Der_Aufklaerer_ Juergen_Habermas
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»Für ein starkes Europa« – aber was heißt das? 93<br />
einer nicht gerade europafreundlichen Wirtschaftsredaktion warnt die politischen<br />
Eliten davor, sich aufatmend zurückzulehnen und den eigentlichen<br />
Problemen weiterhin auszuweichen. 19 Es genügt nicht, das Politikmuster der<br />
Konsolidierung rechtlich festzuklopfen und technokratisch umzusetzen. Wie<br />
man es auch dreht und wendet, ein Politikwechsel, der Transferleistungen<br />
über nationale Grenzen hinweg einschließt, ist überfällig.<br />
Die Bundesregierung muss sich entscheiden, ob sie den anderen Regierungen<br />
der Eurozone im eigenen längerfristigen Interesse den Ausbau der Währungsgemeinschaft<br />
zu einer Euro-Union vorschlagen soll. 20 Nur sie kann die<br />
Initiative ergreifen. Nur sie ist in der Position, Frankreich und dem europäischen<br />
Süden, wo eine vertiefte Integration auch nicht auf Enthusiasmus stößt,<br />
sowohl politisch wie ökonomisch etwas anzubieten.<br />
Natürlich würde mit einem solchen Signal ein sehr langer und schwieriger<br />
Prozess erst beginnen können. Überdies wäre das Signal nur glaubhaft,<br />
wenn man damit (a) ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in Kauf nimmt,<br />
(b) auf den Intergouvernementalismus verzichtet, (c) ein europäisches Parteiensystem<br />
anstrebt und (d) sich vom Elitemodus der bisherigen Europapolitik<br />
verabschiedet. (Eine grammatische Anmerkung: Das in den folgenden<br />
Sätzen verwendete „müssen“ ist das logische Muss von Konsequenzen, die<br />
sich aus der Bereitschaft zu dem fälligen Politikwechsel ergeben würden.)<br />
Schritte nach vorn<br />
a. Die bestehenden EU-Institutionen müssen so ausdifferenziert werden,<br />
dass sich eine Euro-Union, die für weitere Beitritte anderer EU-Staaten<br />
(vor allem Polens) offen steht, herausbildet. Eine Union, die über Kern<br />
und Peripherie verfügt, kann sowohl britischen Wünschen nach Rückübertragung<br />
bestimmter Kompetenzen wie auch umstrittenen Beitrittswünschen<br />
(beispielsweise der Türkei) eher entgegenkommen, als das<br />
im Rahmen der bestehenden Verträge möglich ist. Eine Änderung des<br />
Primärrechts, für die es gut durchdachte Vorschläge gibt, 21 würde aber<br />
erst im Zuge der Durchführung eines zunächst innerhalb der Eurogruppe<br />
zu beschließenden Politikwechsels fällig.<br />
b. Mit dem im Verlauf der Krise noch verstärkten Vorrang der intergouvernementalen<br />
Methode muss zugunsten der Gemeinschaftsmethode<br />
gebrochen werden. Während die Versammlung von Regierungschefs,<br />
die sich allein vor nationalen Wählern legitimieren, auf das Aushandeln<br />
von Kompromissen zwischen unbeweglichen nationalen Interes-<br />
19 Marc Beise, Nach dem Sturm, in: „Süddeutsche Zeitung“, 25./26.1.2014, S. 26.<br />
20 Die „Glienicker Gruppe“, elf prominente aus der Mitte der Gesellschaft stammende Ökonomen,<br />
Politologen und Juristen, schlagen vor, auf EU-Ebene eine politisch handlungsfähige Wirtschaftsregierung<br />
einzurichten und demokratisch zu legitimieren. Sie solle mit einem eigenen Budget und<br />
abgestuften Durchgriffsrechten auf die nationale Haushaltsautonomie ausgestattet werden, über<br />
regionale Förderprogramme verhandeln, Banken schließen und im Krisenfall öffentliche Güter<br />
europaweit sicherstellen können. (Eine Kurzfassung des Appells in: „Die Zeit“, 17.10.2013).<br />
21 Vgl. für eine konstruktiv weiterführende Überarbeitung der gültigen Europaverträge: The Spinelli<br />
Group, Bertelsmann Stiftung, A Fundamental Law of the European Union, Gütersloh 2013.<br />
Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2014