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Der_Aufklaerer_ Juergen_Habermas

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Demokratie oder Kapitalismus? 61<br />

gleichen Regeln und konzentriert, in der Absicht der Durchsetzung dieser<br />

Regeln, Eingriffs- und Kontrollrechte auf der europäischen Ebene. Ohne<br />

eine gleichzeitige Stärkung des Europäischen Parlaments befestigt diese<br />

Bündelung von Kompetenzen bei Rat und Kommission die Entkoppelung der<br />

nationalen Öffentlichkeiten und Parlamente von dem abgehobenen, technokratisch<br />

verselbstständigten Konzert der markthörigen Regierungen. Wolfgang<br />

Streeck fürchtet, dass dieser forcierte Exekutivföderalismus eine ganz<br />

neue Qualität der Herrschaftsausübung in Europa herbeiführen wird: „Die<br />

als Antwort auf die Fiskalkrise in Angriff genommene Konsolidierung der<br />

europäischen Staatsfinanzen läuft auf einen von Finanzinvestoren und Europäischer<br />

Union koordinierten Umbau des europäischen Staatensystems hinaus<br />

– auf eine Neuverfassung der kapitalistischen Demokratie in Europa im<br />

Sinne einer Festschreibung der Ergebnisse von drei Jahrzehnten wirtschaftlicher<br />

Liberalisierung.“ (164)<br />

Diese zuspitzende Interpretation der im Gange befindlichen Reformen trifft<br />

eine alarmierende Entwicklungstendenz, die sich, obwohl sie die historische<br />

Verbindung von Demokratie und Kapitalismus aufkündigt, wahrscheinlich<br />

sogar durchsetzen wird. Vor den Toren der Europäischen Währungsunion<br />

wacht ein britischer Premier, dem es mit der neoliberalen Abwicklung<br />

des Sozialstaates nicht schnell genug geht und der, als der wahre Erbe von<br />

Margaret Thatcher, eine willige Bundeskanzlerin aufmunternd antreibt, im<br />

Kreise ihrer Kollegen die Peitsche zu schwingen: „Wir wollen ein Europa, das<br />

aufwacht und die moderne Welt aus Wettbewerb und Flexibilität erkennt.“ 4<br />

Zu dieser Krisenpolitik gibt es – am grünen Tisch – zwei Alternativen:<br />

entweder die defensive Rückabwicklung des Euro, für die in Deutschland<br />

soeben eine neue Partei gegründet worden ist, oder den offensiven Ausbau<br />

der Währungsgemeinschaft zu einer supranationalen Demokratie. Diese<br />

könnte bei entsprechenden politischen Mehrheiten die institutionelle Plattform<br />

für eine Umkehrung des neoliberalen Trends bieten.<br />

Die nostalgische Option<br />

Wenig überraschend optiert Wolfgang Streeck für eine Umkehr des Trends<br />

zur Entdemokratisierung. Das bedeutet, „Institutionen aufzubauen, mit<br />

denen Märkte wieder unter soziale Kontrolle gebracht werden können:<br />

Märkte für Arbeit, die Platz lassen für soziales Leben, Märkte für Güter,<br />

die die Natur nicht zerstören, Märkte für Kredit, die nicht zur massenhaften<br />

Produktion uneinlösbarer Versprechen werden.“ (237) Aber die konkrete<br />

Schlussfolgerung, die er aus seiner Diagnose zieht, ist umso überraschender.<br />

Es ist nicht der demokratische Ausbau einer auf halbem Wege stehen gebliebenen<br />

Union, der das aus den Fugen geratene Verhältnis von Politik und<br />

Markt wieder in eine demokratieverträgliche Balance bringen soll. Wolfgang<br />

Streeck empfiehlt Rückbau statt Aufbau. Er möchte zurück in die national-<br />

4 „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 8.4.2013.<br />

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2013

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