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Der_Aufklaerer_ Juergen_Habermas

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Europa und die neue Deutsche Frage 57<br />

diskutieren. Herr Fischer, Sie haben in ihrer Humboldt-Rede ja einen Schritt<br />

in diese Richtung gemacht, aber diesen Weg dann leider nicht weiterverfolgt,<br />

wenn ich das einmal so sagen darf. Gewiss, durch den Verfassungsvertrag<br />

schon, doch der scheiterte dann eben aufgrund der Referenden in Frankreich<br />

und in den Niederlanden. Und nach diesem Scheitern des Verfassungsvertrages<br />

haben Sie vermehrt über ein Thema gesprochen, das eigentlich zu Ihrem<br />

Entwurf der Vereinigten Staaten von Europa nicht so ganz passt, nämlich über<br />

eine weitere Erweiterung der EU. Sie haben als Außenpolitiker also Europa<br />

einerseits als geostrategisches Erweiterungsprojekt im Blick gehabt – die Notwendigkeit<br />

der Einbeziehung instabiler Staaten, auf dem Balkan etwa, aber<br />

auch der Türkei –, und andererseits haben Sie mit dem Ziel der Vereinigten<br />

Staaten von Europa zugleich den Anspruch einer weiteren Vertiefung der<br />

Integration verfolgt. Aber passt beides tatsächlich zusammen? Ich glaube, im<br />

Empfinden der Bürger ist dies nicht so. Die Bürger haben das Gefühl, dass<br />

Vertiefung und Erweiterung in einem ungelösten Konflikt zueinander stehen.<br />

Die Frage ist ja auch auf europäischer Ebene völlig ungelöst. Kann man bei<br />

27 verschiedenen Kulturen und Rechtsordnungen und ganz unterschiedlichen<br />

Bedingungen in den Mitgliedstaaten zum Beispiel eine europäische Innenpolitik<br />

etablieren, in der etwa ein gemeinsamer europäischer Haftbefehl gilt?<br />

Ich meine daher, dass das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes<br />

sich bereits im Urteil zum europäischen Haftbefehl andeutete. Die Richter<br />

konnten sich nicht vorstellen, dass ein Deutscher nach Rumänien ausgeliefert<br />

wird – und das nicht zu Unrecht. Hier birgt die europäische Heterogenität eine<br />

Herausforderung, die die Politik bislang nicht bewältigt hat. Es existiert eine<br />

Ungleichzeitigkeit zwischen Erweiterung und Vertiefung. Und genau daraus<br />

resultiert aktuell dieses Unbehagen mit Blick auf die Frage, wie wir mit dem<br />

Thema Wirtschaftsregierung und europäische Solidarität umgehen sollen. <strong>Der</strong><br />

Schriftsteller Léon de Winter fordert, wir sollten einfach zur EWG zurückkehren.<br />

Das ist in meinen Augen eine ganz gefährliche Forderung und absolut der<br />

falsche Weg, da eine solche Perspektive im Widerspruch zu unseren Vorstellungen<br />

von einer sozial- und umweltstaatlich flankierten Marktwirtschaft stehen<br />

würde. Gleichwohl muss sie aber diskutiert werden, denn so empfinden<br />

leider viele Bürger.<br />

Die wechselseitige Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten<br />

Guérot: Ist die von allen drei Vorrednern angesprochene Integrationsfalle, lieber<br />

Herr <strong>Habermas</strong>, nicht auch eine diskursive Falle, die da lautet: Eigentlich<br />

müssen wir mehr wollen, ob in der Vertiefung oder in der Erweiterung, wir<br />

benennen es aber nicht. Liegt es vielleicht an der unterschätzten Komplexität,<br />

die wir jetzt auch in der Euro-Krise im ökonomischen Raum erleben, also an<br />

der ganzen Heterogenität der Wirtschaftsmodelle und -konzepte, die eben für<br />

Frankreich oder für Griechenland so nicht applikabel sind?<br />

Jürgen <strong>Habermas</strong>: Man überlastet ja ungern eine Diskussion, die ohnehin<br />

schon überschwappt von Themen, aber es stimmt schon: Die Euro-Krise macht<br />

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2011

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