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FRISCHLUFTvon Ruth SchweikertDass das Appenzell wahre Wunder wirkt,wusste ich schon als Kind, wenn die Mutterjeweils um fünfkommanullsechs Kilo leichter,beschwingt und verjüngt von ihrer dreiwöchigenFastenkur nach Hause kam. Siestrahlte, lachte und herzte uns, als hätte sieschon in den Siebzigerjahren weise vorausschauendall das getan, was 2008 unterwww.appenzell.ch den potentiellen TouristInnennahe gelegt wird: «beim Schneeschuhlaufendie unberührte Stille eingeatmet,in der reinen Luft, an tosenden Wasserfällen,in den bekannten Moorbädernoder den modernen ErholungslandschaftenGesundheit und Wohlbefinden gepflegt».Dazu passt meine eigene Erinnerung anfrühe Sommerferien in Heiden, die ich aufeiner Schaukel verbrachte, immerzu vonneuem in die Landschaft hinein fliegend;weder Süssigkeiten noch das Versprechenauf andere Vergnügungen vermochtenmich davon abzubringen. Ich muss meineMutter und meine beiden kleinen Brüderzur Verzweiflung getrieben haben.Erst als wir alle erwachsen und von zu Hauseausgeflogen waren, verstand ich, dassdie Mutter nicht ins Appenzell fuhr, umschlanker und jünger zu werden, sonderndass sie sich im Gegenteil systematischKummerspeck auf die Hüfte lud, damit siewenigstens einmal im Jahr für drei Wochenweg durfte. Womöglich hätte sie Paris oderIbiza vorgezogen, aber wie hätte sie einesolche Destination vor uns rechtfertigensollen, die weder damals noch heute als gesundheitsförderndgalt und gilt, sonderneher als Synonym gebraucht wird für Liebesabenteuerund durchtanzte Nächte?So gesehen tut es diesem Text kaum Abbruch,wenn ich jetzt gestehe, dass sich derKummerspeck meiner Mutter nicht in derreinen Appenzeller, sondern in gewöhnlicherThurgauer Luft auflöste, die das sagenhafteSchloss Steinegg umwehte, dasich mir, wie gesagt, nur im Appenzellerlanddenken konnte. (Mittlerweile, wen wunderts,musste das Fastenschloss seinen Betriebeinstellen und meine Mutter hat denPro-forma-Schlankheitswahn längst hintersich gelassen).Was lässt sich daraus schliessen?1. Das Appenzell taugt als Imaginationsraummehr denn als Fitnesscenter.2. Lasst Kleinkinder schaukeln. Sollten siespäter zu Schriftstellerinnen mutieren, neigensie dazu, das Appenzell zu verklären,statt sich über mässig besuchte Lesungenim Alten Zeughaus von Herisau zu ärgernoder gar einmal mehr den armen RobertWalser aufzufahren, um die angeblicheKunstfeindlichkeit des Appenzellerlandeszu beweisen. Im Gegenteil:3. Im Appenzell wachsen selbst WerbetexterInnenzu Künstlernaturen heran. Oder willjemand ernsthaft behaupten, «unberührteStille einzuatmen» sei keine Kunst?In diesem Sinne wünsche ich dem Appenzellviel Frischluft und einen langen Atem ...Ruth Schweikert, 1964 in Lörrach geboren, in Aarau aufgewachsen,lebt heute als Schriftstellerin und Theaterautorinin Zürich. Zuletzt erschien von ihr 2005 «Ohio» imAmmann Verlag.FRISCHLUFT | 12

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