktioniert daher nur über körperli-<br />

che Nähe und direkte Blicke. Bytes steht somit für einen vormo<strong>der</strong>nen, peinlichen <strong>Macht</strong>-<br />

typus, welcher im Verlauf des Films immer weniger Akzeptanz findet. Vor allem am Ende<br />

des Films, als Bytes Merrick in Frankreich ausstellt, wirken die Zuschauer schockiert über<br />

Bytes Verhalten. <strong>Die</strong>ser sich durchsetzende <strong>Macht</strong>typ im Film beschreibt Foucault als<br />

Disziplinarmacht, <strong>der</strong>en Mechanismen und Ergebnisse im Film an mehreren Stellen zu se-<br />

hen sind. Zeithistorisch erklärt Foucault: „[I]m Laufe des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts sind die<br />

Disziplinen zu allgemeinen Herrschaftsformen geworden. Sie unterscheiden sich von <strong>der</strong><br />

Sklaverei, da sie nicht auf den Besitz des Körpers beruhen; das ist ja gerade die Eleganz<br />

<strong>der</strong> Disziplin, daß sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und<br />

da<strong>bei</strong> mindestens ebenso beachtliche Nützlichkeitseffekte erzielt“ (Foucault 2008, 839).<br />

4.2.2 Disziplinierung<br />

<strong>Die</strong>se Nutzbarmachung des Körpers, sieht man vor allem in jenen Szenen, in denen Tre-<br />

ves Blick durch die Straßen streift und die sich gleichmäßig bewegenden Menschen an<br />

den Maschinen sieht. <strong>Die</strong>se nehmen ohne Androhung von Folter die Ar<strong>bei</strong>t an und fügen<br />

26


sich dieser. Der Aspekt <strong>der</strong> Unterwerfung wird durch die nackten, schmutzigen und<br />

stummen Körper die zu sehen sind, jedoch von <strong>Lynch</strong> negativ konnotiert. Hier<strong>bei</strong> er-<br />

scheint also das vermeintlich mo<strong>der</strong>ne als ebenso unmenschlich wie die peinlichen Stra-<br />

fen.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> Durchsetzung von moralischen Regeln fungiert die Polizei im Film als<br />

durchsetzende Kraft. So ist am Anfang des Films zu sehen, wie sich eine Menschentrau-<br />

be vor <strong>der</strong> Bühne von Bytes versammelt. <strong>Die</strong> Polizei jedoch untersagt das Ausstellen von<br />

Merrick. <strong>Die</strong> Verinnerlichung dieser Regel findet sich schließlich in Frankreich, wo die<br />

Menschen bereits von sich aus die Ausstellung und das Quälen von Merrick ablehnen.<br />

Somit lässt sich folgende von Foucault herausgear<strong>bei</strong>tete Funktion <strong>der</strong> Polizei durch aus<br />

im Film wie<strong>der</strong>finden:<br />

„Der Sex wird im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t zu einer Angelegenheit <strong>der</strong> ‚Polizei‘. Allerdings im<br />

vollen und starken Sinne, den das Wort zu dieser Zeit besaß – nicht Unterdrückung <strong>der</strong><br />

Unordnung, son<strong>der</strong>n verordnete Steigerung <strong>der</strong> kollektiven und individuellen Kräfte“<br />

(Foucault 2008a, 1046).<br />

4.2.3 <strong>Die</strong> <strong>Macht</strong> <strong>der</strong> Institution<br />

Wie am Beispiel <strong>der</strong> Polizei im Film deutlich wird, spielen Institutionen im Film eine zentra-<br />

le Rolle, wenn es um die Disziplinierung <strong>der</strong> Gesellschaft geht. <strong>Die</strong> zentrale Institution im<br />

Film bildet das Krankenhaus, in welchem Treves ar<strong>bei</strong>tet und Merrick letztlich ein neues<br />

Zuhause findet. <strong>Die</strong> <strong>Macht</strong> im Krankenhaus entfaltet sich zunächst durch räumliche Struk-<br />

turen und entsprechende <strong>Kadrierung</strong>en des Bildes. Beispielhaft hierfür ist <strong>der</strong> Kranken-<br />

saal, in dem die Betten an den Wänden geordnet und voneinan<strong>der</strong> durch einen Vorhang<br />

getrennt sind. In <strong>der</strong> Mitte des Raums an einem Pfeiler ist zudem das Bild <strong>der</strong> Königin<br />

Victoria zu sehen. Der Raum des Krankenhauses folgt also <strong>der</strong> Logik des Panopicons, zu<br />

welchem Foucault mit Bezug auf das Gefängnis anmerkt:<br />

„<strong>Die</strong> dichtgedrängte Masse, die vielfältigen Austausch mit sich bringt und die Individu-<br />

alitäten verschmilzt, dieser Kollektiv-Effekt wird durch eine Sammlung von getrennten<br />

Individuen ersetzt. Vom Standpunkt des Aufsehers aus handelt es sich um eine ab-<br />

zählbare und kontrollierte Vielfalt; vom Standpunkt <strong>der</strong> Gefangenen aus um eine er-<br />

zwungene und beobachtete Einsamkeit“ (Foucault 2008, 906).<br />

27


<strong>Die</strong>se räumlichen <strong>Macht</strong>strukturen setzen sich in <strong>der</strong> Institution des Krankenhauses über<br />

ihre Regeln fort. So gibt es <strong>bei</strong>m Personal immer eine persönliche Distanz zu den Patien-<br />

ten. Beispielhaft hierfür sind die Personen des Direktors und <strong>der</strong> Oberschwester, die mit<br />

Verweis auf die Regeln des Krankenhauses Ordnung schaffen. Hinsichtlich des Tag-<br />

Nacht-Wechsels im Krankenhaus lässt sich feststellen, dass die Institution bzw. <strong>der</strong> dis-<br />

ziplinare <strong>Macht</strong>typ von <strong>der</strong> „Technologie <strong>der</strong> Individuen“ abhängig ist (vgl. Foucault 2008,<br />

931). Denn als die Mitar<strong>bei</strong>ter das Krankenhaus verlassen, gibt es für Merrick keine Si-<br />

cherheit mehr. Der Wärter, <strong>der</strong> um die Abläufe in <strong>der</strong> Institution weiß, nutzt dieses Wissen<br />

aus, um <strong>bei</strong> Nacht bezahlende Gäste in das Krankenhaus einzulassen. Somit wird die<br />

strenge Separation unterlaufen; Merrick wird dadurch wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> peinlichen Gewalt<br />

<strong>der</strong> Unterschicht konfrontiert.<br />

Im folgenden möchte ich mich jenen Praktiken <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> zuwenden, die aus dem „Ele-<br />

fantenmenschen“ die Person John Merrick machen.<br />

4.2.4 <strong>Die</strong> Menschwerdung von Merrick im Film<br />

Anfangs herrscht ein willkürliches Regime in Form von Bytes über Merrick. Mit Blick auf<br />

Foucault besteht die <strong>Macht</strong>strategie von Bytes darin, peinliche Strafen einzusetzen um<br />

ihn zu unterwerfen. Durch die Loslösung von Bytes durch Treves setzten jedoch verschie-<br />

dene Mikromechanismen ein, die Merrick nach und nach verän<strong>der</strong>n.<br />

<strong>Die</strong> Naturalisierung von Merrick<br />

Zunächst bittet TrevesMerrick seine Kopfbedeckung abzunehmen. Jedoch sieht man hier<br />

Merricks Kopf noch nicht. Stattdessen sieht man in <strong>der</strong> darauf folgenden Szene ein helles<br />

Licht eines Projektors, mit dem Merrick vor <strong>der</strong> Ärzteschaft angeleuchtet wird. Man sieht<br />

Merrick nur als schwarzen Schatten durch einen Vorhang. Durch diese Inszenierung wird<br />

ein Abstand zum entstellten Körper Merricks erzeugt, <strong>der</strong> in Treves Vortrag dazu genutzt<br />

wird, das vermeintliche Wun<strong>der</strong>wesen zu naturalisieren 1 ; Merrick wird hier<strong>bei</strong> zunächst<br />

mit Namen und Alter vorgestellt. Danach wird diagnostiziert, dass sein Aussehen so sei,<br />

weil er tumorartige Wucherungen am ganzen Körper hat (vgl. <strong>Lynch</strong> 1980, 00:20:15f). In<br />

diesem Sinne wird Merrick zu einem, für die Institution begreifbaren und einzuordnenden,<br />

Subjekt.<br />

1 Naturalisierung im Film meint, dass durch eine (pseudo-) wissenschaftliche Erklärung eine wun<strong>der</strong>bare Kreatur o<strong>der</strong><br />

eine Sache realitätskompatibel gemacht wird (vgl. Spiegel 2007, 50f). Dadurch wird folglich eine ontologische Bestimmt-<br />

heit erzeugt, die sich dem Transzendenten entzieht.<br />

28


<strong>Die</strong> Feststellung des rechtlichen Status<br />

Nachdem festgestellt wurde, dass Merrick ein menschliches Wesen ist, muss im Verlauf<br />

des Films auch festgestellt werden, ob er ein Patient im Sinne <strong>der</strong> Regelungen des Insti-<br />

tuts sei. Hier<strong>bei</strong> erfolgt die rechtliche Anerkennung über zwei Schritte. Der erste Schritt<br />

umfasst die Ansprechbarkeit. Daher kann Merrick nur als Patient gelten, wenn er als Indi-<br />

viduum adressierbar sein kann. Nachdem Merrick beginnt zu sprechen, wird ihm dieser<br />

Status anerkannt. Gleichsam beginnt mit dem Sprechen auch die Subjektivation von Mer-<br />

rick. Hinsichtlich des Rechtsstatus ergibt sich für die Institution des Krankenhauses ein<br />

neues Problem. Merrick kann nun zwar rein formal Patient sein, aber dadurch, dass er ei-<br />

ne chronische Bronchitis und Tumore hat und daher unheilbar ist, passt er nicht in das<br />

Heilungskonzept des Krankenhauses.<br />

Sensation, Moral und Ethik – Merrick im öffentlichen Diskurs<br />

Über die Presse wird über das Schicksal von Merrick berichtet. Dadurch wird er zur Mo-<br />

de, mit <strong>der</strong> man sich schmückt. In dieser Mode schwingt eine Doppelmoral mit, die im<br />

Film durch die Oberschwester offen angesprochen wird. Sie stellt die Frage, in wie fern<br />

sich die Oberschicht, die sichtlich angewi<strong>der</strong>t von Merrick ist, sich von <strong>der</strong> Unterschicht<br />

unterscheide. Jedoch ergibt sich aus dem anfangs eher oberflächlichen, modischen Dis-<br />

kurs, ein Diskurs über Ethik und moralische Prinzipien. Durch den Auftritt <strong>der</strong> Prinzessin,<br />

die im Namen <strong>der</strong> Königen spricht und über die Presse von Merricks Schicksal und Be-<br />

handlung im Krankenhaus erfuhr, wird deutlich, dass <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Institution vom christli-<br />

chen Glauben geprägt ist. Entsprechend dieser Logik ist es daher im Film möglich, dass<br />

im Zuge <strong>der</strong> christlichen geprägten Ethik <strong>der</strong> Königin und des nach außen scheinbar<br />

christlichen Handelns <strong>der</strong> Institution, diese zum neuen Zuhause von Merrick wird. Daher<br />

ist Merricks Unterbringung erst durch verschiedene Diskurse, die wie<strong>der</strong>um Auswirkun-<br />

gen auf die Institution haben, möglich.<br />

Handeln und Anerkennung<br />

Im Zuge dieser rechtlichen und gesellschaftlichen Anerkennung, entwickelt sich das Sub-<br />

jekt Merrick. Damit einhergehend erfolgt zunächst das Üben von Etikette und Konversati-<br />

on seitens Merrick. Dadurch kann er seine freundschaftliche Beziehung zu Treves verstär-<br />

ken. Zudem ist es ihm auch möglich seine Wünsche und Gedanken gegenüber an<strong>der</strong>en<br />

Menschen, wie <strong>bei</strong>spielsweise Mrs. Candle zu äußern. Dadurch wie<strong>der</strong>um erhält die Per-<br />

29


son Merrick, u.a. durch die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Verbleib seiner Mutter, eine bio-<br />

graphische Dimension.<br />

Als Ausdruck für die Wertschätzung, die ihm durch die christlich geprägte Ethik im viktori-<br />

anischen England zu Teil wird, baut er ein Modell einer Kathedrale. <strong>Die</strong>ses steht im Film<br />

sinnbildlich für das Entstehen des Subjekts. <strong>Die</strong>ses wird zwar durch die Entführung in ei-<br />

nen lethargischen Zustand versetzt, jedoch vollendet Merrick sein Werk nach seiner<br />

Rückkehr.<br />

<strong>Die</strong> Subjektwerdung Merricks. Links: Das Objekt Elefantenmensch wird naturalisiert. Rechts: Das Subjekt John<br />

Merrick hat das Modell <strong>der</strong> Kathedrale vollendet.<br />

Im Moment <strong>der</strong> Fertigstellung <strong>der</strong> Kathedrale entscheidet sich Merrick wie ein „normaler“<br />

Mensch einzuschlafen. Er hat daher eine Vorstellung davon, dass er nicht dieser Norm<br />

entspricht bzw. Entsprechen kann. Jedoch visualisiert sein Blick auf das Bild eines schla-<br />

fenden Menschen, dass er diesen Wunsch hat. In diesem Sinne setzt er seinen Wunsch,<br />

<strong>der</strong> einem Selbstmord gleich kommt, um und entzieht sich <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>:<br />

„Jetzt richtet die <strong>Macht</strong> ihre Zugriffe auf das Leben und seinen ganzen Ablauf; <strong>der</strong> Au-<br />

genblick des Todes ist ihre Grenze und entzieht sich ihr; er wird zum geheimsten, zum<br />

‚privatesten‘ Punkt <strong>der</strong> Existenz“ (Foucault 2008a, 1133).<br />

30


4.3 Mulholland Drive<br />

4.3.1 Story<br />

Betty kommt nach Los Angeles um Schauspielerin zu werden. Wohnen darf sie <strong>bei</strong> ihrer<br />

Tante, die eine erfolgreiche Schauspielerin und <strong>der</strong>zeit auf Reisen ist. In ihrer Wohnung<br />

angekommen, entdeckt sie, dass noch eine an<strong>der</strong>e Frau in <strong>der</strong> Wohnung ist. <strong>Die</strong>se kann<br />

sich nach einem Verkehrsunfall nicht mehr erinnern wer sie ist. Sie weiß nur, dass sie in<br />

Gefahr ist. Da die Frau ihr Gedächtnis verloren hat, nennt sie sich Rita. Gemeinsam mit<br />

Betty gehen sie zunächst dem Unfall nach und finden neben einer Menge Geld einen<br />

blauen dreikantigen Schlüssel in Ritas Tasche. Derweil treibt Betty ihre Karriere als<br />

Schauspielerin voran. Nach einem Vorsprechen, hat sie ihre erste Rolle so gut wie sicher.<br />

Hier<strong>bei</strong> sieht sie den Filmemacher Adam, <strong>der</strong> zu diesem Zeitpunkt ein Problem mit sei-<br />

nem neuen Film hat. Durch mafiaartige Strukturen ist er gezwungen, eine Rolle nicht nach<br />

seinem eigenen Willen zu besetzen.<br />

Als Betty und Rita in einem Café sitzen, fällt Rita ein Name ein: Diane Sellwyn. Sie suchen<br />

im Telefonbuch nach <strong>der</strong> Adresse und begeben sich per Taxi dorthin. Dort sehen sie zwei<br />

Männer mit Sonnenbrille, worauf Rita panisch reagiert. <strong>Die</strong> <strong>bei</strong>den Protagonisten schlei-<br />

chen sich von Hinten an die Wohnsiedlung heran und gelangen zum Haus mit <strong>der</strong> Num-<br />

mer 12. Dort angekommen, erfahren sie von einer Frau, dass Diane in Nummer 17 gezo-<br />

gen sei bzw. mit ihr die Wohnung getauscht hätte. Betty und Rita steigen in das Haus ein<br />

und entdecken im Schlafzimmer die Leiche einer Frau. Sie flüchten wie<strong>der</strong> in die Woh-<br />

nung <strong>der</strong> Tante, in <strong>der</strong> sich die <strong>bei</strong>den sexuell näher kommen. In <strong>der</strong> Nacht wacht Rita auf<br />

und will etwas unternehmen. Beide besuchen ein Theater, in dem sie eine surreal anmu-<br />

tende Vorstellung sehen. In dieser Vorstellung entdeckt Betty eine blaue Schachtel in ihrer<br />

31


Tasche, mit einem dreikantigen Schlüsselloch. Sie fährt mit Rita nach Hause. Dort jedoch<br />

verschwindet Betty. Rita öffnet die blaue Schachtel und die Wahrheit kommt nach und<br />

nach zum Vorschein.<br />

<strong>Die</strong> ganze Geschichte war <strong>der</strong> Traum von Betty, die in Wirklichkeit Diane Sellwyn heißt. In<br />

dieser Wirklichkeit hat sie dank <strong>der</strong> erfolgreichen Rita, die dort Camilla heißt, einige Ne-<br />

benrollen bekommen. Zudem ist Camilla mit Adam zusammen, den sie heimlich liebt.<br />

Durch die zunehmende Distanz zwischen Diane und Camilla, entwickelt Diane einen un-<br />

geahnten Hass <strong>der</strong> sie in ihrer Existenz scheiten lässt. Sie engagiert einen Auftragskiller,<br />

<strong>der</strong> Camilla tötet. Als Zeichen des erfolgreichen Auftrags, liegt am Ende des Films ein<br />

blauer Schlüssel auf dem Tisch. Durch Trauer und Wahnvorstellungen geplagt, nimmt sich<br />

Diane schließlich das Leben.<br />

4.3.2 Charaktere<br />

Aufgrund <strong>der</strong> starken Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Protagonisten, werde ich die jeweiligen Charak-<br />

tere in einer Tabelle beschreiben.<br />

PROTAGONIST ERSTE HANDLUNGSEBENE ZWEITE HANDLUNGSEBENE<br />

Betty/Diane Betty ist eine erfolgreiche junge Frau,<br />

die ein Schauspieltalent ist. Sie spielt<br />

hier<strong>bei</strong> so gut, dass ihre Gegenüber<br />

nicht wissen, ob Betty o<strong>der</strong> ihre Rolle<br />

spricht. Ihr Wesen ist gutmütig und ihr<br />

Charakter stark.<br />

Rita/Camilla Rita ist auf <strong>der</strong> Flucht vor <strong>der</strong> Mafia.<br />

Durch einen Unfall verliert sie ihr Ge-<br />

dächtnis und ist anfangs entsprechend<br />

irritiert und mitgenommen. Dank Betty<br />

erinnert sie sich nach und nach an<br />

kleine Details. Sie nimmt daher vor<br />

dem öffnen <strong>der</strong> Box eine eher passive,<br />

bedürftige Rolle ein.<br />

32<br />

Diane ist Bettys Spiegelbild. Sie tritt in Er-<br />

scheinung, als Rita die blaue Box geöffnet<br />

hat. Sie ist durch ihren Hass auf Camilla<br />

eine gebrochene Person und emotional in-<br />

stabil.<br />

Im Gegensatz zu Rita, ist Camilla eine er-<br />

folgreiche Schauspielerin. <strong>Die</strong>se hilft ihrer<br />

Freundin Diane Nebenrollen zu bekommen.<br />

Jedoch bricht sie die Beziehung zu Diane<br />

ab, als sie eine Beziehung mit Adam ein-<br />

geht. Im Gegensatz zu Diane wirkt Camilla<br />

stets gefasst und sehr kontrolliert.


PROTAGONIST ERSTE HANDLUNGSEBENE ZWEITE HANDLUNGSEBENE<br />

Adam Er ist ein talentierter Filmemacher,<br />

dessen Frau fremd geht und somit E-<br />

heprobleme hat. Zudem hat er auch<br />

Probleme mit seinen Produzenten, die<br />

gegen seinen Willen eine Rolle beset-<br />

zen wollen. Letztlich fügt er sich dem<br />

Wunsch des Studios und wirkt wie<br />

gebannt, als er zum ersten Mal Betty<br />

sieht.<br />

Coco Coco ist im ersten Teil des Films die<br />

verständnisvolle und gutmütige Haus-<br />

verwalterin von Bettys Tante.<br />

Mr. Rock Ist ein Mafiaboss, <strong>der</strong> in einem mit<br />

Spotlights beleuchteten Raum das<br />

Filmgeschäft steuert. Seine Mimik und<br />

Gestik ist minimal und wirkt daher sehr<br />

befremdlich.<br />

Cowboy Der Cowboy ist Adams Geldgeber, <strong>der</strong><br />

ihm eine zweite Chance für seinen Film<br />

gibt. Nämlich unter <strong>der</strong> Voraussetzung,<br />

dass dieser die Hauptrolle mit einer<br />

bestimmten Frau besetzt.<br />

Killer Im ersten Teil bringt er einen Schau-<br />

spielagenten um. Scheinbar sucht er<br />

nach einer brünetten Frau.<br />

33<br />

Nach dem öffnen <strong>der</strong> Schachtel ist Adam<br />

immer noch Filmemacher. Jedoch liebt er<br />

Camilla und möchte sie heiraten. <strong>Die</strong>s<br />

macht Diane eifersüchtig.<br />

Ist die Mutter von Adam. Sie wirkt reserviert<br />

und unnahbar gegenüber Diane.<br />

Im zweiten Teil taucht Mr. Rock nicht mehr<br />

auf.<br />

Im zweiten Teil taucht <strong>der</strong> Cowboy nur noch<br />

als Besucher einer Party von Adam auf;<br />

hier<strong>bei</strong> spielt er scheinbar keine tragende<br />

Rolle mehr.<br />

Im zweiten Teil bringt <strong>der</strong> Killer Camilla um.<br />

Der Killer ist die einzige Figur im Film, die in<br />

ihrer Rolle und in ihren Beziehungen kon-<br />

stant bleibt. Er ist trotz seines herunterge-<br />

kommenen Aussehens skrupellos und<br />

bringt seine Ar<strong>bei</strong>t immer zu Ende.


4.3.3 Narrationsstruktur<br />

Abb. 3: Personenkonstellation in „Mulholland Drive“<br />

<strong>Die</strong> Narrationsstruktur des Films ist hermetisch gestaltet. Der Beginn des Films wirkt hier-<br />

<strong>bei</strong> zunächst wie eine Krimigeschichte. Hier<strong>bei</strong> folgt die Narration einem alternierenden<br />

Muster, welches die Handlungsstränge von Bettys und Ritas Suche nach Diane und A-<br />

dams Filmproduktion erzählen. <strong>Die</strong>ses alternierende Muster durch Szeneneinschübe un-<br />

terbrochen, die sich <strong>der</strong> Narration und <strong>der</strong>en Logik entziehen und zum Großteil surreal<br />

wirken. So besucht Adam <strong>bei</strong>spielsweise einen Cowboy auf seiner Ranch am Stadtrand<br />

o<strong>der</strong> die Kurzgeschichte eines Mannes in einem Restaurant wird gezeigt, in <strong>der</strong> sein Alp-<br />

traum wahr wird; hinter dem Restaurant findet er eine schreckliche Gestalt.<br />

Nachdem die blaue Schachtel schließlich geöffnet ist gibt es einen Bruch in <strong>der</strong> Narration;<br />

dadurch lösen sich die hermetischen Sequenzen in einer Art psychischen Rekonstruktion<br />

auf und enden mit Dianes Tod. Hier<strong>bei</strong> entsteht ein zeitliches Paradoxon; <strong>Die</strong> Leiche, die<br />

Rita und Betty finden ist scheinbar Diane. Erinnerung und Tod erfahren daher keine narra-<br />

tive Trennung, son<strong>der</strong>n vielmehr eine transzendente Verwebung.<br />

34


4.3.4 Setting und Licht<br />

Abb. 4: Narrationsstruktur in „Mulholland Drive“<br />

<strong>Die</strong> Settings im Film lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen. Zunächst gibt es die<br />

Gruppe „Hollywood“. <strong>Die</strong>se Setting sind die Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbereiche <strong>der</strong> Protagonis-<br />

ten. Hierzu zählen Dianes/Bettys Wohnung, Adams Haus sowie die Studiokulissen.<br />

<strong>Die</strong> Wohnung die Wohnung von Bettys Tante und von Diane sind durch verwinkelte Flure<br />

gekennzeichnet. Dadurch wird eine Orientierung im Raum erschwert. Dem Zuschauer<br />

wird die Raumanordnung letztlich nicht ersichtlich. <strong>Die</strong>s wird unterstützt durch das ge-<br />

dämmte Licht in <strong>bei</strong>den Wohnungen. <strong>Die</strong>sbezüglich ist die Unterscheidung, ob sich ein<br />

Protagonist im Flur <strong>der</strong> einen Wohnung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en aufhält, nicht eindeutig zu tref-<br />

fen. Hinsichtlich <strong>der</strong> Ausstattung sind <strong>bei</strong>de Wohnungen übersichtlich und rustikal ausge-<br />

stattet. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal sind die Wohnzimmer in den Wohnungen.<br />

Während Bettys Tante ein gemütlich und gepflegt ausgestattetes Wohnzimmer hat, ist Di-<br />

anes Wohnzimmer zu Ende des Films kühl, leer und trist. Durch die Rekonstruktion am<br />

Ende des Films wird deutlich, wie sich Diane immer mehr sozial isoliert und analog dazu<br />

sich ihre Wohnung entleert. <strong>Die</strong> Setting zeigen daher die Ambivalenz zwischen erfolgrei-<br />

chen und nicht erfolgreichen Schauspielern.<br />

Adams Haus verfügt im Gegensatz zu Bettys/Dianes Wohnung, über eine mo<strong>der</strong>ne Aus-<br />

stattung. <strong>Die</strong> Räume sind durch viele Glaselemente, die die Räume hell und offen wirken<br />

35


lassen, gekennzeichnet, die die Räume hell und offen machen. Sie zeigen das reiche und<br />

mo<strong>der</strong>ne Los Angeles bzw. Hollywood.<br />

<strong>Die</strong> Studiokulissen stellen die Welt des Films innerhalb des Films und gleichzeitig den Ar-<br />

<strong>bei</strong>tsplatz <strong>der</strong> Protagonisten dar. Hier<strong>bei</strong> sind die Kulissen, die Aufnahmetechnik und die<br />

Menschen, die am Set ar<strong>bei</strong>ten zu sehen. Das Licht ist durch die Geschlossenheit des<br />

Studios künstlich und nur auf die Aufnahmebereiche fokussiert.<br />

Winkies – Der Ort des Übergangs<br />

Ein zentrales Setting im Film ist das Restaurant Winkies. Hier ist zum einen <strong>der</strong> Aus-<br />

gangspunkt für die Erscheinung des Monsters und zum an<strong>der</strong>en auch ein Ort <strong>der</strong> Ent-<br />

scheidungen. Das Setting hat den typischen Look eines amerikanischen Fast-Food-<br />

Restaurants: eine große Fensterfassade, grüne Le<strong>der</strong>sitze, Salz- und Pfefferstreuer und<br />

Bedienungen, die an den Tisch kommen. Den zweiten Teil des Settings bildet <strong>der</strong> Hinter-<br />

hof mit den Mülltonnen. <strong>Die</strong>ser bildet den Übergang in das Surreale im Film, da dort ein<br />

„Monster“ haust. Beide Teile wirken durch das Sonnenlicht hell und natürlich. In so fern<br />

ist das tatsächliche Erscheinen des Monsters überraschend.<br />

Surreale Orte<br />

Zu den surrealen Orten zählen im Film die „Mafiazentrale“, die Ranch des Cowboys und<br />

<strong>der</strong> Klub Silencio. <strong>Die</strong> Mafiazentrale ist ein fensterloser Raum, dessen Wände mit roten<br />

Vorhängen verdeckt sind. <strong>Die</strong> Ausleuchtung des Raums wird über Spotlights realisiert, die<br />

bestimmte Punkte im Raum, wie Mr. Rock, hervorheben. Ein persönlicher Kontakt mit Mr.<br />

Rock ist über eine Glasscheibe mit Gegensprechanlage möglich.<br />

<strong>Die</strong> Ranch des Cowboys ist ein weiteres surreales Setting. Als Adam die Ranch betritt<br />

geht langsam eine Lampe an und erhellt eine Koppel, auf <strong>der</strong> sich die <strong>bei</strong>den Treffen. Das<br />

Setting erinnert durch das Haus und die Pferdekoppel an ein Western-Setting, welches<br />

einen starken Kontrast zum sonst urbanen L.A. darstellt. <strong>Die</strong>ses Setting ist auch für Adam<br />

befremdlich und glaubt anfangs es sei ein Scherz.<br />

Der Klub „Silencio“ stellt ein weiteres markantes surreales Setting dar, dessen blaue Ein-<br />

gangstür sich in einer heruntergekommen Straße in L.A. befindet. Der Aufbau des Set-<br />

tings ähnelt einem Theater. Es gibt Sitzreihen und eine Bühne. <strong>Die</strong> Bestuhlung und die<br />

Vorhänge im Silencio sind in rötlichen Tönen gehalten. <strong>Die</strong> Beleuchtung wird, wie im The-<br />

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ater, über Scheinwerfer realisiert, die auf die Bühne zeigen. Der surreale Charakter des<br />

Settings kommt weniger durch das Setting, als durch das Programm auf <strong>der</strong> Bühne zum<br />

Ausdruck. So vor allem mit dem Ton gespielt und ein Ansager verschwindet spurlos auf<br />

<strong>der</strong> Bühne.<br />

Das Unbestimmte im Bestimmten. Der surreale Ort Klub Silencio im scheinbar bestimmten Los Angeles. Betty<br />

und Rita reagieren gleichermaßen emotional mitgenommen.<br />

<strong>Die</strong> surrealen Orte im Film haben gemeinsam, dass das Setting helle und dunkle Bereiche<br />

aufweisen. Auch die Verortung <strong>der</strong> Orte spielt hier<strong>bei</strong> eine Rolle. So ist <strong>bei</strong>m Klub Silencio<br />

von außen nicht sichtbar, dass es sich um ein Theater handelt und auch die Ranch des<br />

Cowboys am Rand von L.A. ist befremdlich, da sich die helle und laute Stadt scheinbar<br />

gar nicht mehr in unmittelbarer Reichweite befindet; die Koppel ist daher außerhalb <strong>der</strong><br />

Lichtkegel schwarz und nur <strong>der</strong> Wind ist zu hören. Auch die Mafiazentrale folgt dieser Lo-<br />

gik. Jedoch mit dem Unterschied, dass hier<strong>bei</strong> die Verortung völlig ausbleibt. Somit ist<br />

dieses Setting völlig losgelöst von <strong>der</strong> <strong>Die</strong>gese des Films.<br />

4.3.5 Acting und Kostüme<br />

Betty und Rita<br />

Den <strong>bei</strong>den Handlungssträngen folgend, entwickeln sich auch das Acting und die Kostü-<br />

me von Betty/Diane und Rita/Camilla diametral. In <strong>der</strong> Traumwelt ist Rita ein sehr emotio-<br />

37


naler Typ, <strong>der</strong> häufig weint und nicht mehr weiß wer sie ist. Betty ist dagegen immer be-<br />

stimmend und nicht aus <strong>der</strong> Fassung zu bringen. Dem entsprechend sind ihre Gesichts-<br />

ausdrücke freundlich aufheiternd und kontrolliert. Hinsichtlich <strong>der</strong> Kostüme tragen Betty<br />

und Rita immer normale Straßenkleidung. Mit Blick auf Betty fällt auf, dass sie lediglich<br />

emotional wird, als sie <strong>bei</strong>m Vorsprechen scheinbar eins mit ihrer Rolle wird und so emo-<br />

tional mitgenommen wirkt, dass man das Schauspiel nicht mehr von <strong>der</strong> Realität trennen<br />

kann. <strong>Die</strong> Auflösung <strong>der</strong> Situation erfolgt durch Bettys Schauspielpartner, <strong>der</strong> irritiert wirkt<br />

(vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:10:59f).<br />

Nach dem entdecken <strong>der</strong> Leiche findet eine Angleichung <strong>der</strong> emotionalen Ausdrücke<br />

statt. <strong>Die</strong>se Angleichung besteht darin, dass auch Betty zunehmend von den Ereignissen<br />

mitgenommen wird und häufiger weint. <strong>Die</strong> Angleichung setzt sich jedoch auch <strong>bei</strong> den<br />

Kostümen fort. Betty setzt Rita eine blonde Perücke auf. Als <strong>bei</strong>de das Silencio besuchen<br />

sehen <strong>bei</strong>de ähnlich aus und halten sich gegenseitig emotional mitgenommen fest (vgl.<br />

<strong>Lynch</strong> 2001, 01:42:34f).<br />

Nachdem Rita in die blaue Schatulle blickt und sich die Handlung komplett dreht, wirken<br />

die Charaktere wie ausgetauscht. Daher än<strong>der</strong>n sich nicht nur die Namen, son<strong>der</strong>n auch<br />

das Acting und die Kostüme. Betty wird zu Diane und gleichsam wird ihre Kleidung ärmli-<br />

cher und ihr Charakter launisch. Ihr Haar sieht ungepflegt aus und ihre Blicke wirken ver-<br />

bittert und traurig. Im Gegensatz dazu wird Rita zu Camilla. Sie ist eine sich von Diane<br />

immer mehr distanzierende Person, die zum einen elegante Kleidung und Make-Up trägt.<br />

Auch ihre Blicke wirken professionell und distanzierend (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:54:51f).<br />

Links: Betty als freundliche Helferin. Ihre Ausdruck ist lebhaft und gepflegt und ihre Kleidung in warmen Farben<br />

gehalten. Rechts: Diane gibt den Mordauftrag. Ihr Ausdruck ist leblos und die Kleidung trist.<br />

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Acting <strong>der</strong> Umwelt<br />

In <strong>der</strong> Traumwelt sind gute und böse Rollen eindeutig verteilt. <strong>Die</strong>s wird auch durch das<br />

Acting deutlich. So haben die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mafia, die Kriminalbeamten, <strong>der</strong> Cowboy o-<br />

<strong>der</strong> die Wahrsagerin starre, undurchsichtige und befremdliche Gesichtsausdrücke. Dage-<br />

gen haben Personen, die Betty wohlgesonnen sind immer freundliche Gesichtsausdrücke<br />

und meinen es auch gut mit ihr. Nachdem die Handlung umschlägt wirken Bettys ehema-<br />

lige Freunde befremdlich. <strong>Die</strong> Gesichtsausdrücke sind, wie <strong>der</strong> von Camilla, professionell<br />

distanziert. Es lässt sich nicht mehr eindeutig ausmachen, wie die Leute um Diane ihre<br />

Aussagen meinen.<br />

4.3.6 Kinematographie<br />

Der gefangene Blick<br />

Mit Hinblick auf die Kinematographie, sind Nah- und Großaufnahmen für den Film ein<br />

zentrales Element. <strong>Die</strong> erste Funktion besteht im Einfangen <strong>der</strong> Blicke und Emotionen <strong>der</strong><br />

Protagonisten. Als <strong>bei</strong>spielsweise Betty zum ersten mal auf Adam trifft, treffen sich ihre<br />

Blicke unmittelbar nach ihrer Ankunft im Studio und versetzen die Protagonisten in eine<br />

Art Starre. <strong>Die</strong> Kameraeinstellung, die zunächst in einer amerikanischen Einstellung ver-<br />

harrt, wechselt durch eine Kamerafahrt in eine Nahe Einstellung, die die sich treffenden<br />

Blicke und die Spannung zwischen den Protagonisten in diesem Moment einfängt (<strong>Lynch</strong><br />

2001, 01:19:53-01:20:30). Schließlich wenden sich <strong>bei</strong>de Protagonisten voneinan<strong>der</strong> ab;<br />

Betty unterhält sich mit ihren Begleitern und Adam führt weiter das Casting durch. Nach-<br />

dem das zweite Casting beendet ist, treffen sich die Blicke nochmals. Wie<strong>der</strong> wird Betty<br />

in einer amerikanischen Einstellung gezeigt und ein Zoom leitet wie<strong>der</strong> in eine nahe Ein-<br />

stellung ihres Gesichts über. Darauf dreht sich Adam in einer nahen Einstellung um und<br />

blickt Betty an. <strong>Die</strong> Kamera geht anschließend in eine Detailaufnahme, die die Augen fo-<br />

kussiert und somit ein Moment maximaler Spannung erzeugt. <strong>Die</strong>se Spannung wird auf-<br />

gelöst, als Betty ihren Blick abwendet und das Studio verlässt (<strong>Lynch</strong> 2001,<br />

01:23:20-01:23:50).<br />

Analog zu den zuneigenden positiven Emotionsäußerungen über den Blick, werden auch<br />

die befremdlichen bzw. negativen Blicke in nahen Einstellungen inszeniert. Beispielsweise<br />

ist am Ende des Films zu sehen, wie Dianes eifersüchtige Blicke auf dem Liebespaar Ca-<br />

milla und Adam verharren, ohne dass Diane sich dagegen erwehren kann. Allen Blicken in<br />

39


nahen Einstellungen ist daher gemein, dass sie Momente <strong>der</strong> Befangenheit inszenieren<br />

bzw. hervorheben. Hier<strong>bei</strong> sind die Protagonisten scheinbar nicht in <strong>der</strong> Lage, ihren Blick<br />

von ihrem Gegenüber zu lösen.<br />

Der gefangene Blick. <strong>Die</strong> Kamera geht von einer nahen in eine Detailaufnahme von Bettys Augen, die Adam an-<br />

blicken, um die Befangenheit in diesem Moment hervorzuheben.<br />

Ebenfalls in nahen- und Detailaufnahmen werden Cues im Film gezeigt. Als sich Betty<br />

und Rita im Winkies darüber nachdenken, was zu tun ist, sieht Rita das Namensschild ei-<br />

ner Kellnerin namens Diane und ihr fällt ein Name ein (<strong>Lynch</strong> 2001, 00:51:56-00:52:43).<br />

Als am Ende des Films Diane im Restaurant mit dem Killer sitzt, fällt ihr Blick wie<strong>der</strong>um<br />

auf das Namensschild, welches in einer Detailaufnahme diesmal Betty zeigt. Der Einsatz<br />

von Detailaufnahmen einzelner Objekte dient letztlich im Film dazu, um Verweisungsstruk-<br />

turen im Film zu realisieren.<br />

Der blaue Schlüssel als Verweisungsstruktur. Zuerst ein unbestimmtes Objekt und schließlich das Symbol für<br />

den Auftragsmord an Camilla.<br />

<strong>Die</strong>ser Logik folgend wird auch <strong>der</strong> blaue Schlüssel, den Betty und Rita in ihrer Handta-<br />

sche finden, in einer Detailaufnahme gezeigt (<strong>Lynch</strong> 2001, 00:42:30f). Nachdem die blaue<br />

Box schließlich geöffnet ist, sieht man am Ende des Films, wie Diane auf den Tisch blickt<br />

40


und man in einer Detaileinstellung einen blauen Schlüssel sieht. <strong>Die</strong>ser hat jedoch nicht<br />

die Funktion etwas zu öffnen, son<strong>der</strong>n ist vielmehr Symbol für den gelungenen Auftrags-<br />

mord an Camilla (<strong>Lynch</strong> 2001, 02:13:18-02:14:00). Ähnlich wie <strong>bei</strong>m Blick auf an<strong>der</strong>e Pro-<br />

tagonisten bleibt auch <strong>der</strong> Blick auf Objekte in naher Einstellung für einige Sekunden haf-<br />

ten. Er hebt somit die Bedeutung dieser Gegenstände als Verweisstruktur im Film hervor<br />

und macht die mitunter hermetischen Handlungsabläufe erst rekonstruierbar.<br />

<strong>Die</strong> Bewegung durch den Raum<br />

Im Film werden neben statischen Kameraeinstellungen auch Kamerafahrten und Zooms<br />

eingesetzt, um nahe Einstellungen <strong>der</strong> Gesichter zu realisieren. Damit wird vor allem die<br />

plötzliche Befangenheit <strong>der</strong> Protagonisten zum Ausdruck gebracht, wie sie <strong>bei</strong>spielsweise<br />

in <strong>der</strong> oben bereits erwähnten Szene, in <strong>der</strong> Betty und Adam sich zum ersten Mal sehen,<br />

vorkommt. <strong>Die</strong> Kamerafahrten fungieren daher als bewegte Übergänge zwischen Einstel-<br />

lungen, die wie<strong>der</strong>um emotionale Bewegungen sichtbar machen.<br />

Zudem werden Kamerafahrten auch eingesetzt, um Establishing Shots zu realisieren. Als<br />

markantestes Beispiel im Film ist hier<strong>bei</strong> die Einleitung <strong>der</strong> Szene zwischen Betty und A-<br />

dam zu nennen. Zunächst zeigt die Kamera eine Sängerin und ihre Background-Singer im<br />

Stil <strong>der</strong> 60er Jahre, die ein romantisches Lied singen. Dadurch wird mit Blick auf die vo-<br />

rangegangene Szene und die zeitliche Differenz Irritation erzeugt. Anschließend bewegt<br />

sich die Kamera zum Zuschauer hin und zeigt, dass sich die Szene in einem Aufnahme-<br />

studio abspielt. Schließlich fährt die Kamera nochmals weiter und zeigt ein Filmstudio, in<br />

dem ein Casting für eine Filmrolle stattfindet (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:18:54f). Durch die Ka-<br />

merafahrt werden daher die Rahmungen 2 verän<strong>der</strong>t, so dass aus einer anfänglichen Irrita-<br />

tion ein logischer Anschluss an das Filmgeschehen stattfindet und zugleich ein Überblick<br />

über die räumliche Beschaffenheit des Settings gegeben wird.<br />

Außer den Kamerafahrten werden POV-Shots im Film eingesetzt, um Bewegungen durch<br />

den Raum zu inszenieren. <strong>Die</strong>s dient vor allem <strong>der</strong> Immersionsteigerung, da man nie weiß,<br />

2 Mit Hinblick auf Erving Goffmans Rahmenanalyse, gelingt die Sinngebung und –übereinstimmung durch sogenannte<br />

Rahmen. <strong>Die</strong>se beschreiben „Organisationsprinzipien für Ereignisse - zumindest für soziale – und für unsere persönliche<br />

Anteilnahme an ihnen“ (Goffman 1977, 19). Ein Rahmen kann also als die Definition einer Situation gesehen werden.<br />

<strong>Die</strong>se Konzept erklärt auch, wie durch Rahmungen Irritationen entstehen können. Eine ausführlichere Auseinan<strong>der</strong>set-<br />

zung mit Goffmans Rahmenanalyse die von Wolfgang Ruge und mir im Rahmen eines Seminars durchgeführt wurde<br />

finden Sie unter:<br />

http://wolfgang-ruge.name/wp-content/uploads/2010/07/rahmenanalyse-als-zugang-zur-mediensozialisation.pdf<br />

41


was sich hinter <strong>der</strong> nächsten Ecke befindet. So wird <strong>bei</strong>spielsweise in <strong>der</strong> Szene, in <strong>der</strong><br />

die <strong>bei</strong>den Männer hinter des Restaurant gehen um nachzusehen, ob wirklich eine<br />

schreckliche Person hinter den Müllcontainern sei, ein POV eingesetzt, <strong>der</strong> den Zuschau-<br />

er in die Perspektive des verängstigten Mannes versetzt und offen lässt was hinter <strong>der</strong><br />

Ecke kommen wird (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 00:14:43-00:15:42). Daher haben die POVs neben<br />

<strong>der</strong> Visualisierung von innersubjektiven Blicken <strong>der</strong> Protagonisten auch die Funktion,<br />

räumliche Strukturen undurchsichtig und unbestimmt zu machen. <strong>Die</strong>se Unbestimmtheit<br />

wird im Film erhöht, indem in einigen POV-Shot-Sequenzen scheinbar dritte Personen<br />

durch den Raum schreiten und die Protagonisten verfolgen. Beispielhaft hierfür ist jene<br />

Szene in <strong>der</strong> Betty und Rita vor dem Klub Silencio ankommen. Hier<strong>bei</strong> zeigt die Kamera<br />

<strong>bei</strong>de in einer totalen Einstellung. Es entsteht <strong>der</strong> Eindruck, dass eine fremde <strong>Macht</strong> Betty<br />

und Rita beobachtet. <strong>Die</strong>se Lebendigkeit bzw. diese dritte Person wird vor allem durch<br />

ein leichtes bewegen bzw. wackeln <strong>der</strong> Kamera erzeugt. Als Betty und Rita schließlich<br />

den Klub betreten wollen, bewegt sich die Kamera mit schnellem Tempo auf die <strong>bei</strong>den<br />

zu. Es entsteht <strong>der</strong> Eindruck, als würde die fremde <strong>Macht</strong> <strong>bei</strong>de angreifen wolle. Jedoch<br />

kommt sie vor <strong>der</strong> verschlossenen blauen Tür zum stehen und verfolgt die <strong>bei</strong>den nicht<br />

weiter (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:40:23f). Durch das ausbleiben <strong>der</strong> Klärung, was sich nun ge-<br />

nau auf die <strong>bei</strong>den Protagonistinnen zubewegte, erhält diese Szene einen transzendenten<br />

Charakter, <strong>der</strong> sich bis zur Öffnung <strong>der</strong> blauen Box fortsetzt und somit Leerstellen er-<br />

zeugt.<br />

Vom irritierenden 50er Jahre Konzert zur Studioaufnahme. <strong>Die</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Rahmung durch eine Kamerafahrt.<br />

4.3.7 Editing<br />

Für Szenenübergänge im Film werden durch verschiedene Montageformen realisiert. Zum<br />

einen gibt es fließende Übergänge des Bildes in Form von weiche Blenden. Dadurch wer-<br />

den direkte Fortsetzungen von Handlungen ermöglicht. So steigt Betty <strong>bei</strong>spielsweise<br />

42


nach dem Besuch des Sets in das Taxi zu Rita. Hier<strong>bei</strong> wird anschließend in ein an<strong>der</strong>es<br />

Bild überblendet, in dem das Taxi bereits kurz vor dem Ziel ist (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001,<br />

01:23:53f). Weichen Blenden sind im Film nicht nur auf das Bild beschränkt, son<strong>der</strong>n er-<br />

strecken sich auch auf den Ton. So setzt bereits die Musik vom Filmset ein, als Betty in<br />

einen Fahrstuhl steigt. Anschließend setzt die oben erwähnte Rahmungsszene mit <strong>der</strong><br />

Sängerin ein (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:18:32f). <strong>Die</strong> weichen Überblendungen auf <strong>der</strong> bildlichen<br />

und auditiven Ebene des Films ermöglichen es daher, logische Übergänge zwischen<br />

chronologisch ablaufenden Handlungen herzustellen. Das Ende eines solchen chronolo-<br />

gischen Handlungsabschnitts markieren Schwarzblenden. Nachdem Adams Film nach<br />

einem Gespräch mit dem Studioboss und Mr. Rock scheinbar nicht umgesetzt wird, wird<br />

die Szene schwarz ausgeblendet. Schließlich sieht man eine Bürogebäude in <strong>der</strong> In-<br />

nenstadt, in <strong>der</strong> ein Killer <strong>bei</strong> einem Agenten ist (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 00:34:39f). Schwarz-<br />

blenden bereiten den Zuschauer folglich auf neue Szenen vor.<br />

Im scharfen Gegensatz dazu setzt <strong>Lynch</strong> harte Schnitte für den Übergang zwischen Sze-<br />

nen ein, die scheinbar außerhalb <strong>der</strong> Welt des Films bzw. <strong>der</strong>en Logik liegen. Durch sol-<br />

che harten Szenensprünge im Film, wirkt <strong>der</strong> Konnex zwischen <strong>der</strong> vorherigen und <strong>der</strong><br />

aktuellen Szene für den Zuschauer irritierend und bleibt in Teilen unerklärlich. Beispiels-<br />

weise legt sich am Anfang des Films die erschöpfte Rita in <strong>der</strong> Wohnung von Bettys Tante<br />

schlafen. Nach einem harten Schnitt wird zum Restaurant "Winkies" übergeleitet zu einer<br />

Szene mit zwei Männern, <strong>der</strong>en Funktion im Film im Film unbestimmt bleibt (vgl. <strong>Lynch</strong><br />

2001, 01:11:20f). Nachdem einer <strong>der</strong> Männer ein Monster sieht und geschockt zu Boden<br />

fällt, sieht man nach einem harten Schnitt wie<strong>der</strong> die schlafende Rita. Für den Zuschauer<br />

bliebt ungeklärt, ob das Gesehene ein Traum Ritas o<strong>der</strong> eine mögliche Wirklichkeit im<br />

Film war. Durch diese Montageform werden Unbestimmtheitsräume hinsichtlich <strong>der</strong> Onto-<br />

logie des Films und letztlich auch in <strong>der</strong> Narration eröffnet.<br />

4.3.8 Sound<br />

<strong>Die</strong> Soundkulisse im Film ist vor allem auf Geräusche und Gesprochenes aus <strong>der</strong> Filmwelt<br />

konzentriert. Lediglich unheimliche tiefe Töne bilden ein stetiges nondiegetisches Muster<br />

im Film, was vor allem dann hervortritt, wenn Unbestimmbares o<strong>der</strong> düstere Vorahnungen<br />

im Film unterstrichen werden sollen.<br />

Ein weiteres auditives Muster im Film sind die gesungenen Lie<strong>der</strong>. <strong>Die</strong>se werden aus-<br />

schließlich in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>gese des Films durch verschiedene Sängerinnen gesungen. Mit Hin-<br />

43


lick auf den Inhalt und die Form <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>, lässt sich feststellen, dass es immer Verbin-<br />

dungen zur Handlung gibt. So wird <strong>bei</strong>m oben bereits erwähnten ersten Treffen zwischen<br />

Betty und Adam unter an<strong>der</strong>en das Lied "sixteen reasons (why i love you)" gesungen,<br />

dass in seiner Form ein "Oldie" aus den 60ern ist und eine inhaltliche Tendenz zum Ro-<br />

mantisch-kitschigen hat und in <strong>der</strong> Szene eben diesen Charakter unterstreicht (vgl. <strong>Lynch</strong><br />

2001, 01:18:32f). Analog zur Entwicklung des Films hin zu einer tragischen Liebesge-<br />

schichte, hört man kurz vor dem Öffnen <strong>der</strong> blauen Box im Klub Silencio ein spanisches<br />

Lied von Rebekha del Rio (einer "echten" Künstlerin), die den Titel "Llorando" (zu<br />

deutsch: weinen) a capella singt (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:43:56f). Hier<strong>bei</strong> ist bemerkenswert,<br />

dass <strong>der</strong> Klub von einem Mann eingeführt wird, <strong>der</strong> sagt, dass alles Gehörte an diesem<br />

Ort reine Illusion sei. Als das Lied mit dieser Ankündigung erklingt, beginnen Rita und<br />

Betty zu weinen. <strong>Die</strong> Illusion wird als solche sichtbar, als die Sängerin auf <strong>der</strong> Bühne zu-<br />

sammenbricht, die Musik jedoch weiterläuft und Rita und Betty weiter weinen. <strong>Die</strong>se Sze-<br />

ne verdeutlicht, wie sehr im Film Schauspiel und Wirklichkeit verzahnt sind und geben ei-<br />

nen Hinweis darauf, dass nichts so ist, wie es scheint. Durch das Spiel mit <strong>der</strong> Musik be-<br />

reitet diese Szene daher den Zuschauer darauf vor, selbst "desillusioniert" zu werden.<br />

4.3.9 Gefühl und Realität als audiovisuelles Muster<br />

Ein durchgängiges Muster im Film sind die Farben rot und blau, die dem Film als perma-<br />

nente Attribute von Personen und Objekten dienen. <strong>Die</strong> Farbe rot ist vor allem immer<br />

dann zu sehen, wenn Emotionen, wie <strong>bei</strong>spielsweise Liebe, vor<strong>der</strong>gründig sind. So ist <strong>der</strong><br />

Klub Silencio mit roten Vorhängen ausgestattet und die Protagonisten entsprechend mit-<br />

genommen, als die in rot eingekleidete und in warmen Farben geschminkte Rebekha del<br />

Rio ihr Lied singt. In dieser Szene wird auch <strong>der</strong> Bezug zur Farbe Blau deutlich. <strong>Die</strong>se hat<br />

die Funktion auf die Wirklichkeit zu verweisen. Hier<strong>bei</strong> ist <strong>der</strong> blaue Schlüssel das zentrale<br />

Verweisungsmoment auf den Mord an Camilla. <strong>Die</strong>ser Zusammenhang wird im Film eben-<br />

falls im Klub Silencio hervorgehoben. Als <strong>der</strong> Ansager, <strong>der</strong> den Zuschauern erklärt, es sei<br />

alles eine Illusion, wird <strong>der</strong> Klub mit blauem Licht und Blitzen eingefärbt, worauf Betty<br />

sich scheinbar erschüttert und krampfend an ihren Stuhl klammert. Als die Box geöffnet<br />

ist, und das wahre Leben von Diane zum Vorschein kommt, wirkt auch das Bild kühl. <strong>Die</strong>s<br />

wird durch hellblaue Kostüme <strong>der</strong> Protagonisten, helles Licht und hellblaue Tapeten in<br />

<strong>der</strong> Wohnung unterstrichen (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:53:06). Der Charakter <strong>der</strong> Farbe Rot<br />

wandelt sich in ein obsessives Begehren, dass sich <strong>bei</strong> Diane in Eifersucht und schließlich<br />

in Hass wandelt. So zieht Diane ein rotes Kleid an und trägt einen auffallend roten Lip-<br />

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penstift, als sie das letzte Mal Camilla auf einer Party besucht (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001,<br />

02:04:11f). Mit <strong>der</strong> Entwicklung des Hasses weicht auch die rote Farbe in den Szenen.<br />

Letztlich zerbricht Diane an ihrem Hass und nimmt sich in einer von gleißend blauen Blit-<br />

zen begleiteten Szene das Leben.<br />

4.4 <strong>Macht</strong>strukturen in Mulholland Drive<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>strukturen des Films Mulholland Drive möchte ich im folgenden<br />

Abschnitt zunächst die Disziplinierung von Adam durch das <strong>Macht</strong>system Hollywood re-<br />

konstruieren. Anschließend werde die Entwicklung von Betty bzw. Diane im Film unter ei-<br />

ner machttheoretischen Perspektive rekonstruieren.<br />

4.4.1 Das System „Hollywood“ o<strong>der</strong>: <strong>Die</strong> Disziplinierung von Adam<br />

Im Verlauf des Films wird Adam zunächst in einem Gespräch mit den Produzenten und<br />

den Vertretern von Mr. Rock überredet, eine bestimmte Frau in die Hauptrolle zu bringen.<br />

Hier<strong>bei</strong> bliebt er jedoch stur und lässt sich in sein Filmschaffen nicht hineinreden. Darauf<br />

veranlasst Mr. Rock, dass <strong>der</strong> Film nicht mehr gedreht wird. <strong>Die</strong>s wird Adam von seiner<br />

Assistentin mitgeteilt. Darauf gibt ihm <strong>der</strong> Cowboy eine zweite Chance unter <strong>der</strong> Voraus-<br />

setzung, dass Adam die Hauptrolle mit eine bestimmten Frau besetzt. Das Gespräch wird<br />

mit einer Schuss-Gegenschuss-Montage in einer amerikanischen Einstellung realisiert.<br />

Als <strong>der</strong> Cowboy nach einigen Fragen resümiert, dass Adam nichts an einem schönen Le-<br />

ben liege, wechselt die Kamera in eine nahe Einstellung. Adam soll über das Gesagte<br />

nachdenken. Der Cowboy durchschaut Adams Gedanken und zwingt ihn ehrlich zu sein<br />

und nachzudenken. Hier<strong>bei</strong> zeigt er auch, dass er Wissen über Adams Produktion hat.<br />

Letztlich wird Adam vor die Wahl gestellt, die richtige o<strong>der</strong> die falsche Entscheidung zu<br />

treffen (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:03:02-01:06:26). Letztlich entscheidet sich Adam für die „rich-<br />

tige“ Wahl und unterwirft sich damit <strong>der</strong> Bitte des Cowboys. Er erkennt, dass er als Re-<br />

gisseur keinesfalls so viel <strong>Macht</strong> hat wie er glaubt.<br />

Der Film Mulholland Drive reflektiert Hollywood als System <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>, welches in ver-<br />

schiedenen Facetten im Film gezeigt wird. Mr. Rock und <strong>der</strong> Cowboy werden da<strong>bei</strong> als<br />

undurchschaubare Geldgeber und Drahtzieher inszeniert, die Adam verunsichern. Beide<br />

haben eine scheinbar unermessliche <strong>Macht</strong>fülle, da sie Adam überall finden können. In so<br />

fern agieren <strong>bei</strong>de als Disziplinarmacht mit einem panoptischen Charakter. Adam wird<br />

sich dieser <strong>Macht</strong> erst bewusst, als ihm vor Augen geführt wird, dass er beobachtet wird.<br />

45


Mit Blick auf Foucault lässt sich also sagen, dass Adam die Strafe des Delinquenten auf-<br />

erlegt wird:<br />

„Der Delinquent unterscheidet sich vom Rechtsbrecher dadurch, daß weniger seine Tat<br />

als vielmehr sein Leben für seine Charakterisierung entscheidend ist. <strong>Die</strong> Besserungsstra-<br />

fe muß, wenn sie eine wahrhafte Umerziehung sein will, die Existenz des Delinquenten<br />

totalisieren, sie muß aus dem Gefängnis ein künstliches und zwingendes Theater machen,<br />

in dem die Existenz von Grund auf neu inszeniert werden muss“ (Foucault 2008, 958).<br />

<strong>Die</strong>ses künstliche und gezwungene Theater zeigt sich schließlich in <strong>der</strong> Casting-Szene, in<br />

<strong>der</strong> Adam mit Wi<strong>der</strong>willen und einem sichtlich erbosten Blick die gefor<strong>der</strong>te Schauspiele-<br />

rin als die richtige für die Rolle befindet. <strong>Die</strong> Produzenten haben ebenfalls einen kühlen<br />

Blick und beglückwünschen Adam zu seiner Wahl (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 01:22:32f). Das Dis-<br />

ziplinarsystem Hollywood ist daher erfolgreich.<br />

„Eine ausgezeichnete Wahl Adam.“ Der Blick als Ausdruck <strong>der</strong> erfolgreichen Disziplinierung.<br />

4.4.2 Betty und Diane – <strong>Macht</strong> und Ohnmacht<br />

Im Gegensatz zu Adam, findet <strong>bei</strong> Betty keine offensichtliche Disziplinierung statt. Viel-<br />

mehr ist <strong>bei</strong> Betty eine innersubjektive Entwicklung vor<strong>der</strong>gründig, die sich im Film in drei<br />

aufeinan<strong>der</strong> folgende Phasen unterscheiden lässt:<br />

1. Das kontrollierte Schauspiel<br />

2. Synchrones Auftreten von Rita und Betty<br />

3. Kontrollverlust<br />

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Das kontrollierte Schauspiel<br />

Das „kontrollierte“ Schauspiel Bettys zeigt sich vor allem in <strong>der</strong> Übungsszene mit Rita<br />

und <strong>bei</strong>m Vorstellungsgespräch für eine Rolle. In <strong>bei</strong>den Szenen beherrscht Betty das<br />

Schauspiel so perfekt, dass ihre Gegenüber darüber verunsichert sind, ob sie spielt o<strong>der</strong><br />

dies ernst meint. Daher kontrolliert Betty die situativen Rahmungen so gut, dass sie ande-<br />

re damit irritieren kann. Betty hat in dieser Phase des Films scheinbar die Kontrolle über<br />

sämtliche Situationen. So ist sie neben einer begabten Schauspielerin auch eine erfolgrei-<br />

che Privatdetektivin. Hier<strong>bei</strong> agiert sie immer aktiv aus sich heraus und hat damit auch<br />

Erfolg. So ruft sie <strong>bei</strong>spielsweise die Polizei von einem öffentlichen Telefonapparat an, um<br />

herauszufinden, ob es einen Unfall auf dem Mulholland Drive gab. Während des Ge-<br />

sprächs signalisiert sie gegenüber Rita Selbstsicherheit, indem sie ihr in einer nahen Ein-<br />

stellung zuzwinkert (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 00:50:51f). Sie setzt somit ihr Wissen über die Poli-<br />

zei als Institution ein und gelangt anonym zu einer neuen Information. Mit Foucault ge-<br />

sprochen nutzt sie das Wissen um die Strukturen, um für sich <strong>Macht</strong> zu entfalten (vgl.<br />

Foucault 2008, 729). Gleichsam bestätigt sich in dieser Szene auch Foucaults Annahme,<br />

dass <strong>Macht</strong> nicht nur Wissen ausnutze, son<strong>der</strong>n das sie auch das Wissen hervorbringe<br />

(vgl. Foucault 2008, 730). Mit Blick auf die erste Phase von Bettys Entwicklung lässt sich<br />

zusammenfassend feststellen, dass sie durch ihr Wissen, dass sie zur Entfaltung von<br />

<strong>Macht</strong> und zur Generierung neuen Wissens einsetzt in jedem Moment dieser Phase für<br />

sich Bestimmtheit erzeugt.<br />

Synchrones Auftreten von Rita und Betty<br />

Nach dem Entdecken <strong>der</strong> Leiche wandelt sich Bettys Wesen. Sie ist wie Rita mitgenom-<br />

men von den Ereignissen. <strong>Die</strong>s liegt daran, dass sie mit einer für ihre Verhältnisse großen<br />

Kontingenz konfrontiert wird. <strong>Die</strong> scheinbar perfekte Welt in <strong>der</strong> alles gelingt weicht einer<br />

Welt die zunehmend unbestimmter wird. Der Höhepunkt dieser steigenden Unbestimmt-<br />

heit ist <strong>der</strong> bereits erwähnte Besuch im Klub Silencio.<br />

Neben dieser Steigerung <strong>der</strong> Unbestimmtheit gleicht sich Rita scheinbar an Betty an, in-<br />

dem sie zunächst eine blonde Perücke trägt. Auch innerlich scheint es eine Angleichung<br />

zu geben. <strong>Die</strong>se emotionale Ähnlichkeit sieht man als die <strong>bei</strong>den Sex haben und <strong>bei</strong>m<br />

Gesang von Rebekah del Rio, zu welchem die <strong>bei</strong>den weinen. <strong>Die</strong>se Ähnlichkeit zwischen<br />

47


Betty und Rita schafft vor allem für Betty Bestimmtheit, die sich mit den Doppelspiralen<br />

von <strong>Macht</strong> und Lust erklären lassen:<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Macht</strong>, die sich auf diese Weise <strong>der</strong> Sexualität annimmt, macht sich anheischig,<br />

die Körper zu streicheln; sie liebkost sie mit den Augen; sie intensiviert ihre Zonen; sie<br />

elektrisiert ihre Oberflächen; sie dramatisiert die Augenblicke ihrer Verwirrung. <strong>Die</strong><br />

<strong>Macht</strong> ergreift und umschlingt den sexuellen Körper. Das steigert gewiß die Wirksam-<br />

keiten und die Ausdehnung des kontrollierten Gebietes. Zugleich führt es aber zu einer<br />

Versinnlichung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> und zu einem Gewinn an Lust“ (Foucault 2008a, 1062).<br />

Nach Foucault ist daher die Versinnlichung und Vertiefung <strong>der</strong> Beziehung <strong>der</strong> <strong>bei</strong>den Pro-<br />

tagonisten eine Form <strong>der</strong> gegenseitigen <strong>Macht</strong>ausübung, die letztlich gegenseitiges Ver-<br />

trauen und Stabilität angesichts <strong>der</strong> zunehmenden äußeren Kontingenzen erzeugt.<br />

Kontrollverlust<br />

Nach dem Öffnen <strong>der</strong> blauen Box wird das eigentliche Leben von Betty bzw. Diane sicht-<br />

bar. <strong>Die</strong>ses ist entgegengesetzt zu dem, was bis dahin gezeigt wurde; Diane ist kein Star<br />

und bekommt nur Nebenrollen. Neben finanziellen Problemen, gibt es auch Beziehungs-<br />

probleme mit ihrer Geliebten Camilla, die selbst ein Star ist. Somit wird Diane vor allem<br />

mit einem Verlust ihrer Kontrolle konfrontiert, <strong>der</strong> am Ende des Films in vielfacher Weise<br />

inszeniert. <strong>Die</strong> markanteste Szene bildet hier<strong>bei</strong> eine Szene, in <strong>der</strong> Diane zunächst allein<br />

einen Kaffee kocht. Als sie zur Couch geht, liegt die nackte Camilla darauf. Als Diane über<br />

die Lehne steigt, hat sich ihr Kaffee in ein Glas Whiskey gewandelt. Anschließend küssen<br />

sich <strong>bei</strong>de und Camilla gesteht Diane, dass sie sie „wahnsinnig“ mache. Schließlich wan-<br />

delt sich die Situation unvermittelt. Camilla beendet die Beziehung, worauf Diane wütend<br />

reagiert und Camilla mit Gewalt zum Sex zwingen will (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001,<br />

01:56:14-01:58:00). <strong>Die</strong>se Szene zeigt wie<strong>der</strong>um den Doppelimpulsmechanismus von<br />

Lust und <strong>Macht</strong>:<br />

„Lust eine <strong>Macht</strong> auszuüben, die ausfragt, überwacht, belauert, erspäht, durchwühlt,<br />

betastet, an den Tag bringt; und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite eine Lust, die sich daran ent-<br />

zündet, dieser <strong>Macht</strong> entrinnen zu müssen, sie zu fliehen, zu täuschen o<strong>der</strong> lächerlich<br />

zu machen“ (Foucault 2008a, 1063).<br />

<strong>Die</strong> Folgen des gegenseitigen Aufrufs von Lust und <strong>Macht</strong>, seien somit laut Foucault un-<br />

aufhörliche Spiralen. Mit Blick auf Diane führen diese Spiralen jedoch in eine tödliche Ob-<br />

48


session. Nicht nur in ihrem immer aggressiver werdenden Handeln äußert sich Dianes zu-<br />

nehmende Entfremdung. <strong>Die</strong> vorher freundlich inszenierten Charaktere, wie <strong>bei</strong>spielswei-<br />

se Coco, wirken nun distanziert und fremd. Diane wird daher nicht mehr die Anerkennung<br />

zu Teil, die sie am Anfang des Films bekommen hatte. Daher werden für Diane die vorher<br />

bestimmten Beziehungen unbestimmbar. In diesem Sinne werden auch die <strong>Macht</strong>struktu-<br />

ren für sie immer undurchdringlicher. Der Komplex aus <strong>Macht</strong> und Wissen, den Betty am<br />

Anfang des Films für sich optimal nutzen konnte, wird am Ende des Films zu etwas, dem<br />

sie immer feindseliger gegenübersteht. So sieht sie in Camillas Handeln eine bewusste<br />

kränkende Absicht, die ihre Eifersucht in Hass umschlagen lässt.<br />

Der Kontrollverlust Dianes. Links: <strong>Macht</strong> und Lust gehen ineinan<strong>der</strong> über. Rechts: Der Versuch <strong>der</strong> Durchset-<br />

zung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> durch Erhebung über Camilla und Blick nach unten.<br />

Mit Blick auf die Entwicklung von Adam und Betty bzw. Diane, wird deutlich, dass <strong>bei</strong>de<br />

Charaktere in <strong>Macht</strong>strukturen eingebettet sind. Während Adam dies erkennt und sich<br />

diesen Strukturen unterwirft, werden für Diane diese immer undurchsichtiger und treiben<br />

sie in den Wahnsinn.<br />

49


4.5 Vergleich <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>strukturen<br />

Im Anschluss an die vorangegangenen Filmanalysen, möchte ich abschließend <strong>bei</strong>de Fil-<br />

me hinsichtlich ihrer <strong>Macht</strong>strukturen vergleichen.<br />

4.5.1 Der Wandel <strong>der</strong> Disziplinarmacht<br />

In <strong>bei</strong>den Filmen wirken Disziplinarmächte auf die Protagonisten ein. Jedoch ist die Form<br />

bzw. <strong>der</strong>en Qualität unterschiedlich. In "Der Elefantenmensch" sind vor allem die Polizei<br />

und die Institution des Krankenhauses die zentralen Disziplinarmächte. Hier<strong>bei</strong> ist <strong>bei</strong>den<br />

gemein, dass sie präsent sind. Das heißt konkret, dass die Polizei <strong>bei</strong>spielsweise in das<br />

Alltagsgeschehen eingreift und die Zuschauer des Jahrmarktes diszipliniert. Im Kranken-<br />

haus sind es vor allem die räumlichen Strukturen und personalen Hierarchien, die durch<br />

die Bildkadrierungen und Kamerawinkel zum tragen kommen und eine Disziplinarmacht<br />

mit panoptischen Charakter inszenieren. Entsprechend <strong>der</strong> zeitlichen Situierung des Films<br />

im viktorianischen England, lässt sich sagen, dass durch den Einsatz von damals neuen<br />

Technologien <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>, diese sich entfaltet. Anhand <strong>der</strong> Blicke im Film ist zu jedem<br />

Zeitpunkt deutlich, dass Treves dem Direktor untersteht, und dass dieser wie<strong>der</strong>um dem<br />

Königshaus untersteht. <strong>Die</strong> <strong>Macht</strong>strukturen sind im Film daher nachvollziehbar und klar<br />

hierarchisch geglie<strong>der</strong>t.<br />

Der Film zeigt jedoch auch, dass die Disziplinarmacht noch nicht allgemein inkorporiert<br />

ist. <strong>Die</strong>s zeigt sich vor allem in <strong>der</strong> Nacht, in <strong>der</strong> das Krankenhaus zu einem scheinbar ge-<br />

setzlosen Ort wird. Hier<strong>bei</strong> liegt <strong>der</strong> Hauptgrund darin, dass die Technologie des Individu-<br />

ums, in Form <strong>der</strong> Mitar<strong>bei</strong>ter <strong>der</strong> Institution, abwesend ist. Mit diesem Wissen über diese<br />

Abwesenheit, kann <strong>der</strong> Wächter die Institution für seine Führungen nutzen und daher die<br />

<strong>Macht</strong>strukturen unterlaufen.<br />

Mit Blick auf "Mulholland Drive" zeigt sich ein an<strong>der</strong>es Bild <strong>der</strong> Disziplinarmacht. <strong>Die</strong>se<br />

habe ich unter dem Begriff "Hollywood" zusammengefasst. <strong>Die</strong>ser <strong>Macht</strong>komplex ar<strong>bei</strong>tet<br />

mit an<strong>der</strong>en, subtileren Strategien als das Hospital in "Der Elefantenmensch", um Adam<br />

zu disziplinieren. Zum einen erlangt Adam nie das Wissen über das gesamte <strong>Macht</strong>sys-<br />

tem. So bleibt <strong>bei</strong>spielsweise Mr. Rock für ihn unsichtbar. Auch für den Zuschauer erge-<br />

ben sich Leerstellen bezüglich des <strong>Macht</strong>systems. So wird im Film <strong>bei</strong>spielsweise nicht<br />

geklärt, in welcher Verbindung Mr. Rock mit dem Cowboy steht. Neben diesen undurch-<br />

schaubaren <strong>Macht</strong>strukturen des Systems Hollywood, zeigt das System in Form des<br />

Cowboys, dass es ein absolutes Wissen über Adam hat. Das geht so weit, dass <strong>der</strong><br />

50


Cowboy scheinbar Adams Gedanken lesen kann. Von daher wird Adam klar, dass er kei-<br />

ne <strong>Macht</strong> gegenüber dem System Hollywood hat, son<strong>der</strong>n, dass er sich dieser <strong>Macht</strong>,<br />

wenn er weiter erfolgreich ar<strong>bei</strong>ten möchte, unterwerfen muss.<br />

<strong>Die</strong> Disziplinarmacht in "Der Elefantenmensch" ar<strong>bei</strong>tet daher mit dem Prinzip <strong>der</strong> steti-<br />

gen Präsenz, die eine panoptische Logik in sich trägt. So ist es kein Zufall, dass im Kran-<br />

kenhaus je<strong>der</strong> Patient räumlich getrennt ist und in <strong>der</strong> Mitte des Saals das Bild <strong>der</strong> Köni-<br />

gin "wacht". Wie bereits oben erwähnt, ist diese <strong>Macht</strong> jedoch nicht allgegenwärtig und<br />

vor allem <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Unterschicht im Film nicht inkorporiert, wodurch sie für den Wärter un-<br />

terlaufbar wird. Dagegen braucht die Disziplinarmacht in "Mulholland Drive" keine stetige<br />

Präsenz, um Adam zu disziplinieren. Hier<strong>bei</strong> sind selbst den Studiobossen nicht alle In-<br />

formationen zugänglich. <strong>Die</strong>s wird in einer Szene deutlich, als einer <strong>der</strong> Studiobosse Mr.<br />

Rock besucht. Hier<strong>bei</strong> muss dieser durch eine Glasscheibe mit Gegensprechanlage zu<br />

ihm sprechen (vgl. <strong>Lynch</strong> 2001, 00:33:18f). Es zeigt sich, dass Adam, <strong>der</strong> sich am Anfang<br />

des Films für wichtig hält, durch das Gespräch mit dem Cowboy erkennt, dass er keine<br />

<strong>Macht</strong> hat. Hier<strong>bei</strong> ist mit Blick auf das <strong>Macht</strong>system zentral, dass es im Gegensatz zu<br />

"Der Elefantenmensch" keine sichtbare obere Instanz zeigt. Adams Treffen auf einen<br />

Cowboy, den er anfangs nicht für voll nimmt, zeigt jedoch, dass die Disziplinarmacht kei-<br />

ne konkrete Form o<strong>der</strong> Instanz braucht, um wirksam zu werden. Sie erinnert Adam ledig-<br />

lich einmal daran, dass sein Handeln beobachtet wird und dass dies Konsequenzen habe.<br />

Adam fügt sich letztlich dieser <strong>Macht</strong> ohne weitere Interventionen des Systems. Das in<br />

"Der Elefantenmensch" noch externe und sichtbar überwachende Panopticon ist in<br />

"Mullholland Drive" eine nicht sichtbare, inkorporierte Instanz geworden.<br />

4.5.2 Subjekt und Anerkennung<br />

Neben den Institutionen sind bzw. werden auch die Subjekte selbst machtentfaltend. In<br />

"Der Elefantenmensch" ist eine deutliche Entwicklung Merricks zu sehen. Anfangs ist die-<br />

ser ein durch Repression unterdrücktes Individuum. Bezeichnend hierfür ist, dass Merrick<br />

sich scheinbar vollständig dem Regime von Bytes unterworfen hat und letztlich nicht als<br />

Subjekt hervortritt. Mit Merricks Überweisung in das Hospital lassen sich verschiedene<br />

Formen <strong>der</strong> Anerkennung ausmachen. <strong>Die</strong> erste entscheidende Anerkennung erfolgt über<br />

Treves und das Hospital, die dem "Elefantenmenschen" als den Patienten John Merrick<br />

adressieren. Durch diesen Vorgang wird festgestellt, dass Merrick ein Mensch und zu-<br />

gleich auch Staatsbürger ist. Der zweite Schritt bezieht sich auf die Reichweite <strong>der</strong> Ad-<br />

51


essierbarkeit. Anfangs denkt Treves, Merrick sei schwachsinnig. Es stellt sich jedoch<br />

heraus, dass Merrick sprechen und denken kann. Dadurch än<strong>der</strong>t sich insbeson<strong>der</strong>e das<br />

Verhältnis zwischen Treves und Merrick, die fortan miteinan<strong>der</strong> freundschaftlich reden.<br />

Merrick ist daher nicht mehr nur ein Patient, son<strong>der</strong>n eine Person mit einer Biographie<br />

und Gefühlen. Letztlich wird diese Biographie auch anerkannt, indem die Königin Merrick<br />

im Hospital einen dauerhaften Aufenthalt gewährt. Merrick ist somit ein vollwertiger Bür-<br />

ger mit beson<strong>der</strong>en Privilegien.<br />

In Folge dieser zunehmenden Anerkennung entwickelt sich auch das Subjekt Merrick 3 ; er<br />

wird vom schweigenden und vollständig unterworfenen "Monster" zum anerkannten Sub-<br />

jekt, welches sich mit seiner Biographie auseinan<strong>der</strong>setzt und künstlerisch tätig wird. <strong>Die</strong><br />

Form <strong>der</strong> Unterwerfung erfährt daher eine starke Än<strong>der</strong>ung. Während Bytes mit peinlichen<br />

Strafen Merrick zum Schweigen bringt, ist die <strong>Macht</strong> <strong>der</strong> Institution auf ein artikulieren-<br />

des, d.h. sprechendes Subjekt angewiesen, um dessen Seele zu adressieren. Es zeigt<br />

sich daher im Film, wie sich die Entfaltung von <strong>Macht</strong> von einer peinlichen, direkt über<br />

den Körper gehenden Strategie in eine abstraktere disziplinierende Strategie, die Raum<br />

und Sprache nutzt, übergeht. Letztlich entzieht sich Merrick selbst dieser <strong>Macht</strong>struktur,<br />

in dem er sich bewusst umbringt. Somit erreicht Merrick das, was Foucault den geheims-<br />

ten und privatesten Punkt <strong>der</strong> Existenz nennt (vgl. Foucault 2008a, 1133).<br />

Im Film "Mulholland Drive" lassen sich mit Blick auf "Der Elefantenmensch" starke Unter-<br />

schiede hinsichtlich <strong>der</strong> Subjektentwicklung feststellen. Der offensichtlichste Unterschied<br />

ist die Deutlichkeit von Institutionen. <strong>Die</strong>se werden im Gegensatz zu "Der Elefanten-<br />

mensch" nur partiell und surreal inszeniert. <strong>Die</strong> zwei markantesten Institutionen im Film<br />

sind zum einen das oben bereits beschriebene System Hollywood und zum an<strong>der</strong>en die<br />

Kriminalpolizei, die nur in Form von zwei Männern mit Sonnenbrille in einem Auto gezeigt<br />

wird. <strong>Die</strong> Kriminalbeamten werden nur selten und unvorhersehbar im Film gezeigt. Sie er-<br />

innern Betty bzw. Diane an den Auftragsmord. Sie sind daher die Repräsentanten des<br />

verinnerlichten Panopticons, welches durch die Schuld Dianes immer wie<strong>der</strong> aufgerufen<br />

wird. <strong>Die</strong> angedeuteten Institutionen im Film stehen somit stellvertretend für die bereits<br />

inkorporierten <strong>Macht</strong>systeme, die Zugriff auf die Seele haben. Hinsichtlich <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>wir-<br />

kungen zeigt sich mit Blick auf Bettys bzw. Dianes Entwicklung, dass sie ihre Umwelt im-<br />

mer schlechter Einschätzen kann. <strong>Die</strong>ses steigende Nichtwissen bzw. diese Kontingenz<br />

3 Hinsichtlich <strong>der</strong> Entwicklung Merricks, lassen sich durchaus Parallelen zum Bildungsroman feststellen.<br />

52


lässt Diane nur noch reagieren, während sich das Subjekt Diane immer mehr in sich<br />

selbst zurückzieht und von <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> <strong>der</strong> Erinnerungen eingeholt wird. <strong>Die</strong> soziale Isolati-<br />

on, die gleichsam als Verlust von Anerkennung zu sehen ist, treibt Diane zum Selbstmord<br />

als scheinbar letzte Möglichkeit, sich dem übermächtigen Wahnvorstellungen zu entzie-<br />

hen und sich somit zu befreien.<br />

53


5.1 Zusammenfassung<br />

5 Zusammenfassung und Fazit<br />

Das Ziel dieser Ar<strong>bei</strong>t war es, die <strong>Macht</strong>strukturen und ihre Entwicklung in den Filmen<br />

"Der Elefantenmensch" und "Mulholland Drive" von <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong> herauszuar<strong>bei</strong>ten und zu<br />

vergleichen. Hier<strong>bei</strong> habe ich eingangs zunächst Foucaults <strong>Macht</strong>begriff anhand <strong>der</strong> Wer-<br />

ke "Überwachen und Strafen" und dem ersten Band aus <strong>der</strong> Reihe Sexualität und Wahr-<br />

heit "Der Wille zum Wissen" zu rekonstruieren. Anschließend begründete ich die Auswahl<br />

<strong>der</strong> Filme anhand <strong>der</strong> historischen Differenz <strong>der</strong> Filme in den Settings und <strong>der</strong> zeitlichen<br />

Differenz in <strong>Lynch</strong>s filmischen Schaffen. In diesem Punkt zeigte sich hinsichtlich <strong>der</strong> Ana-<br />

lyse <strong>der</strong> Filme, dass die Komplexität von <strong>Lynch</strong>s Filmen im Verlauf seines Schaffens zu-<br />

nimmt. Anschließend stellte ich das Filmanalysemodell nach Bordwell und Thompson vor<br />

und begründete methodologisch die Wahl dieser Form <strong>der</strong> Filmanalyse. Mit dieser analy-<br />

sierte ich schließlich die Filme hinsichtlich ihrer formalen Beschaffenheiten und ar<strong>bei</strong>tete<br />

die Inszenierung <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>strukturen heraus und verglich diese abschließend.<br />

Es zeigte sich, dass die <strong>Macht</strong>strukturen in <strong>bei</strong>den Filmen sich hinsichtlich <strong>der</strong> Institutio-<br />

nen unterscheiden. Ist die Institution im Film "Der Elefantenmensch" deutlich im Vor<strong>der</strong>-<br />

grund und offensichtlich, ist diese im Film "Mulholland Drive" hintergründig, jedoch stets<br />

wirksam. Hinsichtlich <strong>der</strong> historischen Settings bzw. <strong>der</strong> Mechanismen <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>struktu-<br />

ren lässt sich damit ein Wandel hin zu einer verstärkten Inkorporation von <strong>Macht</strong>struktu-<br />

ren feststellen. Damit verbunden sind auch die Formen <strong>der</strong> Subjektwerdung. Im Folgen-<br />

den möchte hinsichtlich <strong>der</strong> Subjektwerdung, die Aspekte <strong>der</strong> Unterwerfung und <strong>der</strong> An-<br />

erkennung des Subjekts in <strong>bei</strong>den Filmen diskutieren.<br />

5.2 Diskussion <strong>der</strong> Ergebnisse<br />

5.2.1 <strong>Die</strong> Unterwerfung als Voraussetzung für die Subjektwerdung<br />

Mit Blick auf Merrick, dem "Elefantenmenschen", zeigte sich, dass dieser durch die Un-<br />

terwerfung unter die <strong>Macht</strong>strukturen des Hospitals letztlich zum Subjekt wird. Im Ver-<br />

gleich zu Bytes verfolgt diese Institution keine Unterdrückungsstrategie, son<strong>der</strong>n ruft das<br />

Subjekt Merrick auf, um daran anschließend wirksam zu werden. Betty hingegen ist be-<br />

reits durch verschiedene <strong>Macht</strong>strukturen geprägt. Jedoch gelingt es ihr im Verlauf des<br />

Films nicht, diese <strong>Macht</strong>strukturen zu nutzen. Vielmehr verfällt sie in eine Ohnmacht ge-<br />

genüber <strong>der</strong> Welt und zu sich selbst. <strong>Die</strong> <strong>bei</strong>den Filme zeigen daher, dass das Kontinuum<br />

54


<strong>der</strong> Unterwerfung sich nicht von "absolut unterworfen" bis "frei von <strong>Macht</strong>" erstreckt.<br />

Vielmehr sind die Protagonisten immer von <strong>Macht</strong>strukturen durchdrungen und ermögli-<br />

chen es erst, ein handlungsfähiges Subjekt zu sein. Jedoch zeigt die Entwicklung von<br />

Diane, dass es nicht möglich ist, sich diesen <strong>Macht</strong>strukturen zu entziehen, da sie in den<br />

Gedanken und Erinnerungen allgegenwärtig sind. Allein <strong>der</strong> Selbstmord bzw. <strong>der</strong> Tod<br />

stellt eine Loslösung des Subjekts von <strong>Macht</strong> dar. Jedoch ist damit auch <strong>der</strong> Tod des<br />

Subjekts verbunden. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite zeigt sich auch, dass <strong>der</strong> Anfangs als Subjekt<br />

vollständig unterdrückte Merrick, das Potential besitzt sich von <strong>der</strong> Herrschaft zu lösen.<br />

Das Kontinuum <strong>der</strong> <strong>der</strong> Unterwerfung, welches das Subjekt erst ermöglicht, kann daher<br />

nicht zwischen den absoluten Punkten <strong>der</strong> vollständigen Unterwerfung und <strong>der</strong> Freiheit<br />

liegen, son<strong>der</strong>n muss komplexer gedacht werden. Unterwerfung ist daher we<strong>der</strong> absolute<br />

Herrschaft noch Freiheit. Sie ist die Voraussetzung und das Ergebnis des handelnden<br />

Subjekts.<br />

5.2.2 <strong>Macht</strong> und Anerkennung<br />

<strong>Die</strong> Komplexität <strong>der</strong> Unterwerfung zeigt sich in <strong>bei</strong>den Filmen auch unter dem Aspekt <strong>der</strong><br />

Anerkennung <strong>der</strong> Subjekte. So werden Merrick von <strong>der</strong> Institution Hospital verschiedene<br />

Eigenschaften zugeschrieben und damit verbunden ein Rechtsstatus. Daher handelt es<br />

sich um eine formale Anerkennung, durch die Merrick in das <strong>Macht</strong>gefüge <strong>der</strong> Institution<br />

eingebunden und adressiert werden kann. Merrick muss sich daher an die Regeln des<br />

Krankenhaues halten. Merrick hingegen sieht in dieser Anerkennung weniger eine Unter-<br />

werfung, son<strong>der</strong>n vielmehr das Eröffnen neuer Möglichkeitsräume. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

verpflichtet sich die Institution durch die Anerkennung, für Merricks Wohl zu sorgen. <strong>Die</strong>-<br />

ses Beispiel zeigt, dass Anerkennung ein Prozess ist, <strong>bei</strong> dem sich <strong>bei</strong>de Seiten unterwer-<br />

fen. Wie Anerkennung nicht funktioniert zeigt <strong>der</strong> Film "Mulholland Drive" an <strong>der</strong> Entwick-<br />

lung von Diane. Hier<strong>bei</strong> möchte ich insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong>en Beziehung zu Camilla hervorhe-<br />

ben. Anfangs haben <strong>bei</strong>de eine Liebesbeziehung. Durch Adam jedoch verlässt Camilla<br />

Diane. <strong>Die</strong>se versucht durch ein herrschendes Verhalten Camilla zu halten. Jedoch sinkt<br />

dadurch die Anerkennung von Camilla. Was folgt ist ein Bruch in <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />

den <strong>bei</strong>den, durch den sich Diane nicht mehr anerkannt fühlt und somit keine <strong>Macht</strong> mehr<br />

entfalten kann. Damit einhergehend wirkt sie ohnmächtig und emotional nie<strong>der</strong>geschla-<br />

gen.<br />

55


In <strong>bei</strong>den Filmen wird deutlich, dass Anerkennung kein einseitiger Unterwerfungsprozess<br />

ist. <strong>Die</strong> <strong>Macht</strong> liegt daher nicht <strong>bei</strong> einer Person o<strong>der</strong> Institution, son<strong>der</strong>n vielmehr in und<br />

zwischen ihnen und entfaltet sich dadurch.<br />

5.3 Ausblick – Der foucault'sche <strong>Macht</strong>begriff im pädagogischen Kontext<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> Filme zeigte sich, dass das neoformalistische Filmanalyse-<br />

modell von <strong>David</strong> Bordwell und Kristina Thompson ermöglichte, die <strong>Macht</strong>strukturen in<br />

den Filmen hinsichtlich ihrer Inszenierung und formalen Eigenschaften herauszuar<strong>bei</strong>ten<br />

und zu vergleichen. Insbeson<strong>der</strong>e die Entwicklungen <strong>der</strong> Subjekte ließen sich durch diese<br />

Kombination sehr detailliert herausar<strong>bei</strong>ten. Es stellt sich daher zunächst die Frage nach<br />

<strong>der</strong> Reichweite und Einordnung <strong>der</strong> foucault'schen <strong>Macht</strong>theorie.<br />

<strong>Die</strong> Ar<strong>bei</strong>t zeigte, dass <strong>Macht</strong> sich von <strong>der</strong> gesellschaftlichen Makro- bis zur Mikroebene<br />

des Subjektes erstreckt und es keine klar abgesteckten Grenzen zwischen diesen Ebenen<br />

gibt. Foucaults Theorie hat daher eine große Reichweite. Sie bietet zum einen, mit Blick<br />

auf die Unterwerfung, Erklärungsansätze, was Sozialisation sein kann und wie diese Zu-<br />

stande kommen könnte. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite beschreibt Foucault gleichsam eine Gene-<br />

alogie <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>, die in sich eine Mo<strong>der</strong>nisierungstheorie <strong>der</strong> <strong>Macht</strong> bzw. <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>sys-<br />

teme und -Technologien darstellt.<br />

Neben dem Aspekt <strong>der</strong> Sozialisation und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung bietet <strong>der</strong> foucault'sche<br />

<strong>Macht</strong>begriff meiner Meinung nach auch eine pädagogische Dimension, wenn es um Fra-<br />

ge <strong>der</strong> Aufklärung geht, wie man das Individuum mündig machen kann:<br />

„AUFKLÄRUNG ist <strong>der</strong> Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Un-<br />

mündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung<br />

eines an<strong>der</strong>en zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursa-<br />

che <strong>der</strong>selben nicht am Mangel des Verstandes, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Entschließung und des<br />

Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines an<strong>der</strong>n zu bedienen.“ (Kant o.J.)<br />

Schaut man sich dieses berühmte Zitat Kants über die Frage was Aufklärung sei aus einer<br />

foucault'schen Perspektive an, so werden meiner Meinung nach zwei Aspekte für die Pä-<br />

dagogik zentral:<br />

1. Mündigkeit ist potentiell immer möglich<br />

56


Dass das Individuum sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien kann,<br />

lässt sich in <strong>der</strong> <strong>Macht</strong>theorie Foucaults und auch filmisch am Beispiel von John Merrick<br />

wie<strong>der</strong>finden. Hier<strong>bei</strong> ist <strong>der</strong> von Foucault beschriebene <strong>Macht</strong>begriff, <strong>der</strong> eben nicht<br />

Herrschaft ist und sich überall entfalten kann, an die Idee <strong>der</strong> Aufklärung durchaus an-<br />

schlussfähig. Jedoch ist muss man mit Foucault eingestehen, dass das Individuum nie<br />

völlig selbstbestimmt o<strong>der</strong> völlig fremdbestimmt sein kann. Hinsichtlich <strong>der</strong> Frage, was<br />

das Subjekt sei, bleibt Foucault relativ unscharf; vielmehr beschreibt er die Prozesse in<br />

denen das Subjekt zum Subjekt wird. <strong>Die</strong> zentralen Begriffe hier<strong>bei</strong> sind zum einen die<br />

Unterwerfung, als Form <strong>der</strong> Anerkennung und Voraussetzung für das Subjekt und zum<br />

an<strong>der</strong>en das Handeln <strong>der</strong> Individuen, durch das sich <strong>Macht</strong> erst entfalten kann. Freiheit<br />

heißt daher <strong>bei</strong> Foucault, in einem Netz von sichtbaren und unsichtbaren <strong>Macht</strong>strukturen<br />

handlungsfähig zu sein, in dem Bewusstsein, dass das Subjekt in sich bereits ein Ergeb-<br />

nis einer Unterwerfung sei. Insofern ist Foucaults Sicht auf die Aufklärung nachvollzieh-<br />

bar: „<strong>Die</strong> ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfun-<br />

den“ (Foucault 2008, 929).<br />

2. Reflexivität als Voraussetzung für die Entfaltung von <strong>Macht</strong><br />

An diese Erkenntnis anschließend, stellt sich die Frage, welche pädagogischen Implikati-<br />

onen ein so gedachtes Subjekt hat. <strong>Die</strong> erste Implikation ist die, dass sich ein so gedach-<br />

tes Subjekt in einem permanenten Orientierungsprozess befinden muss, um die sich<br />

permanent än<strong>der</strong>nden <strong>Macht</strong>strukturen erkennen und nutzen zu können. Somit greift ein<br />

kanonisch bzw. materiell gedachter Bildungsbegriff zu kurz. Vielmehr muss Bildung eben-<br />

so wie <strong>Macht</strong> prozessförmig gedacht werden, wie es <strong>bei</strong>spielsweise Winfried Marotzki in<br />

seiner Monographie Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie (Marotzki 1990) formuliert.<br />

Damit einhergehend ist auch ein Bewusstsein darüber, dass es Paradoxien und unauflös-<br />

liche Wi<strong>der</strong>sprüche gibt. <strong>Die</strong> damit verbundene Haltung, die Jörissen und Marotzki in An-<br />

lehnung an Bateson „Bildung II“ nennen, ist in ihrer Komplexität für das Individuum e-<br />

norm. Daher konstatieren sie:<br />

„Wir müssen jedoch zugleich darauf hinweisen, dass <strong>der</strong> somit als ,Bildung II‘ um-<br />

schriebene Prozess praktisch immer nur in Grenzen erreichbar ist. Sich aller Erfah-<br />

rungsgewohnheiten und Weltsichten in dieser Weise zu entledigen, ist eine hochgradig<br />

komplexe und aufwändige Haltung. Es liegt auf <strong>der</strong> Hand, dass man nicht dauerhaft<br />

57


und ständig dem (selbst-) kritischen Bewusstsein <strong>der</strong> Relativität aller Erfahrungssche-<br />

mata durch den Alltag gehen kann“ (Jörissen/Marotzki 2009, 26).<br />

In so fern gibt es immer auch <strong>Macht</strong>strukturen, die nicht reflektiert werden. Der Punkt auf<br />

den es <strong>bei</strong> Foucault wie auch <strong>bei</strong> Marotzki ankommt ist jedoch jener, sich vor <strong>der</strong> Vorstel-<br />

lung zu lösen, dass es absolute Wahrheiten gäbe. In diesem Sinne ist <strong>David</strong> <strong>Lynch</strong>s filmi-<br />

sches Schaffen und dessen Steigerung <strong>der</strong> Komplexität und den irritierenden Momenten<br />

in seinen Filmen die logische Konsequenz für diese Erkenntnis.<br />

58


6.1 Literatur<br />

6 Quellenverzeichnis<br />

Bordwell, <strong>David</strong>/ Thompson, Kristin (2008): Film Art. An introduction. 8. Aufl., Boston:<br />

McGraw-Hill.<br />

Elsaesser, Thomas/ Hagener, Malte (2007): Filmtheorie zur Einführung. Junius Verlag,<br />

Hamburg.<br />

Foucault, Michel (2008): Überwachen und Strafen. In: Foucault, Michel (2008): Hauptwer-<br />

ke. 1. Aufl., Suhrkamp, S. 701-1020.<br />

Foucault, Michel (2008a): Sexualität und Wahrheit. Band I: Der Wille zum Wissen. In:<br />

Foucault, Michel (2008): Hauptwerke. 1. Aufl., Suhrkamp, S. 1021-1151.<br />

Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltags-<br />

erfahrungen. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt a.M.:: Suhrkamp, 2008.<br />

Jörissen, Benjamin/ Marotzki, Winfried (2009): Medienbildung - Eine Einführung. 1. Aufl.,<br />

UTB, Stuttgart.<br />

Kant, Imanuel (o.J.): Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist Aufklärung. Online unter:<br />

http://www.uni-potsdam.de/u/philosophie/texte/kant/aufklaer.htm (Stand: 20.04.2010).<br />

Marotzki, Winfried (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoreti-<br />

sche Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Deutscher<br />

Studien-Verlag, Weinheim.<br />

Spiegel, Simon (2007): <strong>Die</strong> Konstitution des Wun<strong>der</strong>baren. Zu einer Poetik des Science-<br />

Fiction-Films. 1. Aufl., Schüren Verlag.<br />

6.2 Film- und Bildquellen<br />

<strong>Lynch</strong>, <strong>David</strong> (1967): Six Figures Getting Sick.<br />

<strong>Lynch</strong>, <strong>David</strong> (1980): Der Elefantenmensch.<br />

<strong>Lynch</strong>, <strong>David</strong> (1990): Twin Peaks.<br />

<strong>Lynch</strong>, <strong>David</strong> (2001): Mulholland Drive.<br />

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