ZESO 01/15
ZESO 01/15
ZESO 01/15
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SK OS C SI A S C OSA S<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
<strong>01</strong>/<strong>15</strong><br />
SOZIALSTAAT SOZIALSTAATLICHE MODELLE IM VERGLEICH GRUNDBEDARF<br />
AKTUELLE PRAKTIKEN DER KANTONE GRUNDRECHTE UND SOZIALHILFE LEITFADEN MIT<br />
PRAXISBEISPIELEN MEDIENKRITIK JOURNALIST DANIEL BINSWANGER IM <strong>ZESO</strong>-INTERVIEW
SCHWERPUNKT 14–25<br />
SOZIALSTAAT<br />
Der Schwerpunkt stellt die Ausgestaltung des<br />
Sozialstaats im Allgemeinen und der Sozialhilfe<br />
im Speziellen in ein «internationales» Licht.<br />
Welche Errungenschaften bewähren sich und<br />
welche systemrelevanten Probleme zeigen sich<br />
in anderen industriell hochentwickelten Staaten?<br />
Ergänzend dazu ein Plädoyer von Nationalratspräsident<br />
Stéphane Rossini für eine dynamische<br />
Anpassung der Sozialwerke und Einschätzungen<br />
von zwei Sozialamtsleiterinnen.<br />
<strong>ZESO</strong> ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 REDAKTION Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
REDAKTIONELLE BEGLEITUNG Dorothee Guggisberg AUTORINNEN<br />
UND AUTOREN IN DIESER AUSGABE Gülcan Akkaya, Sabine Boss,<br />
Dominik Grillmayer, Christin Kehrli, Paula Lanfranconi,<br />
Marie-Christine Mousson, Paul Rechsteiner, Stéphane Rossini,<br />
Renzo Ruf, Mario Stübi, Ueli Studer, Ruth Ziörjen TITELBILD Rudolf<br />
Steiner LAYOUT Marco Bernet, mbdesign Zürich KORREKTORAT<br />
Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG Rub Media AG, Postfach,<br />
30<strong>01</strong> Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE<br />
Jahresabonnement CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Einzelnummer<br />
CHF 25.–. Jahresabonnement Ausland CHF 120.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 112. Jahrgang<br />
Bild: Rudolf Steiner<br />
Erscheinungsdatum: 9. März 2<strong>01</strong>5<br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2<strong>01</strong>5.<br />
2 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>15</strong> INHALT
INHALT<br />
5 Steuerfreiheit des Existenzminimums<br />
statt Sozialhilfe<br />
besteuern.<br />
Kommentar von Paul Rechsteiner<br />
6 13 Fragen an Sabine Boss<br />
8 Praxis: Leben in einer WG – wie<br />
berechnet sich der Grundbedarf?<br />
9 Serie «Monitoring Sozialhilfe»:<br />
Aktuelle Praktiken bei der<br />
Ausrichtung des Grundbedarfs<br />
10 «Die Medien sind aggressiver und<br />
ruchloser geworden»<br />
Interview mit Daniel Binswanger<br />
14 SCHWERPUNKT: SOZIALSTAAT<br />
16 Die Bedeutung des Sozialstaats<br />
und der Beitrag der Sozialpolitik zur<br />
Gesellschaft<br />
18 Sozialer Schutz in Deutschland und<br />
in Frankreich<br />
21 Der US-amerikanische Sozialstaat ist<br />
sehr dezentral organisiert<br />
23 «Das grösste Problem sind<br />
Personen ohne Berufsausbildung»<br />
DIE ERFOLGSREGISSEURIN<br />
DER KOLUMNIST<br />
GRUNDRECHTE UND SOZIALHILFE<br />
Regisseurin Sabine Boss will mit ihren<br />
Filmen einen Beitrag für eine tolerante<br />
Gesellschaft leisten. Für «Der Goalie bin ig»<br />
gewann sie den Schweizer Filmpreis in zwei<br />
Kategorien.<br />
6<br />
Wirtschaftsjournalist und Politik-Beobachter<br />
Daniel Binswanger reflektiert im <strong>ZESO</strong>-<br />
Interview die öffentliche Debatte über die<br />
Sozialhilfe und die schwindende Fähigkeit<br />
der Medien, mit emotionsgeladenen Themen<br />
umzugehen. Und er erklärt, wo er bei der<br />
Sozialhilfe Handlungsbedarf sieht.<br />
10<br />
Die Wahrung von Grund- und<br />
Menschenrechten ist in der Sozialhilfe<br />
grundsätzlich unbestritten. Ihre<br />
konkrete Ausgestaltung und mögliche<br />
Einschränkungen geben in der Praxis aber<br />
immer wieder Anlass zu Diskussionen.<br />
26 Grund- und Menschenrechte in der<br />
Sozialhilfe<br />
28 Drei Praxisbeispiele zum Umgang mit<br />
Grundrechten<br />
30 Was Google nützt, hilft auch<br />
behinderten Usern. Reportage über<br />
die Stiftung «Zugang für alle»<br />
32 Plattform: Dachverband der<br />
Schweizer Jugendparlamente<br />
34 Forum: «Freibeträge für selbstverständliche<br />
Leistungen stehen<br />
quer in der Landschaft»<br />
34 Service: Veranstaltungen und<br />
Lesetipps<br />
36 Porträt: Diane Baatard macht als<br />
Märchchenfee Krankenbesuche<br />
MÄRCHEN FÜR KRANKE KINDER<br />
26<br />
Die pädiatrische Onko-Hämatologie des<br />
Universitätsspitals Genf ist eine Station,<br />
die man nur mit Schutzkleidung betreten<br />
darf. Mit Geschichten holt Diane Baatard die<br />
jungen Patientinnen und Patienten für einen<br />
Moment aus ihrer Isolation.<br />
36<br />
INHALT 1/<strong>15</strong> <strong>ZESO</strong><br />
3
Leben in einer Wohngemeinschaft:<br />
Wie berechnet sich der Grundbedarf?<br />
Martin R. lebt in einer Wohngemeinschaft. Wie sein Grundbedarf berechnet wird, hängt davon<br />
ab, ob es sich um eine familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft oder um eine Zweck-<br />
Wohngemeinschaft handelt.<br />
FRAGE<br />
Martin R. hatte bis vor kurzem Anspruch<br />
auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung.<br />
Mit den monatlichen Leistungen der<br />
Versicherung konnte er seine finanzielle<br />
Existenz sichern. Als die Taggelder der Arbeitslosenversicherung<br />
ausgeschöpft waren,<br />
musste Martin R. einen Antrag auf Sozialhilfe<br />
stellen. Von der zuständigen Sozialbehörde<br />
erhielt er die Weisung, für eine<br />
günstigere Wohnsituation besorgt zu sein.<br />
Martin R. schloss einen Untermietvertrag<br />
in einer Wohngemeinschaft mit insgesamt<br />
drei Personen ab. Er erklärt seiner Sozialarbeiterin,<br />
dass jede Person über ein<br />
eigenes Zimmer verfüge und ein gemeinsames<br />
Wohnzimmer bestehe. Dem Untermietvertrag<br />
lässt sich zudem entnehmen,<br />
dass Küche, Bad, Waschküche und Keller<br />
gemeinschaftlich genutzt werden. Weiter<br />
führt Martin R. aus, dass die Mieter getrennt<br />
einkaufen und kaum je gemeinsame<br />
Mahlzeiten einnehmen würden. Wie berechnet<br />
sich in diesem Fall der Grundbedarf für<br />
den Lebensunterhalt für Martin R.?<br />
GRUNDLAGEN<br />
Vorab ist festzustellen, dass ein (Unter-)<br />
Mietvertag nicht für eine abschliessende<br />
Qualifizierung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens<br />
herbeigezogen werden<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
kann. Es muss geprüft werden, ob Martin<br />
R. mit seinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern<br />
eine familienähnliche Wohnund<br />
Lebensgemeinschaft bildet oder ob es<br />
sich um eine Zweck-Wohngemeinschaft<br />
handelt.<br />
Als familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
gelten Paare oder Gruppen,<br />
die die Haushaltführung wie Wohnen,<br />
Essen, Waschen und Reinigen gemeinsam<br />
ausüben oder finanzieren. Sie leben zusammen,<br />
bilden aber keine Unterstützungseinheit.<br />
Beispiele dafür sind Konkubinate,<br />
Geschwister oder Eltern mit ihren<br />
erwachsenen Kindern (vgl. SKOS-Richtlinien<br />
B.2.3). Es geht in erster Linie um ein<br />
Zusammenleben im gleichen Haushalt,<br />
wobei eine geschlechtliche Beziehung oder<br />
eine längerfristige gemeinsame Lebensplanung<br />
keine Voraussetzungen darstellen<br />
(vgl. Claudia Hänzi, Leistungen der Sozialhilfe<br />
in den Kantonen, in Christoph Häfeli<br />
(Hrsg.), Das Schweizerische Sozialhilferecht,<br />
2008, S. 143 f.).<br />
Bei einer Zweck-Wohngemeinschaft<br />
handelt es sich um Personen, die mit dem<br />
Zweck zusammenwohnen, die Miet- und<br />
Nebenkosten gering zu halten. Die Ausübung<br />
und die Finanzierung der Haushaltsfunktionen<br />
wie Wohnen, Essen, Waschen<br />
und Reinigen erfolgen vorwiegend<br />
getrennt. Durch das gemeinsame Wohnen<br />
werden neben der Miete weitere Kosten,<br />
die im Grundbedarf enthalten sind, geteilt<br />
und somit verringert; beispielsweise<br />
die Kosten für die Abfallentsorgung, den<br />
Energieverbrauch, das Festnetz, Internet,<br />
TV-Gebühren oder Zeitungen (SKOS-<br />
Richtlinien B.2.4).<br />
Die Grenzziehung zwischen einer familienähnlichen<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
und einer Zweck-Wohngemeinschaft<br />
ist mitunter schwierig und muss in<br />
jedem Fall auf die konkreten Verhältnisse<br />
abgestellt werden (vgl. Hänzi, Leistungen<br />
der Sozialhilfe in den Kantonen, S. 144).<br />
Es muss im Einzelfall entschieden werden,<br />
ob sich durch das Zusammenleben in einer<br />
Wohngemeinschaft die für eine familienähnliche<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
typischen wirtschaftlichen Vorteile<br />
ergeben. Das zentrale Kriterium, ob eine<br />
Wohngemeinschaft als familienähnliche<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft und damit<br />
als Mehrpersonenhaushalt zu behandeln<br />
ist, ist die gemeinsame Ausübung<br />
und Finanzierung aller oder mindestens<br />
wichtiger Haushaltsfunktionen wie Essen,<br />
Waschen und Reinigen.<br />
ANTWORT<br />
Aufgrund der Schilderung von Martin R.<br />
ist nicht davon auszugehen, dass die entscheidenden<br />
Haushaltsfunktionen gemeinsam<br />
ausgeübt oder finanziert werden.<br />
Zudem lässt sich unter den Wohnpartnern<br />
keine besondere persönliche Verbundenheit<br />
feststellen, die für ein gemeinschaftliches<br />
Zusammenleben sprechen würden.<br />
Martin R. zieht aus dem Zusammenwohnen<br />
mit seinen beiden Mitbewohnern keinen<br />
erheblichen wirtschaftlichen Vorteil.<br />
Der Spareffekt beim Grundbedarf beschränkt<br />
sich auf den Energieverbrauch<br />
und die laufende Haushaltsführung, beispielsweise<br />
Abfallentsorgung und Putzmittel<br />
sowie Internet und Zeitungsabonnement.<br />
Somit ist der Grundbedarf für den<br />
Lebensunterhalt von Martin R. unabhängig<br />
von der gesamten Haushaltsgrösse festzulegen.<br />
Er bemisst sich nach der Anzahl<br />
Personen der Unterstützungseinheit minus<br />
10 Prozent. Im Budget von Martin R.<br />
werden demnach 887 Franken für den<br />
Grundbedarf berücksichtigt, das entspricht<br />
der Rechnung 986 Franken minus<br />
10 Prozent (= 887 Fr.). •<br />
Ruth Ziörjen<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
8 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>15</strong> PRAXIS
Aktuelle Praktiken bei der<br />
Ausrichtung des Grundbedarfs<br />
Im Rahmen des Projekts «Monitoring Sozialhilfe» erhebt die SKOS regelmässig Informationen<br />
über die Umsetzung und Ausgestaltung der Sozialhilfe in den Kantonen. Mit Blick auf die laufende<br />
Richtlinien-Vernehmlassung und die Diskussionen über die Höhe der Grundsicherung erscheint die<br />
Auslegeordnung zur kantonalen Anwendung des Grundbedarfs besonders interessant.<br />
Fr. 1100<br />
Fr. 1000<br />
Fr. 900<br />
Fr. 800<br />
Fr. 700<br />
Fr. 600<br />
Fr. 500<br />
Die SKOS hat im vergangenen Jahr begonnen,<br />
eigene Daten zur Umsetzung der Sozialhilfe<br />
in der Schweiz zu erheben, um<br />
Vergleiche über die Ausgestaltung der<br />
Sozialhilfe in den Kantonen und Gemeinden<br />
anstellen zu können. Die folgenden<br />
Informationen basieren auf den Antworten<br />
der kantonalen Sozialämter anlässlich<br />
der ersten Befragungsrunde vom Mai 2<strong>01</strong>4.<br />
Die SKOS empfiehlt in den Richtlinien<br />
einen pauschalen Betrag für den Grundbedarf<br />
in der Höhe von 986 Franken. In der<br />
konkreten Praxis der Kantone existierte im<br />
Jahr 2<strong>01</strong>4 eine Bandbreite von 977 bis<br />
1110 Franken für den Grundbedarf. 16<br />
Kantone operierten mit dem von der SKOS<br />
empfohlenen Betrag, sechs Kantone waren<br />
2<strong>01</strong>3 der Teuerungsanpassung nicht gefolgt<br />
und gewähren einen leicht tieferen<br />
Grundbedarf von 977 Franken. In drei<br />
Kantonen liegt der Grundbedarf über tausend<br />
Franken, wobei zwei dieser Kantone<br />
das in den SKOS-Richtlinien empfohlene<br />
Anreizsystem nur beschränkt umsetzen.<br />
Durch den höheren Grundbedarf kompensieren<br />
diese Kantone den Teil der Unterstützung,<br />
den die meisten Kantone mittels<br />
Anreizleistungen auszahlen.<br />
Jungen Erwachsenen steht in 13 Kantonen<br />
ein reduzierter Grundbedarf von zwischen<br />
47 bis 88 Prozent des allgemeinen Grundbedarfs<br />
zu. Die SKOS-Richtlinien empfehlen<br />
für die Unterstützung von Personen zwischen<br />
dem 18. und dem 25. Altersjahr, die<br />
in einer Wohngemeinschaft leben, die nicht<br />
gleichzeitig auch eine Wirtschaftsgemeinschaft<br />
ist, einen Grundbedarf in der Höhe zu<br />
gewähren, wie ihn eine in einem Zweipersonenhaushalt<br />
lebende Person erhalten würde.<br />
Konkret heisst das, <strong>15</strong>09 Franken dividiert<br />
durch zwei, respektive 754 Franken und<br />
50 Rappen statt 986 Franken. Dies entspricht<br />
einer Kürzung um 24 Prozent.<br />
«MONITORING SOZIALHILFE»<br />
Dieser Text ist der zweite im Rahmen einer Serie<br />
von Beiträgen zur konkreten Umsetzung der<br />
Sozialhilfe in den Kantonen. Die Artikelserie<br />
gewährt Einblicke in die Vielfalt der Sozialhilfe in<br />
der Schweiz.<br />
Sonderregelungen<br />
Einige der kantonalen Gesetzgebungen<br />
beschränken den reduzierten Ansatz auf<br />
besondere Situationen, beispielsweise der<br />
Kanton Aargau auf «unerlaubtes» Alleinwohnen.<br />
Drei Kantone dehnen die Gültigkeit<br />
des reduzierten Ansatzes auf weitere<br />
Personengruppen aus: Der Kanton Thurgau<br />
wendet diesen auf Personen bis 30<br />
Jahre an, der Kanton Genf auf über 25-Jährige<br />
in Erstausbildung, und der Kanton<br />
Basel-Stadt auf Obdachlose. Eine weitere<br />
Abweichung, die nicht spezifisch die jungen<br />
Erwachsenen betrifft, hat der Kanton<br />
Luzern eingeführt. Bei Personen, die weniger<br />
als 18 Monate in der Schweiz gearbeitet<br />
haben, wird der Grundbedarf um<br />
<strong>15</strong> Prozent bei Einzelpersonen und um<br />
zehn Prozent bei einem Mehrpersonenhaushalt<br />
gekürzt. Unter gewissen Bedingungen<br />
sind Familien und Haushalte von<br />
Erwerbstätigen von dieser Regelung allerdings<br />
wieder ausgenommen.<br />
Die Erhebung hat gezeigt, dass die<br />
Kantone bei der Ausrichtung des Grundbedarfs<br />
die Empfehlungen der Richtlinien<br />
nachvollziehen oder sich in einer an<br />
die Empfehlungen angelehnten Bandbreite<br />
bewegen. Trotz der dargestellten<br />
kantonalen Unterschiede besteht eine<br />
grundsätzliche Einheitlichkeit. Bei jungen<br />
Erwachsenen kommt in zwölf Kantonen<br />
ein tieferer Ansatz zur Anwendung.<br />
Ferner lässt sich aus den Umfrageergebnissen<br />
folgern, dass der Grundbedarf, die<br />
situationsbedingten Leistungen und das<br />
Anreizsystem von den Kantonen zusammenhängend<br />
gehandhabt werden. •<br />
Fr. 400<br />
GE<br />
GR<br />
TG<br />
SG<br />
SO<br />
BS<br />
LU<br />
NW<br />
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Höhe des 2<strong>01</strong>4 gültigen Grundbedarfs für Einzelpersonen (blau) und für junge Erwachsene (rot).<br />
Christin Kehrli<br />
Leiterin Fachbereich<br />
Grundlagen ad interim<br />
MONITORING SOZIALHILFE 1/<strong>15</strong> <strong>ZESO</strong><br />
9
«Die Medien sind aggressiver<br />
und ruchloser geworden»<br />
Differenzierte Diskussionen über die Sozialhilfe und andere sozialstaatliche Themen finden in den Medien<br />
immer seltener statt. Wirtschaftsjournalist und Politik-Beobachter Daniel Binswanger reflektiert im<br />
Gespräch die Wirkung von Klickraten auf publizistische Grundsätze und das Muster politischer Strategien<br />
gegen soziale Errungenschaften. Und er erklärt, was er bei der Sozialhilfe verändern würde.<br />
Herr Binswanger, Sie kommentieren<br />
regelmässig das politische Geschehen<br />
in der Schweiz. Wie geht es der<br />
Schweiz zu Beginn des Jahres 2<strong>01</strong>5 mit<br />
Blick auf kommende gesellschaftspolitische<br />
Herausforderungen?<br />
Der Schweiz geht es sehr gut. Die Frage<br />
ist, wie stark dieser Zustand durch politische<br />
und wirtschaftliche Risiken bedroht<br />
ist. Einerseits stehen das Verhältnis zu Europa<br />
und die Zukunft der Personenfreizügigkeit<br />
auf dem Spiel, anderseits steckt die<br />
Eurozone weiterhin in einer tiefen Krise.<br />
Wir Schweizer haben ja immer ein wenig<br />
den Reflex zu denken, dass wir nicht zur<br />
EU gehören und deshalb nicht betroffen<br />
sind von dem, was um uns herum geschieht.<br />
Das ist natürlich eine Illusion. Insbesondere<br />
falls es in Deutschland zu einer<br />
Rezession kommt, wird uns das sehr direkt<br />
betreffen.<br />
Was erwartet uns innenpolitisch?<br />
Gute, tragfähige Lösungen bedingen<br />
einen nationalen Konsens. Die<br />
Debatten zielen aber immer seltener<br />
auf eine gemeinsame Lösungssuche,<br />
dafür werden umso häufiger Eigeninteressen<br />
verfolgt. Verträgt die<br />
Schweiz auf Dauer diese «Amerikanisierung»<br />
der politischen Kultur?<br />
Das Institutionengefüge in Amerika ist<br />
seit dem Erstarken der Tea Party praktisch<br />
nicht mehr funktionsfähig. Diese Entwicklung<br />
lässt sich auf die Schweiz bezogen ein<br />
Stück weit mit dem Aufstieg der Schweizerischen<br />
Volkspartei und mit der Inflation<br />
von Initiativen, die immer radikaler werden,<br />
vergleichen. Die SVP hat sich stark<br />
nach rechts entwickelt und setzt den Bürgerblock<br />
unter Druck. Die Mitte scheint<br />
dadurch desorientiert, und das macht die<br />
Lösungsfindung schwieriger. Aber auch<br />
die SP ist weniger kompromissbereit geworden,<br />
seit sie sich als Anti-Blocher-Partei<br />
profilieren kann.<br />
Ehemalige «Wortführer» wie Economiesuisse,<br />
Gewerbeverband oder<br />
Gewerkschaften spielen heute eher in<br />
Nebenrollen. Wer kämpft hier eigentlich<br />
gegen wen?<br />
Die klassische Links-Rechts-Konfrontation<br />
hat effektiv an Relevanz eingebüsst.<br />
Die entscheidende Auseinandersetzung<br />
findet zwischen Öffnungsbefürwortern<br />
und Öffnungsskeptikern statt. Das sieht<br />
man auch daran, dass sich sowohl links wie<br />
rechts innerhalb der politischen Stammmilieus<br />
immer wieder erstaunliche Widersprüche<br />
auftun. Die Interessenvertreter<br />
der Wirtschaft waren noch nie so uneinig<br />
wie heute, und die Gewerkschaften hätten<br />
beispielsweise auch ein grosses Problem,<br />
wenn die Schweiz mit der EU ein Rahmenabkommen<br />
abschliessen würde, das<br />
vorsieht, arbeitsrechtliche Konflikte vor europäischen<br />
Gerichtshöfen zu entscheiden.<br />
Vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />
und erhöhter Mobilität werden<br />
gesellschaftliche Errungenschaften<br />
vermehrt in Frage gestellt. Armut<br />
beispielsweise scheint weniger als<br />
Problem erkannt zu werden, das uns<br />
alle betrifft.<br />
Solidarität als gesellschaftlicher Grundwert<br />
hat an Ansehen eingebüsst. Dazu<br />
hat der aggressive Marktliberalismus beigetragen.<br />
Das zeigt sich etwa daran, dass<br />
die Steuern laufend gesenkt werden. Der<br />
Lebensstandard der Schweizer hat in den<br />
letzten zehn Jahren zwar zugenommen,<br />
aber hauptsächlich nur deshalb, weil pro<br />
Kopf mehr gearbeitet wird. Das bedeutet<br />
mehr Konkurrenz und mehr Druck, und<br />
das überträgt sich auf die Bereitschaft zu<br />
sozialem Ausgleich.<br />
Eine zweite Ursache sind die Angriffe<br />
auf die Sozialversicherungen und auf die<br />
Sozialhilfe. Sie laufen oft über Ausländerthemen.<br />
Zurzeit schiesst sich die SVP<br />
für ihren Wahlkampf ein, indem sie den<br />
Sozialhilfebezug von Eritreern thematisiert.<br />
Dieses Muster wird immer wieder<br />
angewendet: Man aktiviert Kräfte, die die<br />
Zuwanderung ablehnen, um den sozialen<br />
Ausgleich zu torpedieren. Diese politische<br />
Strategie ist sehr effizient.<br />
In der Bundesverfassung steht, «die<br />
Stärke des Volkes misst sich am Wohl<br />
der Schwachen». Ist das eher ein<br />
sozialethischer Grundsatz oder eher<br />
eine ökonomische Weisheit?<br />
Der Gedanke, dass man die Schwachen<br />
unterstützt, ist ein christlicher Wert und in<br />
unserer Gesellschaft tief verankert. Auch<br />
rechtsbürgerliche Kreise würden nie sagen,<br />
dass das falsch sei. Die Frage, wie ein Staat<br />
sein Verhältnis zu den sozial Schwachen gestalten<br />
soll, hat aber auch eine ökonomische<br />
Komponente. Wenn wenig Verdienende<br />
auch konsumieren können, profitiert die<br />
Volkswirtschaft. Eine zu grosse Einkommensungleichheit<br />
richtet ökonomischen<br />
Schaden an. Darauf weist beispielsweise<br />
auch der Internationale Währungsfonds<br />
hin. So betrachtet ist ein vernünftiger Ausgleich<br />
der Einkommensniveaus auch eine<br />
Empfehlung im volkswirtschaftlichen Sinn.<br />
Hat der Staat die Pflicht, für jene zu<br />
sorgen, die nicht arbeiten können?<br />
Eindeutig. Die Debatte wird ja auch<br />
nicht so geführt. Wer findet, dass Leute, die<br />
nicht genug verdienen, selber schuld sind<br />
an ihrer Lage, wird das nicht laut sagen.<br />
Stattdessen werden andere Debatten vorgeschoben,<br />
beispielsweise über «Betrug».<br />
Es mussten «Scheininvalide» herbeigeredet<br />
werden, mit dem Ziel, die Kosten der IV<br />
10 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>15</strong> INTERVIEW
Bilder: Meinrad Schade<br />
zu senken. Bei der Sozialhilfe läuft es<br />
ähnlich. Ein paar Betrugsfälle haben es<br />
diesen Kräften ermöglicht, die Sozialhilfe<br />
über eine Missbrauchsdebatte in Misskredit<br />
zu bringen. Aktuell wird mit dem<br />
Argument angegriffen, Sozialhilfe sei zu<br />
luxuriös, insbesondere für Asylsuchende.<br />
Und der nächste Kampfbegriff wurde<br />
mit dem Begriff «Sozial-Industrie» eben<br />
erst lanciert. Er impliziert, dass Geld verschwendet<br />
wird und dass Sozialarbeiter<br />
nur daran interessiert sind, sich gegenseitig<br />
Pöstchen zuzuschieben. Auch darin<br />
schwingt der Vorwurf von unmoralischem<br />
Verhalten bis hin zum Betrug mit. Nur mit<br />
solchen Taktiken lässt sich eine Institution<br />
wie die Sozialhilfe angreifen, von der<br />
niemand ernsthaft sagen kann, dass sie<br />
grundsätzlich schlecht ist.<br />
Die Medien tragen viel dazu bei, dass<br />
die öffentliche Diskussion so prominent<br />
und oft zugespitzt geführt werden<br />
kann. Was läuft falsch in der Berichterstattung,<br />
die diese Art Auseinandersetzungen<br />
mitträgt und verstärkt?<br />
Die Medien sind insgesamt aggressiver<br />
und ruchloser geworden. Klickraten geben<br />
ihnen pausenlos ein direktes Feedback,<br />
was dazu geführt hat, dass sich die publizistischen<br />
Leitziele verändert haben. Es<br />
besteht ein grosser Beschleunigungsdruck,<br />
gleichzeitig steht weniger Personal zur Verfügung,<br />
und es herrscht eine verschärfte<br />
«Die Medien haben<br />
an Fähigkeit<br />
eingebüsst, mit<br />
emotionsgeladenen<br />
Themen vernünftig<br />
umzugehen.»<br />
Konkurrenzsituation. Dadurch haben die<br />
Medien an Fähigkeit eingebüsst, mit emotionsgeladenen<br />
Themen vernünftig umzugehen.<br />
Sind die Medien ein Teil der angesprochenen<br />
Polit-Malaise?<br />
Die Versuchung, laute und unseriöse<br />
Geschichten mit Skandalisierungspotenzial<br />
herauszuhauen, wird nicht kleiner. Kürzlich<br />
wurden im «Fall Hagenbuch» wochenlang<br />
falsche Informationen und Zahlen<br />
herumgeboten, nicht nur vom Blick, sondern<br />
auch von der NZZ am Sonntag und<br />
dem Tagesanzeiger, bevor ein Journalist<br />
nachgeforscht und die Fakten richtigstellt<br />
hat. Und auch danach wurden sie von gewissen<br />
Medien weiter ignoriert. Auch der<br />
«Carlos-Skandal» war insgesamt eine unsägliche<br />
publizistische Fehlleistung. Dem<br />
ist hinzuzufügen, dass innerhalb der Medien<br />
ideologische Kräfte wieder an Einfluss<br />
gewonnen haben.<br />
<br />
INTERVIEW 1/<strong>15</strong> <strong>ZESO</strong><br />
11
DANIEL BINSWANGER<br />
Daniel Binswanger (Jg. 1969) ist Redaktor beim<br />
Tages-Anzeiger. In seiner Kolumne in der Wochenendbeilage<br />
«Das Magazin» kommentiert er das<br />
aktuelle wirtschafts- und gesellschaftspolitische<br />
Geschehen. Daniel Binswanger hat Philosophie<br />
und Literaturwissenschaften studiert und lebt in<br />
Zürich und Paris.<br />
Was läuft aus Ihrer Sicht falsch und<br />
was läuft gut in der Sozialhilfe?<br />
Über alles betrachtet macht die Sozialhilfe<br />
einen sehr guten Job. Das liegt zum<br />
einen an der Arbeit, die in den Sozialdiensten<br />
geleistet wird, zum andern an den<br />
stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen.<br />
Unsere sozialen Probleme sind im internationalen<br />
Vergleich klein. Vor diesem Hintergrund<br />
haben wir die Möglichkeit, eine<br />
sehr solide Sozialhilfe zu finanzieren.<br />
Kostet die Sozialhilfe zu viel?<br />
Die Kosten für die Sozialhilfe sind im<br />
Vergleich zu den Summen, um die es bei<br />
den Sozialversicherungen geht, ein kleiner<br />
Posten. Bei der Belastung des Mittelstands<br />
durch die Krankenversicherung oder der<br />
Finanzierbarkeit der Altersvorsorge sehe<br />
ich viel ernsthaftere Probleme.<br />
Sind die Unterstützungsansätze zu<br />
hoch?<br />
Zu den Standards, was die Sozialhilfe<br />
alles finanzieren soll, kann ich mich<br />
nicht im Detail äussern. Aber ich finde es<br />
eine gute Sache, dass wir den Sozialhilfebeziehenden<br />
einen guten Lebensstandard<br />
ermöglichen. Wenn Sie in andern Ländern<br />
unterwegs sind, begegnen Ihnen regelmässig<br />
Obdachlose, Strassenkinder, Alkoholiker.<br />
Jeden Winter erfrieren einige von<br />
ihnen. Und das notabene nicht in Staaten<br />
ohne Sozialsystem. Ich spreche von westlichen<br />
Staaten mit einem Sozialsystem auf<br />
niedrigem Niveau. Analoge Überlegungen<br />
gelten für die Kriminalitätsraten bei uns<br />
und in anderen Ländern. Unsere Sozialhilfe<br />
ist eine Errungenschaft, auf die wir stolz<br />
sein können.<br />
Trotzdem wird die Sozialhilfe immer<br />
wieder kritisiert.<br />
Ich sehe drei Problembereiche, wo<br />
Handlungsbedarf besteht: Bei den Unterstützungsleistungen<br />
für kinderreiche<br />
Familien, bei den Ansätzen für junge Erwachsene<br />
und beim Problem der Schwelleneffekte.<br />
Können Sie das ein wenig ausführen?<br />
Wenn kinderreiche Familien Nettoleistungen<br />
erhalten, die einem Mittelschichtseinkommen<br />
entsprechen, finde<br />
ich das auch stossend. Aber deswegen muss<br />
man die Unterstützungssätze nicht gleich<br />
halbieren. Die SKOS sollte sich überlegen,<br />
wie sich hier vertretbare Reduktionen vornehmen<br />
lassen können, beispielsweise mit<br />
günstigeren Betreuungsstrukturen. Sonst<br />
hat die SKOS ein Akzeptanzproblem, weil<br />
das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung<br />
tangiert ist.<br />
Was schlagen Sie für junge erwachsene<br />
Sozialhilfebeziehende vor?<br />
Es sollten Instrumente geschaffen werden,<br />
mit denen man renitente junge Sozialhilfebezüger<br />
zwingen kann, eine Arbeit<br />
zu suchen. Für diese Gruppe sind die Ansätze<br />
zu hoch, respektive die Anreize, sich<br />
abzulösen, sind nicht wirksam. Natürlich<br />
gibt es immer Menschen, die nicht arbeitsfähig<br />
sind, beispielsweise wegen psychischen<br />
Problemen. Man muss das von Fall<br />
zu Fall genau abklären.<br />
Zum Problem der Schwelleneffekte:<br />
Es wurden Strukturen geschaffen, die die<br />
Leute dazu verleiten, in der Sozialhilfe zu<br />
bleiben. Damit ist niemandem gedient.<br />
Das Problem hier ist, dass die Einstiegswerte<br />
extrem tief angesetzt werden müssen,<br />
um die existierenden Schwelleneffekte<br />
zu eliminieren.<br />
Das Problem bei den Schwelleneffekten<br />
sind eher die Umsysteme. Wenn<br />
man die Problematik wirklich lösen<br />
will, müssten die Mechanismen für die<br />
Besteuerung, das Prämienverbilligungssystem,<br />
die Kriterien für<br />
Stipendien und so weiter angepasst<br />
werden.<br />
Man müsste Möglichkeiten finden,<br />
Steuererlasse zu gewähren oder bei der<br />
Prämienverbilligung nach einem anderen<br />
Modus vorzugehen. Die Prämienverbilligung<br />
ist sowieso eine der grössten sozialpolitischen<br />
Baustellen in unserem Land.<br />
Hier gibt es sehr grosse Ungerechtigkeiten.<br />
Welche?<br />
Dass im Grundsatz alle gleich viel zahlen,<br />
trifft vor allem Einkommensschwache.<br />
Daran ändert die Möglichkeit, sich einen<br />
Teil der Prämie rückerstatten zu lassen, zu<br />
wenig. Für Personen mit tiefem Einkommen<br />
sind auch die reduzierten Prämien<br />
eine gewaltige Belastung. Und Familien<br />
der Mittelschicht, die keinen Anspruch auf<br />
eine Prämienverbilligung haben, zahlen<br />
für die Krankenversicherung schnell einmal<br />
10 000 Franken im Jahr. Das ist ein<br />
happiger Batzen, den nur gut Verdienende<br />
«Ich sehe drei<br />
Problembereiche:<br />
kinderreiche<br />
Familien, junge<br />
Erwachsene und<br />
Schwelleneffekte.»<br />
12 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>15</strong> INTERVIEW
locker wegstecken können. Der degressive<br />
Effekt der Pro-Kopf-Prämie führt zu einer<br />
direkten Umverteilung von unten nach<br />
oben.<br />
Wie bringt man Leute, die arbeiten<br />
möchten, denen aber der Einstieg<br />
nicht mehr gelingt, zurück in den<br />
Arbeitsmarkt?<br />
In unserem wirtschaftlichen Umfeld<br />
müsste es für diese Leute möglich sein,<br />
eine Arbeit zu finden. Aber die Bereitschaft,<br />
jemanden einzustellen, der möglicherweise<br />
ein wenig «schwieriger» ist als<br />
andere, ist eher gering. Und dann spielt<br />
hier wohl auch die Personenfreizügigkeit<br />
eine erschwerende Rolle.<br />
Was halten Sie von Anreizen für die<br />
Wirtschaft, diese Leute vermehrt anzustellen?<br />
Braucht es Quoten?<br />
Quoten sind politisch sehr schwierig<br />
durchzusetzen, also ist das unrealistisch.<br />
Ein Anreizsystem für Unternehmen hingegen<br />
wäre zu prüfen. Die öffentliche Hand<br />
könnte einen Teil der Lohnnebenkosten<br />
übernehmen. Das hätte aufgrund der derzeitigen<br />
Sensibilisierung vielleicht sogar<br />
gute Chancen.<br />
Was verstehen Sie persönlich unter<br />
sozialer Gerechtigkeit?<br />
Ich sehe drei Hauptelemente, die soziale<br />
Gerechtigkeit ausmachen: Erstens,<br />
eine Gesellschaft muss sich so organisieren,<br />
dass alle Mitglieder ein menschenwürdiges<br />
Auskommen haben. Zweitens:<br />
Chancengleichheit. Zu ihrer realen Herstellung<br />
muss materiell sehr viel mehr<br />
getan werden, als das in der Regel der Fall<br />
ist. Chancengleichheit beschränkt sich nicht<br />
darauf, den besten Schülern aus einfachen<br />
Verhältnissen mit Stipendien eine Karriere<br />
zu ermöglichen. Chancengleichheit heisst,<br />
dass auch Leute aus bildungsfernen Familien<br />
eine echte Chance erhalten, sich<br />
zu entwickeln. Drittens: Innerhalb einer<br />
Gesellschaft darf es grosse Einkommensdifferenzen<br />
geben. Soziale Gerechtigkeit<br />
orientiert sich nicht am Ideal materieller<br />
Gleichheit. Aber wenn die Differenzen zu<br />
gross werden, wenn sich eine völlig abgehobene<br />
Schicht von Superreichen ausbildet,<br />
ist das kaum mehr gerecht.<br />
Wie kann ein Sozialstaat nach westlichem<br />
Muster trotz globalisierter<br />
Wirtschaftsentwicklung überleben?<br />
Ich hoffe, dass die Staatengemeinschaft<br />
sich zusammenraufen wird und international<br />
gültige Standards durchsetzt, damit<br />
die Standortkonkurrenz abnimmt und die<br />
Staaten weiterhin genügend Einnahmen<br />
generieren können, um solid finanzierte Sozialsysteme<br />
unterhalten zu können. Es wäre<br />
eine Katastrophe, wenn das kaputt ginge. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
INTERVIEW 1/<strong>15</strong> <strong>ZESO</strong><br />
13
Die Bedeutung des Sozialstaats und der<br />
Beitrag der Sozialpolitik zur Gesellschaft<br />
Im Zug der regelmässigen Anpassungen bei den Sozialwerken muss darauf geachtet werden, dass<br />
«Reformen» nicht mit «Einsparungen» verwechselt werden. Diese Verwechslung ist gefährlich, weil<br />
sie nicht zur Verbesserung und Neugestaltung, sondern eher zur Abschaffung des Sozialstaats führt.<br />
Das öffentliche Leben ist ein gemeinschaftliches Werk und Gebilde,<br />
das nur im Hinblick auf das Zusammenleben einen Sinn erhält. In<br />
einer Welt, die immer stärker von einem an Profit und Einzelinteressen<br />
orientierten Individualismus geprägt ist, ist das keineswegs<br />
selbstverständlich. Deshalb hat unsere Gesellschaft seit Ende des<br />
19. Jahrhunderts verschiedene Instrumente geschaffen, um die<br />
Solidarität zu organisieren und zu strukturieren. Instrumente, die<br />
gefährdete Bevölkerungsgruppen vor Risiken schützen sollen, die<br />
gesellschaftlich relevant und von allgemeinem Interesse sind.<br />
Dank politischer Entscheide und einer engen Zusammenarbeit<br />
der Sozialpartner, also der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, traten<br />
Sozialversicherungen und Sozialhilfe teilweise oder ganz an die<br />
Stelle der einstigen Wohltätigkeit und Sicherheits- und Gesundheitsmassnahmen.<br />
Der Verstand, das Verantwortungsbewusstsein<br />
gegenüber den Schwächsten und die Vorteile des sozialen Friedens<br />
haben zu diesem grossen Fortschritt beigetragen.<br />
In Übereinstimmung mit den jeweiligen Anforderungen der<br />
Zivilgesellschaft, politischen Impulsen und Kräfteverhältnissen<br />
entwickelte die Schweiz ein weitreichendes und qualitativ hochstehendes<br />
soziales Sicherungssystem. Heute werden die Folgen von<br />
Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Erwerbsausfall<br />
im Alter sowie die Unterstützung von Familien und Mittellosen gemeinsam<br />
von Bund, Kantonen, Gemeinden und über dreitausend<br />
gemeinnützigen Sozialwerken getragen.<br />
Sozialer Zusammenhalt<br />
Als untrennbare Einheit verschaffen Wirtschaft und Gesellschaft<br />
damit der breiten Bevölkerung Zugang zu Wohlstand. Dieses Netz<br />
aus unterschiedlichen Solidaritäten bildet das sogenannte «soziale<br />
Sicherungssystem», das einen unbestrittenen Beitrag zum Wohlergehen<br />
der Bevölkerung leistet. Es ist keine Last, es ist eine Investition<br />
in die Gemeinschaft. Nichts daran ist selbstverständlich oder<br />
gegeben, alles ist errungen. Denn der Sozialstaat, dieses grossartige<br />
Werk im Dienste des Zusammenlebens, wird seit seiner Entstehung<br />
immer wieder in Frage gestellt. Die Grundsätze, Ziele und<br />
Funktionsweisen dieses Werks werden unter dem Einfluss sich<br />
ändernder Lebensweisen und Erwartungen und der jeweiligen<br />
Wirtschaftskraft von Privathaushalten und Unternehmen immer<br />
wieder neu gestaltet. Auch die politischen Akteure beeinflussen<br />
das Werk mit ihren gesellschaftlichen Visionen, Ideologien, Sichtweisen<br />
und ihrer (Un-)Fähigkeit, zu erkennen, welch grosse Bedeutung<br />
die Gesundheits-, Sozial- und Bildungspolitik für den gesellschaftlichen<br />
und nationalen Zusammenhalt haben.<br />
Die Gesundheits-, Alters-, Familien-, Beschäftigungs- und<br />
Integrationspolitik, die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe,<br />
die öffentlichen Akteure, die das Funktionieren der föderalisti-<br />
schen Schweiz garantieren, im Zusammenspiel mit den privaten<br />
Akteuren, die mit der Umsetzung sozialpolitischer Entscheide<br />
betraut sind – sie alle befinden sich im Zentrum eines deutlich<br />
spürbaren Wandels. Man denke nur an die neuen Technologien<br />
und Produktionsweisen oder die demografische Entwicklung,<br />
aber auch an die Veränderung, denen der Lebensstil, die Familie,<br />
unsere Beziehung zum Geld und Werte wie Fairness oder soziale<br />
Gerechtigkeit unterworfen sind.<br />
Wandel und Solidarität<br />
Diese Veränderungen schlagen sich unweigerlich in den Entscheidungsprozessen<br />
nieder. Sie geben die Richtung und die Modalitäten<br />
der Politik vor. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und der<br />
Entwicklung von Analyseinstrumenten hielt eine dynamische<br />
Steuerung Einzug, die sich durch das Primat der Finanzpolitik<br />
auszeichnet. Geprägt durch die Schweizer Sparpolitik der letzten<br />
<strong>15</strong> Jahre bringt sie Regelungen hervor, die selbst Hilfeleistungen<br />
an den Kriterien Wirtschaftlichkeit und Effizienz messen. Bei diesem<br />
Ansatz kann leicht etwas Wesentliches vergessen gehen, nämlich<br />
der eigentliche Kern jeder sozialpolitischen Massnahme: die<br />
Solidarität. In welcher Form auch immer sich die Solidarität in den<br />
politisch ausgehandelten institutionellen Konstrukten darstellt, sie<br />
ist und bleibt das Herzstück des Sozialstaats. Ist sie nicht vorhanden,<br />
besteht die Gefahr einer grundlegenden Verzerrung der Politik.<br />
Dennoch wird dieser entscheidende Grundsatz unterschätzt,<br />
oft missverstanden, manchmal in Zweifel gezogen. Bedenklich<br />
ist hierbei die Vermischung von Versicherungs- und Hilfsprinzip,<br />
die sowohl auf politischer Ebene als auch bei den mit der Umsetzung<br />
der Sozialgesetzgebung betrauten Akteuren um sich greift.<br />
Die fundamentalen Unterschiede bezüglich der sozialen Rechte,<br />
der Leistungsberechtigung und der Leistungshöhe werden<br />
heruntergespielt. Die Bestrebungen, die Sozialversicherungen zu<br />
schwächen, indem immer mehr Aufgaben und Kosten hin zur<br />
Sozialhilfe verlagert werden, sind Ausdruck dieses Phänomens.<br />
Die Folgen sind schwer zu bewältigen: Stigmatisierung, Demütigung,<br />
komplexe administrative Abläufe sowie die Weigerung, eine<br />
finanzielle oder moralische Schuld gegenüber der Gesellschaft<br />
«Der Sozialstaat ist eine<br />
gemeinschaftliche und<br />
solidarische Antwort auf<br />
die Risiken des Lebens.»<br />
16 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>15</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALSTAAT<br />
Die Gemeinschaft gibt dem Einzelnen Sicherheit.<br />
Bild: Keystone<br />
einzugehen, führen dazu, dass viele Menschen lieber auf die<br />
Leistungen verzichten und dadurch an den Rand gedrängt werden.<br />
Die Verlagerung zur Sozialhilfe bringt uns wieder zurück zur<br />
Wohltätigkeit, und das in einem Land, das zu den reichsten der<br />
Welt gehört und über ein qualitativ hochstehendes Sozialsystem<br />
verfügt. Was für ein Widerspruch! Hier liegt die grosse, selten<br />
angesprochene Herausforderung für die Entwicklung des schweizerischen<br />
Sozialstaats.<br />
Der Sozialstaat ist eine wirtschaftliche, soziale und politische<br />
Erfolgsgeschichte. Das Sozialsystem ist, entgegen den Behauptungen<br />
seiner Kritiker, keineswegs ein Problem. Es stützt die Konsumfähigkeit<br />
verschiedener Bevölkerungsgruppen und mildert<br />
dadurch die Unwägbarkeiten des Konjunkturverlaufs und die mit<br />
Krankheit oder Alter verbundenen Risiken. Rund 2,4 Millionen<br />
Menschen beziehen gegenwärtig eine AHV-Rente. Mehr als eine<br />
Million erhält eine zusätzliche Rente der beruflichen Vorsorge.<br />
Über 300 000 AHV- und IV-Rentnerinnen und -rentner müssen<br />
dank Ergänzungsleistungen nicht in Armut leben. Rund 32 Milliarden<br />
Franken zahlen Krankenkassen und Unfallversicherungen<br />
im Rahmen der medizinischen Versorgung der Bevölkerung aus.<br />
Etwa <strong>15</strong>0 000 Erwerbslose beziehen Leistungen von den regionalen<br />
Arbeitsvermittlungszentren, 230 000 Personen werden<br />
von der IV und 260 000 von der Sozialhilfe unterstützt. Rund<br />
<strong>15</strong>5 Milliarden Franken ermöglichen der Bevölkerung ein würdevolles<br />
Leben in der Gesellschaft und tragen damit direkt zum<br />
sozialen Frieden bei, der wiederum eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />
für den Wohlstand bildet. Das heisst auch: Investitionen<br />
in Milliardenhöhe und Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Der<br />
Sozialstaat ist also kein Problem. Er ist eine gemeinschaftliche<br />
und solidarische Antwort auf die Risiken des Lebens. Er ist ein<br />
starker Wirtschaftssektor, der ausnahmslos allen Mitgliedern und<br />
Akteuren der Gesellschaft zugutekommt.<br />
Dreidimensionale Perspektive<br />
Der Sozialstaat muss sich weiterentwickeln und die dynamische<br />
Anpassung der Sozialwerke, aus denen er sich zusammensetzt,<br />
vorantreiben. Diese Entwicklung sollte zwei Ansätze vereinen. Der<br />
erste setzt auf eine sinnvolle Steuerung der Leistungen im Sinne<br />
des Service public, um so der demokratischen Forderung nach<br />
einer optimalen Ressourcenverteilung gerecht zu werden. Der<br />
zweite soll strukturelle Innovationsprozesse anstossen, um ein zu<br />
komplex gewordenes System zu vereinfachen, in dem verschiedene<br />
Teilentwicklungen Ungleichheiten und unerwünschte Nebeneffekte<br />
hervorgebracht haben. Es zeichnet sich folglich eine dreidimensionale<br />
Perspektive ab: sektorale Anpassung – systemische<br />
Reform – Service public. Nur so kann eine folgenschwere semantische<br />
Sackgasse überwunden werden: die Verwechslung des<br />
Begriffs «Reform» mit «Einsparungen». Diese Verwechslung ist gefährlich,<br />
denn sie führt nicht zur Verbesserung und Neugestaltung,<br />
sondern eher zur Abschaffung des Sozialstaats. Sie lässt ausser<br />
Acht, dass in der sozialen Unsicherheit bedrohliche Entwicklungen<br />
schlummern, beispielsweise die Schwächung der demokratischen<br />
und behördlichen Legitimation, die Rückkehr zu einer willkürlichen<br />
Behandlung bestimmter Bevölkerungsgruppen, die<br />
Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Ungleichheit sowie eine<br />
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entsolidarisierung.<br />
Schliesslich muss eine nachhaltige Vision für den Sozialstaat<br />
junge Menschen noch stärker in Solidaritätsfragen einbinden. Die<br />
Beziehungen zwischen den Menschen, die unsere Gesellschaft<br />
bilden, haben nur einen Sinn und eine Perspektive, wenn sie (sozialen)<br />
Zusammenhalt und die Fähigkeit zum Zusammenleben<br />
hervorbringen. Eine der grössten Herausforderungen, die wir bewältigen<br />
müssen, ist der Entwurf, die Ausarbeitung und die strikte<br />
Umsetzung einer Strategie und eines generationenübergreifenden<br />
Systems für die soziale Sicherheit.<br />
•<br />
Stéphane Rossini<br />
Professor an den Universitäten Genf und Neuenburg<br />
Nationalratspräsident, SP<br />
SCHWERPUNKT 1/<strong>15</strong> <strong>ZESO</strong><br />
«Das grösste Problem sind Personen<br />
ohne Berufsausbildung»<br />
SOZIALSTAAT<br />
Gespräch mit Françoise Jaques, Leiterin des Sozialamts des Kantons Waadt, und Nicole Wagner,<br />
Leiterin der Sozialhilfe Basel, über den Sozialstaat, die Akzeptanz der Sozialhilfe in der Bevölkerung und<br />
die bevorstehende Richtlinienrevision.<br />
Frau Jaques, Frau Wagner, wo drückt in Ihrem Kanton<br />
der Schuh in sozialen Fragen am meisten?<br />
Françoise Jaques: Bevor ich auf Probleme zu sprechen<br />
komme, möchte ich festhalten, dass sich die Situation im Kanton<br />
Waadt im Vergleich zu vor zehn Jahren verbessert hat. Die<br />
Zahl der Sozialhilfebeziehenden hat sich stabilisiert, der Kanton<br />
hat seine Schulden abgebaut und der Wirtschaft geht es gut. Ein<br />
grosses soziales Problem ist der Zugang zu günstigem Wohnraum.<br />
Die Hälfte der Sozialhilfekosten sind Mietkosten. Für Personen,<br />
die wenig oder kein Einkommen haben, ist die Situation extrem<br />
schwierig. Ein zweites grosses Problem sind Personen ohne Berufsausbildung.<br />
Betroffen sind insbesondere junge Sozialhilfebeziehende<br />
und Working Poor.<br />
Nicole Wagner: In Basel verzeichnen wir in den letzten Jahren<br />
eine leichte, aber stetige Zunahme der Sozialhilfebeziehenden.<br />
Unser grösstes Problem dabei sind die Niedrigqualifizierten. Sie<br />
haben kaum Chancen, eine Arbeit zu finden, von der sich leben<br />
lässt. Die Ausgangslage in Basel wird dadurch erschwert, dass<br />
die ansässige Industrie vor allem mittel- und hochqualifizierte<br />
Arbeitskräfte sucht. Dass sich Niedrigqualifizierte oft weder in<br />
Deutsch noch in Französisch oder Englisch ausdrücken können,<br />
kommt erschwerend hinzu. Die Problematik auf dem Wohnungsmarkt<br />
kennen wir natürlich auch. Und auch hier gilt: Wer mehrfach<br />
benachteiligt ist, hat noch grössere Probleme.<br />
Die Leistungen des Schweizer Sozialstaats werden im<br />
aktuellen politischen Klima immer mehr hinterfragt. Wie<br />
nehmen Sie in Ihrem Kanton die Stimmung gegenüber der<br />
Sozialhilfe wahr?<br />
Wagner: Vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass wir in Basel kein<br />
Akzeptanzproblem haben. Seit in den Medien vermehrt über die<br />
Sozialhilfe geschrieben wird, wird die Sozialhilfe und ihre Leistungen<br />
vermehrt in Frage gestellt. Durch die meist negativen Berichte<br />
scheint es heute fast ein wenig so, als ob die Sozialhilfe für alle<br />
möglichen Probleme zuständig sei.<br />
Jaques: Ich erlebe das ähnlich. Die Sensibilität gegenüber Sozialhilfethemen<br />
hat zugenommen, die Toleranz hat abgenommen.<br />
Das bedingt eine regelmässige und transparente Kommunikation<br />
über unsere Kontroll- und Integrationsprogramme – das sind<br />
die beiden wirksamsten Massnahmen in der Sozialhilfe. Aber ich <br />
Françoise Jaques (links) und Nicole Wagner im Gespräch über aktuelle sozialstaatliche Herausforderungen.<br />
SCHWERPUNKT 1/<strong>15</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
«Ich würde einen<br />
schweizweiten<br />
Ausgleich begrüssen,<br />
der in allen<br />
Sozialsystemen<br />
zur Anwendung<br />
gelangt.»<br />
Nicole Wagner<br />
<br />
denke, die Bevölkerung ist sich nach wie vor bewusst, dass es in jeder<br />
Gesellschaft Solidarität und sozialen Zusammenhang braucht.<br />
Bei der Abstimmung über die Ergänzungsleistungen für Familien<br />
beispielsweise erzielte die Vorlage rund 65 Prozent Zustimmung.<br />
Wagner: Wir haben viele Medienanfragen. Da werden wir<br />
dahingehend gefragt, ob wir die Leute «verwöhnen». Ich erkläre<br />
dann, dass die Ursache für die steigende Sozialhilfequote nicht bei<br />
der Sozialhilfe selbst liegt. Das lässt sich beispielsweise anhand<br />
der Arbeitslosenquote zeigen. Während es vor ein paar Jahren<br />
im Durchschnitt ein Jahr dauerte, bis man eine Arbeit gefunden<br />
hatte, die der Qualifikation entspricht, dauert es heute mehr als<br />
anderthalb mal so lang. Nach zwei bis drei Jahren verlieren viele<br />
Leute aber sowohl ihre beruflichen als auch sozialen Kompetenzen.<br />
So potenzieren sich die Probleme gegenseitig, und das<br />
wirkt sich dann auf die Sozialhilfequote aus.<br />
Je komplexer die Zusammenhänge, desto schwieriger ist<br />
die Kommunikation?<br />
Jaques: Dass wir die Zusammenhänge und unsere Massnahmen<br />
immer wieder erklären, hilft, den Druck zu vermindern. Drei<br />
Massnahmen haben ganz besonders dazu beigetragen, Druck von<br />
der Sozialhilfe wegzunehmen: Die Überbrückungsleistungen für<br />
ausgesteuerte Arbeitslose kurz vor der Pensionierung. Die Massnahme<br />
zielt darauf ab, ihnen eine vorzeitige Pensionierung ohne<br />
Abstriche bei der Rente zu ermöglichen. Mit den Ergänzungsleistungen<br />
für Familien unterstützen wir Working-Poor-Familien, die<br />
nicht in die Sozialhilfe gehören. Die dritte wichtige Massnahme<br />
zielt darauf ab, jungen Sozialhilfebeziehenden eine Ausbildung<br />
oder ein Stipendium zu ermöglichen.<br />
Wagner: Bei uns bewährt sich in dem Zusammenhang, dass<br />
wir eine interinstitutionelle Strategiegruppe zur Verhinderung<br />
von Jugendarbeitslosigkeit haben. Wir versuchen, Problemfälle<br />
sehr früh zu erkennen und Jugendliche bei der Suche nach einer<br />
Ausbildung oder Lehrstelle zu begleiten. Dazu wurden viele unterschiedliche<br />
Brückenangebote für Jugendliche geschaffen, die<br />
es ihnen erlauben, sich sprachliche und schulische Kompetenzen<br />
anzueignen. Damit erzielen wir sehr gute Resultate.<br />
Mit solchen Massnahmen kann man die Sozialhilfe<br />
entlasten, dafür fallen anderswo «Sozialkosten» an. Nun<br />
herrscht in der Schweiz ein breiter Konsens darüber, dass<br />
der Staat seine Kosten im Griff haben sollte. Haben Sie<br />
eine Idee, wie sich das Dilemma zwischen sozialem und<br />
ökonomischem Handeln überwinden lässt?<br />
Jaques: Das muss kein Dilemma sein. Beides sind wichtige<br />
Kriterien, um eine stabile Situation zu erhalten. Wenn wir ein<br />
gutes System haben, das die sozialen Risiken abfedert, schafft das<br />
ein Gleichgewicht, von dem auch die Wirtschaft profitiert. Auf der<br />
anderen Seite schafft eine gesunde Wirtschaft die Voraussetzung<br />
dafür, das Funktionieren unseres sozialen Systems zu garantieren.<br />
Und die Unternehmen sind die ersten Ansprechpartner der Sozialhilfe,<br />
wenn es darum geht, Massnahmen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt<br />
und Berufsausbildungen zu ermöglichen.<br />
Wagner: Die Investitionen in die soziale Sicherheit sind eine Investition<br />
in das Funktionieren und den Zusammenhalt der Gesellschaft.<br />
In Basel haben wir allerdings eine spezielle Situation, weil<br />
die grossen Arbeitgeber internationale Industrieunternehmen sind.<br />
Die Möglichkeiten, mit ihnen zu verhandeln, sind beschränkt. Wir<br />
müssen deshalb auf langfristige Investitionen setzen, etwa indem<br />
wir Niedrigqualifizierten Weiter- und Nachholbildungen ermöglichen.<br />
Solche Massnahmen zeigen keine kurzfristigen Resultate. Ihr<br />
Erfolg ist deshalb schwierig zu kommunizieren.<br />
Wie beurteilen Sie die aktuelle Diskussion über die<br />
SKOS-Richtlinien?<br />
Wagner: Ich würde es sehr begrüssen, wenn die Diskussion<br />
über die Richtlinien zu mehr Akzeptanz bei den Kantonen und<br />
Gemeinden führt. Das ist enorm wichtig für unsere Arbeit.<br />
24 <strong>ZESO</strong> 1/<strong>15</strong> SCHWERPUNKT
SOZIALSTAAT<br />
«Für ein wirksames<br />
Anreizsystem<br />
braucht<br />
es einen Fächer<br />
von gezielten<br />
Integrationsangeboten.»<br />
Françoise Jaques<br />
In welche Richtung soll die Revision gehen?<br />
Wagner: Ich denke, die Anreizsysteme müssen reflektiert werden.<br />
Die neuste Studie kommt zum Schluss, dass die kantonalen<br />
Unterschiede gross sind und dementsprechend ihre Wirkung<br />
nicht überall und in allen Bereichen den Erwartungen entspricht.<br />
In Basel werden die Integrationszulagen sehr zurückhaltend gesprochen.<br />
Das erhöht den Anreiz, eine Arbeit zu suchen. Wenn<br />
ausserdem jeder Kanton die Anreizmöglichkeiten anders definiert,<br />
ist das der allgemeinen Akzeptanz der Richtlinien kaum<br />
zuträglich.<br />
Die Waadt hat die letzte Revision von 2005, mit der das<br />
Anreizsystem eingeführt wurde, nicht umgesetzt. Was<br />
erwarten Sie, Frau Jaques, von der aktuellen Richtlinienrevision?<br />
Jaques: Ein Grund, weshalb der Kanton Waadt das Anreizsystem<br />
nicht eingeführt hat, war, dass wir damals nicht über die nötigen<br />
Integrationsangebote verfügten. Heute sieht das anders aus:<br />
Wir haben zahlreiche Integrations- und Ausbildungsprogramme<br />
entwickelt und wir haben die Empfehlungen der SKOS im Hinblick<br />
auf die Integration junger Sozialhilfebezüger übernommen.<br />
Sie erhalten einen reduzierten Grundbedarf, und sie werden bei<br />
der Suche nach einer Anstellung oder einem Ausbildungsplatz aktiv<br />
unterstützt. Für ein wirksames Anreizsystem braucht es einen<br />
Fächer von gezielten Integrationsangeboten.<br />
Solche Programme zu unterhalten, ist die Aufgabe der<br />
Kantone, nicht der SKOS.<br />
Wagner: Man kann die Kantone nicht zu Massnahmen und<br />
Angeboten zwingen, dazu bräuchte es ein Bundesrahmengesetz.<br />
Das Wichtigste ist, dass wir die Unterwanderung des gemeinsamen<br />
Konsenses stoppen können. Die SKOS-Richtlinien sollten<br />
die gleiche Akzeptanz erlangen wie die SIA-Normen in der Architektur,<br />
über die auch nicht immer wieder diskutiert wird.<br />
Braucht es eher eine grössere oder eher eine geringere<br />
Verbindlichkeit der Richtlinien?<br />
Jaques: Ein Wettbewerb auf der Ebene der Sozialleistungen ist<br />
äusserst schädlich. Trotzdem muss jeder Kanton die Möglichkeit<br />
haben, eine Sozialpolitik zu entwickeln, die seinen wirtschaftlichen<br />
und politischen Rahmenbedingungen entspricht.<br />
Was können die Deutschschweizer vom Westschweizer<br />
Ansatz und umgekehrt die Westschweizer vom Deutschschweizer<br />
Ansatz lernen?<br />
Jaques: In den französischsprachigen Kantonen gibt es Finanzierungsmodelle<br />
für die Sozialhilfe, die zum einen auf einer Kostenteilung<br />
zwischen Kanton und Gemeinden und zum anderen<br />
auf einem Lastenausgleich unter den Gemeinden basieren. Damit<br />
wird verhindert, dass eine einzelne Gemeinde zu hohe Sozialhilfekosten<br />
tragen muss.<br />
Wagner: Als urbane Stadtgemeinde wachsen unsere Probleme<br />
stärker als an anderen Orten. Die Auswirkungen beispielsweise<br />
von ALV- und IV-Revisionen spüren wir viel stärker und schneller.<br />
Ich würde eine Kostenverteilung auf Bundesebene begrüssen,<br />
einen schweizweiten Ausgleich, der in allen Sozialsystemen zur<br />
Anwendung gelangen würde. Dass die Sozialhilfe nicht auf der<br />
gleichen Staatsebene behandelt wird, ist ein grosses Handicap.<br />
Was könnte die Romandie von den Deutschschweizer<br />
Kantonen lernen?<br />
Jaques: Mich interessieren Präventionsmassnahmen im Gesundheitsbereich<br />
und Ansätze zum interinstitutionellen Austausch<br />
zum Wohl der Klienten, die es in verschiedenen Deutschschweizer<br />
Kantonen gibt.<br />
•<br />
Gesprächsleitung<br />
Michael Fritschi<br />