12-1 Christliche Ethik.pdf - Sapientia
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<strong>Christliche</strong> <strong>Ethik</strong><br />
Grundfrage: Was soll ich tun? (Was ist gut, was ist böse?)<br />
⇒ Ausdruck der Würde des Menschen, dass uns solche Entscheidungen zugetraut und zugemutet werden<br />
(1) Begriffsklärungen:<br />
• Wert: was nach individueller und sozialer Einschätzung als erstrebenswert, gut, nützlich fördernd angesehen wird; Wert steht<br />
nicht grundsätzlich fest, sondern bemisst sich nach Bedürfnis und Situation<br />
• Norm: Regel, die angibt, was sein muss, was geschehen soll; Maßstab der Beurteilung, Bewertung<br />
• Wert wird verwirklicht, realisiert in konkreten Normen; Normen sind wandelbar, weil sie Werte je nach Situation,<br />
Umständen und Zeit umsetzen sollen<br />
• Gesetz: Norm, deren Verletzung gerichtlich verfolgt werden kann (Staat)<br />
• Moral/Sittlichkeit: Summe der unbestrittenen, anerkannten und angewandten Normen (Gesellschaft)<br />
(2) Normbegründungsmodelle:<br />
Modell zentraler Wert Vorzüge Schwächen Sonstiges<br />
ethisch richtige<br />
bekämpft jede Anwendung im Alltag führt<br />
Gesinnung: was bloß äußerliche zu Konflikten: schlechte<br />
Vernunft und Gewissen Pflicht-erfüllung Handlungen haben gute<br />
als sittlich richtig erkannt (Legalismus) Folgen → Ausführen<br />
haben, muss man auf<br />
kleineres Übel als<br />
jeden Fall tun (ohne<br />
Unterlassung (vgl.<br />
Rücksicht auf Folgen)<br />
Doppelwirkung)<br />
…)<br />
Gesinnungsethik<br />
(deontologische<br />
<strong>Ethik</strong>)<br />
→ Pflicht<br />
Verantwortungsethik<br />
(teleologische<br />
<strong>Ethik</strong>)<br />
→ Ziel/<br />
Zweck<br />
Situationsethik<br />
(Individualethik)<br />
Leugnung in sich<br />
guter/schlechter Handlungen<br />
+ ewiggültiger Normen;<br />
Überforderung des<br />
Menschen; Kausalität des<br />
Lebens; Verabsolutierung<br />
subjektiver Gewissensentscheidungen<br />
Leben hat keinen anderen<br />
Zweck als Streben nach<br />
Nutzen/Lust<br />
Utilitarismus<br />
→ Nutzen<br />
voraussehbare Folgen<br />
einer Handlung: gut,<br />
wenn gute Folgen die<br />
schlechten auf-<br />
/überwiegen<br />
Reaktion auf<br />
Erfordernisse der<br />
Situation: weder in sich<br />
gute noch in sich<br />
schlechte Handlungen<br />
Nützliches: bringt Glück<br />
(=Lust), Freude, Gewinn<br />
→ ist gut<br />
„gesunde Mitte“<br />
zwischen<br />
Gesinnungs-ethik<br />
und Utilitarismus<br />
Kritik am<br />
Extremismus<br />
anderer<br />
moralischer<br />
Systeme;<br />
Augenblick als<br />
Kairos, Gutes zu<br />
tun<br />
Gefahr: „Zweck heiligt<br />
Mittel“ → völlige Leugnung<br />
in sich schlechter Handlungen<br />
in sich schlechte Handlungen<br />
müssen auf jeden Fall<br />
gemieden werden – auch<br />
wenn sie gute Folgen haben<br />
könnten (z.B.<br />
Gotteslästerung, Mord, Lüge,<br />
Wertvorzugsregel: höherer<br />
Wert vor niederem Wert;<br />
Nächsten- vor Fernstenliebe;<br />
Gemeinnutz vor Eigennutz<br />
Epikie: Selbstbefreiung von<br />
veränderlichen Norm in<br />
Ausnahmefall<br />
Norm ist situative,<br />
individuelle, subjektive Regel<br />
(„Ratgeber“); gilt nur für eine<br />
einzige Situation →<br />
Nichtexistenz ewiggültiger<br />
Normen<br />
Individual- (Wohl des<br />
Einzelnen) und Sozial-<br />
Utilitarismus (Gemeinwohl)<br />
• Doppelwirkung: Ausführen einer Handlung mit guten + schlechten Folgen, wenn …<br />
… Handlung nicht in sich schlecht ist<br />
… gute und schlechte Folgen unvermeidlich sind<br />
… schlechte Folgen nicht stärker als gute Wirkung sind<br />
• Situationsethik eigentlich Widerspruch zum Christentum, teilweise aber für Christen „annehmbar“:<br />
- jede Situation ist Anruf Gottes an Menschen zur Selbstverwirklichung durch gutes Handeln<br />
- situationsethische Überlegungen bei Entscheidungs-/Handlungsnot: objektive Normen fehlen, Ausnahmefall<br />
Grundtypen ethischer Argumentation Gesetzesethik Gesinnungsethik Situationsethik teleologische Argum.<br />
Modelle der Normbegründung Rechtspostitivismus Pflichtethik Hedonismus Utilitarismus<br />
• Verantwortungsethik: deontologisch + teleologisch → Einheit von Klugheit + Pflicht<br />
• Präferenzutilitarismus (Peter Singer): „Personen“ (Selbstbewusstsein, längerfristige Lebensplanung) haben Vorrang vor<br />
anderen Wesen; Handlung gut, wenn ihre Folgen den Lebensinteressen von Personen gerecht werden<br />
(3) Naturrechtslehre:<br />
• Würde ist jedem menschlichen Individuum allein aufgrund seines Menschseins vom Ursprung seiner Existenz an eigen<br />
• Philosophie der Antike: übergreifende Ordnung weist jedem Seienden seinen Platz im Kosmos zu<br />
• menschliche Fähigkeit, sich rational zur Welt zu verhalten ⇒ Aufgabe: Gesetzmäßigkeiten erkennen, Zwecke fördern<br />
• Thomas von Aquin: lex aeterna (= im Schöpfungsplan Gottes begründetes natürliches Sittengesetz; „Was ist gut/schlecht?“)<br />
bildet Grundlage für lex humana (= Anwendung des Sittengesetzes auf die Situation; „Welches Handeln folgt daraus?“) →<br />
oberstes Ziel: bonum commune (= Allgemeinwohl)
(4) Quellen christlicher <strong>Ethik</strong>:<br />
• Natürliches Sittengesetz: mithilfe der Vernunft aus der natürl. Ordnung der Schöpfung zu erkennen (vgl. Goldene Regel)<br />
• Vernunft: Verstand, Erfahrung, wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
• Offenbarung: Bibel (AT, NT) → interpretationsbedürftig (direkte und indirekte Stellen)<br />
⇒ kirchliches Lehramt (Papst, Bischöfe, Beauftragte) formuliert Richtlinien für ethisches Handeln<br />
• der Gläubige orientiert sich, bildet sein Gewissen, handelt<br />
→ Im Zweifel ist das Gewissen in sittlichen Entscheidungen die letztverbindliche Norm!<br />
(5) Gewissen:<br />
• jeder Mensch hat Gewissen (Röm 2,14f.), von Gott gegeben (Gaudium et spes, Art. 16) → Pflicht: es lebenslang zu bilden<br />
• Gewissensbildung: - Kindliches Gewissen: Orientierung an Lohn und Strafe<br />
- Autoritäres Gewissen: Orientierung an Autoritäten (Was ge-/missfällt?)<br />
- Mündiges Gewissen: Orientierung an internalisierten Werten<br />
- <strong>Christliche</strong>s Gewissen: Orientierung bewusst an christlichen Wertmaßstäben<br />
• Gewissensentscheidung: - Analyse der konkreten Situation (Vernunft)<br />
- Zuordnung zu Normen, Gesetzen, Geboten, ethischen Werten<br />
- für Christen: insbesondere Dekalog und Bergpredigt<br />
- Entscheidung (für das kleinere Übel)<br />
(6) Dekalog:<br />
• Einleitungssatz: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (Ex 20,2)<br />
→ Weisungen: barmherzige Zuwendung Gottes, echte Freiheitsperspektive, „Gottes in Gebote des Lebens gefasste Liebe“<br />
I. Monotheismus: „Du darfst an mich glauben – nicht: du musst!“; andere Götter können auch Dinge im Alltag sein<br />
II. Namen Gottes nicht missbrauchen: unter Berufung auf Gott Macht über Menschen gewinnen wollen<br />
III. Sabbat heiligen: Mensch muss Alltag beherrschen (nicht umgekehrt) → Abstand gewinnen, zur Ruhe kommen<br />
IV. Eltern ehren: an erwachsene Kinder betagter Eltern gerichtet → Schutz der Älteren (Schwächeren), Alterssicherung<br />
V. nicht töten: Verbot der Blutrache, Auftrag einer geordneten Justiz, Schutz des Einzelnen/der Menschenwürde<br />
VI. nicht ehebrechen: beginnt mit Vertrauensbruch, fehlender Zuwendung, Lügen; Schutz der Familie + Kinder<br />
VII. nicht stehlen: Schutz der Armen vor Übervorteilung der Reichen; Eigentum verpflichtet; Menschenhandel<br />
VIII. nicht falsch aussagen: Schutz der Wahrhaftigkeit, Informationsfreiheit, Vertrauen<br />
IX./X. nicht begehren deines Nächsten Frau/Hab und Gut: Schutz des sozialen Friedens, Verbot des Begehrens (als<br />
bewusstes Planen), Aufruf zur Gewissensbildung (Neid als Triebfeder allen Übels)<br />
⇒ „Du hast das (ewige) Leben, also handle danach!“: Gabe → Aufgabe; Indikativ → Imperativ<br />
(7) Bergpredigt (Mt 5,1 – 7,28):<br />
• vorher: Jesu Stammbaum, Kindheit, Jugend, Wirken in Galiläa (erstes öffentliches Auftreten, Berufung der Jünger)<br />
• Berg: szenischer Rahmen (keine Verortung an real existierenden Ort) → Übergabe des Dekalogs an Mose am Berg Sinai<br />
• 5,3-<strong>12</strong>: Seligpreisungen → neue Wertmaßstäbe (Demut, Gerechtigkeitssuche, Barmherzigkeit, Friedensstiftung)<br />
• 5,13-15: neue Selbstverständnisse („Licht der Welt“, „Salz der Erde“)<br />
• 5,16-48: neues Gesetzesverständnis (Antithesen) → inhaltlich keine neuen Gesetze, sondern deren Erfüllung<br />
• 6,25-34: neuer Lebensstil (Gelassenheit)<br />
⇒ Ergebnis (7,1-29): neue Gerechtigkeit (Aufruf zur Entscheidung für den Weg Gottes, der zum Leben führt)<br />
• erneut szenischer Rahmen: Jesus steigt vom Berg herunter → lebt neue <strong>Ethik</strong> vor (Prüfungssituationen) → Bestätigung<br />
• Jesu Sicht des AT: Geltung, aber Übertragung/Anpassung (Gegensatz: Pharisäer → strikte Auslegung, Gesetzescharakter)<br />
• Freiheit als Geschenk Gottes (Indikativ) → Nächsten- und Feindesliebe (5,43-48) (Imperativ)<br />
• Augustinus: „Ama et fac quod vis!“ („Liebe und dann tue, was du willst!“)<br />
• Anwendung von Jesu Programm: Gleichnisse: z.B. verlorener Sohn (Lk 15,11-32), barmherziger Samariter (Lk 10,25-37)<br />
(8) Ethische Letztbegründung:<br />
• invocatio dei: Präambel GG („Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“), Unabhängigkeitserklärung<br />
der USA („all men […] are endowed by their Creator with certain unalienable Rights“); nicht: EU-Verfassung<br />
• Hugo Grotius: Das durch die Vernunft gefundene Naturrecht würde auch dann gelten, wenn es keinen Gott gäbe.<br />
• Harmonie zwischen: Gott – ich – du → ohne Gott: Normen neu definiert (Bezugspunkt fehlt)<br />
(9) Menschenrechte:<br />
• Kategorien: Liberale Freiheitsrechte, Politische Teilnahmerechte, Soziale Teilhaberechte<br />
• Menschenwürde ergibt sich aus dem Schöpfungsauftrag bzw. der Ebenbildlichkeit Gottes (Gen 1,27-28)<br />
• Menschenrechtserklärung (1948): Grundlagen (Würde) → Konsequenzen (Anerkennung, Schaffung einer positiven Welt)