Der_Aufklaerer_ Juergen_Habermas
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Europa und die neue Deutsche Frage 53<br />
schlagen beteiligt werden – und andere auch. Aber diese Diskussion führen<br />
wir in Deutschland nicht, sondern wir führen stattdessen Schattengefechte auf<br />
Nebenschauplätzen.<br />
<strong>Der</strong> besagte Pakt für Europa, Ulrike Guérot hat ihn angesprochen, war<br />
nichts anderes als ein Geschenk an Frau Merkel, damit sie am 25. März einen<br />
Gipfel verlassen konnte, über den die Journalisten am 26. März schreiben sollten,<br />
damit die baden-württembergischen Wähler am 27. März, dem Tag der<br />
Wahl, morgens etwas Positives in der „Bild am Sonntag“ lesen konnten. <strong>Der</strong><br />
Pakt für Europa ist bei all seinen Vereinheitlichungsankündigungen inhaltsleer,<br />
denn er hat zwei entscheidende Aspekte: Erstens: Alles wird einstimmig<br />
entschieden, und zweitens: Die Nationalstaaten können selbst darüber befinden,<br />
was sie umsetzen und was nicht. Wenn ein europäisches Dokument diese<br />
beiden Aspekte enthält, dann ist es wertlos.<br />
Hinzu kommt: <strong>Der</strong> Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), den wir<br />
jetzt aufgebaut haben, geht das falsche Problem an. Wir werden ihn nie anwenden,<br />
denn wir lösen die eigentliche Kernfrage nicht: Wie gehen wir mit<br />
den überschuldeten Ländern in der sogenannten Peripherie jetzt um? <strong>Der</strong><br />
ESM führt neue Anleiheverträge ein, die aber bis 2020 oder sogar 2030 parallel<br />
zu den aktuellen Anleiheverträgen gelten. Können wir bis 202 warten, ehe<br />
wir die Krise lösen? Das ist absurd. Und gleichzeitig gibt es einen recht einfachen<br />
Grund dafür, dass wir die Krise verschleppen: die immer noch desolate<br />
Lage unseres Bankensystems in Deutschland. Wir werden keine Lösung finden,<br />
solange wir das bestgehütete Geheimnis, das Herr Fischer leider gerade<br />
ausgeplaudert hat, nicht endlich in die Öffentlichkeit bringen – dass die Problematik<br />
der Schuldenkrise in der Peripherie eigentlich ein deutsches Bankenproblem<br />
ist.<br />
Die Gestalt der Europäischen Union<br />
Guérot: Vielleicht ist das ja tatsächlich die Kernfrage der Euro-Diskussion:<br />
Was würde passieren, wenn alles zusammenkracht, eben auch die deutschen<br />
Banken? Aber zuvor die Frage an Sie, Herr Calliess: Offenbar fehlt Europa<br />
immer noch irgendwo die richtige Legitimation, ist eine ganze Reihe von<br />
Entscheidungsprozessen und Kompetenzen, wie von Jürgen <strong>Habermas</strong> und<br />
Joschka Fischer angesprochen, noch nicht klar legitimiert. Das war ja auch<br />
das Ergebnis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag.<br />
Wo sehen sie bei diesem Urteil das Kernproblem?<br />
Christian Calliess: Mit der Gestalt und Legitimation der EU haben Sie zwei<br />
sehr komplexe Fragestellungen angesprochen, für die es keine einfache Antwort<br />
gibt. Meine Antwort, als eine Stimme unter den Verfassungs- und Europarechtlern,<br />
ist, dass die Europäische Union nur als föderaler Verbund zu begreifen<br />
ist. Sie ist eine Art von Föderation, aber sie ist als solche etwas wirklich<br />
Neues. Wir können sie nicht mit den Begrifflichkeiten der Staatlichkeit oder<br />
des Völkerrechts erfassen. Wenn Sie sich einen Fluss vorstellen, bewegt sich<br />
die EU bildlich gesprochen irgendwo zwischen dem Ufer der internationalen<br />
Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2011