Ziel Physiotherapeutischer Hintergrund Studiendesign ... - Mt-omt.de
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232<br />
gelesen und kommentiert<br />
Risk Factors and Clinical Features of<br />
Craniocervical Arterial Dissection<br />
Risikofaktoren und klinische Erscheinungsbil<strong>de</strong>r<br />
von Läsionen <strong>de</strong>r kraniozervikalen<br />
Gefäße<br />
Manuelle Therapie 2011; 15: 232 –233<br />
J. Schomacher<br />
Thomas LC, Rivett DA, Attia JR, Parsons<br />
M, Levi C. Manual Therapy 2011; 16:<br />
351 – 356<br />
Zusammenfassung<br />
<strong>Ziel</strong><br />
Das frühe Erkennen von Zeichen und<br />
Symptomen <strong>de</strong>r Läsionen kraniozervikaler<br />
Gefäße (Craniocervical arterial dissection,<br />
CAD) einschließlich feiner neurologischer<br />
Befun<strong>de</strong> könnte helfen, ungeeignete Interventionen<br />
wie Manipulation zu vermei<strong>de</strong>n<br />
und medizinische Behandlungen einzuleiten,<br />
um die Auswirkung eines<br />
Schlaganfalls zu min<strong>de</strong>rn. Die Studie<br />
suchte daher nach Risikofaktoren für<br />
CAD und nach ihrem natürlichen Verlauf.<br />
<strong>Physiotherapeutischer</strong> <strong>Hintergrund</strong><br />
CAD ist die häufigste Ursache für ischämische<br />
Schlaganfälle bei Menschen mittleren<br />
Alters. Sie tritt oft spontan ohne<br />
offensichtliche Ursache und mit einer Inzi<strong>de</strong>nz<br />
von 2,5 – 3 : 10000 auf. Vorbestehen<strong>de</strong><br />
subklinische Gefäßerkrankungen<br />
und -anomalien o<strong>de</strong>r genetische Dispositionen<br />
können möglicherweise dazu führen,<br />
dass äußere Auslöser wie kleinere<br />
mechanische Nackentraumata, kürzlich<br />
durchgemachte Infektionen o<strong>de</strong>r Viruserkrankungen<br />
die innere Gefäßwandruptur<br />
initiieren. Auch die Manipulation <strong>de</strong>r<br />
HWS wird gelegentlich mit ernsthaften<br />
Zwischenfällen in Verbindung gebracht.<br />
Kardiovaskuläre Erkrankungen tragen<br />
gewöhnlich weniger zu Gefäßläsionen<br />
bei unter 55-Jährigen bei. Dennoch wird<br />
die Erfassung vaskulärer Risikofaktoren<br />
vor manueller Behandlung <strong>de</strong>r HWS<br />
empfohlen.<br />
Die in <strong>de</strong>r Manuellen Therapie benutzten<br />
prämanipulativen Untersuchungsprotokolle<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren nicht alle Risikopatienten.<br />
Beson<strong>de</strong>rs erschwerend ist, dass<br />
Kopf- und Nackenschmerz oft die <strong>de</strong>utlichsten<br />
Symptome <strong>de</strong>r CAD sind, die somit<br />
als muskuloskelettales Problem verkannt<br />
wer<strong>de</strong>n kann.<br />
<strong>Studien<strong>de</strong>sign</strong><br />
Retrospektive Analyse von Krankenakten.<br />
Metho<strong>de</strong><br />
In einem australischen Krankenhaus wur<strong>de</strong>n<br />
die elektronischen Krankenakten von<br />
Patienten unter 55 Jahren mit radiologisch<br />
bestätigter o<strong>de</strong>r vermuteter Läsion<br />
<strong>de</strong>r A. vertebralis o<strong>de</strong>r A. carotis interna<br />
untersucht. Die Kontrollgruppe umfasste<br />
Patienten gleichen Alters und Geschlechts<br />
mit klinisch-radiologischer Schlaganfalldiagnose<br />
an<strong>de</strong>rer Ursache als CAD.<br />
Gesucht wur<strong>de</strong>n die vorhan<strong>de</strong>nen Zeichen<br />
und Symptome <strong>de</strong>s Schlaganfalls,<br />
die Geschichte vorausgegangener Ereignisse<br />
insbeson<strong>de</strong>re mechanische Traumata<br />
und speziell manuelle Behandlungen<br />
<strong>de</strong>r HWS sowie <strong>de</strong>r vorher bestan<strong>de</strong>ne<br />
medizinische Zustand <strong>de</strong>r Patienten. Die<br />
Bil<strong>de</strong>r von Gehirn und Gefäßen sowie<br />
<strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>s Schlaganfalls anhand<br />
<strong>de</strong>s Modified Ranking Score wur<strong>de</strong>n beurteilt.<br />
Ergebnisse<br />
Die Unterlagen von 90 Patienten mit<br />
Schlaganfall wur<strong>de</strong>n gesichtet, wovon 47<br />
durch CAD und 43 kardiovaskulär verursacht<br />
waren. Als Risiko für CAD wur<strong>de</strong><br />
bei 30 CAD-Patienten (64%) ein geringes<br />
mechanisches Trauma in <strong>de</strong>n 3 Wochen<br />
vor <strong>de</strong>m Schlaganfall i<strong>de</strong>ntifiziert, von<br />
<strong>de</strong>nen 11 (23%) Manuelle Therapie erhalten<br />
hatten. Von <strong>de</strong>n kardiovaskulären Patienten<br />
hatten nur 3 (7%) ein solches<br />
Trauma erfahren und nur 1 Patient hatte<br />
Manuelle Therapie bekommen. Dieser<br />
Unterschied ist statistisch signifikant.<br />
Radiologisch nachweisbare Gefäßanomalien<br />
waren bei 17 CAD-Patienten (36%)<br />
gegenüber 7 (16%) kardiovaskulären Patienten<br />
vorhan<strong>de</strong>n. Kürzlich durchgemachte<br />
Infektionen o<strong>de</strong>r Viruserkrankungen<br />
wiesen 12 CAD-Patienten (26%) auf,<br />
verglichen mit 4 (9%) kardiovaskulären<br />
Patienten. Dies könnte die Häufung von<br />
CAD in Herbst und Winter erklären.<br />
Kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck,<br />
erhöhter Cholesterinspiegel<br />
und an<strong>de</strong>re Begleiterkrankungen traten<br />
gehäuft bei <strong>de</strong>n kardiovaskulären Patienten<br />
auf, nicht aber bei <strong>de</strong>n CAD-Patienten.<br />
Das häufigste klinische Merkmal war<br />
Kopfschmerz bei 30 CAD-Patienten (81%)<br />
im Vergleich zu 22 kardiovaskulären Patienten<br />
(51%). Die vertebrobasiläre Gefäßläsion<br />
trat am häufigsten mit (oft okzipitalem)<br />
Kopfschmerz (23 Patienten<br />
bzw. 85%), Nackenschmerz (keine Häufigkeitsangabe),<br />
Schwin<strong>de</strong>l (14 bzw. 52%)<br />
und Unsicherheit (18 bzw. 67%) auf. Läsionen<br />
<strong>de</strong>r Carotis interna zeigten Kopfschmerz<br />
(15 bzw. 75%), Ptosis und Faszialislähmung<br />
(jeweils 12 bzw. 60%) sowie<br />
Schwäche in <strong>de</strong>n oberen (13 bzw.<br />
65%) und unteren Extremitäten (10 bzw.<br />
50%).<br />
Die kardiovaskulären Patienten litten in<br />
22 Fällen unter Kopfschmerz (51%), Dysphasie<br />
(30 bzw. 70%), Schwäche in <strong>de</strong>n<br />
oberen (32 bzw. 74%) und unteren Extremitäten<br />
(26 bzw. 60%), Parästhesien<br />
in <strong>de</strong>n oberen Extremitäten (20 bzw.<br />
47%) sowie Faszialislähmung (20 bzw.<br />
47%).<br />
Einen günstigen Ausgang mit einem Modified<br />
Ranking Score ≤ 2 (gehfähig und<br />
selbstständig) erfuhren 72% <strong>de</strong>r Patienten<br />
bei<strong>de</strong>r Gruppen.<br />
Diskussion<br />
Aus manualtherapeutischer Sicht das<br />
wichtigste Ergebnis dieser 1. retrospektiven<br />
Studie zu kraniozervikalen Gefäßläsionen<br />
ist eine statistisch signifikante<br />
Verbindung zwischen kürzlich erfahrenem<br />
geringeren mechanischen Trauma<br />
einschließlich Manueller Therapie und<br />
durch CAD verursachten Schlaganfällen.<br />
Dieser Zusammenhang fehlte bei kardiovaskulär<br />
verursachten Schlaganfällen.<br />
Manualtherapeuten sollten in solchen<br />
Fällen beson<strong>de</strong>rs auf subtile neurologische<br />
Symptome und Zeichen wie Gleichgewichtsstörungen,<br />
Ptosis und Sehstörungen<br />
achten. Überraschen<strong>de</strong>rweise<br />
trat Schwin<strong>de</strong>l nur in 52% <strong>de</strong>r Patienten<br />
mit vertebrobasilärer Gefäßläsion auf!<br />
Weiter sollten Manualtherapeuten bei<br />
<strong>de</strong>r HWS-Behandlung minimale Kraft<br />
anwen<strong>de</strong>n und plötzlich auftreten<strong>de</strong>n<br />
Nacken- o<strong>de</strong>r Kopfschmerz nach <strong>de</strong>r Behandlung<br />
als Warnhinweis für eine potenzielle<br />
Gefahr beachten.<br />
Die Krankenakten enthielten keine Spezifizierung<br />
bezüglich <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Manuellen<br />
Therapie, weshalb keine Rückschlüsse<br />
auf möglicherweise zu vermei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Techniken gezogen wer<strong>de</strong>n können.<br />
Die retrospektive Studie liefert keine<br />
Grün<strong>de</strong> für ein systematisches Erheben<br />
kardiovaskulärer Risikofaktoren vor Manueller<br />
Therapie zum Erkennen von CAD.<br />
Sie weist einige Einschränkungen auf und<br />
erlaubt nicht, einen direkten Zusammenhang<br />
zwischen Ursache und Wirkung abzuleiten.<br />
Dies ist bei <strong>de</strong>r Thematik mit<br />
prospektiven Studien jedoch auch nicht<br />
möglich.<br />
Heruntergela<strong>de</strong>n von: Jochen Schomacher. Urheberrechtlich geschützt.<br />
Schomacher J. Risk Factors and… Manuelle Therapie 2011; 15: 232–233 ∙ DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1281913
gelesen und kommentiert 233<br />
Schlussfolgerungen<br />
Läsionen <strong>de</strong>r kraniozervikalen Gefäße<br />
können sich in Form muskuloskelettaler<br />
Beschwer<strong>de</strong>n äußern. Manualtherapeuten<br />
müssen geringere mechanische<br />
Traumata einschließlich Manuelle Therapie<br />
in <strong>de</strong>r Vorgeschichte sowie subtile<br />
neurologische Symptome und Zeichen<br />
suchen. Bei <strong>de</strong>r HWS-Behandlung sollten<br />
sie minimale Kraft in anwen<strong>de</strong>n und ein<br />
anschließen<strong>de</strong>s plötzliches Auftreten von<br />
Nacken- o<strong>de</strong>r Kopfschmerz als Warnhinweis<br />
für eine mögliche CAD beachten<br />
Kommentar<br />
Folgeschä<strong>de</strong>n nach HWS-Manipulation<br />
können mit bleiben<strong>de</strong>n Lähmungen bis<br />
hin zum Tod dramatisch sein [4]. Ihre<br />
statistische Häufigkeit wird oft mit Aussagen<br />
relativiert, wie z.B. sie seien seltener<br />
als To<strong>de</strong>sfälle durch Rauchen o<strong>de</strong>r<br />
Straßenverkehr [3]. Während Autounfälle<br />
jedoch statistisch erfasst wer<strong>de</strong>n, ist<br />
von einer hohen Dunkelziffer nicht gemel<strong>de</strong>ter<br />
Schä<strong>de</strong>n nach Manipulation<br />
auszugehen. Zu<strong>de</strong>m hilft ein Relativieren<br />
we<strong>de</strong>r Patienten noch Kollegen, <strong>de</strong>nen<br />
ein solches Ereignis zustößt.<br />
Eine Befragung australischer Physiotherapeuten<br />
ergab, dass mehr als die Hälfte<br />
selten o<strong>de</strong>r nie Tests zur kraniovertebralen<br />
Instabilität vor HWS-Manipulationen<br />
durchführt. Weiter erkannten mehr als<br />
50% <strong>de</strong>r Physiotherapeuten nur 7 von<br />
42 mit <strong>de</strong>r kraniovertebralen Instabilität<br />
zusammenhängen<strong>de</strong> Symptome und Zeichen<br />
[2]. Wie gut können wir folglich<br />
Patienten mit einem Risiko für Instabilität<br />
o<strong>de</strong>r Gefäßläsion vor <strong>de</strong>r Behandlung<br />
erkennen – und wie oft bemühen wir<br />
uns ernsthaft und gezielt darum?<br />
Die Studie erlaubt lei<strong>de</strong>r keine Aussage<br />
bezüglich <strong>de</strong>r Techniken. Der Hinweis<br />
<strong>de</strong>r Autoren, nur minimale Kraft bei <strong>de</strong>r<br />
HWS-Behandlung anzuwen<strong>de</strong>n, lässt sich<br />
durch Kaltenborns [1] Rat ergänzen, insbeson<strong>de</strong>re<br />
Manipulationen <strong>de</strong>r HWS als<br />
Traktion in <strong>de</strong>r Ruhestellung durchzuführen.<br />
Auch die Traktionsmobilisation<br />
in <strong>de</strong>r Ruhestellung, beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r<br />
oberen HWS und kombiniert mit statischen<br />
muskulären Techniken wie Anspannen/Entspannen<br />
kann äußerst wirksam<br />
sein – bei aus mechanischer Sicht<br />
wahrscheinlich geringstmöglichem Risiko.<br />
Literatur<br />
1 Kaltenborn FM. Manual Mobilization of the<br />
Joints. Vol. III: Traction-Manipulation of the<br />
Extremities and Spine, Basic thrust techniques.<br />
Oslo: Norli, 2008<br />
2 Osmotherly PG, Rivett DA. Knowledge and use<br />
of craniovertebral instability testing by Australian<br />
physiotherapists. Manual Therapy<br />
2011; 16: 357–363<br />
3 Rosner AL. Zerebrovaskuläre Ereignisse. Risiken<br />
<strong>de</strong>r zervikalen Manipulationsbehandlung<br />
im Licht neuerer Erkenntnisse – ein<br />
Überblick. Manuelle Medizin 2003; 41: 215–<br />
223<br />
4 Schomacher J. Manipulation <strong>de</strong>r HWS und<br />
evi<strong>de</strong>nzbasierte Medizin. manuelletherapie<br />
2007; 11: 229–239<br />
Jochen Schomacher<br />
Florastr. 5<br />
8700 Küsnacht<br />
Schweiz<br />
Jochen-Schomacher@web.<strong>de</strong><br />
Heruntergela<strong>de</strong>n von: Jochen Schomacher. Urheberrechtlich geschützt.<br />
Schomacher J. Risk Factors and… Manuelle Therapie 2011; 15: 232–233 ∙ DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0031-1281913