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Bilbao-Effekt - Vermittlung von Gegenwartskunst

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U n t e r r i c h t s k o n z e p t i o n v o n N i c o l e M ü l l e r<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Das unter der Leitung <strong>von</strong> Dr. Ines Seumel an der kunstpädagogischen Fakultät der<br />

Universität Leipzig entstandene Unterrichtsmaterial „documenta urbana“ ermöglicht<br />

die interdisziplinäre Annäherung an das Phänomen „documenta“ durch historische und<br />

gesellschaftliche Kontextualisierung. Es umfasst etwa sechs Unterrichtsstunden und<br />

richtet sich vorrangig an Unterrichtende der Sekundarstufe II auf Leistungskursniveau.<br />

Inhalt<br />

Konzept und Methoden der <strong>Vermittlung</strong> 2<br />

Allgemeines zum Ablauf der Unterrichtseinheit 3<br />

Module der Unterrichtseinheit<br />

I Einstieg<br />

II Erarbeitung der kontextuellen Grundlagen<br />

III Einblick in die Zusammenhänge<br />

IV Aktive gestalterische Auseinandersetzung<br />

Handlungsimpulse und Alternativen 9<br />

Zielgruppenspezifik und Zielsetzungen<br />

10<br />

Materialien<br />

Quellen, Sekundärliteratur und Bildnachweise<br />

1<br />

3-9<br />

3<br />

5<br />

6<br />

8<br />

11<br />

17


Konzept und Methoden der <strong>Vermittlung</strong><br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Von ihrer Geburtsstunde in der Nachkriegszeit an war die documenta kaum getrennt <strong>von</strong> der<br />

nordhessischen Stadt Kassel denkbar. Dies manifestierte sich auch darin, dass Ausstellungsinitiator<br />

Arnold Bode das <strong>von</strong> ihm konzipierte Ereignis durch städtebauliche Maßnahmen noch enger mit<br />

seinem räumlichen Kontext zu verflechten gedachte: Innovative Wohnungsbauten mit hohem<br />

gestalterischem Anspruch und die Manifestation <strong>von</strong> Kunst im öffentlichen Raum sollten zum<br />

einen den Standort Kassel für Anwohner und Touristen attraktiver gestalten, zum anderen aber<br />

auch die zeitlich klar umgrenzte Institution documenta selbst durch die anhaltende räumliche<br />

Verankerung absichern. Diese enge Verbundenheit <strong>von</strong> „Raum – Kunst – Architektur – Umwelt“<br />

umriss Bode im Katalog der documenta 6 mit dem Begriff der „documenta urbana“ (vgl. Bode,<br />

1977).<br />

Hieran wird bereits sein Anspruch ersichtlich, dem Ausstellungskonzept durch direkten Bezug auf<br />

die Lebenswelt der Kasseler Bevölkerung noch mehr zeitgeschichtliche und gesellschaftliche<br />

Relevanz zu verleihen. Dass die praktische Umsetzung dieses Gedankens letztlich auf vielfältige<br />

organisatorische Hindernisse stieß, sei hier nur der Vollständigkeit halber kurz angemerkt. Im<br />

gegebenen Rahmen soll viel mehr interessieren, dass das Ansinnen, die documenta tief in ihrem<br />

städtebaulichen und lebensweltlichen Kontext zu verwurzeln, bereits eine ganz wesentliche<br />

Grundannahme impliziert: Die ohnehin vorhandene Einbettung des Ausstellungskonzepts in<br />

gesellschaftlich relevante Zusammenhänge. Demzufolge möchte ich den <strong>von</strong> Arnold Bode<br />

eingeführten (<strong>von</strong> ihm selbst gleichfalls vielfältig modifizierten) Begriff der „documenta urbana“<br />

über Architektur und Städtebau hinausgehend ausweiten auf die allgemeine Kontextualisierung<br />

der documenta, insbesondere der dOCUMENTA(13).<br />

Wie die zeitgenössische Kunst als solche kann auch die documenta als sowohl gedanklich als auch<br />

in der realen Lebensumwelt Kassels präsentes Konstrukt nur schwerlich unabhängig ihrer<br />

vielgestaltigen Kontexte betrachtet werden. Was im Folgenden auf die Ausstellung als<br />

Gesamtkunstwerk angewandt wird, lässt sich ergo auch problemlos auf einzelne Kunstwerke<br />

übertragen (vgl. dazu die <strong>von</strong> Silvia Drescher konzipierten Unterrichtsmaterialien).<br />

Es soll darum gehen, die documenta als eine der wichtigsten Ausstellungen für zeitgenössische<br />

Kunst anders zu sehen, über das Bewusstmachen ihrer historischen und damit gesellschaftlichen<br />

Bedeutsamkeit einen individuellen Zugang zu finden.<br />

Die Unterrichtseinheit stützt sich zunächst vor allem auf Formen der verbalen Kunstaneignung, auf<br />

begriffliche Herangehensweisen, die jedoch durch experimentell-assoziative Techniken sinnlich<br />

angereichert werden sollen. Darauf aufbauend kann dann die nonverbale künstlerische Tätigkeit im<br />

Sinne subjektiver Aneignung stattfinden.<br />

[Anmerkung: Zugunsten des Leseflusses wurde auf sprachliche Genderspezifik verzichtet. Es<br />

versteht sich jedoch <strong>von</strong> selbst, dass Schüler und Lehrer beiderlei Geschlechts angesprochen<br />

werden.]<br />

2


Allgemeines zum Ablauf der Unterrichtseinheit<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Die Einheit ist verhältnismäßig kurz auf mindestens vier, idealerweise sechs Unterrichtsstunden<br />

ausgelegt, sodass sie flexibel zwischen zwei größeren Unterrichtseinheiten im thematischen<br />

Kontext zeitgenössischer Kunst integriert werden kann und nicht zwangsläufig an Projektunterricht<br />

gebunden ist. Es empfiehlt sich jedoch sehr, für die Erarbeitung einer Ausstellung im<br />

Unterrichtsrahmen gegebenenfalls zusätzliche Zeit einzuplanen.<br />

Das vorliegende Material ist – mit Ausnahme des Bild- und Arbeitsmaterials und der<br />

Aufgabenstellungen - ausdrücklich für die Hände des Lehrenden gedacht. Im Folgenden stelle ich<br />

einige unterrichtsmethodische Ansätze mit Empfehlungscharakter vor, mithilfe derer eine<br />

zeitgeschichtliche Kontextualisierung der documenta im interdisziplinär orientierten<br />

Kunstunterricht auf Leistungskursniveau erfolgen kann. Die modularisierten Einheiten bauen dabei<br />

in ihrer Abfolge inhaltlich und methodisch aufeinander auf, können aber durch die Lehrperson<br />

nach eigenem Ermessen variiert und ausgetauscht werden.<br />

Module der Unterrichtseinheit<br />

I Einstieg<br />

Einstieg im Klassenplenum<br />

Bilder des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kassels werden auf OHP-Folie präsentiert; im<br />

Klassengespräch formulieren die Schüler Vermutungen zu folgenden Fragestellungen:<br />

„Was seht ihr auf den Fotografien? Wann und wo wurden diese wohl aufgenommen?“<br />

Der Lehrer ermuntert stets dazu, Aussagen anhand des Bildmaterials zu begründen.<br />

Nachdem hier erste allgemeine Erkenntnisse gesammelt wurden, werden weiterführende Fragen<br />

gestellt:<br />

„Würdet ihr euch dort gerne aufhalten? Wie ist es wohl, in einer solchen Stadt zu leben?“<br />

„Der Wiederaufbau war aufgrund des großen Zerstörungsausmaßes und den persönlichen<br />

Verlusten der Bevölkerung ein sehr langwieriger Prozess. Wie könnte man inzwischen Ruinen, wie<br />

ihr sie auf den Fotografien seht, dennoch nutzen?“<br />

[Idealerweise erkennen die Schüler, dass es sich um durch Bombardierung im Zweiten Weltkrieg<br />

zerstörte öffentliche Bauten handelt. Vielleicht wird geschlussfolgert, dass die gezeigte Stadt sich in<br />

Deutschland befindet. Die Schüler sollen sich das Ausmaß der Zerstörung und die Auswirkungen,<br />

die selbige auf den Alltag der Bevölkerung haben muss, vergegenwärtigen.]<br />

3


(l. o. Fridericianum; r. o. Neue Galerie; u. Blick auf Kassel; alle 1945 aufgenommen)<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

→ Auflösung: In nur zehn Jahren wird genau hier die erste documenta stattfinden – lange, bevor<br />

der Wiederaufbau als abgeschlossen betrachtet werden kann. Eine der weltweit bedeutendsten<br />

Ausstellungen für <strong>Gegenwartskunst</strong> ist damit sprichwörtlich aus Kriegsruinen „auferstanden“!<br />

Cluster<br />

Was wissen die Schüler noch aus dem documenta-Spiel, was ist allgemein über die<br />

dOCUMENTA(13) bekannt? Mithilfe einer MindMap werden an der Tafel elementare<br />

inhaltliche Grundvoraussetzungen gesichert.<br />

Hervorzuheben ist: Die dOCUMENTA(13) akzentuiert in besonderem Maße die Einbettung der<br />

zeitgenössischen Kunst in andere (wissenschaftliche, lokale, …) Kontexte.<br />

→ Thema und Zielsetzung der Unterrichtseinheit werden genau erklärt: Das documenta-Spiel gab<br />

einen Überblick, worum es sich handelt, nun soll die historisch bewertende und interpretierende<br />

Einbettung in einen räumlichen und zeitlichen Kontext erfolgen.<br />

4


II Erarbeitung der kontextuellen Grundlagen<br />

Gruppenpuzzle<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Die Schüler ziehen vorbereitete Kärtchen, auf denen je ein Thema sowie eine Nummer stehen.<br />

„Ziehe ein Kärtchen. Das darauf stehende Thema gibt deine Zugehörigkeit zu einer Expertengruppe<br />

an. Finde dich mit deiner Expertengruppe zusammen. Arbeite gemeinsam mit den anderen<br />

Mitgliedern der Expertengruppe zu eurem Thema die deiner Meinung nach wichtigsten Aspekte<br />

aus dem vorgegebenen Material heraus; nutze dabei die Orientierungsfragen. Mache dir<br />

stichpunktartige Notizen.<br />

Mit diesen kehrst du nach etwa 15 Minuten in deine Stammgruppe zurück, diese entspricht der<br />

Nummer, die ebenfalls auf deinem Kärtchen steht. In jeder Stammgruppe wird zu jedem der<br />

Themen ein Experte sein. Stelle den anderen Stammgruppenmitgliedern dein Thema vor und höre<br />

dir an, was sie in ihren Expertengruppen erarbeitet haben. Am Ende sollte jedes Mitglied der<br />

Gruppe über jedes Einzelthema Bescheid wissen – Stellt einander also Fragen und diskutiert, sofern<br />

etwas unklar geblieben ist.<br />

Abschließend werden wir die Arbeitsergebnisse aller Stammgruppen als Tafelbild<br />

zusammentragen.“<br />

Themen<br />

→ Das barocke Kassel als historische Residenzstadt – die bauliche „Grundsubstanz“ der documenta<br />

→ „Entartete Kunst“ - Die documenta als Abbitte<br />

→ Die Zerstörung Kassels im Zweiten Weltkrieg – Auferstanden aus Ruinen?<br />

→ Innerdeutsche Teilung und Kalter Krieg –<br />

Die documenta als künstlerische Positionierung des Westens<br />

→ „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“: Joseph Beuys' „7000 Eichen“<br />

→ Der „<strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong>“ – Kunst als Standortfaktor<br />

→ Die dOCUMENTA(13) und die Naturwissenschaften<br />

(Zwei Beispiele für geeignete Materialien und Aufgabenstellungen habe ich im Anhang beigefügt.)<br />

[Anmerkung: Da sich die Anzahl der Schüler einer Klasse aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch<br />

sieben teilen lässt, müssen gegebenenfalls in einer Stammgruppe zwei Schüler dasselbe Thema<br />

bearbeiten und sich hierfür in besonderem Maße untereinander absprechen. In jeder<br />

Stammgruppe sollte jedes Thema <strong>von</strong> mindestens einem Schüler bearbeitet werden.<br />

Sollte jedoch der Verdacht bestehen, dass die Anzahl unterschiedlicher Themen die Klasse<br />

überfordert, kann beispielsweise auf die Bereiche Zweiter Weltkrieg, „Entartete Kunst“, <strong>Bilbao</strong>-<br />

<strong>Effekt</strong> und Konzept der dOCUMENTA(13) reduziert werden.]<br />

Hausaufgabe: „Wiederhole noch einmal die im Gruppenpuzzle erarbeiteten Voraussetzungen der<br />

documenta. Wie denkst du, haben sich die beschriebenen Gesichtspunkte auf Zielsetzungen und<br />

Konzept der Ausstellung ausgewirkt? Sammle und vernetze stichwortartig deine Ideen.“<br />

5


III Einblick in die Zusammenhänge: documenta – Kassel – Kunst<br />

documenta-“Talkshow“<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Zunächst personifiziert der Lehrer „die zeitgenössische Kunst“, ein Schüler personifiziert „Kassel“,<br />

einer „die documenta“, die drei sitzen exponiert im Klassenraum Die restlichen Schüler dürfen nun<br />

auf Basis ihrer Hausaufgabe Fragen formulieren, die in einer Talkshow-ähnlichen Atmosphäre<br />

behandelt werden. Sobald das Prinzip klar ist, wird der Lehrer durch einen Schüler ersetzt. Sollten<br />

bestimmte Kernaspekte nicht <strong>von</strong> selbst zur Sprache kommen, kann der Lehrer Impulsfragen<br />

stellen. Entstehen sollte eine Gesprächssituation, die den Austausch zwischen „documenta“,<br />

„Kassel“ und „Kunst“ veranschaulicht.<br />

Nach Möglichkeit werden die besagten Rollen gewechselt, also <strong>von</strong> unterschiedlichen Schülern<br />

eingenommen. Den jeweiligen Rollen werden (ebenfalls wechselnde) Protokollanten zur Seite<br />

gestellt, die die wichtigsten Aussagen für die Klasse notieren (später kopieren und verteilen).<br />

Dann wird das soeben Erschlossene nochmals visualisierend verarbeitet, indem der Lehrer<br />

mit mehreren sich überlagernden OHP-Folien arbeitet. Übereinandergelegt werden –<br />

ausgehend <strong>von</strong> den bereits in der Einstiegssitzung verwendeten Bildern - ältere<br />

Darstellungen und zeitgenössische Fotografien, sodass eine Ausstellungsstätte im Wandel<br />

der Zeit sichtbar wird. Geeignete Bilder können durch die Mitglieder der entsprechenden<br />

Expertengruppe aus dem Gruppenpuzzle (z. B. „Barock“ oder „Kriegsschäden“) erläutert werden.<br />

1789<br />

6<br />

1945<br />

heute


1873<br />

1945<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

(Haus-)Aufgabe: „Suche dir einen der in der Stunde behandelten documenta-Kontexte heraus, der<br />

dich besonders interessiert. Versuche, deinen Eindruck hier<strong>von</strong> bruchstückhaft in begrifflichen oder<br />

bildlichen Formeln darzustellen: Verfasse z. B. eine Wortkollage oder fertige eine illustrative Skizze<br />

an.“<br />

Der Lehrer sammelt die entstandenen Verbildlichungen/Verbalisierungen ein. Zunächst<br />

allgemeines Unterrichtsgespräch: Wie ist es den Schülern bei der Verarbeitung ihrer<br />

Eindrücke ergangen? Begleitend oder anschließend präsentiert der Lehrer dem Plenum mehrere<br />

Ergebnisse. Im Klassengespräch wird assoziiert, welcher Aspekt veranschaulicht wurde und wie gut<br />

dies gelang. (Während der folgenden Reflexion in Zweiergruppen kann der Lehrer die Ergebnisse<br />

im Klassenraum aufhängen.)<br />

In diesem Zusammenhang sollten die unterschiedlichen Repräsentationsformen <strong>von</strong> Bild und<br />

Begriff zur Sprache kommen. In Zweiergruppen soll überlegt werden, welcher Modus sich für<br />

welche Themenbereiche besonders gut eignet, anschließend Diskussion.<br />

→ Ergebnis: Beide Repräsentationsformen bereichern sich gegenseitig. Hierin ist ein wesentlicher<br />

Ansatzpunkt für <strong>Gegenwartskunst</strong> zu sehen: Viele zeitgeschichtliche Phänomene sollten nicht<br />

allein auf Begriffe, auf klare Strukturen reduziert werden – Bilder werden ihrer Komplexität im<br />

Sinne einer subjektiv verdichtenden Aneignung gerecht!<br />

7<br />

heute


IV Aktive gestalterische Auseinandersetzung<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Da hiermit die wesentlichen Voraussetzungen geschaffen sind, können die Schüler nun an<br />

das Bearbeiten einer produktiven Aufgabe herangeführt werden. Dabei sollen die in der<br />

Unterrichtseinheit erworbenen Kenntnisse und neuen Blickwinkel nicht nur wiedergegeben,<br />

sondern subjektiv-assoziativ verdichtet werden (die Schüler zum freien Gestalten ermutigen!).<br />

Es kann nach individuellem Interesse zwischen vier unterschiedlichen Aufgabenstellungen gewählt<br />

werden, welche einzeln oder in Gruppen <strong>von</strong> bis zu vier Schülern bearbeitet werden können.<br />

Aufgabenstellungen<br />

a) Werde zum Planer deiner eigenen „documenta“: Wo in deiner Heimatstadt könnte man<br />

zeitgenössische Kunst ausstellen? Finde einen interessanten, überraschenden Ort und informiere<br />

dich über seine Geschichte. Entwirf im Anschluss ein Kunstwerk (z.B. Installation, Land Art, Plastik,<br />

Skulptur etc.), das mit dem <strong>von</strong> dir gewählten Ort in eine ästhetische und/oder inhaltliche<br />

Wechselbeziehung tritt!<br />

b) Entwirf ein Kunstwerk, das auf der dOCUMENTA(13) ausgestellt werden könnte. Stell dir vor,<br />

Carolyn Christov-Bakargiev ließe dir freie Hand, so dass du dir einen beliebigen Ausstellungsort in<br />

Kassel aussuchen darfst. Mache dich mit der Geschichte und der heutigen Nutzung dieser Stätte<br />

vertraut und lasse dein Werk damit in inhaltliche und/oder ästhetische Interaktion treten!<br />

c) Du bekommst vom Lehrer auf Nachfrage Kopien der in den letzten Stunden auf OHP-Folien<br />

gezeigten Bilder <strong>von</strong> Ausstellungsstätten der dOCUMENTA(13), wahlweise auf Folie oder auf Papier.<br />

Fertige nun eine Collage aus diesen und anderen Abbildungen an, die deine aus dem Kontext<br />

gewonnenen Eindrücke widerspiegelt. Bilde dabei nicht nur geschichtliche Fakten ab, sondern<br />

veranschauliche deine Empfindungen hierzu mithilfe diverser, frei wählbarer Materialien und<br />

Techniken. Eventuell wäre auch eine Performance vor der Klasse mithilfe des OHP denkbar.<br />

d) Hast du eine eigene Idee, wie du die <strong>von</strong> uns vorgenommene Kontextualisierung zeitgenössischer<br />

Kunst am Beispiel der documenta bildnerisch verarbeiten könntest? Du kannst deinen Ansatz gerne<br />

mit dem Lehrer besprechen!<br />

Hausaufgabe: „Lies dir die ausgeteilten Aufgabenstellungen nochmals in Ruhe durch und versuche,<br />

dich für eine zu entscheiden. Mache dir Gedanken, fertige erste Entwürfe an und sammle<br />

Materialien!“<br />

Die gesamte Klasse bearbeitet infolgedessen die jeweils gewählte Aufgabenstellung, wobei der<br />

Lehrer zur Beantwortung <strong>von</strong> Fragen und für Rückmeldungen zur Verfügung steht. In den nächsten<br />

Stunden und in Heimarbeit schaffen die Schüler vom Lehrer begleitet Werke für eine Ausstellung<br />

in- oder außerhalb des Schulhauses – Wird Aufgabe a) bearbeitet, bietet es sich natürlich an, mit<br />

den jeweils gewählten Stätten Kontakt aufzunehmen und die Werke oder Entwürfe nach<br />

Möglichkeit im vorgesehenen räumlichen Kontext zu präsentieren.<br />

8


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Im Rahmen der Ausstellung findet eine Abschlussbesprechung des gemeinsam in der<br />

Unterrichtseinheit Erschlossenen statt. Hierbei ist besonderes Gewicht zu legen auf die<br />

Äußerungen der Schüler zu eigenen und fremden Arbeiten sowie auf die Förderung eines<br />

diesbezüglichen Dialogs, sodass das Thema der Kontextualisierung der documenta nach<br />

Möglichkeit schlaglichtartig durch die bildhaften Eindrücke der Schüler rekapituliert wird. Von<br />

einer begriffsorientiert-inhaltlichen, durch den Lehrer „richtig“ vorgegebenen Zusammenfassung<br />

ist hingegen abzusehen; nur bei groben, den historischen oder räumlichen Kontext tangierenden<br />

Fehleinschätzungen sollte korrigierend eingegriffen werden.<br />

→ Es kommt zum Austausch <strong>von</strong> Meinungen, <strong>von</strong> subjektiv verdichteten Einschätzungen zur<br />

documenta in ihrem zeitgeschichtlichen und räumlichen Kontext. Dabei lernen die Schüler die<br />

Möglichkeit kennen, mithilfe bildnerischen Ausdrucks zu komplexen Themen individuell Stellung zu<br />

beziehen sowie die Äußerungen anderer in diesem spezifischen Modus zu erleben und zu<br />

würdigen.<br />

Die Ausstellung kann <strong>von</strong> Schülern außerhalb des Kunst-Leistungskurses wiederum assoziativ<br />

erlebt und so eventuell in den Geschichtsunterricht eingebunden werden. Mithilfe der Lehrer<br />

anderer Kurse sollte dazu ermutigt werden, sich mit den Mitgliedern des Kunstkurses über die<br />

Arbeiten auszutauschen.<br />

Handlungsimpulse und Alternativen<br />

Eine Absprache mit dem jeweiligen Geschichtslehrer der Klasse wäre zur Sicherung fachlicher<br />

Grundvoraussetzungen, aber auch zur Vermeidung <strong>von</strong> inhaltlichen Redundanzen wünschenswert.<br />

Sofern dies gelingt, kann eventuell zwecks Zeitersparnis das Gruppenpuzzle in den<br />

Geschichtsunterricht ausgelagert werden, sodass im Rahmen des Kunstunterrichts der Fokus der<br />

Einheit noch mehr auf die gestalterische Aktivität verschoben werden kann.<br />

Die Unterrichtseinheit setzt allgemeine zeitgeschichtliche Kenntnisse, die Fähigkeit zu deren<br />

Abstraktion und das Vermögen, die Autonomie der Kunst zu reflektieren, voraus, sodass es meiner<br />

Meinung nach ausschließlich für Sekundarstufe II geeignet ist und selbst hier noch recht hohe<br />

Anforderungen (siehe „Spezifik der Zielgruppe“) stellt. Daher ist es einerseits wichtig, als Lehrer<br />

stets für Erklärungen zur Verfügung zu stehen und das Verständnis der behandelten Inhalte<br />

abzusichern.<br />

Zum anderen sollte aber nicht um jeden Preis Wert darauf gelegt werden, einen inhaltlichen<br />

Erwartungshorizont vollständig zu erschließen: Das, was die jeweilige Schulklasse unter<br />

Zuhilfenahme gezielt gesetzter Impulse in relativer Autonomie erarbeitet, darf als genügend<br />

angesehen werden. Sollten Verständnisschwierigkeiten auftreten, kann es hilfreich sein, einige im<br />

Gruppenpuzzle angesetzte Punkte auszusparen und eventuell anschaulichere, die thematische<br />

Komplexität reduzierende Schwerpunkte zu setzen. So kann beispielsweise eine Fokussierung<br />

entweder auf rein geschichtliche oder auf rein städtebauliche Aspekte stattfinden.<br />

9


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Darüber hinaus wäre es in Hinblick auf Schüler der Sekundarstufe I denkbar, die<br />

Kontextinformationen noch weiter zu reduzieren, sodass im Endeffekt hauptsächlich auf die<br />

documenta als touristisches Großereignis Bezug genommen würde. Um hier den Lebensweltbezug<br />

zu gewährleisten, bietet sich in aller Linie eine Exkursion an; alternativ müsste man sich nach<br />

Dokumentarfilmen oder ähnlichem erkundigen. Die Methodik sollte entsprechend angepasst<br />

werden; geeignet scheint beispielsweise das Schreiben <strong>von</strong> Briefen, wobei die Schüler<br />

unterschiedliche Perspektiven (z.B. Kasseler Bürgermeister, Rentner aus Kassel, Touristin aus China)<br />

einnehmen können. Die dann hauptsächlich städtebaulich aufzufassende Aufgabe IVa) könnte nach<br />

wie vor gestellt werden. Die zu diesem Zwecke nötige grundlegende Umkonzipierung der Einheit<br />

kann jedoch <strong>von</strong> mir im gegebenen Rahmen nicht geleistet werden, sondern müsste individuell<br />

durch die jeweilige Lehrperson und in Anpassung an die Voraussetzungen der Klasse geschehen.<br />

Spezifik der Zielgruppe und Zielsetzungen<br />

Ich empfehle das <strong>von</strong> mir vorgestellte Lehrmaterial ausdrücklich für den Unterricht in<br />

Sekundarstufe II auf Leistungskursniveau. Die Schüler sollen im Zuge dieser anspruchsvollen<br />

Unterrichtseinheit nicht etwa einen vorgefertigten neuen Blickwinkel auf die dOCUMENTA(13)<br />

präsentiert bekommen, sondern sich diesen aktiv und eigenverantwortlich erarbeiten. Dabei wird<br />

bewusst ein hoher Anforderungsmaßstab zugrunde gelegt, sodass die Schüler sich ernst<br />

genommen und herausgefordert fühlen. Besonders im Bereich der bildhaften Assoziationen<br />

ermöglichen frei formulierte Aufgabenstellungen bzw. Wahlangebote zugleich eine Passung mit<br />

individuellen Vorlieben sowie ein weiteres Hervorheben der konstruktivistischen individuellen<br />

Aneignung.<br />

Über den Aspekt der intrinsischen Motivation hinausgehend soll so allgemeines Vertrauen in die<br />

eigenen methodischen Fähigkeiten (insbesondere die der Reflexion komplexer, vielgestaltig<br />

einzuordnender Sachverhalte) erworben werden. Ebenfalls wird der interdisziplinäre Transfer<br />

gefördert, der in den für die Sekundarstufe II formulierten Lernzielen zwar eine zunehmend große<br />

Rolle spielt, jedoch in der schulischen Praxis bislang noch eher selten zwischen musischen und<br />

nichtmusischen Fächern stattfindet.<br />

Jenseits des Anspruchs auf Methodenkompetenz lassen sich die anhand der Betrachtung der<br />

documenta gewonnenen Erkenntnisse auf zeitgenössische Kunst im Allgemeinen übertragen und<br />

ermöglichen auf diese Weise einen persönlichen Zugang. Den Schülern soll bewusst werden, dass<br />

die Kunst gerade durch ihre Einbettung in unterschiedliche lebensweltliche Kontexte mit diesen ein<br />

doppelt betrachtenswertes Wechselspiel eingeht: So ist die Kenntnis äußerer Zusammenhänge<br />

meist unabdingliche Voraussetzung für das Verständnis der <strong>Gegenwartskunst</strong>. Selbiger wohnt<br />

allerdings ebenso hohe Relevanz für das Verständnis der hier diskutierten Kontexte inne; Kunst<br />

kann zuvor Verborgenes im bildhaften Repräsentationsmodus sichtbar machen. Die der<br />

Kontextualisierung gewidmete Unterrichtseinheit vermittelt so ein dem Klischee des<br />

egozentrischen Künstlers oder Sammlers auf dem Elfenbeinturm der zeitgenössischen Kunst<br />

diametral entgegengesetztes Verständnis: das einer Kunst, die in höchst realen Lebenswelten<br />

relevant ist, die durch diese einerseits vielgestaltig geprägt ist, sie zugleich aber auch zu prägen<br />

vermag.<br />

10


Materialien für das Gruppenpuzzle I<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

„Entartete Kunst“ - Die documenta als Abbitte?<br />

1) Fakten zur Klassischen Moderne<br />

→ ca. 1900 bis 1933 in Deutschland, international bis ca. 1950<br />

→ Hauptkennzeichen: Loslösung <strong>von</strong> bisheriger bildnerischer Tradition, <strong>von</strong> der gegenständlichen<br />

Abbildung; stattdessen Konzentration auf Form und Farbe bis hin zur Abstraktion<br />

→ Als grundlegende Voraussetzungen hierfür können die Autonomie des Künstlers und des<br />

Kunstwerks, also die künstlerische Emanzipation <strong>von</strong> gesellschaftlichen (Macht-)Gefügen gesehen<br />

werden: In der Kunst herrscht <strong>von</strong> keiner politischen Autorität beschränkte Meinungsfreiheit.<br />

→ umfasste diverse, sehr unterschiedliche Stilrichtungen, wie beispielsweise den Expressionismus<br />

(Darstellung <strong>von</strong> subjektiven Empfindungen, Verzerrung, s. Franz Marc), den Kubismus (Reduktion<br />

auf geometrische Grundformen, Perspektivenpluralität), den Surrealismus (Darstellung des<br />

Unbewussten, Traumhaften) oder die Abstrakte Kunst (s. Wassily Kandinsky)<br />

„Composition VIII“ (Wassily Kandinsky, 1923) „Die gelbe Kuh“ (Franz Marc, 1911)<br />

2) Auszug aus einem Artikel <strong>von</strong> Dr. Arnulf Scriba (Deutsches Historisches Museum)<br />

Nach der gewaltsamen "Entfernung" jüdischer, kommunistischer und "unerwünschter" Künstler<br />

aus öffentlichen Ämtern und der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Berliner<br />

Opernplatz wurde bereits in den ersten Monaten nach der Machtübernahme der<br />

Nationalsozialisten deutlich, dass die Vielfalt der Kunst und Kultur der Weimarer Republik<br />

unwiderruflich zu Ende war. Abgelehnt und verfolgt wurde die avantgardistische, großstädtische<br />

Kunst- und Kulturszene, die als "undeutsch" und "artfremd" galt. Die am 22. September 1933<br />

gegründete Reichskulturkammer hatte unter dem Vorsitz <strong>von</strong> Reichspropagandaminister Joseph<br />

Goebbels für die Neuordnung des künstlerischen Schaffens zu sorgen. Nur wer arischer<br />

Abstammung und nicht durch "kulturbolschewistische" Arbeiten stigmatisiert war, durfte seinen<br />

Beruf weiter ausüben. Kunst und Kultur waren nicht mehr autonom, sondern in den Dienst des NS-<br />

Regimes und seiner Rassenideologie zu stellen. Die neue, nationalsozialistische deutsche Kunst<br />

sollte eine Kunst des nordisch-arischen Volks sein. Alles in allem hat die NS-Zeit jedoch kaum<br />

11


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

originäre Werke hervorgebracht. Die <strong>von</strong> den Nationalsozialisten propagierte neue Kunst knüpfte<br />

in allen Bereichen der Bildenden Kunst im wesentlichen an die Heimatkunst des Deutschen<br />

Kaiserreichs an.<br />

Zu den <strong>von</strong> der NS-Kunstpolitik bevorzugten Motiven gehörten Landschaften, Stilleben,<br />

mythologische Szenen und vor allem das harte Leben <strong>von</strong> Arbeitern und Bauern. Viele Maler<br />

mystifizierten in ihren Gemälden eine auf unvergängliche Werte, Tradition und vorindustrielles<br />

Kleinbauerntum gründende Blut- und Bodenideologie. [...] Wohlgeformte Körper dienten den<br />

Nationalsozialisten als Propaganda für die Ästhetik des nordischen Menschen, die Schönheit,<br />

Reinheit und Anmut symbolisieren sollte. [...]<br />

„Das Urteil des Paris“ (Ivo Saliger, 1939) Blick in die Ausstellung „Entartete Kunst“ (München, 1937)<br />

"Kunst ist immer die Schöpfung eines bestimmten Blutes, und das formgebundene Wesen einer<br />

Kunst wird nur <strong>von</strong> Geschöpfen des gleichen Blutes verstanden", schrieb Alfred Rosenberg in<br />

seinem 1930 erschienenen Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts". Eine in der ganzen Welt<br />

beheimatete "Kunst an sich" lehnte er strikt ab. Als Führer des 1929 gegründeten "Kampfbund für<br />

deutsche Kultur" hetzte er gegen die abstrakte, experimentierfreudige Moderne und<br />

amerikanische Kultureinflüsse wie den "Niggerjazz". [...]<br />

1936 erging ein totales Verbot jeglicher Kunst der Moderne. Hunderte Kunstwerke, vor allem aus<br />

dem Bereich der Malerei, wurden aus den Museen entfernt und entweder für die am 19. Juli 1937<br />

in München eröffnete Ausstellung "Entartete Kunst" konfisziert, ins Ausland verkauft oder zerstört.<br />

Maler, Schriftsteller und Komponisten erhielten - soweit sie nicht emigriert waren - Arbeits- und<br />

Ausstellungsverbot. Das bereits seit 1933 bestehende Ankaufsverbot für nicht-arische und<br />

moderne Kunstwerke wurde verschärft.<br />

3) Auszug aus Harald Kimpel: „documenta – die nachrückende Avantgarde“<br />

Obwohl es sich als „internationale Ausstellung“ bezeichnet, besitzt das Projekt [die documenta,<br />

Anm. d. Verf.] 1955 hauptsächlich eine nationale Ausrichtung. Drei primäre Aufgaben sind es, die<br />

sich mit ihm verbinden und sich unter dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“<br />

zusammenführen lassen. Zunächst liegt der Ausstellung die These vom „Nachholbedarf“ zugrunde.<br />

12


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Gemeint ist damit jenes kulturpolitische Handlungsschema der Nachkriegszeit, dem zufolge<br />

Deutschland während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur abgeschnitten gewesen sei<br />

<strong>von</strong> den Entwicklungen, welche die Kunst in den übrigen europäischen Ländern genommen hat.<br />

Mit diesem Gedanken der Befriedigung <strong>von</strong> Nachholbedarf verknüpft ist die Absicht<br />

der“Wiedergutmachung“: Die Rehabilitation derjenigen Künstler, deren Werke wenige Jahre zuvor<br />

als „entartet“ diffamiert, aus den Museen entfernt, verschleudert oder vernichtet wurden. Die<br />

documenta 1955 ist zu sehen als Gegendemonstration gegen die Difffamierungsmethoden des<br />

Faschismus. […]<br />

Eine dritte Hauptaufgabe schließlich fasst die beiden erstgenannten zusammen: Sie heißt<br />

Standortbestimmung und zielt auf die <strong>von</strong> Bode immer wieder gestellte Doppelfrage „Wo steht die<br />

Kunst heute? - Wo stehen wir heute?“. Mitte der 50er Jahre dient also das Unternehmen der Suche<br />

nach einer gesamtgesellschaftlich akzeptablen Ausgangsposition für die zukünftige kulturelle<br />

Tätigkeit. Kreative Gegenwart – so das Credo der Ausstellungsmacher – ist nur möglich durch<br />

Wiedergewinnung der Vergangenheit. Das Projekt documenta versucht den Brückenschlag über<br />

den Abgrund eines „absurden Anachronismus“, wie Haftmann die überwundene Phase des<br />

faschistischen Bildersturms bezeichnet. […] Die Ausstellung nährt die Vision vom nahtlosen<br />

Anknüpfen, <strong>von</strong> der Chance des Weitermachens an dem Punkt, an dem die formalen und<br />

inhaltlichen Experimente der Moderne in Deutschland durch den Abschnitt, den Bode „die<br />

Finsternis“ nennt, zwangsweise abgebrochen wurden.<br />

Orientierungsfragen<br />

a) Skizziere die Grundzüge der NS-Kunstpolitik. Überlege, worin die offensichtlichen und weniger<br />

offensichtlichen Gründe für deren rigorose Ablehnung der Klassischen Moderne gelegen haben<br />

könnten.<br />

b) Warum bezeichnet Haftmann die Zeit des Nationalsozialismus in Hinblick auf die Kunst als<br />

„absurden Anachronismus“? Erkläre und beziehe dich dabei auch auf deine Kenntnisse zur<br />

Klassischen Moderne sowie die Bildbeispiele!<br />

c) Nenne und erläutere die drei primären Aufgaben der documenta, die Harald Kimpel in seinem<br />

Artikel nennt. Überlege: Gelten diese auch noch für die dOCUMENTA(13)?<br />

[Mögliche Antwortperspektive:<br />

Die NS-Kunstpolitik zeichnete sich durch die Förderung einer parteipolitisch konformen<br />

Propagandakunst, die Verfolgung Andersdenkender und durch die Zerstörung oder Diffamierung<br />

<strong>von</strong> deren Werken aus. Dabei wurden Werke der Klassischen Moderne nicht nur aus Gründen der<br />

„Rassenhygiene“ und des vermeintlichen „Sittenverfalls“ in Hinblick auf Künstler oder Motiv<br />

verfehmt, sondern vielmehr wegen ihrer Proklamation des selbständig denkenden künstlerischen<br />

Subjekts als Bedrohung empfunden. Die NS-Zeit kann daher als künstlerischer Anachronismus<br />

betrachtet werden, da sich das propagierte, politischen Zwecken untergeordnete Kunstideal auf<br />

bereits zurückliegende Epochen (Heimatkunst) stützte und jegliche formale Innovation ablehnte.<br />

Kimpel nennt in diesem Zusammenhang Vergangenheitsbewältigung, Wiedergutmachung und<br />

Standortbestimmung als Hauptaufgaben der documenta; heute haben die beiden erstgenannten<br />

Aspekte zugunsten des letztgenannten jedoch an Bedeutung verloren.]<br />

13


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Materialien für das Gruppenpuzzle II<br />

Der „<strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong>“- Kunst als Standortfaktor<br />

1) Katrin Finkenzeller in DIE ZEIT vom 04.10.2007<br />

<strong>Bilbao</strong> war eine triste Industriestadt, bis vor zehn Jahren das Guggenheim-Museum eröffnet<br />

wurde. Seither reisen Besucher in Scharen an. Nur die einheimische Kunstszene hat da<strong>von</strong> nichts.<br />

[…] Zehn Jahre nach der Eröffnung des Gebäudes des kanadisch-kalifornischen Architekten Frank<br />

O. Gehry hat <strong>Bilbao</strong> nur noch wenig mehr als den Namen gemein mit jener Stadt im Baskenland,<br />

die Ende der achtziger Jahre zum Inbegriff der Depression geworden war. Niemand hätte sich<br />

damals freiwillig in die Nähe des Nervión begeben, einer stinkenden, rostbraunen Kloake, an deren<br />

Ufern verlassene Fabrikhallen vor sich hin gammelten und allen nur den Verlust vor Augen führten.<br />

<strong>Bilbao</strong>, strategischer Handelsknotenpunkt seit 1300, in seiner industriellen Hochzeit reichste Stadt<br />

Spaniens, hatte gerade den Niedergang seiner Stahlkochereien und Schiffswerften erlebt. Jeder<br />

Vierte hier hatte seinen Job verloren. Die Kassen waren leer, die öffentlichen wie die der meisten<br />

Familien. Keiner erzählte mehr den Witz <strong>von</strong> Jesus, der die Chance gehabt habe, in <strong>Bilbao</strong> geboren<br />

zu werden, aber aus Demut Bethlehem wählte. Ein Ausweg aus der Krise schien kaum möglich. Bis,<br />

ja bis die Guggenheim-Stiftung in New York entschied, die Europa-Filiale ihres Museums<br />

ausgerechnet in dieser heruntergekommenen Industriestadt zu eröffnen, und ihr damit eine<br />

Zukunft in der Neuzeit sicherte.<br />

[…] Jedes Jahr besuchen gut eine Million Menschen das Museum. 2006 ließen sie knapp 234<br />

Millionen Euro in der Stadt, Hotelübernachtungen, Restaurantbesuche und Souvenirkäufe<br />

inbegriffen. Dieses Jahr dürften es noch mehr werden. Allein die gerade zu Ende gegangene<br />

Werkschau des in Südfrankreich lebenden deutschen Künstlers Anselm Kiefer sahen rund 500.000<br />

Menschen.<br />

[…] Und der Wandel ist längst nicht abgeschlossen. »Im Wettbewerb mit anderen Städten muss<br />

<strong>Bilbao</strong> mehr bieten als Museen und eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur«, sagt Postigo. […]<br />

5000 Wohnungen, elegante Geschäfte und Büros für eine »saubere Industrie« wie Informatik und<br />

neue Medien sind geplant. Die Federführung für das Facelifting hat die in London lebende Iranerin<br />

Zaha Hadid.<br />

Doch was den einen kaum schnell und raumgreifend genug gehen kann, überfordert so manche<br />

andere. Ana Rodríguez zum Beispiel. 32 Jahre ist sie alt, wohnt aber noch immer bei ihren Eltern.<br />

Vor ein paar Wochen hat sie sich in Zorrozaure eine Zweizimmerwohnung in einem der älteren<br />

Häuser angesehen, das gerade renoviert worden war. »Da ist jetzt alles vom Feinsten. Die<br />

Immobilienagentur wollte 500.000 Euro dafür«, erzählt Rodríguez und kann es immer noch nicht<br />

fassen. Die zierliche Frau mit den kurzen blonden Haaren ist eine <strong>von</strong> jenen, die in den<br />

Anfangszeiten des Guggenheim entschieden, an der Universität <strong>von</strong> <strong>Bilbao</strong> Schöne Künste zu<br />

studieren. Kunstgeschichte, Malerei, Bildhauerei. Die jungen Leute hofften, mit dem Museum<br />

würde auch das Interesse an den Arbeiten einheimischer Künstler steigen, die sich häufig mit der<br />

politischen Situation im Baskenland auseinandersetzen. Heute führt Rodríguez Touristen durch die<br />

Stadt und durch Guggenheim-Ausstellungen. Das Geld, das sie so verdient, reicht nicht für eine<br />

Wohnung. Seit 1994 haben sich die Preise verdreifacht. Dabei ist die Arbeitslosigkeit im Großraum<br />

<strong>Bilbao</strong> – trotz des Guggenheim-<strong>Effekt</strong>s – die höchste im Baskenland und die Bezahlung mit<br />

durchschnittlich 1200 Euro monatlich die niedrigste.<br />

14


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

Der erhoffte Kulturboom ist ausgeblieben. Weder gibt es in der Stadt nun mehr Galerien, noch<br />

bietet das Museum jungen, unbekannten Gegenwartskünstlern genügend Raum, sich darzustellen.<br />

Es sind die international bekannten Namen, die als Besuchermagneten dienen.<br />

2) Auszug aus einem Artikel <strong>von</strong> Ghassan Abid<br />

Bei den langfristigen bzw. stadtökonomischen <strong>Effekt</strong>en erläuterte Männing den sogenannten<br />

„<strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong>“, benannt nach dem Guggenheim Museum im spanischen <strong>Bilbao</strong>, wonach eine<br />

ganze Stadt durch den Bau eines einzigen Gebäudes für sich stadtentwicklungspolitische <strong>Effekt</strong>e<br />

ziehen kann.<br />

Dieses Phänomen ist auch beim Sydney Opera House oder beim Tate Gallery of Modern Art in<br />

London eingetreten. Voraussetzungen eines <strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong>es sei, dass die „Iconic Buildings“ vier<br />

Prämissen erfüllen müssen: Zentrale Lage, in der Umgebung <strong>von</strong> Gewässer, mit<br />

innovativer/unpraktischer Architektur, die zugleich provokativ wirkt. Diese ikonischen Bauwerke<br />

würden dementsprechend die Immobilienpreise ihrer Umgebung nach oben treiben, sodass dies<br />

aus volkswirtschaftlicher Sicht positiv zu bewerten ist.<br />

Das Guggenheim Museum in <strong>Bilbao</strong><br />

Ortsschild Kassel „Spitzhacke“ in der Kasseler Karlsaue (Claes Oldenburg, 1982)<br />

15


Orientierungsfragen<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

a) Skizziere ein kritisches Vorher-Nachher: <strong>Bilbao</strong> vor und nach dem Bau des Guggenheim-<br />

Museums. Fertige dafür beispielsweise eine Tabelle an. Konzentriere dich verallgemeinerbare,<br />

bedeutsame Aspekte; Details kannst du ruhig vernachlässigen.<br />

b) Überlege: Inwieweit finden sich die vier Prämissen des <strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong>s in Kassel wieder?<br />

c) Finde wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem <strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong> im hier<br />

beschriebenen Sinne und den Auswirkungen der documenta auf die Stadt Kassel! Wie ist deine<br />

Meinung: Kann man <strong>von</strong> einem „documenta-<strong>Effekt</strong>“ sprechen? Begründe.<br />

[Mögliche Antwortperspektive:<br />

Es bestehen durchaus Ähnlichkeiten zwischen <strong>Bilbao</strong> und Kassel. Beide Städte hatten an Bedeutung<br />

verloren und diese durch den Einzug international beachteter <strong>Gegenwartskunst</strong> zurückerlangt,<br />

womit ein wirtschaftlicher Aufschwung einherging. In beiden Fällen kann die mangelhafte<br />

Einbindung regionaler Künstler kritisiert werden. Wichtig ist es allerdings zu beachten, dass sich<br />

der <strong>Bilbao</strong>-<strong>Effekt</strong> vor allem auf eine dauerhaft vorhandene spektakuläre Museumsarchitektur<br />

stützt, während die documenta das zeitlich begrenzte Ausstellen der Kunstwerke als solcher in den<br />

Fokus rückt.]<br />

16


Quellen und Sekundärliteratur<br />

documenta urbana (Nicole Müller)<br />

György, Péter: Die beiden Kassels: Gleiche Zeit, anderer Ort. 100 Notizen – 100 Gedanken Nummer<br />

16. Ostfildern 2011<br />

Kimpel, Harald: documenta – die nachrückende Avantgarde. In: Kirschenmann, Johannes; Matzner,<br />

Florian (Hrsg.): documenta Kassel. Skulptur Münster. Biennale Venedig. München 2007, 9-43<br />

Seumel, Ines: Kunst+Unterricht 08/2001, Heft 254<br />

Abid, Ghassan, in: http://2010sdafrika.wordpress.com/2010/05/11/%E2%80%9Ebilbao-effektbestimmt-erfolg-sportlicher-mega-events/<br />

(08.08.12)<br />

Bode, Arnold, in: Wikipediaartikel „documenta urbana“:<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Documenta_urbana#Schwierigkeiten_und_Kritik_.281980.E2.80.9319<br />

82.29 (08.08.12)<br />

Finkenzeller, Karin, in: http://www.zeit.de/2007/41/<strong>Bilbao</strong> (08.08.12)<br />

Lehnen, Guenther, in: http://www.guenter-lehnen-koeln.de/Malereigeschichte-<br />

Daten/Malereiepochen.html (08.08.12)<br />

Presche, Christian, in: http://www.presche-chr.de/christian/ZerstoerteStadt.htm (08.08.12)<br />

Scriba, Arnulf, in: http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/kunst/index.html (08.08.12)<br />

Bildnachweise<br />

(in Reihenfolge des Erscheinens, <strong>von</strong> links nach rechts, keine Doppelnennungen)<br />

1) Bushaltestelle in Kassel, alle Rechte bei Hafenbar 15:09, 11. Dez. 2008 (CET), über<br />

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/f/f0/Documenta_urbana_haltestelle.jpg (04.08.12)<br />

2) Clipart OHP, über http://www.leeds.ac.uk/ims/gfx/IMC/ohp.jpg (04.08.12)<br />

3) Zerstörtes Fridericianum, alle Rechte bei Christian Presche, über http://www.preschechr.de/christian/ZerstoerteStadt.htm<br />

(04.08.12)<br />

4) Zerstörte Neue Galerie, alle Rechte bei Christian Presche, über http://www.preschechr.de/christian/ZerstoerteStadt.htm<br />

(04.08.12)<br />

5) Kassel 1945, über http://www.lienhard-knauf.de/Cassel/a_Kasseler_Innenstadt1945.jpg<br />

(04.08.12)<br />

6) Clipart Whiteboard, über http://www.clker.com/clipart-white-board-1.html (04.08.12)<br />

7) Clipart Puzzle, über http://www.1000haushaltstipps.de/puzzle.jpg (04.08.12)<br />

8) Das barocke Fridericianum, Kupferstich <strong>von</strong> Werner Kobold (1789), über<br />

http://hgisg.geoinform.fh-mainz.de/multi4/startTempl.php?<br />

gebiet=14&gliederung=9&txtArea=Thema (04.08.12)<br />

17


documenta urbana (Nicole Müller)<br />

9) Das Fridericianum heute, alle Rechte bei Nils Klinger, über http://www.art-agenda.com/wpcontent/uploads/2012/06/1.-Fridericianum__c__Nils_Klinger__2__01.jpg<br />

(04.08.12)<br />

10) Erbauung der Neuen Galerie, alle Rechte bei Carl Machmar, über ORKA<br />

Gemäldegalerie/http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/thumb/4/4c/Gem<br />

%C3%A4ldegalerie_Kassel_Baustelle_1873.jpg/220px-Gem<br />

%C3%A4ldegalerie_Kassel_Baustelle_1873.jpg (04.08.12)<br />

11) Die Neue Galerie heute, über http://www.augsburger-allgemeine.de/img/17557836-<br />

1321437423000/topTeaser_crop_Fast-wie-ein-Gem-lde-Die-Loggia-der-Neuen-Galerie-in-Kassel.-<br />

Foto-Uwe-Zucchi.jpg (04.08.12)<br />

12) Clipart Glühbirne, über http://i.istockimg.com/file_thumbview_approve/5493504/2/stockillustration-5493504-light-bulb-vector-illustration.jpg<br />

(04.08.12)<br />

13) „Composition VIII“, Wassily Kandinsky (1923), über<br />

http://www.glyphs.com/art/kandinsky/comp8640.jpg (04.08.12)<br />

14) „Die gelbe Kuh“, Franz Marc (1911), über http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/marc/yellowcow.jpg<br />

(04.08.12)<br />

15) „Das Urteil des Paris“, Ivo Saliger (1939), über<br />

http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/kunst/index.html (04.08.12)<br />

16) Blick in die Ausstellung „Entartete Kunst“ (1937), alle Rechte bei Bildarchiv Preußischer<br />

Kulturbesitz, über http://www.hagalil.com/01/de/media/1/entartete-kunst.jpg (04.08.12)<br />

17) Guggenheim Museum <strong>Bilbao</strong>, alle Rechte bei Phillip Maiwald,<br />

überhttp://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/9/90/Guggenheim_museum_<strong>Bilbao</strong><br />

_HDR-image.jpg/350px-Guggenheim_museum_<strong>Bilbao</strong>_HDR-image.jpg (04.08.12)<br />

18) Ortsschild Kassel, alle Rechte bei N-Lange.de, über<br />

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/f/fd/DocumentaStadtKassel.jpg (04.08.12)<br />

19) Spitzhacke, Claes Oldenburg (1982), über<br />

http://www.schlosshotel-kassel.de/img/image/spitzhacke%20web.JPG (30.07.12)<br />

Kontaktadresse der Verfasserin: Strigidaealuco@gmail.com<br />

Bitte zögern Sie nicht, Fragen, Anregungen und Kritik an mich zu richten.<br />

18

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