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20 - Schweizer Jäger

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lauf der Geschehnisse für immer<br />

ein Rätsel bleiben…<br />

Neben diesen finsteren Legenden<br />

mag aber auch noch ein anderer<br />

Umstand zur Verfolgung und<br />

Ausrottung des Bartgeiers beigetragen<br />

haben, der in diesem Zusammenhang<br />

kaum aufgeführt<br />

wird, aber keineswegs zu unterschätzen<br />

ist: Die Bedeutung der<br />

Geier und damit auch des Bartgeiers<br />

in der vom Aberglauben<br />

geprägten Volksmedizin. Dabei<br />

ist dies kein – aus heutiger Sicht<br />

nur zu belächelndes – Phänomen<br />

des Mittelalters und der frühen<br />

Neuzeit. Auch heute noch werden<br />

in der traditionellen Medizin,<br />

insbesondere in Asien, Teile<br />

von Tierkörpern verwendet und<br />

die seltensten Tiere sind hierbei<br />

besonders gefragt. Ungemein<br />

gefährlich aber wird es für eine<br />

Tierart, wenn einem Körperteil<br />

die Förderung und Erhaltung der<br />

männlichen Potenz zugeschrieben<br />

wird. So stehen – und leider muss<br />

man sagen: unter anderem – Tiger<br />

und Nashorn über kurz oder lang<br />

vor der Ausrottung, weil der Penis<br />

der Grosskatze und das Horn<br />

des Rhinozeros im Fernen Osten<br />

als Potenzmittel von besonderer<br />

Wirkung gelten. Das Mittelalter<br />

ist auch im 21. Jahrhundert offenbar<br />

noch lange nicht vorbei.<br />

Auch den Innereien des Geiers<br />

wurde eine solche Wirkung zugeschrieben:<br />

«Der rechte Theil der<br />

Geyerlungen / einem Manne in<br />

eines Kranchen (d. h. Kranichs)<br />

Haut übergebunden / reizet zur<br />

Unkeuschheit» ist bei Gesner unter<br />

Berufung auf den bereits genannten<br />

antiken Schriftsteller<br />

Plinius bei den «Artzneyen dieses<br />

Vogels» zu finden und nach<br />

einem sehr weit verbreiteten medizinischen<br />

Werk aus dem Mittelalter,<br />

der «Medicina antiqua»,<br />

regt die Leber des Geiers den Beischlaf<br />

an.<br />

Die Leber befreit darüber hinaus<br />

von der Fallsucht, die Galle<br />

beseitigt danach die Sehschwäche,<br />

das Hirn und die Knochen<br />

lindern Kopfschmerzen, das Fett<br />

und der Magen helfen bei Nerven-<br />

und Gelenkschmerzen und<br />

das Herz, in ein Wolfsfell gewickelt<br />

und am Arm festgebunden,<br />

wirkt wie ein Schild gegen Räuber<br />

und Schlangen, aber auch vor<br />

Bosheit und Wahn. Über mehrere<br />

Seiten hinweg überliefert Ges ner<br />

zahlreiche Rezepturen, um mit<br />

Innereien und Körperteilen des<br />

Geiers selbst lebensbedrohliche<br />

Krankheiten wie die Pest und den<br />

Krebs zu heilen – was ihn aber<br />

nicht davor bewahrte, 1565 in Zürich<br />

selbst der Pest zu erliegen.<br />

Der bereits genannte italienische<br />

Naturforscher Aldrovandi,<br />

wie Gesner auch Arzt und sogar<br />

Professor der Medizin in Bologna,<br />

wird im «Vogelbuch» ebenfalls<br />

mit seinen Hinweisen zitiert,<br />

was «von diesem Vogel in<br />

der Artzney zu gebrauchen. Der<br />

Magen von dem Ossifraga gedörrt<br />

und getruncken / ist denen<br />

/ so die Speise nicht wol verdäuen<br />

/ dienlich / oder wann sie denselben<br />

in dem sie essen / nur in<br />

der Hand haben. Etliche binden<br />

ihn deßwegen an: sie sollen<br />

aber dieses nicht stets brauchen /<br />

dann er machet mager wie Plinius<br />

schreibt. Dieser Vogel hat nur<br />

einen Darm / damit er wunderbarlicher<br />

Weiß alle Speiß verdäuet.<br />

Desselben eusserster Theil angebunden<br />

/ stillet allerley Krimmen<br />

/ und Darmgicht. Wann man ihn<br />

auff des Krancken Bauch bindet.<br />

Ein Theil von diesem Vogel verbrennt<br />

und getruncken / soll die<br />

fallende Sucht hinweg nehmen.<br />

Der gedörrte Magen / ist für den<br />

Stein und andere Gebrästen der<br />

Blasen dienlich / wie Plinius und<br />

Dioscorides sagen. Wann er eingesaltzen<br />

wird / damit er sich halte<br />

/ oder verbrennt / gepülvert /<br />

und mit Wein getruncken wird /<br />

treibt er kräfftiglich den Harn /<br />

sagt Marcellus. Der Vogel an die<br />

Hüfft gehenckt / heilet die auffgelauffene<br />

Krampff=Adern an<br />

den Füssen. Seine Gall mit Honig<br />

genossen / heilet die Flechten<br />

und den Aussatz. Wann einer<br />

den Kaat dieses Vogels dürr zerreibt<br />

und trinckt / oder bey sich<br />

trägt / so wird er wol däuen / er ist<br />

auch gut für den Stein und schwere<br />

harnen.»<br />

Bei der Verbreitung allein dieser<br />

beiden Bücher, des Gesner’schen<br />

«Vogelbuches» und der «Medicina<br />

antiqua» erscheint es nahe lie-<br />

Eine ganze Bartgeier-Familie,<br />

der Jungvogel im<br />

Hintergrund erkennbar<br />

an dem<br />

schwarzen Kopf,<br />

zeigt diese schöne<br />

kolorierte<br />

Zeichnung aus<br />

Alfred Brehms<br />

«Illustrirten<br />

Thierleben».<br />

Repro: Verfasser<br />

gend, dass die Menschen in den<br />

Bergen die Geier nicht allein aus<br />

Angst und von Hass geleitet, sondern<br />

– wie sie über Jahrhunderte<br />

hinweg aus dem gleichen Grund<br />

die Steinböcke, Gämsen, Murmeltiere<br />

und nicht zuletzt auch<br />

die Adler mit der gleichen Nachhaltigkeit<br />

bejagten – auch zur<br />

Gewinnung der legendären Heilmittel<br />

von der Galle bis zu den<br />

Federn verfolgten.<br />

Die letzten ihrer Art in den<br />

Alpen<br />

Wie im gesamten Alpenbogen<br />

war der Bartgeier auch in der<br />

Schweiz bis in die erste Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts noch recht<br />

regelmässig, wenn auch nie ausgesprochen<br />

häufig zu finden.1889<br />

wird er im «Katalog der <strong>Schweizer</strong>ischen<br />

Vögel» zwar noch als<br />

«Standvogel in der Alpenregion»<br />

bezeichnet, sei aber bereits «nachgerade<br />

so selten geworden, dass<br />

seine Existenz anfängt, dem Gebiet<br />

der Sage anzugehören.» Dies<br />

verwundert kaum, wenn man in<br />

dem Katalog weiter blättert und<br />

auf eine Auflistung der damaligen<br />

und zum Teil noch heutigen<br />

Standorte von über 80 Präparaten<br />

von Bartgeiern stösst, die zwischen<br />

1801 und 1887 zum weitaus<br />

überwiegenden Teil abgeschossen<br />

worden sind. Hier ist die unselige<br />

Praxis vieler Naturforscher frühe-<br />

<strong>Schweizer</strong> <strong>Jäger</strong> 6/<strong>20</strong>09 25<br />

Wildkunde

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