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Neue Szene Augsburg 2015-04

Das Stadtmagazin für Augsburg und Umgebung. Aktuelle Info und Veranstaltungskalender unter www.neue-szene.de

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Seit 15 Jahren hat Michael K. seine Wohnung fast nie<br />

verlassen. Sein Exil ist allerdings nicht freiwillig. K.<br />

hat Angst, Angst vor den Menschen und vor der Welt.<br />

Seine Story erzählt Marcus Ertle<br />

Zoom 33<br />

Wenn Michael K. morgens<br />

aufwacht und aus dem<br />

Fenster schaut, sieht er<br />

die Stadt. Eine Stadt, die<br />

er seit 15 Jahren so gut<br />

wie nie betreten hat, außer, wenn er zum Arzt<br />

musste. Er lebt in einer Wohnung im Schwabencenter,<br />

zehnter Stock. Wenn das Wetter gut ist, kann<br />

er die Berge sehen. Wenn er sich vom Fenster<br />

abwendet, blickt er in sein neun Quadratmeter<br />

großes Zimmer. Es ist das Zimmer, in dem er schon<br />

als Kind lebte. Das Leben Ks findet in diesen<br />

neun Quadratmetern statt, die anderen Räume<br />

der Wohnung betritt er nur, wenn es unbedingt<br />

sein muss. Er ist jetzt 51 Jahre alt, bei anderen<br />

Menschen verlassen in diesem Alter die Kinder<br />

das Haus. Herr K. dagegen ist gefangen in seinem<br />

Kinderzimmer, sein Leben wird immer kleiner, fällt<br />

in sich zusammen, das spürt er und sucht nach<br />

Fluchtwegen, aber er hat ein Problem: Er ist sein<br />

eigenes Gefängnis.<br />

Rückblick<br />

Mitte der 1980er Jahre. Michael K. ist in den<br />

Zwanzigern, er hatte keine glückliche Kindheit,<br />

es gab viel Streit in der Familie, das war der Normalzustand.<br />

K. sucht nach Stabilität. Er arbeitet<br />

als Maler, zieht mit einer Frau zusammen in eine<br />

eigene Wohnung in der Jakobervorstadt mit Blick<br />

auf die Kahnfahrt, er richtet die Wohnung ein, ist<br />

stolz darauf, er hat ein eigenes Leben. Ein Leben,<br />

das irgendwann Ende des Jahrzehnts brüchig wird.<br />

K. wechselt immer öfter die Firma, meldet sich<br />

im Winter, wenn es wenig für Maler zu tun gibt,<br />

arbeitslos. Irgendwann hat er keine Lust mehr auf<br />

den Job und will sich umorientieren, sagt K. Aber<br />

die Orientierung bleibt ziellos, er versucht sich als<br />

Finanzberater, im Direktverkauf von Tupperware,<br />

will in einer Sicherheitsfirma arbeiten. Nichts davon<br />

gelingt. Zugleich gibt es Probleme in der Beziehung.<br />

Seine Lebensgefährtin hat Schulden, 30.000<br />

DM, er übernimmt sie, sagt K., obwohl er arbeitslos<br />

ist. Seine Ersparnisse gehen zur Neige, er kann<br />

zwischendurch bei einem Möbelhändler im Lager<br />

arbeiten, aber die Arbeit macht seinen Rücken kaputt,<br />

er muss aufhören. Er bekommt Depressionen,<br />

wird krank, Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck,<br />

seine Freundin verlässt ihn schließlich, er fällt in<br />

ein Loch. Im Grunde fällt K. bis heute.<br />

Anfang der 1990er Jahre hat K. kein Geld mehr. Er<br />

ist arbeitslos, seine Eltern unterstützen ihn, seine<br />

Wohnung kann er aber nicht halten, zu seinen<br />

Geschwistern hat er kaum Kontakt und wenn, dann<br />

ist es kein sehr freundlicher. Die Familie drängt<br />

ihn, wieder bei seinen Eltern einzuziehen, des<br />

Geldes wegen. K. tut es und kehrt in sein Kinderzimmer<br />

zurück. Bleibt dort. Dann gibt es Hoffnung.<br />

Sein Bruder hat ihm einen Job in München vermittelt,<br />

K. fährt in einer Firma, die Akten vernichtet,<br />

Gabelstapler. Im Winter fährt er die Paletten mit<br />

Papier übers Firmengelände, an sich keine schwere<br />

Arbeit, aber die Fahrzeuge sind ramponiert, die<br />

Heizungen funktionieren nicht, Türen fehlen, die<br />

Sitze sind wie Eisblöcke auf denen K. acht Stunden<br />

am Tag sitzt.<br />

Er fragt, wieso man die Gabelstapler nicht repariert.<br />

Die sind am nächsten Tag doch eh wieder<br />

kaputt, sagt sein Chef. K. arbeitet weiter, er will<br />

seinen Bruder nicht enttäuschen, aber irgendwann<br />

wird er krank, sein Urin ist blutig, der Arzt<br />

schreibt ihn sechs Wochen arbeitsunfähig. Als<br />

K. wiederkommt, wird er gemobbt, aber er will<br />

nicht aufgeben, nicht wieder scheitern, er denkt:<br />

Das wird schon wieder. Doch es wird nicht. Eines<br />

morgens wacht er auf und merkt, dass er ins Bett<br />

gemacht hat, vor Angst, am selben Tag kündigt er.<br />

Was folgt, ist der psychische Zusammenbruch und<br />

die Flucht Ks vor der Welt.<br />

Anfang 2000<br />

Ks Tag besteht aus PC-Spielen, er beginnt morgens,<br />

isst etwas, spielt weiter, mittags, Essen,<br />

nachmittags, abends, nachts. Zwischendurch<br />

schaut er Filme an, alles außer Comics und Pornos.<br />

Und Komödien nur, wenn sie nicht zu lustig sind.<br />

K. wird zu einem traurigen Kind in den Vierzigern,<br />

das von seinen Eltern finanziert wird. Das dauert<br />

fünf Jahre. Dann beschließt K. sein Leben zu<br />

ändern, aber das ist nicht so einfach, er ist krank,<br />

hat psychische Probleme, fürchtet sich vor den<br />

Menschen, fürchtet sich vor der Welt. Er beantragt<br />

Arbeitslosengeld, die Arbeitsagentur schickt ihm<br />

wöchentlich Jobangebote, er soll sich bewerben.<br />

K. fühlt sich dem nicht gewachsen, er geht zum<br />

Arzt, der schreibt ihn krank, doch die Arbeitsagentur<br />

akzeptiert Krankschreibungen nur, wenn man<br />

bettlägerig ist, sagt K. Er fühlt sich schikaniert, hat<br />

Angstzustände, beginnt sich selbst zu verletzen.<br />

Einmal geht er mit aufgeritzten Unterarmen zum<br />

Termin mit der Jobberatung, die Fallmanagerin<br />

sieht das Blut und verzieht das Gesicht, einen Tag<br />

später schickt sie ihm trotzdem das Jobangebot<br />

einer Sicherheitsfirma. Statt zur Sicherheitsfirma<br />

geht K. ins Bezirkskrankenhaus, will sich therapieren<br />

lassen, verlässt nach drei Tagen die Einrichtung,<br />

besucht schließlich eine ambulante Reha-<br />

Einrichtung. Irgendwann gibt die Arbeitsagentur<br />

nach und stuft K. als erwerbsunfähig ein, seitdem<br />

bekommt er eine kleine Erwerbsminderungsrente.<br />

Die Arbeitsagentur lässt ihn in Ruhe, die Welt<br />

vergisst K. zunächst, aber er bleibt hilfsbedürftig<br />

zurück.<br />

2005 bis heute<br />

Dann stirbt sein Vater. Seine Mutter wird von den<br />

Geschwistern in ein Pflegeheim gebracht. Zurück<br />

bleibt K. in seinem Kinderzimmer. Er schottet sich<br />

ab und sucht zugleich nach Hilfe. Irgendwann geht<br />

er nicht mehr zum Arzt, trotz seiner Krankheiten,<br />

er fürchtet die Menschen, den Bus, die Straße.<br />

Essen lässt er sich übers Internet liefern - Konserven,<br />

Tiefkühlware, Getränke. Facebook wird<br />

sein Sprachrohr, dort postet er täglich, wie es ihm<br />

geht. Meist sind es keine sehr fröhlichen Postings.<br />

K. will raus aus seinen neun Quadratmetern und<br />

gleichzeitig gibt es nichts, wovor er sich mehr<br />

fürchtet als vor diesem möglichen Ausbruch. Er<br />

sucht nach Hilfe beim Gesundheitsamt, per Mail,<br />

denn er hat Panik vor Telefonanrufen. Er stellt<br />

einen Antrag auf freiwillige gesetzliche Betreuung,<br />

eine Art Vormund. Doch Behörden sind mitunter<br />

langsam und dann, als es vorwärts zu gehen<br />

scheint, wird seine Sachbearbeiterin, Frau F.,<br />

krank. Ihr Vertreter muss sich erst in die Materie<br />

einarbeiten, das dauert und Mails übersieht man<br />

leichter als einen drängenden Anruf oder einen<br />

verzweifelten Menschen auf der anderen Seite des<br />

Schreibtischs. Doch jetzt drängt die Zeit. Seine Geschwister<br />

wollen, dass K. aus der Wohnung zieht.<br />

Mieterin ist seine Mutter, doch die ist ja jetzt im<br />

Pflegeheim. K. bekommt Post, der Vermieter will<br />

die Wohnung kündigen, die Geschwister wollen<br />

den Hausrat bald abholen. K. schreibt verzweifelte<br />

Mails ans Gesundheitsamt, doch die Antwort lässt<br />

auf sich warten, Frau F. ist noch krank.<br />

K. rechnet jetzt täglich damit, dass man ihm den<br />

Strom abdreht, das Wasser, dass es an der Tür<br />

klopft und man ihn rauswirft. Dann meldet sich<br />

sein Bruder und verspricht, dass er die Miete überweist,<br />

dass alles geregelt wird, dass er keine Angst<br />

haben muss. Drei Tage später ruft der Vermieter<br />

an und fordert die fehlende Miete. K. weiß nicht,<br />

ob sein Bruder bezahlt hat und die Miete nur noch<br />

nicht auf dem Konto ist, oder ob man ihn belogen<br />

hat, er steigert sich in seine Ängste hinein, sieht<br />

sich bereits als Obdachlosen. Er zählt nervös die<br />

Stellen auf, bei denen er schon Hilfe suchte, Caritas,<br />

Sozialstation, Arbeiterwohlfahrt, selbst Jürgen<br />

Domian hat er geschrieben. Er sagt, dass er kaum<br />

schläft, dass er aus dieser Hölle raus will, er schaut<br />

seinen Gesprächspartner verzweifelt an und der<br />

weiß auch nicht mehr, was er sagen soll. Schweigen.<br />

Blick aus dem Fenster, an die Wand, auf den<br />

Boden. Dann klingelt das Telefon. Erlösung. Frau F.<br />

vom Gesundheitsamt ist am Apparat, sie ist nicht<br />

mehr krank. Sie sagt K., dass sie ihm helfen wird.<br />

Sie ruft morgen wieder an. In diesem Moment<br />

wirkt Herr K. beinahe glücklich.

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