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lauf der Geschehnisse für immer<br />
ein Rätsel bleiben…<br />
Neben diesen finsteren Legenden<br />
mag aber auch noch ein anderer<br />
Umstand zur Verfolgung und<br />
Ausrottung des Bartgeiers beigetragen<br />
haben, der in diesem Zusammenhang<br />
kaum aufgeführt<br />
wird, aber keineswegs zu unterschätzen<br />
ist: Die Bedeutung der<br />
Geier und damit auch des Bartgeiers<br />
in der vom Aberglauben<br />
geprägten Volksmedizin. Dabei<br />
ist dies kein – aus heutiger Sicht<br />
nur zu belächelndes – Phänomen<br />
des Mittelalters und der frühen<br />
Neuzeit. Auch heute noch werden<br />
in der traditionellen Medizin,<br />
insbesondere in Asien, Teile<br />
von Tierkörpern verwendet und<br />
die seltensten Tiere sind hierbei<br />
besonders gefragt. Ungemein<br />
gefährlich aber wird es für eine<br />
Tierart, wenn einem Körperteil<br />
die Förderung und Erhaltung der<br />
männlichen Potenz zugeschrieben<br />
wird. So stehen – und leider muss<br />
man sagen: unter anderem – Tiger<br />
und Nashorn über kurz oder lang<br />
vor der Ausrottung, weil der Penis<br />
der Grosskatze und das Horn<br />
des Rhinozeros im Fernen Osten<br />
als Potenzmittel von besonderer<br />
Wirkung gelten. Das Mittelalter<br />
ist auch im 21. Jahrhundert offenbar<br />
noch lange nicht vorbei.<br />
Auch den Innereien des Geiers<br />
wurde eine solche Wirkung zugeschrieben:<br />
«Der rechte Theil der<br />
Geyerlungen / einem Manne in<br />
eines Kranchen (d. h. Kranichs)<br />
Haut übergebunden / reizet zur<br />
Unkeuschheit» ist bei Gesner unter<br />
Berufung auf den bereits genannten<br />
antiken Schriftsteller<br />
Plinius bei den «Artzneyen dieses<br />
Vogels» zu finden und nach<br />
einem sehr weit verbreiteten medizinischen<br />
Werk aus dem Mittelalter,<br />
der «Medicina antiqua»,<br />
regt die Leber des Geiers den Beischlaf<br />
an.<br />
Die Leber befreit darüber hinaus<br />
von der Fallsucht, die Galle<br />
beseitigt danach die Sehschwäche,<br />
das Hirn und die Knochen<br />
lindern Kopfschmerzen, das Fett<br />
und der Magen helfen bei Nerven-<br />
und Gelenkschmerzen und<br />
das Herz, in ein Wolfsfell gewickelt<br />
und am Arm festgebunden,<br />
wirkt wie ein Schild gegen Räuber<br />
und Schlangen, aber auch vor<br />
Bosheit und Wahn. Über mehrere<br />
Seiten hinweg überliefert Ges ner<br />
zahlreiche Rezepturen, um mit<br />
Innereien und Körperteilen des<br />
Geiers selbst lebensbedrohliche<br />
Krankheiten wie die Pest und den<br />
Krebs zu heilen – was ihn aber<br />
nicht davor bewahrte, 1565 in Zürich<br />
selbst der Pest zu erliegen.<br />
Der bereits genannte italienische<br />
Naturforscher Aldrovandi,<br />
wie Gesner auch Arzt und sogar<br />
Professor der Medizin in Bologna,<br />
wird im «Vogelbuch» ebenfalls<br />
mit seinen Hinweisen zitiert,<br />
was «von diesem Vogel in<br />
der Artzney zu gebrauchen. Der<br />
Magen von dem Ossifraga gedörrt<br />
und getruncken / ist denen<br />
/ so die Speise nicht wol verdäuen<br />
/ dienlich / oder wann sie denselben<br />
in dem sie essen / nur in<br />
der Hand haben. Etliche binden<br />
ihn deßwegen an: sie sollen<br />
aber dieses nicht stets brauchen /<br />
dann er machet mager wie Plinius<br />
schreibt. Dieser Vogel hat nur<br />
einen Darm / damit er wunderbarlicher<br />
Weiß alle Speiß verdäuet.<br />
Desselben eusserster Theil angebunden<br />
/ stillet allerley Krimmen<br />
/ und Darmgicht. Wann man ihn<br />
auff des Krancken Bauch bindet.<br />
Ein Theil von diesem Vogel verbrennt<br />
und getruncken / soll die<br />
fallende Sucht hinweg nehmen.<br />
Der gedörrte Magen / ist für den<br />
Stein und andere Gebrästen der<br />
Blasen dienlich / wie Plinius und<br />
Dioscorides sagen. Wann er eingesaltzen<br />
wird / damit er sich halte<br />
/ oder verbrennt / gepülvert /<br />
und mit Wein getruncken wird /<br />
treibt er kräfftiglich den Harn /<br />
sagt Marcellus. Der Vogel an die<br />
Hüfft gehenckt / heilet die auffgelauffene<br />
Krampff=Adern an<br />
den Füssen. Seine Gall mit Honig<br />
genossen / heilet die Flechten<br />
und den Aussatz. Wann einer<br />
den Kaat dieses Vogels dürr zerreibt<br />
und trinckt / oder bey sich<br />
trägt / so wird er wol däuen / er ist<br />
auch gut für den Stein und schwere<br />
harnen.»<br />
Bei der Verbreitung allein dieser<br />
beiden Bücher, des Gesner’schen<br />
«Vogelbuches» und der «Medicina<br />
antiqua» erscheint es nahe lie-<br />
Eine ganze Bartgeier-Familie,<br />
der Jungvogel im<br />
Hintergrund erkennbar<br />
an dem<br />
schwarzen Kopf,<br />
zeigt diese schöne<br />
kolorierte<br />
Zeichnung aus<br />
Alfred Brehms<br />
«Illustrirten<br />
Thierleben».<br />
Repro: Verfasser<br />
gend, dass die Menschen in den<br />
Bergen die Geier nicht allein aus<br />
Angst und von Hass geleitet, sondern<br />
– wie sie über Jahrhunderte<br />
hinweg aus dem gleichen Grund<br />
die Steinböcke, Gämsen, Murmeltiere<br />
und nicht zuletzt auch<br />
die Adler mit der gleichen Nachhaltigkeit<br />
bejagten – auch zur<br />
Gewinnung der legendären Heilmittel<br />
von der Galle bis zu den<br />
Federn verfolgten.<br />
Die letzten ihrer Art in den<br />
Alpen<br />
Wie im gesamten Alpenbogen<br />
war der Bartgeier auch in der<br />
Schweiz bis in die erste Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts noch recht<br />
regelmässig, wenn auch nie ausgesprochen<br />
häufig zu finden.1889<br />
wird er im «Katalog der <strong>Schweizer</strong>ischen<br />
Vögel» zwar noch als<br />
«Standvogel in der Alpenregion»<br />
bezeichnet, sei aber bereits «nachgerade<br />
so selten geworden, dass<br />
seine Existenz anfängt, dem Gebiet<br />
der Sage anzugehören.» Dies<br />
verwundert kaum, wenn man in<br />
dem Katalog weiter blättert und<br />
auf eine Auflistung der damaligen<br />
und zum Teil noch heutigen<br />
Standorte von über 80 Präparaten<br />
von Bartgeiern stösst, die zwischen<br />
1801 und 1887 zum weitaus<br />
überwiegenden Teil abgeschossen<br />
worden sind. Hier ist die unselige<br />
Praxis vieler Naturforscher frühe-<br />
<strong>Schweizer</strong> <strong>Jäger</strong> 6/<strong>20</strong>09 25<br />
Wildkunde