Der_Aufklaerer_ Juergen_Habermas
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»Für ein starkes Europa« – aber was heißt das? 89<br />
Allerdings geht es um mehr als nur eine Frage des Stils. Es ist in unserem<br />
nationalen Interesse, nicht wieder in jene, mit der europäischen Einigung<br />
endlich überwundene „halbhegemoniale Stellung“ Deutschlands zurückzufallen,<br />
die den Weg in zwei Weltkriege geebnet hat. Ohne einen europaweit<br />
erkennbaren Politikwechsel werden wir uns den good will von Nachbarn,<br />
den wir durch eine hemdsärmelig durchgepaukte Krisenpolitik ziemlich auf<br />
die Probe gestellt haben, nicht erhalten. Wir müssen zwar den ersten Schritt<br />
zu einer engeren Kooperation tun, aber die Bereitschaft signalisieren, die<br />
deutsche Führungsrolle strukturell verzichtbar zu machen und, bei fairem<br />
Umgang mit kleineren Staaten, weitere Initiativen im Einverständnis und auf<br />
Augenhöhe mit Frankreich zu unternehmen.<br />
Die von Franz-Walter Steinmeier angestoßene Diskussion über ein stärkeres<br />
internationales Engagement ist ein Lackmustest. <strong>Der</strong> Akzent, den Ursula<br />
von der Leyen gegenüber Joachim Gauck offenbar in dieser Debatte auf der<br />
Münchener Sicherheitstagung gesetzt hat, 11 macht einen Unterschied ums<br />
Ganze. Zugespitzt gefragt: Soll der wiederhergestellte Nationalstaat als solcher<br />
unter primär sicherheitspolitischen Gesichtspunkten auf die Weltbühne<br />
zurückkehren? Oder soll sich die Bundesrepublik im Rahmen einer gemeinsamen<br />
europäischen Außenpolitik tatkräftiger als bisher engagieren, um das<br />
geltende Recht der internationalen Gemeinschaft in Krisengebieten durchzusetzen?<br />
Das gewachsene Legitimationsdefizit der EU<br />
Das verschärfte Legitimationsdefizit: Die vom Krisenmanagement geschaffenen<br />
Fakten nötigen zu einer nachholenden Legitimierung der inzwischen<br />
informell erweiterten Handlungsspielräume von Kommission, Rat und EZB.<br />
Es handelt sich um mehrere Komplexe, 12 wobei in allen Fällen das EU-Parlament,<br />
selbst dort, wo es in den Gesetzgebungsprozess einbezogen war, am<br />
schleichenden Kompetenzzuwachs der EU-Organe keinen Anteil hatte: 13<br />
· <strong>Der</strong> Fiskalpakt vom 2. März 2012 ist ein völkerrechtlicher Vertrag<br />
zwischen den Mitgliedstaaten der EU (ohne Großbritannien), dessen<br />
Bestimmungen bis zum 1. Januar 2019 in EU-Recht umgesetzt werden<br />
sollen. Dieser kuriose Vertrag ist ein Produkt des deutschen Misstrauens:<br />
Zur Absicherung verankert er längst gefasste EU-Beschlüsse über<br />
erlaubte staatliche Defizite und Schuldenstände – zusammen mit Sanktionen<br />
im Falle der Nicht-Einhaltung – noch einmal im nationalen Ver-<br />
11 Vgl. den Bericht von Christoph Hickmann und Paul Anton Krüger über den Auftakt zur Sicherheitskonferenz<br />
in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 1./2.2.2014.<br />
12 Ich kann auf die im Krisenverlauf ausschlaggebende Rolle der demokratisch freischwebenden<br />
Europäischen Zentralbank nicht eingehen. Sie hat mit ihrer informell-forschen Kompensation der<br />
fehlenden gesamteuropäischen Rückzahlungsgarantie für Staatsanleihen dem hilflosen Europäischen<br />
Rat den Rücken freigehalten. Vgl. Ulf Meyer Rix, Die Krise der Europäischen Währungsunion:<br />
Gemeinsames Geld ohne gemeinsame Souveränität, in: Annegret Eppler und Henrik Scheller (Hg.),<br />
Zur Konzeptionalisierung europäischer Desintegration, Baden-Baden 2014, S. 207-232.<br />
13 Zum Folgenden: Marcus Höreth und Dennis-Jonathan Mann, Die Legitimitätsfrage als Zug- oder<br />
Gegenkraft im europäischen Integrationsprozess in: Eppler/Scheller, a.a.O., S. 89-116; Daniela<br />
Schwarzer, Integration und Desintegration in der Eurozone, Eppler/Scheller, a.a.O., S. 185-206.<br />
Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2014