Von der heilsamen Wirkung einer Tasse KaffeeBrigitte Stoeckle-BauerLeiterin Treffpunkt<strong>Stiftung</strong> <strong>Melchior</strong>Ist das wirklich eine so neue Haltung für uns? Oder sind es einfachneue Bezeichnungen für eine Arbeit, die im Treffpunkt schonimmer geleistet wird? Zugegeben, der Hang zum fürsorglichenAktivismus war und ist immer noch ein Teil des Treffpunkts undsicher nicht ganz leicht abzulegen. Der Treffpunkt wird von denBesucherInnen sehr oft gleichgesetzt mit «mein Zuhause, meinezweite Familie». Ein Ort also, wo «Umsorgen» Programm ist.Trotzdem begegnen wir unseren BesucherInnen auf gleicher Augenhöhe,lassen uns ein aufeinander, versuchen Stärken zu fördernund knüpfen starke Netze. Wir bieten den «familiären Küchentisch»im Alltagsablauf unserer BesucherInnen.Die Auseinandersetzung mit den Veränderungen im Umfeld derBehindertenarbeit beschäftigt unsere BesucherInnen ebenfalls.Wir beziehen sie in diverse Fragestellungen mit ein und es ergebensich oft angeregte und interessante Gespräche. Natürlichfreuen sie sich über grössere Autonomie, über Eigenständigkeitund Wahlfreiheit bezüglich ihrer Lebensgestaltung, über Förderungund Entwicklung. Gleichzeitig lauert auch die Angst, dassdiese Individualisierung finanzielle Abläufe langwieriger macht,der Förderdruck sie zu überwältigen droht und das «Einfach-Da-Sein-Dürfen» verloren gehen könnte.Seit einiger Zeit weht ein frischer Wind durch die Räume der Behindertenarbeit,ein Paradigmenwechsel, weg vom fürsorglichenAktivismus, – Windel- und Wattepädagogik, wie sich ein Dozentso bildhaft ausdrückte – hin zu einer Zusammenarbeit auf gleicherAugenhöhe. Der Mensch in unserer Zeit entfernt sich in rasanterGeschwindigkeit von tradierten sozialen Vernetzungen,von verpflichtenden Werten und berechenbaren Lebenswegenhin zum Individualismus mit Selbstbestimmung, vielen Freiheitenund Unsicherheiten.Diese Entwicklung macht auch vor dem Treffpunkt nicht halt.Entsprechend ist Empowerment (to empower – befähigen, ermächtigen)ein wichtiges, neues Arbeitskonzept, das unsereHaltung in der Beziehungspflege prägt und unsere BesucherInnenstärken soll. Wir, als so genannte Fachleute, müssenlernen, uns von der Vorstellung und der Verantwortung zu distanzieren,alle Probleme gleich selber lösen zu müssen. Expertentumund fürsorglicher Aktivismus ist passé. An die Stelletritt eine Begleitung auf gleicher Augenhöhe, erkennen, fördernund unterstützen von Ressourcen.Seit etwa zwei Jahren kommeich in den Treffpunkt. Seitherhat sich meine Lebensqualitätsehr verbessert. Oft wennich morgens erwache und meineGedanken an den bevorstehendenTag mir durch denKopf gehen, freue ich mich,wenn ich weiss, dass ichabends in den Treffpunkt gehenwerde.Zitat BesucherIn8
«Einfach-Da-Sein-Dürfen» ist aber für unsere BesucherInneneine wichtige Möglichkeit der Lebensbewältigung in Krisenzeiten.Was also heisst das auf unsere Aufgabe übertragen? Wasmachen wir im Treffpunkt? Vor allem einmal miteinander redenund lachen, aber auch miteinander aushalten, wenn die Lastschwer ist. Hier finden BesucherInnen immer ein Gegenüber, dassich Zeit nimmt und zuhört, das mitempfindet und ein paar ermutigendeWorte oder eine Umarmung bereit hat, wenn Ängsteund Probleme sie überwältigen. Wir nehmen unsere BesucherInnenals individuelle Menschen wahr, nicht als Schizophrene,Depressive oder Borderliner etc.. Wir nehmen Anteil an ihrenAlltagsfreuden und -sorgen bei einem Schwatz in der Küche,beim gemeinsamen Essen oder beim Kartenspiel.Klingt alles nicht spektakulär, das ist uns bewusst. Doch hat dasAngebot des Treffpunkts, laut Studie Baer, erwiesenermasseneine enorme Wirkung. Wir müssen wohl nicht grundlegend Inhalteund Qualität des Angebots verändern, sondern lernen,vermehrt auf die Ressourcen unserer BesucherInnen zu vertrauenund ihnen damit die Kraft vermitteln, selber eine Veränderungauf dem Weg der Gesundung einzuleiten.«Von der heilsamen Wirkung einer Tasse Kaffee». Diese Aussage,mit der wir kürzlich eine Studie zum Sinn und Nutzen tagestrukturierenderAngebote für psychisch kranke Menschen vorstellten,wählte ich als Überschrift für meinen Beitrag aus, weil sieohne viel Erklärung den Nutzen unseres Angebots auf den Punktbringt – eine Alltäglichkeit mit hohem Wirkungsgrad.9