Leseprobe - Carus
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Inhalt<br />
Melanie Wald<br />
I. Das Genie zwischen Apoll und Bach:<br />
Zum Haydn-Porträt von Isidor Neugaß 6<br />
Wolfgang Fuhrmann<br />
II. Haydn und Bach:<br />
Aspekte einer musikalischen (Nicht-)Beziehung 14<br />
5
I. Das Genie zwischen Apoll und Bach:<br />
Zum Haydn-Porträt von Isidor Neugaß<br />
Joseph Haydn war, spätestens seit den 1780er Jahren, ein ausgesprochen häufig<br />
porträtierter Mann. Mit seinem Ruhm breitete sich auch das Interesse an<br />
seiner Physiognomie in ganz Europa aus. Wer ihn bei seinen Auftritten in<br />
Wien, Esterháza, Eisenstadt und später London nicht selbst erleben konnte,<br />
wollte sich auf andere Weise eine Vorstellung von seinem Äußeren – und,<br />
damit im 18. Jahrhundert immer verbunden, auch von seinem Charakter – machen.<br />
Neben Gebrauchsware finden sich auch bedeutende Kunstwerke unter<br />
den Haydn-Porträts, in erster Linie wohl das in London entstandene Ölgemälde<br />
von John Hoppner (1791).<br />
Das im Schloss Esterházy in Eisenstadt hängende Haydn-Porträt des an der<br />
Berliner Akademie ausgebildeten Porträtmalers Isidor Neugaß (um 1780–nach<br />
1847) ist demgegenüber physiognomisch weniger fesselnd und auch kunsthistorisch<br />
nicht über Gebühr bedeutsam. In der Literatur zur Haydn-Ikonographie<br />
wird deshalb auch jeweils kaum mehr als seine Existenz vermerkt. Und doch<br />
eröffnen die Anlage des 1806 angefertigten Bildes, die daraus ablesbare Charakterisierung<br />
des Künstlers Haydn sowie die erhaltenen Dokumente zu seiner<br />
Entstehung einige ausgesprochen spannende Perspektiven und werfen Fragen<br />
auf, denen es einmal nachzugehen lohnt. Das irritierendste Detail der Darstellung<br />
ist dabei wohl, das sei gleich verraten, die hinten rechts postierte Bach-<br />
Büste.<br />
1. Das Bild<br />
Haydn sitzt in schwarzer Kleidung und nach links gewendet an einem Tisch in<br />
einem Armlehnstuhl. In der Linken hält er Notenblätter, auf denen der Anfang<br />
der Violinstimme zum Chor „Nun schwanden vor dem heiligen Strahle des<br />
schwarzen Dunkels gräuliche Schatten“ aus dem 1799 fertiggestellten Oratorium<br />
Die Schöpfung zu erkennen ist. In die auf die Lehne gestellte Rechte<br />
stützt er leicht Wange und Kinn. Feder und Tintenfass, die nicht näher identifizierten<br />
Bücher auf dem Tisch, die kontemplative, ikonographisch fest verankerte<br />
Haltung weisen ihn als denkenden, reflektierten Künstler aus. Vielleicht<br />
ist in dem aufgestützten Kopf gar auf den bei der Darstellung bedeutender<br />
Männer sehr verbreiteten Topos des kreativen Melancholikers angespielt.<br />
Der Innenraum, in dem Haydn dargestellt ist, öffnet sich hinten links zu einem<br />
Rund-Tempel mit einer Statue des leierspielenden Apoll, eines geläufigen At-<br />
6
tributes zur Kennzeichnung von Musikern. Doch hier scheint es fast, als bestünde<br />
eine Verbindung zwischen dem Standbild des Gottes der Musik und<br />
dem Komponisten. Die Statue, der Kopf des Komponisten als helles Aufmerksamkeitszentrum<br />
des Bildes und die Notenblätter bilden zusammen ein Dreieck.<br />
Während Haydn reglos dargestellt ist und sein Blick geradeaus ins Leere,<br />
nach Innen gleichsam, geht, erscheint die Apoll-Figur belebt und aktiv: Sie<br />
blickt genau zu Haydn, und der Strahl, der diagonal von Apoll auf den Komponisten<br />
fällt, stellt recht eigentlich die Quelle für das Licht dar, das sein Gesicht<br />
hervorhebt. Teil dieser Suggestion von Aktivität auf Seiten des Musikgottes<br />
ist auch, dass sein Leierspiel echt wirkt. Haydns passive Haltung wäre<br />
insofern als Darstellung des Hörens zu deuten: Haydn lauscht den Klängen<br />
Apolls; eine besonders aparte Variante des Mythos von der göttlichen Inspiration<br />
des Komponisten.<br />
Viel weniger auffällig ist dann die im Halbdunkel des rechten Bildhintergrundes<br />
aufgestellte Büste, die bildkompositorisch ein Pendant zur Statue bietet. In<br />
Physiognomie und Beschriftung ist sie als Johann Sebastian Bach ausgewiesen,<br />
ergänzt mithin Musik-Mythos und Inspiration durch Tradition und Musik-<br />
Geschichte. Überraschend ist diese Bildidee nun gleich in mehrerer Hinsicht:<br />
Zum einen gab es um 1800 zwar Haydn-, aber keine Bach-Büsten, sondern lediglich<br />
Ölporträts und darauf basierende Kupferstiche, zum anderen ist Bach<br />
nicht derjenige Komponist, dem man allgemein viel Einfluss auf Haydn zuschreibt.<br />
Sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach oder Händel hätten hier viel<br />
näher gelegen.<br />
2. Ikonographische Spurensuche<br />
Das Haydn-Porträt von Neugaß lässt sich lesen wie eine spezifische Zusammenstellung<br />
von Zitaten aus der Tradition bestimmter Bildmotive, deren Identifizierung<br />
dieses erstaunliche Bild zu entschlüsseln hilft. Beginnen wir mit<br />
Haydn selbst: Eine Postierung wie bei Neugaß ist für einige Haydn-Darstellungen<br />
seit den 1790er Jahren bezeugt. Die größte Ähnlichkeit in der Erfindung<br />
weisen dabei die Porträts von Ludwig Guttenbrunn, A. M. Ott/Francesco Bartolozzi<br />
und Johann Zitterer auf. In der Porträtminiatur von Ott, die Francesco<br />
Bartolozzi 1791 in einem Londoner Stich ausführte, sitzt Haydn nach rechts<br />
gewandt ebenfalls in einem Armlehnstuhl an einem Tisch mit Notenblättern,<br />
seine Haltung ist hier freilich deutlich aktiver: Er hält die Feder – nur kurz das<br />
Schreiben unterbrechend – über dem Papier und schaut den Betrachter direkt<br />
an. Bei Guttenbrunn und Zitterer sitzt Haydn nach links gewandt an einem Klavier.<br />
Während Guttenbrunn Blickwinkel und fiktive Betrachterposition so<br />
7
wählte, dass der Betrachter ein wenig von oben und schräg vorne dem komponierenden<br />
Haydn bei seiner kreativen Tätigkeit aus geringer Distanz direkt zuschauen<br />
kann, rückte ihn Zitterer (Abb. 1) wieder etwas ab und versperrte dem<br />
Betrachter den direkten Blick auf den Körper durch den wie eine Schranke vorgestreckten<br />
linken Arm. Dafür suchte er eine inspirierte Aura zu erzeugen: Die<br />
linke Hand schlägt einige Töne aus der vor ihm stehenden Partitur (es ist das<br />
Thema des Andante aus der Sinfonie mit dem Paukenschlag) an, die rechte ist<br />
angewinkelt und wie in der Andeutung eines aufgestützten Kopfes an das Kinn<br />
gelegt. Haydn schaut – seiner eigenen Musik nachlauschend – über das Klavier<br />
hinweg aus dem Bild hinaus. Und wie bei Neugaß trifft ihn von oben links ein<br />
Lichtstrahl. Im Hintergrund rechts ist auf einem architektonischen Wandelement<br />
eine lorbeerumwundene Leier als Attribut der Musikerhuldigung zu<br />
sehen. Die Haydn-Bilder von Zitterer und Neugaß zeichnet gegenüber anderen<br />
Darstellungen des sitzenden Haydn mit Notenblättern und Klavier mithin aus,<br />
dass er hier nicht im Akt des Komponierens, sondern mit zweien seiner erfolgreichsten<br />
Werke abgebildet erscheint. Nicht die Kreativität als Staunen erregende<br />
Fähigkeit steht im Zentrum, sondern der Ruhm, den Haydn unterdessen<br />
erlangt hatte.<br />
In diese Richtung zielt auch die Funktion der Apollon-Statue, die ikonographisch<br />
durchaus originell ist: Die Haltung mit dem übergeschlagenen linken<br />
Bein direkt beim Spiel der Lyra und mit einem Gewand um die Hüften hat kein<br />
direktes antikes Vorbild, sondern amalgamiert verschiedene, ihrerseits wiederum<br />
recht seltene Motive. Die auffällige Standposition kennt man vor allem<br />
von einer Statue des Skopas aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., die in einer heute<br />
in den Capitolinischen Museen in Rom aufbewahrten römischen Kopie zu<br />
einem Kithara spielenden Apoll ergänzt wurde (inv. MC0649). Freilich reckt<br />
die Figur den Kopf hier nach oben, während Neugaß seinen Apoll herunter auf<br />
Haydn blicken lässt.<br />
Das ikonographische Vorbild der fiktiven Bach-Büste dann ist offenkundig das<br />
berühmte Bildnis von Elias Gottlob Haußmann, das ab 1800 auch in Kupferstichen<br />
verbreitet wurde (Abb. 2 und 3). Die Perücke und die Ansicht des zwar<br />
frontal gezeigten, aber leicht nach rechts gewendeten Gesichts sind identisch<br />
miteinander. Nur das Gewand tauschte Neugaß durch eine für Büsten typische<br />
klassizistische Draperie aus. Die Gesichtsachse spricht dafür, dass Neugaß<br />
nicht nach einer etwa der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1798 oder<br />
der Forkelschen Bach-Biographie von 1802 beigegebenen Kupferstich-Kopie<br />
arbeitete, da diese dem Medium entsprechend seitenverkehrt waren. Dennoch<br />
dürfte Neugaß die Biographie des Göttinger Universitätsmusikdirektors, Komponisten,<br />
Musiktheoretikers und -historikers und ihr Bach-Medaillon nicht nur<br />
gekannt, sondern auch darauf Bezug genommen haben, findet sich doch unter<br />
8
dem Medaillon ein – freilich sitzender – Apoll mit Leier, Draperie und übergeschlagenem<br />
linken Bein, der seinerseits auf die Darstellung des Apoll in einem<br />
Gemälde von Simon Vouet (1590–1649) anspielen könnte (Abb. 4).<br />
Dennoch bleibt die Bach-Büste in dem Haydn-Bild ein ikonographisches Kuriosum:<br />
Vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es sonst keine Komponisten-Bildnisse,<br />
in denen historische Traditionslinien thematisiert werden.<br />
Zwar hatte Felix Mendelssohn Bartholdy in seinem Leipziger Arbeitszimmer<br />
neben einer Goethe- tatsächlich auch eine Bach-Büste stehen, aber Teil seiner<br />
offiziellen Ikonographie wurde diese nicht. Daher dokumentiert das Gemälde<br />
von Neugaß außer dem Ruhm Haydns auch die sich zu diesem Zeitpunkt konsolidierende<br />
Kanonisierung Bachs. Ob Neugaß dabei aber tatsächlich eine Facette<br />
von Haydns Selbstverständnis zur Darstellung brachte, oder nicht vielmehr<br />
als Zeuge der Berliner Bach-Begeisterung agierte, wäre in einem<br />
nächsten Schritt zu fragen.<br />
3. Zur Entstehung des Bildes<br />
Bis im Zuge der Restaurierung des Bildes für die große Jubiläumsausstellung<br />
der Esterházy-Privatstiftung in ihrem Eisenstädter Schloss 2009 (mit dem sinnigen<br />
Titel „Haydn explosiv“) die Jahreszahl unter der Signatur des Malers<br />
eindeutig als 1806 identifiziert werden konnte, waren verschiedene Datierungen<br />
für das Neugaß’sche Haydn-Porträt im Umlauf. 1 Und spätestens, seit Robbins<br />
Landon ein Dokument gefunden hatte, in dem Neugaß den Fürsten Esterházy<br />
um die Abnahme seines Gemäldes bat, galt das Werk als Auftrag der<br />
Fürsten, die schon zwei frühere Bildnisse, darunter das Guttenbrunn-Porträt,<br />
bestellt hatten. 2 Dabei hatte Max Unger bereits 1910 die entscheidenden Informationen<br />
zur Datierung und Entstehung des Bildes gefunden. Er publizierte<br />
nämlich einen im Archiv der Firma Pleyel aufbewahrten Brief des Malers an<br />
Ignaz Pleyel vom 6. Januar 1806, in dem dieser von seiner Arbeit an einem<br />
Haydn-Porträt berichtet. 3 Aus diesem Brief geht hervor, dass er bereits vor ei-<br />
1 Die häufig begegnende Datierung auf 1801 geht auf Emil Vogel und einen Aufsatz über die überlieferten<br />
Haydn-Bildnisse zurück (in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1898). H. C. Robbins Landon las<br />
in dem Gemälde 1805 (Haydn. Chronicle and works 5: The late years, London 1977, S. 350, Abb. als<br />
plate 1), eine Datierung, die Ludwig Finscher, Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, 2 2002, S. 515, übernahm.<br />
2 Landon, Chronicle and works 5, S. 350.<br />
3 Max Unger, „Das Haydn-Bildnis von J. Neugaß im fürstlichen Schlosse zu Eisenstadt“, in: Neue Musik-<br />
Zeitung 31 (1910), S. 9–11. Der Brief ist seitdem, von einer englischen Übersetzung abgesehen (In: Letters<br />
to Beethoven and other correspondence, hrsg. v. Theodore Albrecht, Lincoln 1996, Bd. 1, Nr. 111,<br />
S.173f.) nicht wieder zur Kenntnis genommen worden.<br />
9
II. Haydn und Bach:<br />
Aspekte einer musikalischen (Nicht-)Beziehung<br />
1.<br />
In den Jahren 1768 bis 1772 reiste der junge Musiker und Komponist Johann<br />
Abraham Peter Schulz (1747–1800) im Gefolge der polnischen Fürstin Joanna<br />
Sapieha durch Europa. Dabei hielt sich Schulz – der später dänischer Kapellmeister<br />
werden und als Komponist der Lieder im Volkston das unsterbliche<br />
„Der Mond ist aufgegangen“ schaffen sollte – über einen längeren Zeitraum in<br />
Wien auf. In den kurz nach Schulz’ frühem Tod an Schwindsucht erschienenen<br />
Biographischen Nachrichten seines Freunds Johann Friedrich Reichardt wird<br />
uns berichtet:<br />
Von Künstlern hatte auf dieser Reise keiner so mächtig auf ihn gewürkt,<br />
als Haydn, den er in Esterhazy besuchte, und dessen meisterhafte Symphonien<br />
und Quartetten er damals in Wien zuerst würdig vortragen<br />
hörte. Haydn, dessen übergrosse Bescheidenheit Schulzen anfänglich in<br />
nicht geringe Verlegenheit sezte, hatte auch die Gefälligkeit für ihn gehabt,<br />
ihm noch unbekannte Arbeiten zu zeigen und vorzuspielen, die<br />
nicht nur Schulzens hohen Begriff von Haydn’s Originalgenie bekräftigen,<br />
sondern auch von einem fleissigen Künstler zeugten – für den man<br />
Haydn damals noch nicht hielt – der die Meisterwerke Bachs und Händels<br />
mit Andacht studierte. 13<br />
Dieser rund drei Jahrzehnte nach dem Besuch von Schulz in Eszterháza (denn<br />
dieser Sommersitz des Fürsten Nikolaus I. Esterházy ist wohl gemeint) niedergeschriebene<br />
Bericht lässt staunen – verbindet er doch einen Komponisten,<br />
dessen Einfluss auf Joseph Haydn vielfältig belegt und musikalisch leicht<br />
nachweisbar ist, nämlich Georg Friedrich Händel, mit einem Komponisten, zu<br />
dem Haydns Musik auch bei näherem Hinsehen keinen rechten Bezug aufweist,<br />
nämlich Johann Sebastian Bach, dessen „Meisterwerke“ Haydn also um<br />
das Jahr 1770 ebenso wie jene Händels „mit Andacht“ studiert haben soll.<br />
Aber ist mit dem Bach, den Reichardt nennt, überhaupt Johann Sebastian gemeint?<br />
Die Frage ist, wie das erste Kapitel gezeigt hat, alles andere als einfach<br />
zu beantworten, denn „Bach“ ohne weitere Zusätze konnte im deutschen<br />
Sprachraum bis wenigstens 1800 ebenso gut – oder vielleicht noch eher – Carl<br />
Philipp Emanuel Bach meinen, während J. S. Bach meistens durch einen Zusatz<br />
wie „Sebastian Bach“ oder „der alte Bach“ charakterisiert wurde.<br />
13 „Biographische Nachrichten. I. A. P. Schulz dargestellt von I. F. Reichard [sic]“, in: Allgemeine musikalische<br />
Zeitung 3 (1800/01), no. 11, den 10. December 1800, Sp. 176 (Kursivierungen im Original gesperrt).<br />
14
Tatsächlich wird sich die Frage kaum entscheiden lassen. Einige Spalten zuvor<br />
hat Reichardt von der „grossen Schule Sebastian Bach’s“ gesprochen, sodass<br />
die Vermutung naheliegt, mit einem „Bach“ ohne jeden Zusatz sei eben Carl<br />
Philipp Emanuel gemeint. 14 Andererseits lässt die Zusammenstellung von Händel<br />
und Bach aufhorchen, denn eben diese beiden Komponisten hat Reichardt<br />
schon 1782 in seinem Musikalischen Kunstmagazin Seit’ an Seite kritisch gewürdigt.<br />
15<br />
Ebenso problematisch erscheint die Bemerkung von Johann Karl Friedrich<br />
Triest, Haydn habe mit der kantablen Führung der Instrumente und der „bedeutende[n]<br />
kraftvolle[n] Simplicität“ seiner „Hauptsätze“ „das innigste (durch<br />
Bachs u. a. Werke genährte) Studium der Harmonie“ verbunden, „deren<br />
Früchte die kühnsten, überraschendsten, und dabey nichts weniger als barocken<br />
Modulationen sind, wodurch er uns begeistert.“ 16 Auch hier scheint<br />
Triests Sprachgebrauch nahezulegen, dass mit „Bach“ ohne weitere Zusätze<br />
eher Carl Philipp Emanuel als Johann Sebastian gemeint ist. In ähnlicher Weise<br />
hat der frühe Haydn-Biograph Giuseppe Carpani behauptet, dass Haydn seine<br />
unerwartetsten harmonischen Effekte eigner Aussage zufolge aus den Werken<br />
des alten Bach (nelle opere del vecchio Bach) entnommen hätte 17 – aber da er<br />
im Folgenden erklärt, dass dieser sie während seines Studiums in Rom von italienischen<br />
Meistern gelernt habe, bleibt völlig unsicher, von welchem Bach<br />
hier die Rede ist – falls Carpani das überhaupt selbst wusste. 18<br />
14 Reichardt, I. A. P. Schulz, Sp. 169. Noch E. T. A. Hoffmann spricht ein gutes Jahrzehnt später bekanntlich<br />
gerne von „Sebastian Bach“, um Missverständnisse auszuschließen.<br />
15 Johann Friedrich Reichardt, Musikalisches Kunstmagazin I (1782), S. 196f.<br />
16 Triest, „Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 3<br />
(1800/01), März 1801, Sp. 406f.<br />
17 Giuseppe Carpani, Le Haydine ovvero lettere sulla vita e le opere del celebre maestro Giuseppe Haydn,<br />
Milano: Candido Buccinelli, 1812/ edizione seconda, riveduta e accresciuta dall’autore, Padova: Tipografia<br />
della Minerva, 1823|Reprint Bologna: Forni, 1969 (Bibliotheca musica Bononiensis, Sezione 3,<br />
N. 10a) (zitiert wird nach beiden Auflagen), S. 37/43 (= Carpani 1812, S. 37/1823 2 , S. 43): „Queste transizioni,<br />
a quanto egli mi disse, le rintracciò singolarmente nelle opere del vecchio Bach. Il Bach poi le<br />
aveva apprese dalle opere dei maestri italiani del suo tempo, sulle quali e sotto de’quali, studiando in<br />
Roma, egli si era formato quel grand’uomo che fu.“.<br />
18 Vgl. die vorige Anmerkung. – Der „alte Bach“ lässt natürlich an Johann Sebastian denken, aber dieser hat<br />
ebenso wenig in Rom studiert wie sein Sohn Carl Philipp Emanuel. Wie aus einer späteren Stelle hervorgeht,<br />
ist sich Carpani jedoch sehr wohl der verschiedenen Mitglieder der Bach-Familie bewusst und erklärt<br />
ausdrücklich, dass nicht „Giovanni Bach“ (also Johann Christian Bach, der einzige der Familie, der<br />
nach Italien reiste), sondern „Emanuele Bach, il più celebre tra essi, fu quello che il nostro Haydn meditò<br />
giorno e notte“ (S. 63/67). Wenige Zeilen danach betont er die „transizioni impensate“ dieses Komponisten,<br />
und das lässt vermuten, dass C. Ph. E. Bach auch in der oben zitierten Stelle gemeint ist. Indes kommt<br />
Carpani auf seine rätselhafte Behauptung, „il vecchio Bach“ habe in Rom studiert, hier nicht zurück, sondern<br />
verortet Bach durchaus korrekt in Berlin und Hamburg. Soweit ich sehe, tritt „il vecchio Bach“ außer<br />
der genannten Stelle nur noch zweimal in Carpanis Erzählung auf – beide Male in einer Auflistung mit<br />
anderen Komponisten und in Kontexten, die eine genaue Identifikation nicht erlauben (Carpani, S. 8/11,<br />
S. 27/29). Wie so vieles bei Carpani bleibt auch hier der Sachertrag frustrierend niedrig.<br />
15
Über C. Ph. E. Bachs Bedeutung für sein eigenes Komponieren hat sich Haydn<br />
oft und enthusiastisch geäußert. 19 Freilich ist schon hier eine explizite musikalische<br />
Bezugnahme (anders als bei Händel) schwer greifbar; der Einfluss des<br />
älteren Komponisten ist weniger in stilistischen Übernahmen, thematischen<br />
Anklängen, formalen Ähnlichkeiten zu suchen als in einer kompositorischen<br />
Haltung, die das Unvorhersehbare, Launige, Überraschende kultivierte. 20 Bezüge<br />
zu Johann Sebastian Bachs Werk in Haydns Musik auszumachen, will hingegen<br />
– mit recht wenigen möglichen Ausnahmen, die noch zu diskutieren sein<br />
werden – selbst bei vergleichbar abstrakten Gesichtspunkten nicht gelingen.<br />
Handelt es sich hier also um eine Nicht-Beziehung, um eine Fehlinterpretation<br />
literarischer Zeugnisse, die in Wirklichkeit den jüngeren Bach meinen? Ist die<br />
Frage nach „Haydn und Bach“ unbeantwortbar oder gar falsch gestellt? Keineswegs;<br />
doch darf man keine allzu einfachen und griffigen Antworten erwarten.<br />
Dass das Thema „Haydn und Bach“ zunächst wenig herzugeben scheint,<br />
die beiden Komponisten kaum Berührungspunkte aufweisen, erweist sich letzten<br />
Endes als durchaus signifikant. Denn es lassen sich sehr wohl Beweise<br />
dafür anführen, dass Haydn J. S. Bachs Musik gekannt und auch durchaus geschätzt<br />
hat. Dass sich diese Wertschätzung kaum oder höchstens in subkutaner,<br />
schwer fassbarer Weise musikalisch niedergeschlagen hat, verrät hingegen,<br />
dass in der künstlerischen Orientierung und Zwecksetzung der beiden Komponisten<br />
ein nahezu unüberbrückbarer Unterschied bestand.<br />
Um die hier nur skizzenhaft angedeuteten Aspekte genauer zu beleuchten, soll<br />
im Folgenden in drei Schritten vorgegangen werden. Zunächst sollen die wenigen<br />
unzweideutigen Belege für Haydns Urteile über J. S. Bachs Musik zitiert<br />
und diskutiert werden (Abschnitt 2); dann soll nach den Zeugnissen der Bach-<br />
Rezeption in Österreich zu Haydns Zeit und im speziellen nach Haydns Bach-<br />
Kenntnissen gefragt werden (Abschnitt 3); 21 schließlich wird versucht, zu einer<br />
Interpretation der oben angedeuteten grundsätzlichen Unterschiede zwischen<br />
Haydn und Bach zu gelangen (Abschnitt 4).<br />
19 Vgl. etwa Ernst Fritz Schmid, „Joseph Haydn und Carl Philipp Emanuel Bach“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft<br />
14 (1932), S. 299–312: 300f.<br />
20 Vgl. etwa Hermann Danuser, „Das imprévu in der Symphonik: Aspekte einer musikalischen Formkategorie<br />
in der Zeit von Carl Philipp Emanuel Bach bis Hector Berlioz“, in: Musiktheorie 1 (1986), S. 61–81.<br />
21 „Österreich“ war bis 1804, d. h. bis zur Proklamation des Kaisertums Österreich durch Franz I. (II.) als<br />
Reaktion auf die Selbsternennung Napoleon Buonapartes zum Kaiser der Franzosen, kein politischer<br />
oder staatlicher, sondern ein regionaler Begriff innerhalb des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation,<br />
dem freilich insofern besondere (und besonders komplizierte) reichsrechtliche Stellung zukam, als<br />
er die habsburgischen Erblande umfasste. Im Sprachgebrauch der Zeitgenossen war „Österreich“ eine<br />
Region oder Provinz „Deutschlands“ (oder „Teutschlands“). Ich verwende den Begriff im Folgenden bewusst<br />
lose, als Inbegriff aller kulturellen und besonders musikalischen Aktivitäten, die ihr Zentrum in<br />
der Wintersaison in der kaiserlichen Residenzstadt Wien hatten, deren Peripherien in den Sommermonaten<br />
aber weit verstreut lagen – etwa im ungarischen Eszterháza.<br />
16
2.<br />
Zwei unzweideutige Äußerungen Haydns zu Johann Sebastian Bach sind lediglich<br />
aus seinem letzten Lebensjahrzehnt, zwar indirekt, aber glaubwürdig,<br />
überliefert.<br />
In der Allgemeinen musikalischen Zeitung (AMZ) vom 30. Oktober 1799<br />
wurde folgende Anekdote berichtet:<br />
Unser würdiger Haydn fand, als er vor einigen Jahren nach London kam,<br />
bekanntlich eine nicht unansehnliche Parthey gegen sich. Es waren besonders<br />
Italiener, die sich ihm entgegenzustellen versuchten. Ein gewiser<br />
Giardini gab zwey Trio’s heraus, worin die italienische Musik in langen,<br />
bedeutenden Noten, die deutsche hingegen in sehr kurzen und<br />
unbedeutenden Nötchen vorgestellt wurde. Das Ganze sollte gegen die<br />
Haydnsche Musik gerichtet seyn. Der Verfasser nannte sich zwar nicht,<br />
sondern nahm bloss den Namen eines Dilettanten an; man wusste aber<br />
doch, wer er war. Ein englischer Organist an der Königl. deutschen Kapelle<br />
(eben derselbe, welcher jetzt Joh. Seb. Bachs wohltemperirtes Clavier<br />
herausgeben will) liess hierauf ein Blatt in Kupfer stechen, worauf<br />
in einer Sonne die ihm bekannten deutschen Komponisten vorgestellt<br />
waren. Joh. Seb. Bach steht im Mittelpunkt; zunächst um ihn herum<br />
Händel, Graun 22 und Haydn. Die Strahlen der Sonne sind mit andern<br />
deutschen Komponisten besetzt, auf folgende Art:<br />
22 Carl Heinrich Graun.<br />
17
Unter der Sonne befindet sich eine italienische Eule, die das Licht deutscher<br />
Komposition nicht vertragen kann; auf der Seite aber ein italienischer<br />
Kapaun und ein deutscher Hahn, in einer Stellung, als wenn sie<br />
eben einen Kampf mit einander beginnen wollten.<br />
Unser würdiger Haydn soll dies Stück selbst gesehen haben, und man<br />
sagt, dass es ihm nicht übel gefallen, er sich auch der Nachbarschaft Händels<br />
und Grauns gar nicht geschämt, noch viel weniger es unrecht gefunden<br />
habe, dass Joh. Seb. Bach der Mittelpunkt der Sonne, folglich der<br />
Mann sey, von welchem alle wahre musikalische Weisheit ausgehe. 23<br />
Unterzeichnet ist der Bericht mit „F----l“, wodurch sich der Autor als Johann<br />
Nikolaus Forkel identifizieren lässt. 24<br />
Um diese Anekdote richtig einordnen und bewerten zu können, müssen wir<br />
kurz den historischen Hintergrund skizzieren.<br />
Der hier geschilderte Konflikt, dem die „Sonne“ der deutschen Komponisten<br />
ihren Ursprung verdankte, verdankt sich dem seit der Jahrhundertmitte immer<br />
mehr an Schroffheit zunehmenden musikalischen Nationalismus, der bekanntlich<br />
in der Bach-Rezeption eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die Deutschen,<br />
die um 1750 noch ihr Heil im „vermischten Geschmack“, einer Synthese<br />
italienischer und französischer Musik, gesucht hatten – Bachs Musik ist<br />
selbst das beste Beispiel –, waren durch den internationalen Ruhm ihrer Instrumentalmusik<br />
und durch die internationale Gefragtheit ihrer Musiker und Komponisten<br />
– Haydns England-Reisen sind hier nur die Spitze des Eisbergs – weit<br />
selbstbewusster geworden und neigten dazu, die Instrumentalmusik insgesamt<br />
als eine deutsche Domäne anzusehen.<br />
Der Konflikt zeigt sich besonders deutlich im Musikleben Englands, das stärker<br />
als das auf dem Kontinent durch den Import fremder Musik und die Immigration<br />
ausländischer Musiker bestimmt war. Das englische Musikleben wurde<br />
im ausgehenden 18. Jahrhundert durch den (von der Presse kräftig angeheizten)<br />
Widerstreit verschiedener Fraktionen bestimmt: durch die Partei der italienischen<br />
Musik, durch die Vertreter der deutschen Musik, weniger lautstark<br />
auch durch die Befürworter der autochthonen englischen Genres vokaler Gesellschaftsmusik<br />
(wie Catch und Glee), schließlich durch den Widerstreit der<br />
Vertreter der „ancient music“ (mit Händel als höchster Autorität) und der „modern<br />
music“ (als deren bedeutendster Vertreter seit etwa 1780 Haydn galt). In<br />
diesem Konflikt waren nun die hier angeführten Musiker involviert.<br />
23 AMZ 2 (1798/99), 30. Oktober 1799, Sp. 103f.<br />
24 Martha Bigenwald, Die Anfänge der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, Sibiu-Hermannstadt:<br />
(Schmidt), 1938 (Freiburg i.Br., phil. Diss.)|Reprint Hilversum: Knuf, 1965 unter dem Namen<br />
Martha Bruckner-Bigenwald, S. 92.<br />
18
Der „gewisse Giardini“ war der aus Turin gebürtige Geiger und Komponist Felice<br />
(de) Giardini (1716–1796). Giardini war 1750 nach London gekommen,<br />
betrieb seit 1751 gemeinsam mit dem Oboisten Thomas Vincent Abonnementkonzerte<br />
und wurde 1755 Konzertmeister und Leiter des Konzerts der Italian<br />
Opera im King’s Theatre. Er zählte über Jahrzehnte zu den bedeutendsten Musikern<br />
und Konzertmanagern Londons (zwei Tätigkeitsfelder, die damals noch<br />
viel häufiger in derselben Person vereint waren). Giardini scheint eine schwierige<br />
Person gewesen zu sein, der nicht viel Gutes an anderen Musikern fand;<br />
1784 verließ er England für einige Jahre, um in Neapel zu leben (im Haushalt<br />
seines Geigenschülers und des britischen Botschafters Sir William Hamilton).<br />
Als Giardini 1790 zurückkehrte, war er vom Alter und von Rheumatismus beeinträchtigt<br />
und musste das Orchester, statt wie früher von der Violine, vom<br />
Cembalo aus leiten. 25 Die damit wohl einhergehende Verbitterung schlägt sich<br />
nun in einigen Anekdoten nieder, die in der Tat auf kein gutes persönliches Verhältnis<br />
zu Haydn schließen lassen, 26 zumal dessen Ruhm als „Shakespeare of<br />
Music“ und als wichtigster Komponist von Symphonien und Quartetten den<br />
vorwiegend als Instrumentalkomponisten hervorgetretenen Giardini natürlich<br />
erbosen musste. So soll Giardini, als ihm Haydn nach seiner ersten Ankunft in<br />
London 1791 seine Aufwartung machen wollte, seinem Bedienten erklärt<br />
haben: „ich will den deutschen Hund nicht kennen lernen“. 27 Albert Christoph<br />
Dies, der uns diese Anekdote berichtet, versichert, Haydn habe das nur komisch<br />
gefunden und Giardini bald darauf bei einem öffentlichen Konzert gehört:<br />
„[er] bewunderte die Geschicklichkeit des Virtuosen, der im Greisenalter<br />
noch mit dem Feuer eines Jünglings spielte“. 28 Tatsächlich lautete Haydns (privates)<br />
Urteil über das Konzert Giardinis am 22. Mai 1792 im Vergnügungspark<br />
Ranelagh jedoch kurz und bündig: „Er spielte wie ein schwein.“ 29<br />
25 Alle Angaben nach Christopher Hogwood/Simon McVeigh, „Giardini [Degiardino]“, Felice (de), The<br />
New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 1980, Bd. 7, S. 350f.<br />
26 Zu Giardinis Persönlichkeit und seiner Gegnerschaft gegenüber der deutschen Musik vgl. auch Howard<br />
Chandler Robbins Landon, Haydn: Chronicle and Works 3. Haydn in England: 1791–1795, London:<br />
Thames & Hudson, 1976, S.127f., 166f.<br />
27 Albert Christoph Dies, Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Nach mündlichen Erzählungen<br />
desselben entworfen und herausgegeben von Albert Christoph Dies Landschaftsmahler, Wien: Camesinaische<br />
Buchhandlung, 1810, S. 105.<br />
28 Ebda.<br />
29 Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen, unter Benützung der Quellensammlung von<br />
H. C. Robbins Landon herausgegeben und erläutert von Dénes Bartha, Kassel etc.: Bärenreiter, 1965,<br />
S. 490. Georg August Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn, Leipzig: Breitkopf & Härtel,<br />
1810, S. 40.<br />
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Der „englische Organist an der Königl. deutschen Kapelle“, der laut Forkel die<br />
Ehre der Deutschen verteidigte, war nichts weniger als ein Engländer. Es handelte<br />
sich um den Hannoveraner Augustus Frederic Christopher Kollmann. 30<br />
Kollmann wurde 1756 in Engelbostel bei Hannover geboren, machte sich als<br />
Organist einen Namen und wurde 1782 vom englischen König George III. nach<br />
London als Organist und Musiklehrer der Royal German Chapel berufen. Der<br />
König von England und Irland regierte zu dieser Zeit bekanntlich auch in Personalunion<br />
das Herzogtum von Braunschweig-Lüneburg und war Kurfürst von<br />
Hannover, daher wurden Gottesdienste für die königliche Familie seit dem Anfang<br />
des 18. Jahrhunderts in deutscher Sprache gehalten. Kollmann sollte für<br />
den Rest seines Lebens – er starb 1829 – in England bleiben, sich aber stets als<br />
Deutscher fühlen. 31 Entsprechend setzte er sich in seinen zahlreichen musiktheoretischen<br />
und -pädagogischen Veröffentlichungen auch in besonderer<br />
Weise für die Verbreitung deutscher Musik in England ein. Dabei scheint er in<br />
besonderer Weise die Musik Johann Sebastian Bachs propagiert zu haben: 32 In<br />
seinem 1799 veröffentlichten Essay on Practical Musical Composition finden<br />
sich die Erstveröffentlichungen von Bachs Orgel-Triosonate Es-Dur BWV 525<br />
und von Präludium und Fuge C-Dur BWV 870 (dem Eröffnungsstück des 2.<br />
Bandes des Wohltemperierten Claviers). Kollmann kündigte auch eine analytische<br />
Ausgabe des gesamten Wohltemperierten Claviers an, doch diesmal<br />
kamen ihm drei kontinentale Verleger mit der Erstausgabe zuvor (vermutlich<br />
durch einen Bericht der AMZ über sein Vorhaben animiert): Hans Georg Nägeli<br />
in Zürich, Nikolaus Simrock in Bonn (und Paris) und Hoffmeister & Kühnel<br />
in Leipzig, und er verzichtete auf sein Unternehmen. 1806 veröffentlichte<br />
er die englische Erstausgabe der Chromatischen Fantasie und Fuge (BWV<br />
903) und zugleich das theoretische Werk A New Theory of Musical Harmony,<br />
in dem er diese Fantasie analysierte.<br />
Forkels Bericht, dass Kollmann ins Zentrum der Sonne J. S. Bach plaziert<br />
habe, erscheint also durchaus glaubwürdig; vermutlich war er die einzige Person<br />
in ganz England, die J. S. Bach damals eine derartige Ehrenstellung eingeräumt<br />
hätte. 33 Kollmann bezog somit auch auf durchaus originelle Weise Posi-<br />
30 Zum Folgenden vgl. die Einleitung in Michael Kassler, A. F. C. Kollmann’s Quarterly Musical Register<br />
(1812): An Annotated Edition with an Introduction to His Life and Works, Aldershot: Ashgate, 2008,<br />
S. 3–182.<br />
31 Kassler, A.F.C. Kollmann’s Quarterly Musical Register, S. 28.<br />
32 Zum Folgenden Kassler, A.F.C. Kollmann’s Quarterly Musical Register, S. 57–64.<br />
33 Vgl. The English Bach Awakening, hrsg. v. Michael Kassler, Aldershot: Ashgate, 2004, passim. Auch die<br />
Anführung des Kapellmeisters Friedrichs II. von Preußen, Carl Heinrich Graun (1703/04–1759), war<br />
wohl im englischen Kontext höchst ungewöhnlich. Kanonischen Status hatte Graun auf dem Kontinent<br />
vor allem durch die Komposition seines Oratoriums Der Tod Jesu (1755) auf einen Text von Karl Wilhelm<br />
Ramler errungen, das in Berlin bis 1884 (!) fast jährlich zur Passionszeit von der Singakademie<br />
aufgeführt wurde (Werner Freytag, Art. „Graun“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 5,<br />
Kassel, Basel, London 1956, Sp. 717).<br />
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