Bezirksverbände - Unionhilfswerk
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Dienstag, halb eins.<br />
Sonnenstrahlen bahnen<br />
sich einen Weg durch<br />
das Holzgitter, das die<br />
kleine Bücherecke von<br />
den übrigen Räumlichkeiten<br />
trennt. Die werfen<br />
rautenförmige Muster<br />
an die Wand, ein<br />
bisschen wie Scheinwerferlichter,<br />
die eine<br />
tolle Vorstellung ankündigen,<br />
denn gleich<br />
kommt die Vorleserin,<br />
wie jeden Dienstag.<br />
Während Elef und<br />
Kobena verträumt mit<br />
ihren kleinen Fingern<br />
Muster an der Wand<br />
nachfahren, durchforstet<br />
Esma geschäftig das<br />
Bücherregal. Gerade<br />
als sie sich für ein Märchen<br />
entschieden hat,<br />
kommt Brigitte Nemeth<br />
mit einer Traube<br />
weiterer Kinder hinzu.<br />
„Na, was wollt ihr heute<br />
hören?“, fragt sie sachlich-nüchtern,<br />
gar nicht<br />
wie eine Märchenerzählerin.<br />
Brigitte Nemeth sieht<br />
auch nicht so aus. Statt<br />
langem Gewand ein<br />
kurzer Strickpulli. Sie<br />
versinkt auch nicht in<br />
einem großen Ohrensessel,<br />
sondern setzt<br />
sich wie die Kinder auf<br />
ein kleines Holzstühlchen<br />
und schlägt<br />
die Beine übereinander.<br />
Nicht wie jemand, der<br />
allmählich abdriften<br />
möchte in ferne Welten,<br />
sondern wie jemand,<br />
Die Märchenfee von Kreuzberg<br />
„Ich will einfach nur Geschichten vorlesen“<br />
Brigitte Nemeth sieht nicht aus wie eine<br />
Märchenerzählerin, und doch verzaubert sie<br />
ihre kleinen Zuhörer: Mal spricht sie wie die<br />
gute Fee, mal wie die gemeine Stiefmutter, und<br />
notfalls auch wie der böse Wolf. Zwei Mal pro<br />
Woche liest sie Kindern mit Migrationshintergrund<br />
im Kreuzberger Montessori-<br />
Kinderhaus des UNIONHILFSWERK Märchen<br />
und andere Kinderbücher vor. Freiwillig engagiert.<br />
Ohne Bezahlung, aber nicht umsonst:<br />
Die Kleinen lernen dabei Deutsch.<br />
der jetzt sofort loslegen<br />
will.<br />
Die Kinder wollen<br />
auch loslegen.<br />
Fast ein bisschen feierlich<br />
übergibt die vierjährige<br />
Esma der Vorleserin<br />
das Büchlein mit<br />
dem Märchen „Aschenputtel“.<br />
Die „Märchenfee“<br />
schlägt es auf und<br />
räuspert sich. Und verwandelt<br />
sich dann doch<br />
ziemlich schnell in eine<br />
Märchenerzählerin.<br />
Sie spielt die gemeine<br />
Stiefmutter, spricht<br />
tief, laut, eindringlich.<br />
Als Aschenputtel hingegen<br />
klingt sie sanft,<br />
leise, bescheiden. Sie<br />
runzelt die Stirn, reißt<br />
die Augen auf, verzieht<br />
das Gesicht — je nachdem.<br />
Die Kinder rücken<br />
immer näher an<br />
sie heran, bis sie lacht<br />
und sagt: „Stopp! Hier<br />
ist mein Knie, weiter<br />
geht’s nicht!“<br />
Spielerisch<br />
deutsch lernen.<br />
Die 62-Jährige kommt<br />
gerne in das Kreuzberger<br />
Kinderhaus des<br />
UNIONHILFSWERK.<br />
„Ich habe ja immer viel<br />
gelesen“, erzählt sagt<br />
Brigitte Nehmeth, „aber<br />
Vorlesen ist noch schöner.“<br />
Vor sieben Jahren verlor<br />
sie ihren Job in einemKohleunternehmen<br />
in Hoyerswerda,<br />
dann zog sie nach Berlin,<br />
weil da ihre Tochter<br />
lebt. Dennoch fühlte<br />
sie sich allein, nutzlos.<br />
„Ich habe mich schrecklich<br />
gelangweilt“.<br />
Von ihrer Wohnung<br />
in Hohenschönhausen<br />
braucht sie mit der S-<br />
Bahn zwei Stunden<br />
nach Kreuzberg. Insgesamt<br />
ist sie also vier<br />
Stunden unterwegs,<br />
um etwa zwei Stunden<br />
vorzulesen. Irrational<br />
könnte man das nennen<br />
oder auch unrentabel.<br />
Aber für Brigitte<br />
Nemeth lohnt es sich:<br />
„Auf der Hinfahrt freue<br />
ich mich auf die Kinder,<br />
und auf der Rückfahrt erinnere<br />
ich mich an sie, an<br />
die gespannten Gesichter.“<br />
Und über die Fragen,<br />
die ihr die Mädchen<br />
und Jungen gestellt<br />
haben, denkt sie<br />
oft lange nach. Zum<br />
Beispiel darüber, warum<br />
die Stiefmutter eigentlich<br />
so böse ist.<br />
Nicht nur<br />
vorlesen.<br />
Sie liest nicht nur vor,<br />
sie diskutiert auch mit<br />
den Kleinen, hört zu,<br />
wenn sie etwas wissen<br />
wollen. „So lernen sie die<br />
Sprache viel besser.“ Vor<br />
allem Esma habe in den<br />
letzten Monaten Fortschritte<br />
gemacht, aber<br />
auch Elef und Kobena.<br />
Sie alle sprechen zu<br />
Hause nur Türkisch.<br />
„Und in der Kita unterhalten<br />
sie sich manchmal<br />
auch nur in ihrer Sprache“,<br />
hat Brigitte Nemeth<br />
beobachtet.<br />
„Durch die Vorlesestunden<br />
bekommen sie<br />
richtig Lust auf die deutsche<br />
Sprache“, glaubt<br />
sie. Denn die Stunden<br />
sind nicht verordnet,<br />
sondern freiwillig. Nur<br />
wer will, muss ihr zuhören<br />
— und die meisten<br />
wollen.<br />
Die Möglichkeit, als<br />
freiwillige Mitarbeiterin<br />
vorzulesen, hat<br />
Brigitte Nemeths Tochter<br />
im Internet entdeckt.<br />
Seit 2006 gibt es<br />
das Portal „Ehrenamtsnetz“,<br />
die Sozialpädagogin<br />
Ina Kant hat<br />
es gegründet. Wer sich<br />
engagieren will, hat<br />
hier die Wahl zwischen<br />
Angeboten von 900 Organisationen<br />
aus den<br />
unterschiedlichsten Bereichen:<br />
Pflege, Sport,<br />
Bildung, Kinder, Senioren,<br />
Migranten. „So viele<br />
Menschen wollen ehrenamtlich<br />
arbeiten, wissen<br />
aber nicht wo oder<br />
wie. Hier erhalten sie eine<br />
Übersicht“, erklärt Kant.<br />
Tatsächlich: Die Bereitschaft<br />
zum ehrenamtlichen<br />
Engagement<br />
ist in den letzten Jahren<br />
gestiegen. Das besagt<br />
auch der „Freiwilligensurvey<br />
1999-2004“ –<br />
eine Untersuchung, die<br />
vom Bundesfamilien-<br />
»Postille« Nr. 57<br />
Beim Vorlesen und Nacherzählen verbessern Kinder ihre Sprachkenntnisse.<br />
Foto: UNIONHILFSWERK<br />
Von der Tochter<br />
angeregt.<br />
Große Bereitschaft<br />
zu freiwilligem<br />
Engagement.<br />
ministerium in Auftrag<br />
gegeben wurde. Demnach<br />
ist der Anteil von<br />
freiwillig Engagierten<br />
an der Bevölkerung ab<br />
14 Jahren zwischen<br />
1999 und 2004 von 34<br />
auf 36 Prozent gestiegen.<br />
In der Gruppe der<br />
Senioren zwischen 60<br />
und 69 Jahren erhöhte<br />
sich das Engagement<br />
sogar um sechs Prozent.<br />
Die Hauptgründe<br />
für das wachsende Interesse<br />
am Ehrenamt ist<br />
das Bedürfnis, die Gesellschaft<br />
mitgestalten<br />
zu können und die<br />
Möglichkeit, Gemeinschaft<br />
mit anderen zu<br />
erleben.<br />
Brigitte Nemeth kann<br />
das nur bestätigen. Ihre<br />
Geschichte ist kein Märchen,<br />
aber sie ist trotzdem<br />
gut ausgegangen.<br />
Fast so gut wie beim<br />
„Aschenputtel“. Da<br />
kommt am Ende eine<br />
gute Fee und verzaubert<br />
den dreckigen Küchenkittel<br />
des armen<br />
Mädchens in prächtige<br />
Kleider. „Ich will auch<br />
eine gute Fee sein“, verkündet<br />
Esma. „Und<br />
du?“ „Ach was“, sagt<br />
Brigitte Nemeth und<br />
winkt ab. „Ich will einfach<br />
nur Geschichten vorlesen.“<br />
Anja Herr<br />
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